Читать книгу GEGEN UNENDLICH. Phantastische Geschichten – Nr. 14 - Alban Nikolai Herbst - Страница 3
ОглавлениеMichael J. Awe
UNTER DER SONNE VON CELA 14
Der Blick auf Cela 14 aus dem Orbit ähnelte dem auf die Erde von vor dreihundert Jahren.
Velon Harris checkte die Anzeigen des Bordcomputers und lehnte sich in den tiefen Ledersessel zurück. Der Autopilot berechnete den optimalen Eintrittswinkel in die Atmosphäre des Planeten.
Velon beobachtete die näherkommende Oberfläche mit der Neugierde eines Menschen, der hier die nächsten Wochen verbringen würde. Die wenigen Kontinente waren klein und zerklüftet, sie ähnelten eher einer Ansammlung verschiedener Inseln, die sich zerstreut in den grünblauen Gewässern der Ozeane erstreckten.
Als hätte die Hand Gottes sie achtlos verstreut, dachte er.
Es gab hier keine Industrie und nur den notwendigsten Flugverkehr. Der Planet lebte hauptsächlich von dem Tourismus mit wohlhabenden Gästen aus dem ganzen System und galt als eine Oase der Ruhe, die wie aus der Zeit gefallen wirkte. Das Schiff steuerte einen kleinen Kontinent an, der die Form einer geballten Faust besaß und schnell näherkam. Velon beugte sich nach vorne und besah sich die villenähnlichen Häuser, die im großzügigen Abstand voneinander errichtet worden waren, durch riesige Gartenareale getrennt. Die Pflanzenwelt, für die Cela 14 bekannt war, ließ an ein subtropisches Klima denken, obwohl die Temperaturen und die Luftfeuchtigkeit eher gemäßigt waren und den vorwiegend menschlichen Besuchern entgegenkamen. Das üppig wuchernde Grün eines Waldes unter ihm wurde von einem winzigen Landeplatz durchbrochen, auf dem die Hüllen zweier Raumschiffe in der Sonne glänzten. Die Steuerdüsen zündeten und drückten Velon sanft in den Ledersessel. Das Aufsetzen auf dem Planeten war kaum zu spüren.
Als sich die dickwandige Tür zischend öffnete, erklang ein wahres Sinfoniekonzert von Vogelstimmen aus dem sie umgebenden Urwald. Velon trat mit der Reisetasche in der Hand hinaus und zog die frische Luft ein. Während er in tiefen Zügen einatmete, dachte er an die unzähligen Übersetzungsmikroben in Nanopartikelgröße, die überall in der Atmosphäre waren. Nach dem Inhalieren gelangten sie von seiner Lunge über den Blutkreislauf in sein Gehirn und würden dafür sorgen, dass er jede Sprache auf Cela 14 beherrschte. Dadurch wurde sichergestellt, dass sich alle Besucher auf diesem Planeten wohlfühlte und es zu keinen Schwierigkeiten bei der Verständigung kam. Angeblich waren die Mikroben so vielfältig gestaltet, dass sie bei über achtzig Spezies wirkten.
In seinem Sichtfeld erschien die aktuelle Temperatur von 31 Grad und einige andere Daten zum Klima, die sein Augenimplantat einblendete. Er schaltete das Implantat und den RID-Chip in seiner Großhirnrinde aus und trennte den beständigen Datenstrom zwischen der Erde und ihm. Für die nächsten drei Wochen brauchte er ihn nicht. Der Chip war jetzt nur noch für dringende Regierungsnachrichten freigegeben.
Am Fuß der Treppe wartete ein Mann in einem bunten Wickelrock und einem weißen Hemd. Er verbeugte sich mit einem Lächeln, auf seinem dichten kohlrabenschwarzen Haar saß eine merkwürdige Kopfbedeckung, deren lose Enden beide Ohren bedeckte.
»Willkommen auf Cela 14, Celot’on Harris«, sagte der Einheimische. »Ich bin Ach’tun, Ihr Fahrer. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise.«
Der Mann warf einen neugierigen Blick auf die funkelnde Hülle des Raumschiffes. Selbst unter den Reichen, die hier ihren Urlaub verbrachten, so wusste Velon, war eine Sternennadel ein seltener Anblick. Trotz seiner kompakten Außenmaße war das Einpersonenschiff für Fernreisen gerüstet und verfügte über allen erdenklichen Luxus. Sein Antrieb gehörte zum Schnellsten, was außerhalb des militärischen Einsatzes Verwendung fand, und der Bordcomputer besaß die Rechenkapazität einer mittelgroßen Stadt. Aber spätestens die Außenhülle aus Biotech, die sich bei Schäden selbst regenerieren konnte, verriet Velon als einen hohen Regierungsbeamten oder einen Vertreter der Wirtschaftselite.
»Hier entlang, bitte.«
Sie bestiegen den in der Nähe stehenden Gleiter, der sich lautlos in Bewegung setzte. Ach’tun benutzte keinen Autopiloten, sondern steuerte das Fahrzeug über einen Steuerknüppel, was ihm eine gewisse Befriedigung zu verschaffen schien. Geräuschlos schwebten sie zwischen den breiten Stämmen der Baumriesen einher. Ach’tun lenkte das Gefährt mit leichter Hand und sah lächelnd zu ihm herüber, als er seinen Blick bemerkte.
»Möchten Sie auch mal?«
Velon schüttelte den Kopf. »Früher sind wir auch selber gefahren und geflogen.«
»Was ist passiert?«
»Es starben mehr Menschen durch Fahrzeuge als durch Kriege. Wir gaben es schließlich auf.«
Der Einheimische lachte, dass die Zähne in seinem kaffeebraunen Gesicht weiß aufblitzten. »Sie sollten es versuchen, es macht Spaß!«
Velon legte den Kopf in den Nacken, um zu dem dichten Laubdach hinaufzublicken. Affenähnliche, achtgliedrige Tiere sprangen über ihnen zwischen den Ästen hin und her und gaben ein melodisches Singen von sich.
