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Der luzide Kristall Die Hölle mentaler Erstarrung

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„Ein schrecklicher Traum …“ Erschrocken fuhr ich zusammen.

„Was ist denn los?“ Das kleine Mädchen stellte sich neben mich und legte ihren Arm um mich.

„Ich habe geträumt, dass mir Akrons Ring im Tempel der Gorgone gestohlen worden ist.“ Ich spürte in mir ein seltsames Gefühl. Vielleicht reflektierte es mein verdrängtes Verlangen, einen Grund zu finden, um in den Liebestempel der Schlange zurückkehren zu können.

„Das kann ich nicht glauben – was sollte die Frau damit?“ Die Banalität ihres Einwandes brachte mich zur Besinnung zurück.

„Eine verspätete Rache.“ Auf eine eigenartige Weise fühlte ich mich von diesem Thema angezogen. Es schien mir, als ließe sich dahinter ein weiteres Geheimnis aus meiner Vergangenheit finden. „Sie hat mir erzählt, Akron hätte ihr Herz getötet und ihr Blut vergiftet, als er vor langer Zeit ihre Liebe verschmähte. Seither könne er mit ihrem Gift Kranke heilen und Tote auferwecken.“

„Aber dann ist doch alles in Ordnung – kein Problem. Den Ring brauchst du hier nicht“, beruhigte mich die kleine Fee.

„Darum geht es nicht. Das würde mir Akron niemals verzeihen. Der Ring ist ihm heilig – schließlich zirkulierte er in den Reihen der alten Meister.“

„Vielleicht hat sie ihn gar nicht gestohlen“, fuhr sie nach einer Weile fort, als sie sah, dass ich mich weiter über den Verlust grämte. „Du bist hier in einer anderen Welt. Wenn es so ist, dass du auf mehreren Ebenen existierst, wäre es dann nicht auch möglich, dass er sich im Besitz einer anderen deiner inneren Personen befindet?“

Dann setzte sie eine verschwörerische Miene auf: „Du solltest die Perspektiven nicht miteinander verwechseln, denn du bist zwar der Schreiber, du bist aber auch ein Teil der Geschichte …“ Ich war verblüfft, denn irgendwie fühlte ich mich die ganze Zeit in zwei Teile gespalten. Ich fühlte, wie sich in meinem Gehirn eine Vorstellung formte, die sich in der geistigen Sphäre verdichtete und der ich in das virtuelle Erleben folgte. Ich spürte aber auch, dass ich meine eigene Geschichte wie einen Traum vor mich ausbreitete, den ich anschließend durchwanderte – dass ich meine Realität sozusagen kraft der inneren Vitalität meiner Vorstellungen erschaffte.

„Wenn wir aber Teil der mentalen Ausformungen sind, die ich ständig vor mich hinträume, wo werden wir uns dann befinden, wenn der Traum zu Ende ist?“ wollte ich wissen. Zwar fühlte ich mich bei dem Gedanken, das Geträumte eines eigenen Traumes zu sein, bei dem man nicht sicher sein konnte, wohin einen der Weg führte, etwas unbehaglich, andererseits hatte ich wenig dagegen, meinen ohnehin nicht mehr anwesenden Seelenführer gegen dieses liebreizende Geschöpf eingetauscht zu haben, dessen ungebremste Lebensfreude mir in dieser einsamen Finsternis Mut und Zuversicht gab.

„Das ist nicht die Frage. Die Frage ist: Was ist das Ziel, auf das ich mich hinbewege?“ lächelte das Mädchen. „Nicht der Traum an sich, sondern die geistige Absicht, die deinem Weg zugrunde liegt, bestimmt letztlich die Dimension des Erlebens. So lass uns die Sache zu Ende bringen – in deinem Fall ist es ein multidimensionales Erleben.“

„Zu Ende bringen?“ wiederholte ich gedehnt.

