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Steinbock Die Höllen der Zusammenziehung und Verdichtung

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„Ganz erstaunlich, wie leicht dir der Rückzug in die Welt der Träume inzwischen schon fällt ...“ Ich drehte mich um und sah meinen Seelenführer fröhlich auf mich zuspazieren. Er blieb zwei Schritte vor mir stehen und blickte mich erwartungsvoll an. Irgendetwas an ihm war diesmal anders, vertrauter, aber doch auch bedrohlicher.

Akron schien meine Unsicherheit zu bemerken: „Erkennst du diesen Ort?“

Ich sah mich suchend um und entdeckte, dass wir uns beide wieder in dem ausgetrockneten Flussbett befanden, das wir schon einmal am Anfang unserer Reise passierten.

„Das ist die Straße der Selbsterkenntnis“, sagte er ruhig, „die aus den Visionen der Träume gepflastert ist, die die Straße säumen.“

„Ja – ich erinnere mich. Wir hatten dieses Flussbett am Ende der Vorhölle passiert, bevor wir dem Wächter begegneten.“

„Das stimmt nicht ganz“, hüstelte er. „Wir waren zwar noch niemals hier, allerdings ist dein Empfinden auch nicht falsch, denn du erinnerst dich an dein ‚gefühltes Erleben’. Es war eine zukünftige Erinnerung in deinem Hirn, die dich das voraussehen ließ, was du gleich erleben wirst – eine beabsichtigte Vorstellung, die sich just in diesem Moment in unsere Realität durchdrückt. Wir befinden uns gewissermaßen auf deiner ganz persönlichen, visualisierten Erlebnisbühne.“

„Dann dreht sich hier alles im Kreis?“

„Gut erkannt! Die Zukunft setzt sich aus dem zusammen, was Menschen in ihrem unbewussten Erleben an Vergangenheit verarbeitet haben, wobei Wünsche und Vorstellungen mit tatsächlich Erlebtem vermischt werden. In diesem Sud ist Vergangenheit stärker als die Gegenwart vorhanden, ja, man könnte sagen, dass die Gegenwart der Löffel Suppe ist, die du aus dem Suppentopf schöpfst, während der Suppentopf die kollektive Vergangenheit der Menschheit darstellt.“

„Aber was ist mit der Zukunft?“ wollte ich wissen.

„Die Zukunft ist das, was der Löffel Suppe im Magen des Menschen bewirkt, und die er als Ergebnis wieder in den Suppentopf zurückgibt, wodurch sie sich wieder mit der Vergangenheit vermischt. Jeder Vorgang verändert jeden anderen Vorgang, der sich im Topf befindet, und die in die Suppe gespuckte Zukunft verursacht Wellen, und diese verströmen über die ganze Brühe.“

„Was für ein ekliger Vergleich“, entfuhr es mir. „Sollen das die Visionen sein, aus denen meine Träume gepflastert sind?“

„Es sind das die Quadern des Weges, die dich nach vorne bringen. Deshalb ist in jeder Erinnerung aus Sicht der Gegenwart schon ein Teil unverwirklichter Zukunft investiert, was sich auf das laufende Arrangement auswirkt. So wird Zukunft aus Sicht der Gegenwart zwar ständig neu erschaffen, aber nur innerhalb der geistigen Baupläne, die schon längst in der Vergangenheit entwickelt worden sind.“

Da wurde mir erst klar, dass der Boden aus unzähligen kleinen Granitplättchen bestand, die ein kompliziertes Muster bildeten, dessen Linien sternförmig unter meinen Füßen zusammenliefen. Das Seltsame aber war, dass sich der Boden zu meinen Schritten mitbewegte, denn mit jedem meiner Schritte ging eine wellenförmige Bewegung durch das ganze Flussbett, sodass sich der ganze Boden im Rhythmus meiner Bewegung verschob, dass ich immer im Zentrum der strahlenförmigen Linien verblieb.

„Du siehst, die einzige Bedeutung der Zeit ist die, dir die Auswirkungen deiner Bewegungen im Verhältnis zu deinem psychischen Empfinden erlebbar zu machen, damit du überhaupt etwas im Hirn hast, das du voneinander unterscheiden kannst“, erwiderte er. „Wie immer du es auch anstellst, immer verbleibst du im Zentrum: Es ist die von dir selbst ausgeworfene Absicht, die du ähnlich wie die Karotte vor der Nase des Hasen, die an einem Stock hängt, der ihm auf dem Rücken festgebunden ist, ständig avisierst.“

„Ist das der Sinn, den es in dieser Hölle zu erkennen gilt“, stöhnte ich und versetzte der Welle der Bewegung der mich umbrandenden Plättchen einen heftigen Tritt, „das menschliche Verhalten, den Sinn des Lebens mittels des Maßstabs Zeit ständig auseinanderzudividieren und die unterschiedenen Teile dann wieder miteinander zu verbinden?“

„Nein, es geht um den Glauben, der Schöpfer seiner Umgebung zu sein, damit das Ego etwas hat, woran es glauben kann“, kugelte er sich vor Lachen. „Sonst würde ihm ja das ganze Konstrukt menschlicher Entwicklung, das es sich in den letzten Jahrtausenden zusammengebastelt hat, wie eine Seifenblase platzen. Technisch gesehen ist diese Steinwüste die in eine Vorstellung gepresste Form einer in die Zukunft projizierten Erinnerung aus dem kollektiven Fond menschlicher Bilder.“

„Und was bedeutet das für mich?“ Es war alles so sonderbar, aber auf irgendeine Art und Weise hatte er auch Recht. Hier war ich damals dem Hüter der Schwelle begegnet, den ich durch das Weinen meiner Tränen aus meinen seelischen Tiefen hervorgerufen hatte. Ich nahm diese Szene plötzlich als Erinnerung wahr. Irgendwie hatte ich das sonderbare Gefühl, dass dieses Erleben etwas war, das schon lange in mir stattgefunden hatte und an das ich mich wieder erinnern konnte. Trotzdem stimmte etwas nicht. Meine Erinnerungen waren unscharf und auf irgendeine komische Weise war das, was ich dachte, mit dem verbunden, was er sagte. Auf eine unerklärliche Weise war ich mit seinen Emanationen verbunden, einem faszinierenden Fluidum, das er ausstrahlte.