»Das sind Wach’tins«, erklärte der Fahrer.
Velon nickte, er hatte von diesen Tieren gehört. Es gab sie überall auf Cela 14 und ihr Gesang bildete ein beständiges Begleitgeräusch.
Sie glitten zwischen den ersten weitläufigen Gärten entlang, die sich über Hunderte von Metern bis zu den entfernten Häusern erstreckten. Velon schüttelte den Kopf. Selbst ihm, als privilegiertem Mitglied des Parlaments, stand nur eine achtzig Quadratmeterwohnung in einem der Megatower zu, die sich nahe des Regierungsviertels befanden. Hier hingegen schien Platz in verschwenderischer Fülle vorhanden zu sein.
All unsere Technik, dachte Velon, und wir sehnen uns noch immer zurück nach dem Garten Eden.
Ach’tun verringerte die Geschwindigkeit, als sie sich einer steinernen Toreinfahrt näherten und der Gleiter schwebte kaum hörbar über den kiesbedeckten Pfad. Sie durchquerten einen riesigen, alten Garten mit hohen Bäumen und einer Vielzahl von blühenden Büschen und Blumen in allen Farben und Formen. Am Ende des langen Weges stand eine einstöckige Villa mit weißen Wänden und einem Flachdach, die mitten in dem weiten Garten lag.
»Bin ich der einzige Bewohner?«, fragte Velon.
»Sie und die Bediensteten des Hauses, Celot’on Harris.«
Was für eine Verschwendung, dachte Velon. Statt sich durch die Menschenmassen seiner Heimatstadt schieben zu müssen, würde er hier für drei Wochen niemanden sehen außer den Bediensteten und den einen oder anderen Einheimischen außerhalb des Grundstücks.
Ach’tun hielt den Gleiter vor dem flachen Gebäude und griff sich das Reisegepäck. »Wenn Sie mir bitte folgen würden!«
Velon trat hinter dem Fahrer in das weitläufige, kühle Haus und sah sich aufmerksam um. Die dicken, schmucklosen Wände waren geweißt und auf dem Boden lagen großformatige Steinfliesen, alles strahlte Ruhe und Schlichtheit aus, sodass Velon sich augenblicklich wohlfühlte. Ach’tun ging einen langen Flur hinunter und Velon konnte einen Blick in die Zimmer zu ihrer Rechten werfen, die auf den sonnendurchfluteten Garten hinausgingen, eine Reihe von spärlich möblierten Räumen, in denen sich niemand aufhielt. Ihre Schritte hallten leise durch das stille Gebäude.
Lächelnd blieb Ach’tun vor einer geöffneten Tür stehen und zeigte in das Innere des Raumes. »Hier befindet sich Ihr Schlafzimmer, Celot’on Harris!«
Durch die offen stehende Terrassentür gegenüber drang leichter Wind in das Zimmer und bauschte die dünnen, weißen Vorhänge. An der Wand stand ein schlichtes Bett, dessen dunkelbraunes Holz die gleiche Farbe wie die Betttruhe am Fußende und der Kleiderschrank in der Ecke besaß. Ansonsten befanden sich nur ein hölzernes Sideboard, auf dem eine blauglasierte Wasserschüssel stand, und ein runder Tisch mit zwei Stühlen in dem Raum. Velon nickte zufrieden.
»Ich lass Sie jetzt alleine«, sagte Ach’tun und stellte das Gepäck vor das Bett. »Das Abendessen wird gegen 17 Uhr auf der Terrasse serviert. Auf Wunsch können Sie das Essen auch in einer der Räumlichkeiten einnehmen. Sollten Sie Fragen haben, klopfen Sie bitte jederzeit an meine Tür am anderen Ende des Ganges.«
Mit einem Nicken zog er sich zurück. Velon schob den dünnen Vorhang beiseite und trat auf die breite Terrasse hinaus, die die ganze Vorderseite des Gebäudes umgab und auch um die Ecken zu verlaufen schien. An der Hauswand entlang standen große, metallbeschlagene Holzeimer, in denen üppige Büsche mit großen Blüten wuchsen, die einen angenehmen Geruch verströmten. Auf dem ersten Blick waren die Blüten von einem dunklen Rot, als Velon jedoch näher herantrat, erkannte er, dass die Blätter in allen Regenbogenfarben schimmerten. Die Pflanzen wirkten außerordentlich gut gepflegt, nicht ein welkes Blatt fand sich an ihnen und die Äste wurden pedantisch zurückgeschnitten. Dennoch verspürte er eine diffuse Abneigung ihnen gegenüber. Velon trat zurück und blickte auf seine extra für diesen Anlass gekaufte Uhr, eine ungewohnte Geste für jemanden, der für gewöhnlich die aktuelle Zeit über sein Chipimplantat eingeblendet bekam.
Langsam stieg er die steinernen Stufen in den Garten hinunter. Vor dem blauen, wolkenlosen Himmel stach das Grün der Baumwipfel deutlich hervor. Sträucher und Blumen wuchsen in allen Formen und Farben, nicht wenige von ihnen waren mannshoch. Die meisten Pflanzen kannte er nicht. Instinktiv wollte er die benötigten Informationen vom Chip holen, besann sich aber eines Besseren und genoss die namenlose Schönheit. Unter einigen hohen Bäumen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit den früheren Palmen der Erde besaßen, blieb er stehen. Mit zusammengekniffenen Augen blickte Velon den langen, gebogenen Stamm hinauf zu den grünen Blättern oben im Wipfel, zwischen denen große, braune Früchte wuchsen. Er legte die Hand auf den Stamm, der rau und von vielen dünnen, dunkelbraunen Fasern bedeckt war.
»Die Milchnüsse der Ko’wen sind sehr schmackhaft, Celot’on Harris«, sagte eine weibliche Stimme hinter ihm.