„Na, denk doch mal nach! Als du am Ende der Fische-Vorhölle dem Wächter, der dir die Pforte nach Innen öffnete, begegnetest, erwachte dein geträumter Verstand für einen Moment wieder in der Realität. Dieses Szenario hast du übrigens am Übergang zwischen den Welten unter dem sinngemäßen Titel Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt festgehalten, als dich Akron über die Gesetzmäßigkeiten des dualen Verstehens instruierte und dich darüber aufklärte, dass du alles, was du hier erlebst, leider wieder vergessen haben wirst, sobald du auf der anderen Seite erwachst. Dieser andere Teil deines Ichs aber sitzt seitdem noch immer an der Schwelle und wartet darauf, von dir wieder zurückgeholt zu werden.“


„Das ist schwer zu verstehen – wo liegt der Sinn?“ Ihre Erklärung schien mir nicht schlüssig. „Wieso sollte ich meinen geträumten Verstand in der Vergangenheit zurückgelassen haben?“ Ich versuchte mich an meine weit zurückliegenden Erlebnisse im ersten Band zu entsinnen, aber ich wurde nicht richtig fündig. Meine Gedanken wanderten ziellos umher; immer, wenn ich sie zu einer Reihe gruppiert hatte, lösten sie sich auf und schweiften in alle Richtungen auseinander, bis ich mir einen Moment lang einredete, dass die Bilder in meiner Erinnerung vielleicht gar nicht präsent sein konnten, weil sie möglicherweise erst in meiner Zukunft entstünden.

„Was weiß ich?“ lächelte sie vieldeutig. „Vielleicht dass er in stiller Abgeschiedenheit über Gott meditieren kann.“

Plötzlich war die Erinnerung wieder da. Es war ganz am Anfang meiner Reise, am Ende der Fische-Vorhölle – kurz vor dem Übergang zur eigentlichen Hölle. Ich sah mich in dem ausgetrockneten Flussbett sitzen, gesäumt von einer Reihe erratischer Felsblöcke, den versteinerten Tränen jener Suchenden, die bereits vor mir die Straße der Selbsterkenntnis beschritten hatten. Während in meinem Rücken das Rauschen des Urozeans zu vernehmen war, stand Akron hinter mir und massierte mir mit seinen Fingern sanft die verhärteten Augenpartien, bis sich daraus eine Träne löste, in deren Inneren mir der Wächter erschienen war. Das letzte, woran ich mich erinnern konnte, war, dass Akron von einer durch mich ausgelösten Flutwelle hinweggespült worden war. Von da an hatte ich irgendwie einen Filmriss. „Ach Gott“, rief ich erschrocken aus, „diesen Teil von mir habe ich wirklich total vergessen, wo ist er denn jetzt?“

„Na, da drinnen!“ Das Mädchen zeigte auf die dicke Felsmauer, und mit einem Schlag war ich wieder in der Gegenwart zurück.

„Und wie soll er dort bitte hineingelangt sein? Soweit ich mich erinnere, lagen dort nur grauer Staub und ein paar Felsbrocken.“

„Oh, weißt du, es ist viel Zeit vergangen seit damals.“ Sie sah mich fast etwas mitleidig an und meinte, mein anderes, zurückgebliebenes Ich wäre seitdem nicht untätig gewesen. Schließlich handelte es sich ja um eine Traumstraße und somit stünde es jedem Suchenden frei, sich ein eigenes Weltbild zu erschaffen.

Mir fiel die Kinnlade nach unten. „Du meinst, ich habe mich nur hinter dieses dicke Gemäuer geträumt, damit mich niemand mehr erreichen kann?“

Das Nicken des Mädchens bestätigte meine schreckliche Vermutung. „Du hast dich völlig abgeschottet von der Außenwelt und warst nur noch damit beschäftigt, deinen möglichen inneren Erkenntnissen nachzuhängen. Darüber hast du den anderen Teil von dir, den du losgeschickt hast, die Szenarien der Hölle zu durchleben, irgendwann vergessen.“

Nach einer kleinen Pause zeigte sie wieder auf die Mauer: „Das Meditieren ist ihm nicht bekommen. Er ist ein ziemlicher Grübler und Griesgram geworden, der nur noch einsam in seiner Ecke hockt und im Stillen die Schlechtigkeit dieser Welt betrauert. Wir werden uns etwas einfallen lassen müssen, um ihn aus dieser Haltung herauszulocken.“

Meine Stimmung war mittlerweile auf einem neuen Tiefstpunkt angelangt. Doch die Kleine machte mir Mut: „Noch ist nicht alles verloren, denn du hast dir vorsichtshalber noch einen anderen Gefährten ausgewählt, der dir, so sehr du ihn zeitweise auch schon verwünscht hast, doch stets ein guter Kamerad in der Not war.“

„Was für einen Gefährten?“ schluckte ich schwer. Ihre Worte hatten mich auf dem falschen Bein erwischt.