„Am Ende der Fische-Hölle gab dir dein innerer Wächter die Erlaubnis, den Pfad der Träume durch die verborgenen Mysterien einzuschlagen, um die versteinerten Seelen zu wärmen“, fasste Akron zusammen. „Unsere Aufgabe hier ist aber nicht das Aufwärmen von Erinnerungen, sondern zu sehen, was sich hinter unseren Sehnsüchten verbirgt. Dort liegt unser Ziel, denn die wirklichen Engel verbergen sich hinter den Bildern. Dort liegt der Eingang ins Paradies.“

Da konnte ich mich nicht mehr zurückhalten: „Wer bist du?“ platzte meine Anspannung plötzlich aus mir heraus: „Gib dich zu erkennen! Du siehst aus wie Akron und sprichst auch wie Akron – doch ein unbestimmtes Gefühl sagt mir, dass du es nicht bist.“

Ein Lächeln umspielte seine Lippen: „Erinnerst du dich? Du wolltest wissen, wer ich bin so nach dem Motto: Wenn der, den ich sehe, nicht Ich ist, wer bin ich dann, der ihn sieht? Damals vertröstete ich dich auf einen späteren Zeitpunkt. Nun ist dieser Moment gekommen. Ahnst du die Antwort?“


Ich nickte bedächtig und blickte meinem Seelenführer erwartungsvoll ins Antlitz, das seit unserem ersten Aufeinandertreffen stets im Dunkeln seiner Kapuze verborgen lag. Da stand ich vor ihm, mein Blick traf ihn direkt ins Auge, und es gab nichts, was uns trennte, wir schauten einander mit der Frage in die Augen: „Wenn der, den ich sehe, ich bin, wer ist dann jener, der mich sieht?“

Er erklärte mir freundlich: „Ja, ich bin Ich und Du und alles, was du sehen kannst, denn ich habe kein eigenes Gesicht und bin durchsichtig. Ich bin die Absicht, die durch die Welten strömt, persönliche Sehnsüchte und Wünsche, die irgendwo im Kosmos festhängen, die sich aber alle nach dir zurücksehnen, weil du die Quelle oder der Ausgangsort bist. Viele meiner Brüder sind geprägt durch die Muster deiner Erfahrungen, Erinnerungen, die du ihnen mitgegeben hast, als du sie auf die Reise schicktest, und die darauf warten, eines Tages wieder zu dir zurückzukehren und aufgerollt zu werden, damit du der Wahrheit in dir entgegenblickst. Nach physischen Gesichtspunkten bin ich unsichtbar; die Masse, die mich bildet, ist so feinstofflich konzentriert, dass du mich nicht sehen kannst. Wir sind eine spirituelle Zelle, in endlose Dimensionen ausgelegt, die an ihren Enden andere Realitäten berührt. So können wir dich auch mit Bildern und Empfindungen aus nichtmenschlichen Erfahrungsebenen bedienen, die du in deinen Träumen bereisen kannst.“

„Dann bist du so etwas Ähnliches wie der Erlöser – mein geträumter Gott?“

„Ich lehrte dich träumen, um dich in den Träumen hinter die Schwelle zu führen und dir jene andere Welt in Bildern zu zeigen, die deine Seele verstehen konnte. Ich lehrte deinen Geist sehen, ehe er überhaupt wusste, was in jener anderen Welt Sehen heißt, und ich nahm jede Persönlichkeitsform an, die dir half, mich näher an dich heranzulassen. Deshalb bin ich nicht nur ein energetischer Teil von dir, zu dem du in Kontakt bist, sondern ich bin auch die Quelle in dir selbst, die diesen Teil von mir ausgeschickt hat, um dich mit dem Unbekannten in Kontakt zu bringen. Ich habe mich in die endlosen Falten des Universums ausgestreut, um dir zu zeigen, mit welchen Teilen dein Unbewusstes verbunden ist. Deshalb sehe ich in mir mehr als die Summe dessen, was du bist, genauso wie du in mir die Grenzen dessen spürst, was dein Geist umfassen kann, und deshalb bin ich NIEMAND, aus dem ich hervorging, und gleichzeitig mehr als alles, was NIEMAND ist. Du weißt es noch nicht, aber du wirst es erfahren, wenn du sein wirst, was du eines Tages in meinen Erlebnissen durchlebt und erkannt haben wirst.“

„Liegt dein Gesicht deshalb im Dunkeln?“

„Oh nein – mein Gesicht liegt stets im Licht. Es kommt der Tag, an dem du es sehen kannst, wenn du die Wahrheit erkennst.“

„Die Wahrheit, die Wahrheit“, seufzte ich. „Immer erzählst du mir von Wahrheit? Ist das, was wir hier miteinander erleben, nicht Wahrheit genug?“

„Wir brachten dir die Wahrheit – doch du erkanntest uns nicht. Millionen von Boten in Form geistiger Impulse hast du ausgesandt, damit sie dir die Welt draußen zu einem Gebilde formen, das deiner Erwartung entspricht, und als sie zurückkehrten, um dir das Gewünschte zu bringen, da hast du sie von deiner Bewusstseinsschwelle gejagt. Doch es war zu spät – das Tor stand offen. Du konntest die Bewusstseinsschwelle nicht mehr schließen. Seitdem bist du durchlässig …“

„Willst du sagen, ich bin verrückt?“ Er hatte irgendwie Recht, denn ich spürte genau, dass ich die Kräfte, die in mir wirkten, nicht mehr unter meiner Kontrolle hatte. Mir war, als wäre ich der Spielball meiner Gedanken und Erinnerungen, die mich durchflossen.