Überrascht drehte er sich um. Vor ihm stand eine junge Frau, die die Hände zu einem rituellen Gruß zusammenlegte. Die Einheimische trug schulterlanges braunes Haar, das vorne kinnlang geschnitten war und zum Nacken hin kürzer wurde. Ihre Haut war von der Sonne gebräunt. Sie reichte ihm bis zur Schulter. Ein schlichtes Kleid aus einem seidenähnlichen Stoff ging ihr bis zu den Knien. Velon fragte sich, wie die Frauen auf diesem Planeten ohne Bionengeneering und Körpermodifikationen von solcher Schönheit sein konnten.
Er neigte den Kopf zum Gruß. »Sie erinnern mich an Kokosnüsse, die es früher auf meiner Welt einmal gab.«
»Ich kenne keine Kokosnüsse«, sagte sie, »aber die hier essen wir jeden Tag.«
Er sah den schlanken Baumstamm empor, der sich astlos bis in die hohe Krone erstreckte. Der ganze Baum wiegte sich leicht im Wind und die Früchte befanden sich in luftiger Höhe. Ob sie Drohnen zuhilfe nahmen, um sie zu pflücken?
Als hätte sie seine Gedanken erraten, trat die Frau an den Baumstamm, wie um ihn zu umarmen, und verschränkte ihre Handflächen hinter ihm. Mühelos sprang sie an den Stamm und presste ihre nackten Fußsohlen gegen die raue Rinde. Ohne sichtbare Anstrengung kletterte sie den Baum hinauf. Erstaunt sah Velon ihr nach. Ihr Körper schien wie für die Bewegung gemacht zu sein. Das Spiel ihrer geschmeidigen Oberschenkelmuskeln zeugte von ausdauernder Kraft, während sie flink höher stieg. Oben angekommen, pflückte sie mit geübter Hand eine der Milchnüsse und warf sie herunter. Dann kletterte sie ebenso mühelos wieder nach unten. Auf ihrer Haut glänzte ein dünner Schweißfilm, dessen sich Frauen auf der Erde seit vielen Jahren schon mit genetisch angepassten Bakterien entledigten.
»Bei uns«, sagte sie, ohne außer Atem zu sein, »ist es Aufgabe der Frauen, die Früchte zu ernten.«
Sie bückte sich geschmeidig und hielt ihm die Ko’wen hin. Ihre Schale war fest und trocknen. Als er sie schüttelte, hörte er das Gluckern einer Flüssigkeit im Inneren.
»Der Saft ist weiß«, sagte sie. »Wir trinken ihn gerne am frühen Morgen oder tun ihn ins Essen.«
Velon reichte ihr die Ko’wen zurück und bedankte sich.
»Mein Name ist La’lyn«, sagte sie und legte die Hände zum rituellen Abschiedsgruß zusammen. »Ich werde sie dem Koch geben, damit Sie die Ko’wen zum Abendessen zu sich nehmen können.«
La’lyn drehte sich um und schlenderte zum Haus zurück. Er sah ihr eine Weile nach und wunderte sich, wie eine Frau ohne Schuhe sich so anmutig zu bewegen vermochte.
Velon schlug die Augen auf und blickte an die hohe Decke. Durch die offene Verandatür drang kühle Morgenluft und die Geräusche des Waldes. Automatisch wollte er auf seinen RID-Chip zugreifen, um sich die neuesten Nachrichten und den Posteingang anzeigen zu lassen, bis ihm bewusst wurde, dass der Chip ausgeschaltet war. Er gähnte ausgiebig und zog den dünnen Vorhang beiseite. Die Sonne war noch nicht aufgegangen und das frühe Grau des neuen Tages zeichnete alles mit seinem weichen Licht. Kein Geräusch war zu hören, nur einige Wach’tins stießen ihre langgezogenen Rufe aus. Velon hatte überraschend gut geschlafen, trotz des üppigen Abendessens am Vortag, fühlte aber eine merkwürdige Unruhe, als würde sein Gehirn nach Informationen hungern. Es war viele Jahre her, dass er den RID-Chip deaktiviert hatte. Er kam sich vor wie auf einer einsamen Insel, abgetrennt vom Rest der Welt.
»Urlaub«, sagte er leise und trat auf die Terrasse hinaus.
Die palmenartigen Bäume zeichneten sich schwach vor dem dämmrigen Himmel ab und rosenähnliche Sträucher wucherten um einen Teich, den er gestern nur am Rande beachtet hatte. Eine Gartenlaube stand halb verborgen am hinteren Teil des Wassers. Die Luft auf der Terrasse war getränkt vom Duft der unzählig blühenden Büsche in den Holzeimern.
Velon ließ sich auf den Boden nieder und begann damit, seine morgendlichen Liegestütze zu absolvieren. Die Steinfliesen waren angenehm kühl unter den Händen. Akkurat und flüssig drückte er sich immer wieder von Boden hoch, ließ sich herabsinken, bis sein Brustbein die Erde berührte, und stemmte sich erneut in die Höhe. Bald merkte er, wie die Muskeln warm wurden und der letzte Rest von Müdigkeit von ihm abfiel. Wie üblich hörte er exakt bei der einhundertsten Wiederholung auf.