„Komm, die dunkle Seite deiner Gefühle konntest du mit dem Gorgonenkuss erlösen – nun wollen wir deinen an der Traumschwelle zurückgebliebenen Verstand befreien, damit du wieder deine Ganzheit erlangst“, gab sie mir Hoffnung.

„Mein an der Traumschwelle zurückgebliebener Verstand?“ wiederholte ich verdattert und musste dabei ein so dummes Gesicht gemacht haben, dass sie herzhaft zu lachen begann.

„Ja, deinen kleinen schlauen Kerl, den du geopfert hast, als du dich entschlossen hast, deinem Lehrer durch das Unbewusste zu folgen. Seitdem pendelst du nur noch zwischen den spirituellen und virtuellen Welten und hast den Kontakt zur menschlichen Realität verloren.“

„Du meinst mein Selbst, bevor ich Akron begegnet bin?“

„Nein, das Ich, das du an der Oberfläche der Träume zurückgelassen hast“, erwiderte das Mädchen. „Ahnst du, wer es ist?“

„Mir schwant Schreckliches“, entgegnete ich, als fühlte ich mich durch diese Erklärung beruhigt, doch dann durchfuhr ein Schauer meinen Körper, gepaart mit einer verzehrenden Neugierde, als eine etwas unförmig geratene Gestalt pfeifend und auf allen Vieren hüpfend um die Ecke bog und mir seine Hand zum Willkommensgruß entgegenstreckte.


„Richtig“, grinste sie ein bisschen unverschämt, „es ist dein Verstand.“ Ich stutzte, denn in dem mir bereits vertrauten Kostüm des Harlekins aus der Zwillinge-Hölle, unter dessen bimmelnder Mütze mich sonst der viel zu groß geratene Kopf meines Doppelgängers angrinste, glotzte mich ein kleines, affenähnliches Wesen an.

„Wen hast du mir nur herbestellt?“ empörte ich mich beleidigt. „Hat sich mein Gehirn schon auf das Niveau eines Schimpansen zurückentwickelt?“

Das Mädchen aber ging lachend an mir vorbei und streichelte die seltsame Erscheinung liebevoll. „Weißt du denn nicht, dass der Affe das Tier des Thoth, des Gottes der Weisheit, ist?“ verteidigte sie diesen Clown. „Hab keine Angst. Er ist ja nicht wirklich. Er ist nur ein Energiefeld in deinem Kopf.“

„In meinem Kopf?“ Ich fühlte einen Stich im Gehirn, als ob mein Bewusstsein von selbst in einen anderen Zustand überging.

„Natürlich – wo sonst? Schließlich ist es dein Verstand“, hörte ich die Stimme des Mädchens, aber plötzlich war ich mir auch nicht mehr sicher, ob ich sie innerhalb oder außerhalb von mir wahrnahm.

„Ich hoffe, du regst dich ab und machst mir keinen Kummer“, klopfte mir der kleine Bursche voller Mitgefühl auf die Schulter, und gleichzeitig überströmte mich ein Meer voller Freundschaft und Zuneigung.

„Verflixt“, suchte ich die Verbindung zum Mädchen, denn ich spürte, wie seine Berührung irgendwie durch mich hindurchging – sie berührte Herz und Seele. „Ich spüre ihn so tief.“

„Ganz einfach – es ist die Liebe zur Kontrolle, die euch verbindet.“

„Tatsächlich?“ Langsam dämmerte mir, dass vieles, was in dieser Welt zu sehen war, auf einer anderen Ebene existierte, als ich mir das gewohnt war. Es schienen da mehrere Energieteile von mir zu existieren, Wesen, die in mir eine Rolle spielten, aber von denen ich im normalen Leben keine Ahnung hatte.

„Na klar – alles, was du siehst, ist eine Illusion. In Wirklichkeit befinden wir uns in dir“, kläffte er mich heiter an.

„Ach, dann benötigen wir den geträumten Verstand, wenn wir die innere Welt bereisen, damit wir die Wirklichkeiten jenseits der dreidimensionalen Realität im Nachhinein nachkonstruieren können“, hüstelte ich gedehnt.