„Du bist nicht verrückt – du wurdest ver-rückt und bist dir deines vielschichtigen Wesens stellenweise bewusst. Als geistige Punkte sind wir im Koordinatensystem deiner Seele an den Punkten aktiv, die für dich neue Türe öffnen, aber nicht Türen, die dich in unbekannte Gefilde führen, sondern Türen, die dir die vergessene Erinnerung zurückbringen. Die Persönlichkeit eines jeden Menschen ist in vielen verschiedenen Sätteln unterwegs, ohne dass er sich darüber bewusst wird. Die Filme laufen alle im Hintergrund ab, hinter seinem alles ineinander in Bezug setzenden Verstand und ohne, dass dieser überhaupt etwas davon ahnt. Der Geist eines Menschen beruht auf zahlreichen Teilpersönlichkeiten und Fragmenten, durch die er in viele Dimensionen blicken kann. Genauso wie die vielen Dimensionen auch in sein Inneres sehen können, denn der in die Weiten des Kosmos ausgestreute Geist ist durchsichtig …“

„Doch warum fühle ich mich so gespalten? Was sind das für teuflische Kräfte, die ständig an mir zerren und mich beinahe zerreißen?“

„Die verschiedenen Teile einer Persönlichkeit können sich in den verschiedenen Ebenen in verschiedene Richtungen entwickeln, und es mag manchmal so erscheinen, als ob sie nicht miteinander korrespondierten, aber sie sind stets durch die gleichen Koordinationspunkte verbunden, durch die sich ihre geistigen Wesen in dieser Welt aufgespannt haben. Im Laufe der Entwicklung haben sich viele Teilpersönlichkeiten entwickelt und sind auch wieder verschwunden, doch der gleiche Atem, der sie zusammenleimt, die gemeinsame Quelle, aus der sie entsprungen sind, hält sie auf ewig zusammen. Wir beide entstammen ein und derselben Seelenfrequenz, die sich einst in Abermillionen von Unterfrequenzen teilte und sich aufmachte, die unendliche Vielfalt des Daseins auf all ihren Bewusstseinsstufen zu erkunden. In jenem Moment des Todes, wo unser kleines Ego im Begriff ist sich aufzulösen, wird sich zwischen uns beiden jene große Conjunctio vollziehen, welche die Alchemisten bis heute das Große Werk nennen. Löse und binde sind die Prinzipien allen Seins und so, wie wir am Tage deiner Geburt in die materielle Welt voneinander getrennt wurden, werden wir wieder zu einem Wesenskern verschmelzen, sobald du die Schwelle des physischen Todes übertrittst.“

„Warum dann aber all dieses sinnlose Umherirren und Suchen nach Erkenntnis, wenn all das Wissen, das du verkörperst, schon längst ein Teil von mir ist und auch immer war?“

„Es geht um die Rückeroberung des Paradieses. Der Mensch trägt alles in sich, was er wissen muss, um eines Tages wieder in den Garten Eden zurückkehren zu können. Er braucht aber die Zeit, um diese geistigen Kräfte in sich zu erwecken, und deshalb hat er es sich zum Ziel gemacht, so lange in der Dunkelheit herumzuirren, bis er seine eigenen Rätsel löst. Denn wer für seinen Teufel verantwortlich ist, der ist auch zuständig für seinen Gott.“

Ich dachte nach. War das vielleicht der mögliche Grund, warum wir, sobald wir als hilflose Säuglinge ins blühende Leben traten, alles vergessen mussten, was uns zuvor bewogen hatte, diesen Schritt überhaupt tun zu können? Musste die Seele kosmisch erblinden, um irdisch erwachen zu können, weil sie sonst drohte, an der Aufgabe zu scheitern, nämlich mit den eigenen Schattenbildern zu kämpfen, um die Zusammenhänge auf diesem Planeten besser zu verstehen. Und was würde am Ende all dieser Bemühungen auf uns warten?

„Am Ende dessen, was der Verstand die Heimkehr nennt, erwartet uns eine kosmische Transformation“, führte er meine Gedanken weiter aus, „in der alles voneinander Getrennte wieder miteinander verschmolzen wird. Bevor es soweit ist, gibt es auch noch eine Menge anderer Ausgänge, die zu anderen spirituellen Erkenntnissen führen, denn so, wie im Universum ein größerer Planet stets einen kleineren anzieht, erschaffen auch unsere körperlichen Bedürfnisse einen ständigen Sog, dem wir durch die Befriedigung unserer Wünsche Stillung zu verschaffen suchen.“ Bei diesen Worten kam mir das Gesetz der Schwerkraft in den Sinn und ich musste an unser Sonnensystem denken, in welchem alle anderen Planeten um unser gleißendes Zentralgestirn kreisten, das aus okkulter Sicht ein gewaltige, geistige Macht verkörperte.