Als er sich erhob, sah er eine Frau über den Rasen des alten Grundstücks auf das Gebäude zukommen. Die gebeugte Gestalt schleppte zwei Wassereimer, die sie mit geübtem Gang in ihren sehnigen Händen trug. Während sie die fünf flachen Stufen zur Terrasse hochstieg, sah er, dass die Frau sehr alt war und nur aus Haut und Knochen bestand, als hätte die Sonne alles überflüssige Fleisch verdorren lassen. Sie blieb oben einen Moment stehen und verschnaufte ein wenig. Ihre grauen Haare waren zu einem langen Zopf gebunden, einen Schutz gegen die Hitze trug sie nicht. Als ihre zusammengekniffenen Augen seiner gewahr wurden, gab sie sich einen Ruck und schleppte die beiden Eimer ohne ihn zu grüßen zu einem Kübel, in denen einer von den prächtig blühenden Büschen wuchs. Ihr Verhalten stand so sehr im Widerspruch zu der vorherrschenden Höflichkeit auf Cela 14, dass Velon mehr interessiert als verstimmt reagierte. Ohne sich um ihn zu kümmern, begann sie damit, die Pflanzen zu gießen, eine Aufgabe, der sie sich mit voller Aufmerksamkeit widmete. Velon beobachtete die Bedienstete, die mit zusammengepressten Lippen die Eimer zu einer weiteren Pflanze schleppte. Ihm kam die schlichte Tätigkeit reizvoll vor und er fragte sich, ob diese alte Frau ihr Leben damit zugebracht hatte, den üppigen Garten auf einem der schönsten Planeten des Systems zu pflegen. Er wusste natürlich, dass er der romantischen Vorstellung einer einfachen Existenz verfiel, wenn er sich dieses Leben vorstellte, aber für einen Moment fragte er sich, ob ein solches Leben nicht das bessere gewesen wäre. Arm und glücklich! Amüsiert schüttelte Velon den Kopf und ging wieder hinein.
Er schlenderte durch das leere Haus mit der Muße eines Menschen, der nichts zu tun hatte. Velons unruhiger Geist sehnte sich immer noch nach dem Input des Chips, und so lenkte er seine Gedanken bewusst auf jedes Detail der äußeren Umgebung. Er kam an einem weiteren Zimmer vorbei, stockte und schüttelte ungläubig den Kopf. Velon trat langsam ein und warf nur einen kurzen Blick auf die die hohen Fenster und die bequemen Sessel und Liegen. Auf vier niedrigen Tischchen lagen Zeitschriften. Er lächelte und nahm eine von ihnen zur Hand.
»Auf Papier«, murmelte er und ließ seine Finger über die Seiten streichen.
Er hatte davon gehört, aber es mit eigenen Augen zu sehen war etwas ganz anderes. Das Papier raschelte leise unter den Fingern und schien keinen Geruch zu besitzen. Vorsichtig blätterte er eine Seite um, die sich dünn und zerbrechlich anfühlte. Es handelte sich offensichtlich um eine Zeitschrift über Innenarchitektur, auch wenn ihm die Schriftzeichen fremd waren. Die farbigen Fotos zeigten eine Küche mit grünen Wänden und ein Wohnzimmer, in dessen Mitte ein gläserner Kamin stand. Er tippte auf eines der Bilder, bevor ihm bewusst wurde, dass es sich nicht vergrößern würde. Behutsam legte er das Heft zurück und ging zu einem der anderen Tische.
Eine Zeitschrift über die einheimische Kochkunst war in seiner Sprache verfasst. Statt einer Suchfunktion gab es ein Inhaltsverzeichnis, man musste selbst zu dem gewünschten Artikel blättern. Velon nahm auf einer der gepolsterten Liegen vor dem Fenster Platz und vertiefte sich in die Publikation. Begierig überflog er die Seiten, gewöhnte sich nach und nach an das Umblättern und betrachtete die Fotos der Gerichte, bei denen es sich zumeist um Meeresfrüchte handelte. Viele Fische waren ihm nicht bekannt, aber da es keine Möglichkeit gab, von der Zeitschrift aus die fehlenden Informationen aufzurufen, und sein RID-Chip deaktiviert war, begnügte er sich damit, sie mit irdischen Fischen zu vergleichen. Es war ein anderes Lesen, eine Lektüre wie in einer Isolierkammer, keine neue Inhalte kamen herein, keine Textverlinkungen führten heraus. Man musste sich mit dem Text begnügen, der von den Herausgebern ausgewählt worden war und der seinen Platz auf den Seiten fand. Begierig sog er die wenigen Informationen auf.
Die Auswahl der Zeitschriften war ein Spiegelbild der unterschiedlichen Besucher all der Planeten im System, die hier ihre Zeit verbrachten, und er fragte sich, ob man diese Papiermedien extra auf Cela 14 anfertigte. Auf all seinen Reisen hatte er noch nie Magazine auf bedrucktem Papier gesehen. Manche der Zeitschriften, stellte er beim Durchblättern fest, waren schon mehrere Jahre alt. Während draußen die Sonne langsam über die Baumwipfel stieg, vertiefte er sich in einen Artikel von der Erde über die schwimmenden Städte im Atlantik, die nach Jahren des ungebremsten Wachstums mittlerweile an ihre räumlichen Grenzen stießen. Der nächste Bericht behandelte die neoalchimistischen Strömungen in den Zentralstaaten, die immer mehr Zulauf erhielten, und die der Wissenschaftsrat mit Skepsis beobachtete. Auf den folgenden Seiten wurde der neue Supertower in der Hauptstadt beschrieben, der sich fünf Fußminuten von Velons Wohnung entfernt in den Himmel streckte.