„Du hast es begriffen! Die körperlichen Sinne erlauben uns, die materielle Welt zu verstehen. Auf die höheren Sinne jedoch, die uns die spirituelle Realität wahrnehmen lassen, können wir außerhalb unserer Träume nicht zugreifen. Also benötigen wir den Verstand. Da der äußere Verstand aber die Schwelle zum Unbewussten nicht überwinden kann, bedienen wir uns eines Tricks. Wir basteln uns eine Art Verstand auf der Traumebene zusammen, einen geträumten Träumer, der uns hilft, uns zu erinnern und die erlebten Szenen im Nachhinein zu analysieren.“

„Langsam beginne ich zu verstehen.“ Ich war drauf und dran, den Zugang zu meinem Unbewussten zu erzwingen.

„Du hast dein Bewusstsein so stark auf die geistige Ebene fokussiert, dass wir mit dem Verstand zusammen ein Trio Infernale bilden können – eine Speerspitze, um den Panzer deiner alten Verdrängungen zu durchdringen.“

Bevor sie weiterreden konnte, wandte sich der Affe des Thoth direkt an mich: „So, Kinder – genug des Geredes! Lasst uns nun zum eigentlichen Thema kommen. Was uns erwartet, erfordert höchste Aufmerksamkeit. Diese unaufgearbeiteten Alpträume erinnern an das Eindringen in eine verstaubte, vergessene Horrorkammer.“

Inständig hoffend, dass dies nicht wieder irgendeine ersonnene List meines eigenen Schalkes war, der sich stets freute, wenn er mich mit seinen Eulenspiegeleien aufs Glatteis führen konnte, machte ich zwei Schritte auf ihn zu, um ihn etwas besser in Augenschein zu nehmen. „Soso, du Weisheitstier“, erwiderte ich freundlich, „dann wäre es schön, wenn uns dein tierischer Instinkt einen Weg aufzeigen könnte, wie man in dieses dicke Gemäuer hineinkommen kann. Damit wir dem Alten auf den Pelz rücken können. Und zwar mit Vollgas, denn die Temperatur hier unten gleicht der eines Kühlschrankes.“

Er zog sein Kostüm am Kragen zurecht, als ob es sich um die Lederjacke eines Rock’n’Rollers handelte, nestelte an einem imaginären Reißverschluss und zauberte schließlich eine Sonnenbrille aus einer verborgenen Tasche heraus und setzte sie auf: „Um deinen unbewussten Teil zu erreichen, müssen wir dein bewusstes Fühlen innerhalb deiner Persönlichkeitsstrukturen verschieben – sozusagen ein Surfen auf verschiedenen Bewusstseinsebenen.“

Das Mädchen, dessen Lippen bereits schon leicht blau angelaufen waren und das ebenfalls am ganzen Leib schlotterte, seufzte: „Ach, ich würde so gerne wieder einmal auf einer bunten Blumenwiese spielen, in den frischen Gräsern mich wälzen und im trunkenen Blütenmeer mich suhlen …“

Tief in ihrer Seele leuchtete einen Moment der Paradiesgarten in einem Meer von Gänseblümchen, Lilien, weißen Nelken, Rosen, Veilchen und Gladiolen auf, und aus ihrem Mund strömte der berauschende Geruch von Jasmin und trunkenen Orchideen. Blühende Fliederbüsche spielten mit dem warmen Wind, deren schwer berankte Äste an die Gesten ägyptischer Königsschlangen erinnerten, die der Nachtgöttin huldigten.

„Keine schlechte Idee“, pflichtete mein Verstand ihr bei, „ich denke, von einem liebreizenden Kind lässt er sich am leichtesten beeindrucken.“

Dann verschwanden die Blumen wieder, eine nach der anderen, und an deren Stelle schoss ein rubinroter Teppich voller Asphodelen auf, die Blume der Persephone, der dunklen Seite der Großen Mutter, die die Schatten der Toten in der Unterwelt beherbergt, die sich erst nach langer Zeit verflüchtigen. Und wie mit Zauberhand zog er eine Asphodele aus dem virtuellen Grund und überreichte sie ihr mit einer höflichen Verbeugung. „So sei’s beschlossen: Wir bringen den Alten wieder ins Blumenparadies zurück …“

„Das ist ja interessant. Wieso glaubst du, dass sich der Eremit von einer Lolita so leicht um den Finger wickeln lässt?“ suchte ich neugierig in Erfahrung zu bringen.