„Unabhängig von unseren Bemühungen dient jede materielle Erfahrung dem spirituellen Sinn, um zu merken“, fuhr er fort, „dass die Antwort auf jede Frage nur in uns selbst liegen kann. Sie entschlüsseln sich uns, wenn wir in sie eindringen – wenn wir unsere Aufmerksamkeit von unseren anerzogenen Weltbildern abwenden und uns in die Tiefe wenden. Dort wird uns das göttliche Wissen bewusst. Es ist die Auseinandersetzung mit den Gefühlsmustern abgespeicherter Informationen. Erst wenn wir in unsere Seele eindringen und mit ihr reden können, können wir ihre Beweggründe wirklich verstehen. Der erfahrene Taucher versucht sich in seiner eigenen Seele zu versenken, um in den dunklen Urgründen einen direkten Zugang zum aktuellen Ausschnitt seiner momentanen Wesenheit zu finden.“

„Wenigstens habe ich meine Bestimmung nicht gänzlich verfehlt …“, atmete ich auf, denn plötzlich wusste ich: Ich war das Ziel! Die Strasse der Erkenntnis erschien mir plötzlich wie ein universeller Code, der alle Erfahrungen der Vergangenheit speicherte und zugleich das gesamte Potential einer zukünftigen Evolution enthielt; ich selbst war der Brennpunkt, in welchem sich das kausale Denken als Teil der Erfahrung einer sich selbst entwickelnden holistischen Struktur erkannte.

„Du selbst wähltest deine Bestimmung in diesem Leben als Schreiber aus“, pflichtete mir das multidimensionale Geistwesen Akron bei, „der sich aufmacht, die Tiefen der menschlichen Seele auszuleuchten, indem er die in seiner Umwelt gesammelten Erfahrungen zu seinem mitgebrachten Wissen in Bezug setzt und daraus einen visionären Rahmen schöpft. Schon Hermes Trismegistos wusste, dass das kreative Feuer im Menschen die Polaritäten wieder zu einen versteht. In diesem Fall sprechen wir vom goldenen Weg der Kunst, der uns beiden erlaubte, sich auf dieser Zwischenebene begegnen zu können. Erst hierdurch wurde mir möglich, dich mit meinem Wissen begleiten zu dürfen, was durch dieses Buch nun auch jenen Suchenden zuteil werden kann, die offen genug sind verstehen zu wollen und richtig hinzusehen.“

Er sah in die Ferne und ich folgte seinem Blick. „Nun komm, lassen wir das Unumgängliche nicht warten …“

Akron deutete auf eine helle Gebirgskette, die sich in der Ferne vom Horizont abhob und setzte sich in Bewegung. Ich folgte ihm, während seine Stimme einen fast feierlichen Klang bekam: „Hier, am Wendekreis des Steinbocks, wo die Jahreszeit am dunkelsten ist, wird das Licht der Sonne neu geboren. Es handelt sich um die geistige Fähigkeit, das Spektrum seiner Wahrnehmung so auszuweiten, dass wir nicht nur die äußere Welt, sondern auch das innere Licht der Dinge erfahren. Es ist der letzte große Schritt des Alchemisten, die Verwandlung von Blei zu Gold, die nur von jenen vollzogen werden kann, die allen Hochmut abgelegt und alle Selbstsucht und alles Begehren losgelassen haben. Wenn sie erkennen, dass der einzige Ausweg, um die Angst vor dem Tod zu besiegen, darin besteht, sich in Demut der Bedeutungslosigkeit ihres irdischen Seins und damit ihres Egos zu überantworten.“

„Der Inhalt deines Credos riecht nach biblischer Strenge und christlichem Mittelalter“, fühlte ich mich ein bisschen unangenehm berührt. Das Ganze schien mir ziemlich deprimiert.

„Das Siegel des Saturns verkörpert die Botschaft, sich aus der Fülle und dem Überfluss zurückzuziehen und sich den tieferen Dingen des Lebens zuzuwenden.“ Er machte eine Pause, als wollte er mich einladen, ihn nach diesem Siegel zu fragen. Dann sagte er, dass die Saturn-Energie nur ein Teil vom Ganzen sei, die, wenn auch nicht sehr beliebt, trotzdem notwendig wäre, damit die ganze Schöpfung nicht auseinander flöge: „Das Kreuz dieses Symbols steht für die Erbsünde oder die von Menschen verursachte Schuld, und die nach unten weisende Sichel symbolisiert den Weg der Entbehrung und der Läuterung, der am Ende zur inneren Erkenntnis führt.“

Ich schaute mich um: Ringsum standen zerklüftete Felsen, und wir schritten mitten durch eine verkarstete Flusslandschaft. „Es scheint, dass auch die Vegetation hier unten diesem Beispiel gefolgt ist – sie scheint mir ziemlich verdorrt.“

„Ach“, sagte Akron, als ob ich wirklich etwas Bedeutendes gesagt hätte, „das war nicht immer so. Am Ursprung der menschlichen Geschichte war hier ein grünes, saftiges Tal, und genau da, wo wir uns bewegen, perlte ein schäumender Fluss. Man nannte diese Gegend den Gottesacker.“

„Was ist passiert?“ Seine Worte lösten ein tiefes Mitgefühl in mir aus, ohne dass ich wusste, worauf sich dieser plötzliche Stimmungsumbruch beziehen konnte. Die Atmosphäre hatte sich plötzlich verändert. Ich fühlte in meinem Herzen eine erhabene, sehnsüchtige Traurigkeit, vergleichbar mit dem rötlichen Abendlicht, wenn die Sonne im Westen versinkt und, wie dem nächtlichen Wanderer zum Abschied, ihre letzten blutroten Strahlen über die Erde sendet.