Er schaute auf seine Uhr und stellte fest, dass es schon vormittags war. Velon legte die Zeitschrift zurück, reckte sich und ging auf die Terrasse hinaus. Von der alten Gärtnerin war nichts mehr zu sehen. Ach’tun hatte den Tisch für das Frühstück gedeckt und erschien wie auf ein geheimes Kommando, als sich Velon hinsetzte. Nach der üppigen Mahlzeit, die aus vielen Früchten, Fisch und einer scharfen Reissuppe bestand, schlenderte Velon durch den Garten bis zur Grundstücksgrenze. Ein schmaler Fußweg führte hinter dem halbhohen Zaun aus Flechtwerk, der das Grundstück der Villa einfasste, entlang. Unter den hohen Bäumen wuchsen Farne, die größer als er waren, und Sträucher mit duftenden Blüten, die von schwarz-gelben Hautflüglern besucht wurden. Auf der Erde waren Bienen und Hummeln längst ausgestorben und ihre Arbeit wurde von winzigen Drohnen verrichtet, die sich automatisiert um das Bestäuben der Blüten kümmerten. Eine Weile sah er einem dicken Insekt, das er für eine Hummel hielt, dabei zu, wie es brummend von Blüte zu Blüte flog. Es schwankte erstaunlich unkoordiniert durch die Luft, als müsste es gleich zur Notlandung ansetzen. Die Drohnen auf der Erde flogen lautlos und mit einprogrammierter Zielstrebigkeit. Das Tier hier sollte vom Aussehen her nicht mal in der Lage sein, zu fliegen. Mit einem Mal änderte das Insekt spontan seinen Kurs und prallte ihm gegen die Stirn. Erschrocken sprang Velon zurück, aber dem Tier schien nichts passiert zu sein. Unbeeindruckt setzt es seinen Weg fort. Lächelnd rieb er sich die Stirn und ging weiter.
Nach wenigen Minuten Fußweg erreichte er den Strand. Ein schmaler Streifen bläulichen Sandes reichte bis zu dem funkelnden, grünblauen Wasser, in dem unzählige andere kleine Inseln verstreut lagen. Außer ihm schien sich weit und breit niemand am Strand aufzuhalten. Er schlüpfte aus den Schuhen und ließ sie an Ort und Stelle zurück. Der feine Sand unter seinen Fußsohlen war warm und drang zwischen die Zehen, es ließ sich aber angenehm in ihm gehen. Als Velon das glitzernde Wasser erreichte, watete er ohne zu zögern hinein.
Das Meer war so klar, dass man die entfernten Korallen erkennen konnte. Bunte Fische flohen vor seinen unbeholfenen Bewegungen und weiche Unterwasserpflanzen wogten in der leichten Strömung. Er ging so weit, bis er den Boden unter den Füßen verlor, und schwamm dann mit einigen kräftigen Zügen hinaus.
Es ist herrlich! Wie lange ist es her, dass ich das letzte Mal im offenen Meer schwimmen war?
Seine dünne Kleidung war nicht schwer und störte ihn kaum, sodass er bis zu einem Felsmassiv kraulte, das eine kleine Insel in Sichtweite des Strandes bildete. Prustend zog sich Velon an Land. Das Gestein war warm und unter dem blauen Himmel brauchte er nicht zu frieren. Er rollte sich auf den Bauch und beobachtete die vielen Fische, die an der abfallenden Felswand zwischen den bunten Pflanzen hin- und herschwammen. Der Meeresboden mochte knapp acht Meter tief sein und doch konnte Velon jede Kleinigkeit erkennen. Sein Körper war angenehm schwer. Er drehte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme unter dem Kopf und schloss die Augen, das leise Platschen der Wellen im Ohr.
Als er die Augen wieder öffnete, war seine Kleidung getrocknet. Er musste eingeschlafen sein. Velon setzte sich auf und sah zufrieden über das Meer hinaus. Er fühlte sich wie der einzige Mensch auf dem Planeten. Was sind wir doch für Narren gewesen, dachte er.
Mit einem Kopfsprung hechtete er in das schillernde Nass und tauchte mit weitausholenden Arm- und Beinbewegungen durch die fremdartige Unterwasserlandschaft. Der Boden unter ihm war sanft gewellt und voller Korallen und ihm unbekannter Seepflanzen, deren hellgrüne schmale Blätter in der Strömung schaukelten. Er überschwamm er eine Senke von knapp vier Metern Tiefe, in der ein Schwarm von kleinen, bunten Fischen schillernd vorüberzog. Velon kannte sie in der freien Wildbahn nur von alten Aufnahmen oder als Gericht auf seinem Teller. Sie aber mit eigenen Augen zu erblicken, wie sie nur wenige Meter entfernt im offenen Meer an ihm vorbeischwammen, war ein überwältigendes Gefühl. Wie auf ein Kommando hin änderten die Fische ihre Schwimmrichtung, als wären sie ein einziger großer Organismus. Das Sonnenlicht glitzerte auf ihren Körpern und Velon wurde fast schwindelig vom Zusehen. Keuchend tauchte er auf und ließ sich auf der sanft wogenden Wasseroberfläche treiben, bis er spürte, wie er allmählich auskühlte.
Seine Schuhe lagen noch am Waldrand. Sie anzuziehen kam ihm überflüssig und einengend vor, und so knotete er die Schnürsenkel aneinander und hängte sie sich über die Schultern. Die nasse Kleidung war angenehm auf seiner Haut, während er im lichten Schatten der tropischen Bäume den schmalen Pfad zur Villa zurückging. Der Gesang der Wach’tins erklang über ihm und er legte den Kopf in den Nacken, um den affenähnlichen Wesen beim Sprung von einer Baumkrone zur nächsten zuzusehen. Kleine, graue Gestalten, mit acht langen Gliedmaßen und einem Greifschwanz, den sie geschickt beim Schwingen von Ast zu Ast einsetzten. Ihr Rufen hallte durch den Wald und wurde von einigen Artgenossen weiter hinten aufgenommen, sodass die ganze Insel von ihrem Gesang widerhallte.
Der laue Wind brachte einen aromatischen Duft mit sich. Etwas tiefer im Wald entdeckte Velon große Sträucher, an denen violette Blüten wuchsen. Die Blumen hatten sich im Halbschatten der dichten Baumkronen geöffnet und strömten einen Geruch nach Weihrauch, Sandelholz und etwas aus, das Velon nicht benennen konnte. Eine Gestalt bewegte sich zwischen den Sträuchern und er erkannte La’lyn, die dort mit einem Korb umherging und behutsam die Blüten pflückte. Sie sprach dabei leise und eindringlich mit den Pflanzen, jede Blüte führte sie kurz an ihre Lippen, bevor sie sei zu den anderen in den Korb legte. Velon winkte ihr zu, aber sie sah ihn nicht und so ging er langsam weiter.