„Na, weil die Kleine all die Anteile verkörpert, die er in seiner Vergangenheit abgespalten hat und seitdem vehement verleugnet“, antwortete der Meister des Scharfsinns etwas herablassend, „nämlich Offenheit, Neugier, Empfindsamkeit, Hingabe, na eben alles, was er aus Angst vor Kontrollverlust in die Wüste geschickt hat.“ Dann schaute er mich scharf an: „Du bist doch auch nur bereit, jene nüchternen Gedankenmodelle zuzulassen, von denen du annimmst, sie mit rationaler Verstandeskälte kontrollieren zu können.“

Ich nickte schuldbewusst. „Verstehe. Hm, wie wäre es, wenn wir versuchten, ihm, äh…, also mir, wieder etwas Hoffnung zu schenken?“

„Vergiss es!“ winkte er ab. „Auf dieser Stufe machst du einem alten Sünder nichts mehr vor, da er bereits alles weiß, was es seiner Meinung nach zu durchleiden gibt.“ Dann verdrehte er die Augen nach oben und tippte sich an die Unterlippe, „es sei denn …“


„Es sei denn was?“ rief ich ungeduldig, denn die Grabeskälte an diesem Ort drohte mir langsam mein Denken einzufrieren. „Raus damit, ich muss hinein, koste es, was es wolle!“

„Du meinst, du musst um jeden Preis hinaus“, korrigierte mich das Kind.

„Wie auch immer“, winkte ich ärgerlich ab, da ich wenig Lust auf Diskussionen um Spitzfindigkeiten verspürte.

Mein Verstand schnippte mit den Fingern. „Ich hab’s! Wir machen ihm ein solch verlockendes Angebot, das er nicht ausschlagen kann.“

„Und das heißt?“ entgegnete ich leicht verunsichert, denn mir schwante, dass der zu entrichtende Preis für mich nichts Gutes heißen konnte.

„Das heißt“, grinste mich der Affe schelmisch an, „du bietest ihm an, mit ihm den Platz zu tauschen. Darauf ist er nicht vorbereitet, und deshalb hat er auf diesen Vorschlag keine Abwehrstrategie. Ihr werdet sehen.“

Mein entrüsteter Gesichtsausdruck ließ meine beiden Begleiter in schallendes Gelächter ausbrechen. Im gleichen Moment bröckelte von der Mauer ein großes Stück Putz herab, und im nächsten Augenblick löste sich ein gewaltiger Stein aus seiner Verankerung und fiel mit einem polternden Geräusch herab.

„Na bitte“, frohlockte mein kleiner Hirnfucker, „unser Gelächter zeigt schon seine Wirkung.“ Eine kleine Öffnung war in der Mauer entstanden, nicht groß, aber dennoch breit genug, sodass ich meine Finger hineinstrecken konnte, um den Stein aus dem Mörtel zu lösen. Sogar mein Verstand ließ sich nicht bitten, Hand anzulegen, und so zerrten wir die nächsten Steine mit vereinten Kräften hervor.

„Es ist die Lücke, die entstanden ist, als du dein Bewusstsein zwischen den Träumen verschobst ...“, strahlte mich das Mädchen an und dann zwängten wir uns einer nach dem anderen durch die enge Öffnung.


Ich erblickte ein gutes Dutzend erratischer Blöcke, die aussahen, als ob gefallene Meister aus dem oberen Teil der Säulen paralysierte nackte Leiber mit verkrümmten oder zerschmetterten Gliedern herausmoduliert hätten. Dazwischen befanden sich mannshohe Eisklötze, in denen Menschen mit eingefrorenen Schmerzensschreien auf den Lippen in schrecklichen Posen gefangen waren. Das Ganze erinnerte an mittelalterliche Folterszenen, bei denen die geschundenen Körper aufs Rad geflochten waren, oder dann waren die Köpfe so unnatürlich nach hinten gebogen, als ob der Nacken gebrochen wäre. Auf irgendeine Weise erinnerten diese teuflischen Verzerrungen auch an die gestalterischen Formen in der expressiven Kunst zum Thema Folter – Reflexionen eines schrecklichen Zaubers, der sich in dieser Umgebung zu einer beeindruckenden Erhabenheit ausweitete.