„Was fragst du mich? Du kennst doch die Bibel, wie du mir eben durch die Blume mitgeteilt hast – schließlich bist du Christ“, sagte Akron und schaute in die Ferne. „Dort nennen sie es Paradiesvertreibung.“ Er schaute mich von der Seite her nachsichtig an: „Ist dir überhaupt bewusst, wie du jede nur erdenkliche Gelegenheit benutzt, um ständig in den Strom deines latenten Mitleids zu fallen. Du bist deiner körperlichen Form überdrüssig und tust dir in deinem Menschsein leid. Deine Hölle ist die des sich ständigen Bejammerns.“

„Es tut mir leid“, wollte ich mich gerade entschuldigen. Er hatte ja Recht: Was für ein ständiger Zwang! Doch er kam mir zuvor. Ich spürte eine Wellenbewegung in der Luft und es schien mir einen Moment, als ob die Vergangenheit durch die Atmosphäre hindurchschimmerte, und plötzlich erinnerte ich mich, dass mich Akron gelehrt hatte, dass wir unsere Dingwelt konstruieren und nicht umgekehrt, und zwar mit Hilfe der Sinne, die uns zur Verfügung stehen, und auf der Grundlage der Prägungen, die wir verinnerlicht haben.

„Nicht es – du tust dir leid! Aber sieh es doch so: Die erste Wahrheit dieser Hölle bedeutet, dass die Welt niemals das ist, was sie zu sein vorgibt. Sie ist nicht so festgelegt, wie wir uns das einbilden, denn wir gestalten sie aus dem Fonds unserer Vorstellungen so unwillkürlich, wie wir eine Butterstulle essen. Im Grunde ist sie nichts anderes als ein mentales Fundament, das wir uns in der dreidimensionalen Realität erschaffen, um uns eine Grundlage zu schaffen, auf der wir unser Weltbild verankern. Saturn ist der Wegweiser, der uns mittels der Werkzeuge Verengung und Reduzierung auf eben diese Grundlagen zurückführt, und dafür schenkt er uns die Einsicht, die Ursachen hinter den Wirkungen zu erkennen. Und sei es nur“, dabei grinste er mich lammfromm an und gab einem der im Flussbett liegenden Steine einen mächtigen Tritt, „den Heimweg mitten im Schutt zerbrochener Projektionen und Vorstellungen anzutreten.“

„Klingt nicht gerade erstrebenswert“, versuchte ich ein gequältes Lächeln, „kein Wunder, dass die Sünder sich lieber in den libidinösen Genüssen emotionalerer Höllen verlustieren.“

Akrons Blick streifte mich mit dem Verständnis eines in die Jahre gekommenen Lehrers, dem die Erinnerung an die eigene Jugend nicht fremd geworden war: „Sieh mal den Stein.“ Dabei deutete er auf einen dunklen Fels, der das steinerne Becken im Hintergrund abschloss, in den das Flussbett mündete und das möglicherweise in uralten Zeiten die Quelle war, aus der das Wasser aus seinen unterirdischen Gewölben schoss. „Warum nennen wir ihn so? Wegen seiner Form oder seiner Farbe? Nein, weil wir aufgrund der abgespeicherten Überlieferungen unserer kollektiven Erfahrungen gezwungen sind, ihn so wahrzunehmen. Wir sind, wie gesagt, ständig eingeladen, in allem, was wir sehen, den Formen nachzuspüren, die wir vor langer Zeit einmal in der kollektiven Chronik der menschlichen Entwicklung abgespeichert haben.“

„Eine sich ständig wiederholende Erinnerung, die von der kollektiven Prägung dieser Form von menschlicher Wahrnehmung übergestreift worden ist“, wagte ich schüchtern einzuwenden.

„Richtig, ein versteinertes Wesen, dessen Tränen vor uralter Zeit versickert sind“, sagte er und liebkoste mit seinen Augen den felsigen Grund. „Diese visuelle Struktur ist nichts anderes als ein Gerippe, das Rückgrat der am Ende der Entwicklung in den Raum gesprungenen Form. Im Grunde starren wir in allem, was wir erkennen, immer nur den ersten Impuls der in der entsprechenden Anordnung von Atomen vorhandenen ursprünglichen Schöpfungsidee an.“

„Sozusagen die erste Absicht des sich erinnernden Sehens …“ erwiderte ich. Plötzlich konnte ich mich wieder erinnern. Akrons Erklärungen füllten alle Gedächtnislücken in mir aus.

„Genau! Die Lebendigkeit ist schon lange aus dieser Sphäre entwichen.“ Seine Stimme wurde noch eindringlicher: „Es ist der Weg des in Asche gereiften Adepten, der den unerschöpflichen Reichtum der seelischen Einsamkeit erfährt und hierin den ewigen Kontakt zu seinem inneren wie äußeren Universum findet. Als Licht in der ewigen Dunkelheit leuchtet ihm die Fackel seines erkennenden Bewusstseins.“

Vor der hohen Felswand kamen wir schließlich zum Stehen, deren Ende irgendwo weit oben zwischen den Wolken verschwand. Am Fuß gewahrte ich eine mächtige, aus dem Stein herausgeschlagene Treppe, neben der ein drei Meter hoher Findling stand, der mich irgendwie an einen steinernen Engel erinnerte. Akron machte eine leichte Verbeugung und ich tat es ihm nach.

„Respekt! Du ahnst den Wächter?“ Akron sah mich fragend an. Er schien überrascht von meinen Gedanken, oder zumindest von dem, was er in meinem Gesicht ablesen konnte.