Als er den großen Garten der alten Villa betrat, war sein Hemd wieder getrocknet. Ach’tun hatte auf der Terrasse das Mittagessen vorbereitet. Im Schatten einer hellen Markise stand der gedeckte Holztisch mit unzähligen Schüsseln und Tellern, die zum größtenteils schon gefüllt waren. Während Velon die Stufen zur Terrasse hochschritt, kam ihm Ach’tun entgegen und legte die Hände lächelnd zusammen.
»Wie ich sehe«, sagte er, »sind Sie am Strand gewesen!«
Unter dem luftigen Stoffdach war es angenehm kühl. Ach’tun goss ihm aus einem irdenen Krug die süße Milch der Ko’wen-Frucht ein, die schäumend das Glas füllte. Velon leerte das Glas auf einen Zug. Das Schwimmen im Meer und der Schlaf unter freiem Himmel hatten ihn durstig gemacht. Acht’un goss ihm sofort wieder nach.
»Ich werde das Meer vermissen!«, sagte Velon, als er ausgetrunken hatte.
»Das Meer ist gut zu uns«, antwortete Ach’tun. »Es ernährt uns und ist die Heimat für Pflanzen und Tiere.«
»Vor einigen Jahrzehnten«, sagte Velon, »sah es auf der Erde fast so aus wie hier. Es gab große Wälder und Plätze, die nicht bebaut waren ... Ein Luxus, den wir uns heute nicht mehr leisten können. Wussten Sie, dass wir sogar schon Flächen des Meeres mit schwimmenden Städten besiedelt haben, um allen Menschen einen Platz zum Leben zu geben?«
Der junge Mann sah ihn erstaunt an und schüttelte den Kopf.
»Die Ozeane auf der Erde sind nicht wie die Meere hier. Es gibt keine Fische mehr und auch die Unterwasserpflanzen sind ausgestorben. Ich könnte es nicht wagen, in ihnen zu baden, wenn ich nicht mit schweren Krankheiten oder Schlimmerem rechnen wollte.«
»Dann esst ihr keine Fische?«
»Doch, aber nicht mehr aus der freien Natur. Wir züchten sie in künstlichen Gewässern.« Velon blickte über die Wipfel der Bäume hinweg, hinter denen sich das endlose Meer erstreckte, und erinnerte sich daran, wie er als Junge mit seinen Eltern an der Nordsee gewesen war und dort in den Wellen geplanscht und die ersten Schwimmversuche unternommen hatte. Er war einer von der letzten Generation, die dieses Gefühl noch kannten. Heutzutage war selbst der Regen ein großes Problem, vor dem man sich schützen musste.
Nachdem Ach’tun nach drinnen gegangen war, um den gegrillten Fisch zu holen, nahm sich Velon ein Stück einer grünen Frucht, die in lange Scheiben geschnitten war, und blickte kauend in den Garten. In diesem Moment sah er die alte Frau, die er am Morgen beim Gießen der Pflanzen getroffen hatte.
Regungslos stand die greise Gärtnerin in der prallen Sonne und hatte den Kopf vorgereckt. Ihre Augen fixierten einen Punkt unterhalb der Terrasse, etwas weiter rechts von Velon. Nachdem Ach’tun den Fisch gebracht hatte, sprach ihn Velon auf die Frau an.
»Das ist Cela’ta Co’neta. Sie steht dort jeden Tag.«
»Was macht sie da?«
Ach’tun lächelte gequält und Velon sah ihm an, dass er nicht gerne über das Thema sprach. »Cela’ta Co’neta lebt schon lange hier im Haus. Ich hoffe, Sie fühlen sich nicht von ihr gestört.«
»Nein«, sagte Velon und wandte sich dem Fisch zu.
Gegen Abend brachte ein milder Wind eine frische Meeresbrise mit sich. Velon lag auf dem Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und lauschte dem fernen Meeresrauschen, während der Wind die langen Vorhänge an der offenen Terrassentür bauschte. Er sah an die Decke und dachte an nichts, ein Luxus, den er sich zu Hause auf der Erde nicht erlaubten konnte. Die weißen Wände, grob verputzt, strahlten eine Schlichtheit aus, die seine Gedanken zur Ruhe kommen ließ. Kein Bild, kein Schmuck lenkte das Auge ab.
Müßig erhob er sich und trat in den Flur hinaus. Der lange Gang war verwaist. Das Haus lag in tiefer Stille da. Im Eingangsbereich mit der wuchtigen Haustür blieb er eine Weile unschlüssig stehen. Sein Blick fiel auf den gegenüberliegenden Gang. Das musste der Bereich mit den Hauwirtschaftsräumen und die Zimmer der Bediensteten sein.
Kurzentschlossen betrat Velon den anderen Flur, der genauso leblos war wie sein eigener, nur dass hier die Türen fast alle verschlossen waren. Die Doppeltür zur Küche stand offen. Glänzende Töpfe und Pfannen hingen unter der Decke, auf einer Arbeitsfläche an der Wand stapelten sich runde Behältnisse aus Holz mit einigen Sieben, die wohl als Einsätze gedacht waren. Velon ging bis zum Ende des Flurs, an dessen Kopf sich das Zimmer von Ach’tun befand. Links davor lag eine Art von Speiseraum. In dem schmalen Raum stand ein länglicher Tisch mit sechs Stühlen, auf einer Anrichte lagerten Teller aus einem dunkel gemaserten Holz und Schüsseln unterschiedlicher Größe.
Hier aßen also die zumeist unsichtbaren dienstbaren Geister des Hauses. Im Raum hing ein leichter Geruch nach dem stark gewürzten Reis, den es zu allen Mahlzeiten gab. Einige Paar von den Strohsandalen, die die Bewohner hier trugen, waren im hinteren Bereich des Zimmers aufgereiht. Durch die Terrassentür, die einen Spaltbreit geöffnet war, konnte man in den Garten blicken, allerdings war die Terrasse hier kahl und ohne die allgegenwärtigen Blumenkübel von Co’neta, der alten Gärtnerin.