Am Ende des Ganges, von einer schwachen Lichtquelle erhellt, stand ein kristallener Kubus wie ein riesiger Eisblock, auf dem eine Gestalt in brauner Kutte thronte. Der verkrümmte Leib brachte in seinem schöpferischen Ausdruck den Abgrund des Entsetzens so meisterhaft zur Geltung, als ob er die Vorgaben von Bosch oder Munch übertreffen wollte. Der Vereinsamte schien völlig in sich versunken und machte keinerlei Anstalten uns zu begrüßen, geschweige denn, auch nur seinen Blick zu heben. „Er meditiert über den Schmerz seines unerlösten inneren Kindes“, machte sich der Verstand in meinem Kopf bemerkbar, „welches wie ein Embryo in ihm eingeschlossen ist“, und gemessenen Schrittes gingen wir auf ihn zu. Es schien mir, als wären seine Körperfunktionen ausgeschaltet und sein Geist völlig vereist, und hinter seiner Erstarrung spürte ich mein eigenes psychisches Muster, Ängste und Unkontrolliertheit hinter einer Form der Meditation zu tarnen.

Im Inneren des Eises


Ich befand mich in einem gläsernen Käfig der Seele, in dem das Wort Zeit jegliche Bedeutung verloren hatte. Die entsetzliche Kälte schien all meine Gedanken und Empfindungen gelähmt zu haben, Freude, Trauer und jegliches Hoffen, alles war von mir abgefallen und einem unwiderruflichen Sehnen nach Frieden und ewiger Ruhe gewichen. Und aus den Tiefen der Erinnerung dämmerte mir wie ein abgespaltener Teil, der als eine Art Krebszelle in meiner Vergangenheit wucherte, das schreckliche Spiegelbild meines Doppelgängers entgegen, eine in einem Eisblock gefangene Gestalt. Als ich schon dachte, für ewig mit ihm zusammen an diesem düsteren Ort vergessen zu sein, in der endlosen Stille zu veröden, aus deren tiefsten Tiefen jene Weisheit zu mir zu sprechen begann, für die der menschliche Verstand normalerweise kein Gehör hat, hörte ich plötzlich Stimmen in der Ferne und leise Schritte, die sich meinem Gefängnis näherten. „Du versuchst, die Zelle aufzubrechen, in der die verdrängten Teile deiner Erinnerung eingespeichert sind, den gläsernen Abwehrpanzer, der dich vor den unangenehmen Auswirkungen deiner eigenen Wahrheit bewahrt“, hörte ich eine Stimme von außen zu mir sagen, „wie ein unverarbeitetes Bild in der Hölle schmerzhafter Erinnerungen.“

„Aha! Und jetzt?“ Ich kratzte mich am Kopf. „Was machen wir jetzt? Hat irgendeiner von euch beiden eine Idee?“

Der Affe schob mich noch ein Stück näher an den Block heran. „Pst! Lass dich nicht ablenken. Ich spüre – in dir reift ein Entschluss.“

Ich schluckte. Den Optimismus meines Verstandes sollte man haben, dachte ich. Wie sollte ich es anstellen, einem seit Jahren meditierenden und in sich versunkenen Yogi irgendeine menschliche Regung zu entlocken? So stand ich also eine Weile nur ratlos da. Doch da keiner der beiden den Anschein machte, mir zur Hilfe zu kommen, fasste ich mir schließlich ein Herz: „Verzeihen Sie, wenn wir es wagen, Ihre Meditation zu stören“, richtete ich meine Worte zaghaft an die bewegungslos verharrende Gestalt, „aber wir haben uns verlaufen. Gestatten Sie uns die Frage: Wo sind wir hier?“

Keine Reaktion – nur ein leises Knirschen im Gestein. Die entsetzliche Kälte schien all unsere Gedanken und Empfindungen zu lähmen: Jedes Bemühen um Kommunikation schien sofort einzufrieren.