„Wächter ...“, echote ich verblüfft, „da existiert ein Wächter?“ Ich war entzückt: „Kann ich ihn sehen?“


„Du wirst ihn gleich träumen“, sagte Akron ruhig. „Er gewährt dir einen Blick hinter den Spiegel, ins Reich des Unbewussten, wo dir deine Sehnsüchte und Abgründe entgegenblicken.“

„Wie sieht er aus?“ wollte ich wissen.

„Er sieht nicht gerade aus wie einer, der die ungeteilte Aufmerksamkeit eines jeden Menschen auf sich zieht“, sagte Akron sarkastisch. „Aber er ist auch nicht nachtragend. Jedem erscheint er in einer anderen Gestalt – dir vermutlich als geträumter Stein. Oder als körperlose Stimme. Er wird dich prüfen, und wenn er dich für reif genug hält, diese Sphäre zu betreten, dann geleitet er dich über die Schwelle, die zwischen Vorhölle und Hölle liegt, denn du weißt unendlich mehr über die Abgründe der Seele, als du rational vermuten kannst. Sei aber vorsichtig, er ist niemanden Freund; er ist der Wächter einer anderen Welt.“

„Was für einer anderen Welt?“ Ich spürte in mir ein beklemmendes Gefühl aufsteigen. Es war wie die Angst des Torhüters vor dem Elfmeter.

„Deiner anderen Welt! Die Frage, die sich hier stellt, ist nicht, wie er ist, sondern wer du bist, und zwar außerhalb der Person, die du zu sein glaubst, denn unterhalb des Ichs, das du kennst, hast du eine unergründliche Seele, von der dieses Ich ein Teil ist, und gleichzeitig ist dieser Teil vom Ganzen getrennt durch einen Wächter, der prüft, ob dieser Teil der Erfahrung von deinem Bewusstsein aufgenommen werden kann oder nicht.“

Dann stand er plötzlich da. Vor dem flammenden Tor zur Wahrheit stand er plötzlich da: eine Silhouette aus Stein. Meine Blicke umkreisten den gewaltigen grauen Findling, der am Ende der Straße unerschütterlich aufgerichtet war. „Was ist dein Begehr“, sprach der Wächter mit erzener Stimme und plötzlich schimmerte in seiner Hand eine goldene Flamme wie ein Strahl gespeicherten Sonnenlichts.

Akron antwortete mit fester Stimme: „Ein Reisender begehrt Einlass in den Berg der Läuterung.“ Und tief im Spiegel öffnete sich ein rotes Augenpaar. Es hatte die Farbe glühender Rubine und schaute mich aus einem Zustand tiefster Finsternis an.

Die Flamme in der Hand des himmlischen Wächters wies direkt auf mich; er schien meinen Begleiter gar nicht wahrzunehmen: „Dann tritt aus dem Schatten hervor, mein Freund, und zeig dich mir – sieh her!“

„Wohin soll ich sehen?“ Nacktes Entsetzen lähmte mir die Glieder. Leicht zitternd machte ich einen Schritt auf den Wächter zu. Es war aber irgendwie keine wirkliche Gestalt, eher so etwas wie eine halb durchsichtige Projektion – eine Art mystischer Vision.

„Auf die goldene Flamme, die ich dir entgegenhalte. Genau dahinter beginnt die andere Welt.“ Die funkelnden Augen leuchteten in ihrem rötlichen Glanz aus der Tiefe der Finsternis hervor und ließen mich am ganzen Körper erzittern. Es war der Schmerz der Jahrtausende, der aus ihnen glühte.

„Hinter der Flamme in deiner Hand?“ Ich konzentrierte mich auf die Flamme und sah in meine eigenen Augen, und gleichzeitig war mir, als ob sich mir die Spitze eines Eiszapfens wie ein kaltes Feuer ins Hirn brannte.

„So empfang das Ende der Geschichte – hier!“ sagte er und zog den Schlüssel aus den Daten meiner zukünftigen Erinnerung: „Das ist der Code – damit öffnet sich die Tür!“

„Die Datennetze sind der Schlüssel. Der Durchgang ist als Buchsymbol getarnt. Am Ende unserer Reise findest du die Erklärung, denn die Lösung steckt in deiner zukünftigen Erinnerung“, lächelte Akron und nahm mich an der Hand. „Komm!“ Rasch zog er mich zum Regal. Das Bild begann sich nach hinten zu öffnen und zeigte die in den Fels gehauenen sieben Stufen mit den sieben Siegeln der sieben Planeten, während auf einer gänzlich anderen Ebene ein einsamer Schreiber vor dem Bildschirm mit der Maus auf das Ikon klickte. Akron fasste durch die Lücke und drehte den Schlüssel von innen um. Dann traten wir durch das Felsentor.


Als sich die steinernen Portale hinter uns wieder schlossen, fanden wir uns auf einer Art Plateau wieder, von dem aus man einen guten Rundblick auf ein weites Tal besaß. Unwillkürlich blieb mein Blick an einem riesigen Turm hängen, der in einiger Entfernung wie ein gewaltiger Fingerzeig Gottes zum Himmel aufragte. Ich blickte meinen Führer in fragendem Staunen an, der mir jedoch nur schweigend andeutete, sich an den Abstieg zu machen. Während wir einen steilen Bergpfad ins Tal hinabkletterten, verspürte ich eine schwere, unangenehme innere Vorahnung. Dieses Empfinden war mir neu. Normalerweise hatten sich meine Depressionen und Ängste stets auf mentaler Ebene entwickelt durch äußere, bedrohliche oder unerfreuliche Situationen, in die ich durch eigenes oder fremdes Verschulden hineingeraten war, aber diesmal ging das dumpfe Gefühl von etwas Unbekanntem aus und berührte mich in einer mir verschlossenen Kammer meiner Seele. Während ich mir noch den Kopf zermarterte, was das wohl sein könnte, was mich so schwächte, fiel mir plötzlich der Schleier von den Augen: Es war diese starre, unbewegliche und festgesessene Energie, die irgendwie von diesem riesigen Turm ausging. Nachdem mir das klar geworden war, bereitete mir auch das Gehen weit weniger Mühe. Mein Atem ging wieder ruhiger und ich fand den Mut, ihn zu fragen, ob es sich bei diesem monumentalen Bauwerk im Tal möglicherweise um den sagenhaften Turmbau zu Babel handelt, der einst als Sinnbild menschlicher Anmaßung in die Chroniken der Erde eingegangen war.