Erst nach einigen Sekunden erkannte Velon, dass er nicht alleine war. Die schlanke Gestalt einer Frau zeichnete sich draußen vor dem hellen Horizont ab. La’lyn stand reglos auf der Terrasse und schaute in den Garten heraus. Sie trug ihr leichtes Gewand aus dem glänzenden dunkelroten Stoff, das ihr bis zu den Knien reichte. Mit den Fingerspitzen berührte sie das steinerne Geländer, das die Terrasse vom tiefer liegenden Garten trennte. Die aufrechte Haltung ihres Körpers ließ eine gewisse Anspannung erahnen, und doch rührte sie keinen Muskel. Velon erinnerte sich daran, wie mühelos sie den Baum mit der Ko’wen-Frucht erklommen hatte.
Das Quietschen einer anderen Terrassentür war in der Stille zu hören, aber La’lyn sah sich nicht um. Schritte näherten sich und Velon erkannte Ach’tun, der nah hinter die junge Frau trat, sodass er sie fast berührte. Keiner sagte ein Wort und gemeinsam sahen sie in das tropische Grün hinaus, den Rücken Velon zugewandt.
Velon überlegte, ob er sich leise zurückziehen sollte, befürchtete aber, durch eine Bewegung auf sich aufmerksam zu machen.
Ach’tun hob langsam seine Hand und öffnete den Verschluss im Nacken der Frau. Der feine Stoff des Gewandes rutschte wie Seide nach unten und ringelte sich zu ihren bloßen Füßen. La’lyn stand am Geländer, ohne sich zu rühren. Ihre kupferfarbene Haut schimmerte in der Abendsonne und ließ die Formen ihrer langen Rücken- und Oberschenkelmuskeln sichtbar werden. Sanft strich Ach’tun von den Schulterblättern beginnend die Mulde ihrer Wirbelsäule hinab, die wie eine Wasserrinne bis zu den Wölbungen ihrer Pobacken verlief, und verharrte auf ihrem unteren Rücken. Er legte ihr seine Handfläche auf eine Stelle kurz über ihren Steiß und drückte sacht. Langsam ließ La’lyn den Kopf sinken, sodass ihr Haar ihr Gesicht bedeckte, und beugte sich vor, wodurch sich ihre Oberschenkel und die festen Pobacken spannten.
Velon spürte, wie ihn dieser weibliche Körper erregte, der doch so keinem Schönheitsideal der Erde entsprach, wo die Frauen dünn und ohne Muskeln waren, und ihre langen, schlanken Beine mit eng anliegenden Beinkleidern betonten. Beine, deren Oberschenkel kaum dicker als ihre Unterschenkel waren. Dieser Körper hier war anders.
Bewegungslos standen die beiden an dem Geländer, während Ach’tuns Hand auf ihrem Rücken ruhte. Einige Vögel flogen durch den Garten und ließen sich in einem der alten Bäume zur Nacht nieder. La’lyns Brustkorb begann sich stärker zu heben und zu senken, während sie mit gesenktem Kopf auf die kleine Berührungsfläche zu achten schien, die die einzige Verbindung zwischen ihnen darstellte. Unter dem leichten Druck seiner Hand richtete sich die junge Frau wieder auf und drehte sich langsam um. Zum ersten Mal konnte Velon La’lyns Gesicht sehen. Ach’tun folgte jeder ihrer Bewegung, die Hand nicht von ihrem Rücken nehmend. Sie sah ihn nicht an, das Gesicht abwesend und gerötet. Zwischen ihren Brüsten schimmerte Schweiß. In ihrem Haar konnte Velon zwei von den violetten Blumen erkennen, die sie am Mittag im Wald gepflückt hatte, und er meinte, ihren Duft sogar auf die Entfernung wahrnehmen zu können. Ernst und feierlich schritt Ach’tun neben ihr her, während seine Handfläche weiterhin auf ihrem Rücken ruhte. Sanft lenkte er sie in Richtung seines Zimmers. Sie ging aufrecht und mit kleinen Schritten und ließ sich von ihm zu der offenen Terrassentür führen, wo sie beide im Halbdunkel des Raumes verschwanden. Ihr rotes Kleid blieb unbeachtet auf den Steinfliesen zurück.
In der Nacht träumte Velon von La’lyn, wie er lange schon nicht mehr geträumt hatte, und wachte bereits früh am Morgen auf. Obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war und im Zimmer ein graues Zwielicht herrschte, fühlte er sich frisch und erholt. Er setzte sich auf den Bettrand und schenkte sich aus dem irdenen Krug vom Nachttisch Wasser in einen Becher, den er in kleinen Schlucken leer trank. Barfuß trat er zwischen zwei der großen Blumenkübel nach draußen und ließ sich auf den Steinfliesen nieder, um seine hundert Liegestütze zu absolvieren. Anschließend duschte er lange und trödelte unter dem warmen Wasserstrahl herum, bis die Haut an seinen Fingern schrumpelig wurde. Als er sich abgetrocknet hatte und in frische Kleidung geschlüpft war, hörte er von draußen eine Frauenstimme.
Es war nicht die von La’lyn, sondern besaß den rauen, kratzigen Klang des Alters. Er schob den Vorhang vor der offenen Terrassentür etwas beiseite und sah die greise Gärtnerin, die die schweren Wassereimer abstellte und sich mit dem Unterarm über die Stirn wischte.