Mein Verstand verdrehte genervt die Augen: „Wenn du den meditierenden Koloss aus seiner Reserve locken willst, musst du ganz anders vorgehen. Wie heißt doch der Spruch? Richtig – nur ein sich selbst bewusster Narr ist weiser als Buddha!“ Mit seinen langen Affenarmen nahm er sich seine bunte Narrenkappe vom Kopf und reichte sie mir mit einem Augenzwinkern. Und mit einem verschmitzten Lächeln schob er die Sonnenbrille hinterher: „So kann er dich nicht auf den ersten Blick erkennen!“

Mit skeptischem Blick setzte ich mir die Maskerade auf Haupt und Nase und begann etwas unbeholfen ein paar tänzelnde Schritte zu vollführen. Das Mädchen klatschte begeistert in die Hände, was mich zusätzlich anspornte. So wirbelte ich lachend um mich selbst, stieß gackernde Laute aus, zog die skurrilsten Grimassen und schlug sogar einen Purzelbaum. Schwer atmend hielt ich schließlich inne, um mich zu vergewissern, ob meine Bemühungen bei dem Alten bereits gefruchtet hatten. Doch der saß auf seinem gläsernen Würfel immer noch wie festgewachsen und dachte nicht im Traum daran, auch nur die geringste Miene zu verziehen. Mein verzweifelter Blick wanderte zu dem Mädchen.

„Das Beste scheint mir, wenn wir jetzt Körperkontakt aufnehmen“, ermutigte sie mich und gab mir in Richtung auf den Alten einen heftigen Stoß. Dabei fiel mir die Sonnenbrille vom Gesicht, direkt vor ihren Fuß. Ich vernahm ein splitterndes Geräusch. „Das gibt dir den richtigen Schwung zur Bewusstseinsveränderung“, setzte sie noch einen drauf und ich fühlte ihren zukünftigen Stiefel im Genick, „sonst dümpelst du bis zum Ende dieses Buches in deiner verbohrten Haltung dahin.“

Da tat ich, zu meiner eigenen Verblüffung, einfach einen Satz nach vorne, packte den Eremiten mit festem Griff vorne an seiner Kutte und zog ihn mit einem starken Ruck von seinem Podest. Ich sah kurz in die weit aufgerissenen Augen seines entsetzten Gesichts, in denen ich für einen Sekundenbruchteil mich selbst erkannte. Ich fühlte das Grauen hinter seiner Stirn, die erloschene Seite meiner Seele, die von hundert Enttäuschungen erdrosselt irgendwo in jener düsteren Kammer lag, in der wir uns gerade aufhielten. Und noch bevor er mit seinem Gesicht am Boden aufschlug, war ich in ihm und hatte seinen Platz auf dem Podest oben eingenommen. Es war ein vergessener Ort, an dem das Wort Zeit jegliche Bedeutung verloren hatte. Der Zweck dieses Aufenthaltsraumes, in dem ich meinem abgespaltenen Teil inmitten seiner Einsamkeit und seinen Qualen begegnete, schien darin zu bestehen, sich selbst wie die Karte Der Gehängte im Tarot aufzugeben.


„Was in Gottes heiligem Namen erdreistet ihr euch?“ empörte sich der von seinem Sockel gestürzte Greis, während das kleine Mädchen jauchzte und mein Verstand einen Freudenhopser vollführte. „Tag und Nacht, Jahr um Jahr sitze ich hier, meditiere in die Stille und versuche mich durch Verzicht und Entsagung in Gott gefälliger innerer Einkehr zu üben, und da kommt so ein rotzfrecher Rüpel daher, stößt mich gewaltsam beiseite und bringt mich obendrein dazu, mein Schweigegelübde zu brechen …“

Mein Verstand kam ihm zu Hilfe: „Gewaltsam, aber nicht unaufgefordert – denn wer könnte es auch anders sein als wir selbst, die uns auffordern, uns dahin zu stellen, wo uns das Schicksal erreichen kann? Warst du es nicht selbst, dessen mentale Geisteskraft uns anzog – uns den Zugang in das Innerste öffnete, indem sie den Stein von innen aus der Nische drückte? Oder hast du das schon wieder verdrängt?“

Doch der Alte ließ sich nicht beirren, erhob sich ächzend und fuhr mit seiner Schimpftirade fort: „Schweigt, ihr Narren! Euer unverfrorenes Gelächter war es, das hier unvermittelt einbrach. Seit Ewigkeiten hat es niemand mehr gewagt, diese heiligen Hallen mit einem Lachen zu entweihen. Ihr verhöhntet dieses Sanktum innerer Einkehr. Ein Sakrileg, das seinesgleichen sucht!“

Das Mädchen trat unbeeindruckt vor den Alten hin. „Und was gedenkst du nun zu tun?“ lächelte sie ihm forsch ins Gesicht.