Akron drehte den Kopf und grinste: „Warum nicht? Ich hätte eine opalisierende Pyramide oder einen durchsichtigen Riesenwürfel vorgezogen, aber die Betreiber dieser Hölle lieben es traditionell. Entweder sind sie ziemlich konservativ oder sie kennen die Bedürfnisse ihrer Gäste.“

Ich winkte ab. Von Pyramiden hatte ich die Nase voll; zu unangenehm waren die Schrecken der Schütze-Hölle, die mich am Ende beinahe um den Verstand brachten. Der gemeinsame Abstieg ins Tal zog sich dahin, doch je weiter wir kamen, desto ersichtlicher wurde das Ausmaß dieser beeindruckenden Konstruktion. Der in seiner Grundform rundlich angelegte Turm war in mehreren sich nach oben verjüngenden Etagen erbaut, an deren Außenseiten sich ein verhältnismäßig schmaler Pfad spiralförmig nach oben wand. Ich konnte gerade mal sechs Stockwerke ausmachen, bevor der oberste Teil sich irgendwo zwischen den dunklen Wolken verlor. Allein das erste Stockwerk besaß die Grundfläche einer Fußballarena und ich fragte mich, welch unglaubliches Gewicht dieses Bauwerk wohl besitzen mochte. Das gesamte Gelände glich einer riesigen Baustelle und erinnerte an einen überdimensionalen Termitenhügel, an dessen Wänden unzählige Gerüste, Leitern und Bauaufzüge klebten, auf denen etliche herumwuselnde Arbeiter damit beschäftigt waren das Bauwerk zu verputzen, zu verstärken oder sonst wie auszubessern. Ich pfiff anerkennend durch die Zähne: „Die müssen hier gute Architekten haben.“

„Die Besten“, bestätigte mich Akron und zeigte auf eine Gruppe von Männern, die mit einer Reihe von Zeichnungen und Plänen unweit auf einer Anhöhe standen und sich heftig gestikulierend unterhielten. „Hier findest du all die großen Dombaumeister und Architekten der vergangenen Jahrhunderte versammelt, die die Fertigstellung ihrer Schöpfungen nicht mehr miterleben durften. Oder Freimaurer und andere im Mittelalter Verfolgter, die die neuen Türme nach der Erfahrung des Scheiterns und ihres Falles von innen her errichteten, aus der Mitte der inneren Kraft, nicht mehr von außen und auch nicht wie ein von oben auf die Welt einwirkender Schöpfergott. Als solche sind sie hier nun damit beschäftigt, ein Bauwerk zu errichten, welches ihnen nicht nur ein Gefühl nützlicher Selbstbestätigung vermittelt, sondern von dessen riesigen Ausmaßen sich gleichzeitig auch die schöpferischen Möglichkeiten des Menschen ablesen lassen.“

Ich schaute mich um. Das Ganze glich einem unpersönlichen Ameisenhaufen, in dem jegliches individuelle Aufglimmen einem gemeinsamen, aber unerreichbaren Ziel geopfert wurde. Akron bemerkte meinen Blick und fügte an: „In mühevoller Selbstzucht tragen sie ihre Last ähnlich dem Skarabäus, der eine Kugel aus Mist und Kot als Symbol seiner sich ständig verändernden Vervollkommnung vor sich herschiebt – einer Kugel, aus dem gleichen Baustoff gedreht, aus dem sie einst selbst geformt wurden.“

Mit wachsendem Unbehagen und skeptischem Blick deutete ich auf einen der unzähligen Arbeiter, die sich mit einem schweren Korb voller Steine auf dem Buckel den Weg hinaufschleppten. „Mich erinnert das Spektakel eher an den armen Sisyphos, der seine Busse im Hades abzutragen hat, indem er tagtäglich einen Stein auf den Gipfel eines Berges rollen muss, der ihm aber kurz vor dem Ziel wieder entgleitet.“

„Das mag schon sein“, lächelte Akron, „aber du vergisst die Schwere seines Vergehens. Sisyphos hielt sich für schlau genug, den Tod überlisten zu können, mit dem Ziel, dass fortan niemand mehr zu sterben bräuchte. Jedoch vergessen jene im Glanze ihres eigenen Schöpfertums stehenden Sonnenhelden nur allzu schnell, dass ihr eigenes Dasein ebenfalls auf den Gesetzmäßigkeiten Saturns fußt. So wurde Sisyphos lediglich der Umstand zuteil, erkennen zu dürfen, was es heißt, sein von ihm angestrebtes Ziel nun für alle Ewigkeit am eigenen Leib erfahren zu dürfen. Allerdings etwas anders, als er sich das in seiner Verblendung erträumt hatte.“

„Aber wenn hier Leid und Elend am größten sind“, zog ich den Schluss, „ist dann dieser Ort, von dem du sagst, dass er mehr Fegefeuer als eigentliche Hölle darstellt, nicht ein viel größeres Inferno als alle davor liegenden Höllen?“

„Nein!“ kam Akrons Antwort sehr bestimmt: „Das ist die Finsternis vor der Morgendämmerung. Hier schneiden die Bande der Materie den Sündern ein letztes Mal ins Fleisch, bevor sie bereit sind, jegliches Blendwerk abzustreifen und das ewig währende Schauspiel von Lust und Tod hinter sich zu lassen.“ Er lief ein paar Schritte vor, bückte sich und hob einen alten abgetragenen Korb in die Höhe. Mit einem selbstzufriedenen Lächeln hielt er ihn mir entgegen: „Lass dich von den dir selbst auferlegten Martern nicht abschrecken, einen Platz unter den Büßenden einzunehmen. Blut, Schweiß und das Salz ihrer Tränen sind der angerührte Mörtel, die diesem Turmbau Sinn und Festigkeit verleihen.“

„Aber wozu all diese Schinderei?“ begehrte ich hartnäckig zu wissen, da mir die Aussicht, einen mit Steinen angefüllten Korb bis in die Wolken hinaufzuschleppen, wenig behagte. „Mich dünkt eher, dass die Büßer ihre eigene Lebensenergie in diese Konstruktion einmauern, anstatt damit tatsächlich ans Ziel ihrer Bestimmung zu gelangen.“

Akron nickte: „Da hast du recht. Der Turm ist ein sichtbarer Ausdruck der subjektiven Überzeugungen des ungeläuterten Steinbocks, dessen Wahrnehmungen noch nicht gänzlich in die Tiefe seiner Wesensnatur vordringen können, da dies die Erkenntnis voraussetzen würde, den eigenen ungeliebten Teil seines Wesens als notwendigen Bestandteil der Schöpfung anzunehmen. Das aber gerade ist ihm unmöglich und so erkennt er aus der Schwermut seines Geistes heraus immer nur die Destruktivität seines eigenen Unerkannten, das zu Kontrollieren er mit immer dickeren Mauern zu umpanzern bereit ist, was wiederum seinem Mechanismus der ewigen Schinderei und Selbstquälerei entspricht.“

Ohne zu Murren nahm ich den mir hingehaltenen Korb entgegen und prüfte ihn auf seine Belastbarkeit: „Wie viele Steine muss ich hineinlegen?“

Er richtete seinen Blick nach oben und besah sich die Höhe des Bauwerkes: „Einer wird wohl genügen“. Dann lachte er hell auf, als er meinen dümmlichen Gesichtsausdruck bemerkte: „Nicht jeder Stein ist das, was die christliche Mystik als den heiligen Gral umschreibt“, und machte mit der Hand eine ausladende Drehung, „das meiste ist unscheinbarer Schotter, der hier zu unseren Füßen liegt.“ Er hob einen kleinen Stein vom Boden auf und hielt ihn mir vors Gesicht: „Trotzdem hat jeder sein eigenes Geheimnis. Versuch mal sein Inneres zu ergründen – dann wirst du in ihm den Geist eines eingesperrten Sünders finden.“

Da geschah etwas Merkwürdiges. Der Stein gab mir auf eine mysteriöse Weise die Worte zu verstehen, die er mir sagen wollte, denn ich nahm auf einmal seine Gedanken in mir wahr: „Die ihre Freiheit und Leichtigkeit verdrängenden Seelen, die die materiellen Werte nicht loslassen können, sind hier eingeschlossen“, fühlte ich die Botschaft in mir aufsteigen, „träumende Steine statt leuchtende Sonnen, weil sie sich von der Freude abgespalten haben und lieber ihren starren Gedanken nachhängen.“

Akron bückte sich erneut und hob einen kinderkopfgroßen Brocken auf und reichte ihn mir: „Und doch kann ein jeder Stein hier zum Wächter der Göttin werden, oder zum Stein der Weisen, dem lapis exilis, wie ihn die Alchemisten zu nennen pflegen. Sieh hin – es ist das Gold der Seele!“


Wie die Codierung eines alttestamentarischen Informationsmusters stand der Wächterengel plötzlich vor mir da: der kinderkopfgroße Stein, darunter ein Skelett, ein Knochengeflecht, halb entblößt und halb in den düsteren Mantel der Verwesung eingehüllt, das mich aus tiefstem Nichts ansah. Nacktes Entsetzen durchschoss meinen Geist und lähmte meine Beine, doch bevor ich zusammenknickte, entzündete sich im Zentrum der Erscheinung eine goldene Flamme und verbrannte die Vision in einem Schlund aus flüssigem Licht. Akron packte mich an der Hand: „Das ist aber nicht alles. Schau – ich hab noch ein passendes Outfit für dich!“ Er zog grinsend einen weißen Stoff unter seinem Mantel hervor, den er vor mir aufschüttelte.

„Was ist das?“ Das schreckliche Gespenst war verschwunden.

„Ein Büßerkleid – damit die Kirche hier unten im Dorf bleibt“, kam die rasche Antwort. „Sonst machen die anderen Sünder einen Aufstand.“

„Du willst, dass ich mir dieses Nachthemd überstreife und dann mit diesem Korb auf dem Rücken da hinauf marschiere?“ Ein offensichtlich belustigtes Nicken war die Antwort. „Und du, kommst du auch mit rauf?“ wollte ich noch wissen.

Akron wies auf einen der zahlreichen Lastenkörbe, die am Fuße des Bauwerkes bereit standen: „Klar – doch ich nehme den Aufzug. Schließlich bist du hier der Sünder!“

Dantes Inferno III

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