„Was soll die Frage?“ Der Eremit blickte entgeistert in die Runde. „Ich setz mich wieder auf meinen alten Platz.“

„Keine Chance“, entgegnete mein Verstand unvermittelt, „der Deal war“, dabei deutete er auf mich, „dass er die Rolle mit dir tauscht. Es bleibt dir gar nichts anderes übrig, als mit uns zu kommen. Packen wir’s, Opa – mach den nächsten Schritt!“

Die Lächerlichkeit dieser grotesken Situation drohte den alten Einsiedler völlig aus der Bahn zu werfen. Sein ganzes Weltmodell schien in sich zusammenzusacken, und wie zur Bestätigung fielen in diesem Moment alle geschundenen und gequälten Leiber von ihren Sockeln und zerbarsten am Boden zu einer gesichtslosen Masse.

„Den nächsten Schritt ...“, stammelte er fast ängstlich, „… wohin?“

Die Kleine gab die unbefangene Antwort: „Na, einfach der Nase nach, an jeden Ort, wohin dich deine Schritte tragen. Du brauchst dir überhaupt keine Sorgen zu machen, es ist ja einer da, der sich entschlossen hat, deine schwere Bürde zu tragen.“

„Ihr meint, ich kann einfach so mit euch mitkommen“, kam des Alten unsichere Antwort, „aber“, er zeigte mit dem Blick in meine Richtung, „was ist mit ihm?“ Und mit einem Schlag war mir das ganze Ausmaß meiner furchtbaren Situation bewusst: Zwar hatte ich die versteinerte Hülle mit Hilfe meines Verstandes und der Seele befreit, aber nur zum Preis, indem mein anderes Ich, das nun statt seiner diesen einsamen Platz eingenommen hatte, in der Leere der Finsternis zurückbleiben musste.

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, schließlich hat er sich freiwillig entschlossen, deine schwere Bürde zu tragen“, gab die Kleine eine unbefangene Antwort, und der Affe des Thoth gab noch einen drauf: „Klar, Vater, so wie einst der mythische Atlas, als Herakles ihm anbot, statt seiner für eine Weile das Himmelszelt zu übernehmen, damit er ihm die Äpfel der Hesperiden pflücke. Und weil du klüger bist als der Titan, was keiner hier bezweifelt, nutzt du deine Chance, um diese Hürde ein für allemal hinter dir zu lassen. Komm, Alter, es ist soweit …“


Und bevor der Greis etwas erwidern konnte, hatten das Mädchen und der Verstand ihn bereits zu beiden Seiten an den Armen untergehakt. Vorsichtig zogen sie ihn auf dem gleichen Weg wieder hinaus, auf dem wir hergekommen waren. Innerlich versteinert und unfähig, mich zu rühren, schaute ich ihnen schmerzvoll nach, als sich das Trio aus meinem Gesichtskreis entfernte. Eine Weile noch war sein entrüstetes Gestammel zu vernehmen, dann hatte die Dunkelheit auch seine Stimme verschluckt. Es blieb mir nichts anderes übrig als mich der endlosen Stille zu überantworten, aus deren tiefsten Tiefen jene Weisheit zu mir zu sprechen begann, die sich aus zahllosen Erfahrungen heraus einst selbst aus sich geboren hatte. Das leise Knirschen von Gestein und das dumpfe Einrasten der sich wieder schließenden Maueröffnung war das letzte fremde Geräusch, das für lange Zeit an meine Ohren dringen sollte.

„Wie ein gefangenes Kind in der Hölle unverarbeiteter Erinnerungen“, hörte ich mich leise sagen. Dann verblasste meine Identität. „Verschlossen im Grauen – im versteinerten Weltbild“ waren meine letzten Worte, die aber so schwach waren, dass sie keiner hören konnte.

Dantes Inferno III

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