»Wachsen müsst ihr«, sagte Co’neta und nahm die Pflanze vor sich genauer in Augenschein. »So gut, wie es euch hier geht, müsstet ihr noch viel größer sein.« Sie berührte die Blütenblätter. »Ihr müsst üppiger blühen.«
Unzufrieden schüttelte die alte Frau den Kopf, bückte sich zu den beiden Wassereimern und trug sie zu dem nächsten Pflanzentopf. »So, hier …«, murmelte sie und goss mit geübter Hand Wasser in den Topf. »Auch für dich wird es Zeit, langsam größer zu werden. Ich mach das hier nicht zu meinem Vergnügen. Wisst ihr eigentlich, wie viel Arbeit ihr mir macht.« Sie ging zu der nächsten Pflanze und setzte ihren Monolog nahtlos fort. »Meine alten Knochen schleppen jeden Tag diese schweren Wassereimer und ihr lasst es euch hier gut gehen und faulenzt in der Sonne. Ihr seid undankbar. Wachst gefälligst ein wenig schneller!«
Die Gärtnerin nahm wieder ihre Wassereimer auf und ging langsam und vor sich hin murmelnd an der offenen Terrassentür vorbei, bemerkte Velon aber nicht oder tat zumindest so.
»Du siehst aber gar nicht gut aus«, hörte Velon die Frau sagen. »Was ist los mit dir? Reiß dich mal zusammen!« Sie schüttete den Rest des Wassers in den hölzernen Topf und sah zu, wie er langsam in der Erde versickerte.
Eine Weile schimpfte die alte Frau draußen noch weiter mit dem Pflanzen, dann packte sie die Wassereimer und ging in den Garten hinunter. Velon schob den Vorhang beiseite und trat durch die Terrassentür auf die schon warmen Steinfliesen. Obwohl der Himmel klar war und die Sonne über den Baumwipfeln hing, schien ein Gewitter aufzuziehen. Etwas lag in der Luft, wie ein unhörbares Summen von Hornissen, tief und bedrohlich, aber es waren keine Hautflügler zu sehen. Die alte Frau war an der gleichen Stelle wie gestern stehen geblieben und starrte auf einen Punkt unterhalb der Terrasse, schweigsam und reg los, bevor sie sich einen Ruck gab und durch den Garten davonstapfte.
Velon sah ihr nach, bis sie den Teich umrundet hatte und hinter einigen großen Sträuchern verschwunden war. Er begab sich zu der Stelle, an der die Gärtnerin gestanden hatte, und sah einen Lichtschacht unter der breiten Terrasse, den er bislang kaum beachtet hatte. Er führte zu einem Raum im Keller des Hauses. Im einfallenden Licht des Schachtes erkannte Velon unter sich zwei alte Menschen, die hingestreckt auf Liegen ruhten, beide groß und hager, mit grauem Haar, die Hände wie Krallen auf den Decken. Im grellen Mittagslicht wirkten sie blass und farblos. Die Frau und der Mann besaßen trotz des Alters noch eine deutlich erkennbare Familienähnlichkeit; die schmalen Gesichter mit der großen Nase und dem markanten Kinn, über das sich die pergamentartige Haut spannte, der breite, zusammengekniffene Mund. Sie sahen aus wie die einbalsamierten Körper der Pharaonen.
Der Mann begann heiser zu husten und Velon erkannte plötzlich, dass die beiden bewegungslosen Alten nicht schliefen, sondern die Augen geöffnet hatten und zu ihm hochstarrten. Regungslos hatten sie die ganze Zeit seine Musterung über sich ergehen lassen. Velon verspürte eine spontane Abscheu gegenüber diesen beiden Menschen. Warum sagten sie nichts? Warum hatten sie durch kein Zeichen zu erkennen gegeben, dass sie wach waren? Wollten sie ihn beschämen? Am liebsten hätte er sich gebückt und einen Stein nach ihnen geworfen. Mit einem Schnauben wandte Velon sich ab und eilte davon.
Der Ärger in ihm war so groß, dass er erst am Meer wieder aufatmete. Er hielt sein Gesicht in die milde Brise und spürte, wie sein Herzschlag sich beruhigte. Der bläuliche Sand reflektierte sanft das frühe Morgenlicht und Velon beschloss, einen Strandspaziergang zu unternehmen, da es ihn nicht in die Villa zurückzog.
Er ging am Rande der Wasserlinie, wo die feinen Wellen funkelnd ausliefen. Das Gehen tat ihm gut und der feste, feuchte Sand ermöglichte ein angenehmes Vorankommen. In der Ferne konnte er andere Inseln erkennen, deren bläulicher Sand mit dem Meer verschmolz. Die saubere, salzhaltige Luft pustete seinen Kopf frei. Bald kam es ihm lächerlich vor, dass er sich vorhin so sehr über die alten Leute geärgert hatte. Er war doch nicht nach Cela 14 gekommen, um einen Streit mit zu beginnen, noch dazu mit jemandem, der ihm gar keinen Anlass dazu bot. Kämpfe hatte er während seiner Tätigkeit für die Regierung genug auszufechten und dies war sein einziger Jahresurlaub. Er hatte nicht vor, ihn sich vermiesen zu lassen.
Am Waldrand sah er einige Frauen, die die Stämme der palmenartigen Bäume hochkletterten, um Ko’wens zu ernten. Mit eleganter Leichtigkeit erklommen sie die Spitze der Bäume, barfuß und beide Hände hinter dem Stamm verschränkt, pflückten die Milchnüsse und warfen sie nach unten in den Sand. Männer waren keine zu sehen. Wie La’lyn gesagt hatte, schien das Pflücken der Früchte Frauensache zu sein. Als sie ihn sahen, kamen zwei der Frauen zu ihm herüber, legten die Hände zum rituellen Gruß zusammen und ließen ihn von dem milchigen Saft einer Ko’wen kosten, in die sie ein Loch gebohrt hatten.
Am späten Nachmittag hatte Velon die kleine Insel umrundet. Der lange Tag an der frischen Luft hatte ihn hungrig und durstig gemacht, und der Gedanke an ein üppiges Abendessen auf der Terrasse der Villa ließ ihn trotz seiner müden Beine schneller werden.
Nach der Mahlzeit saß Velon auf der Terrasse und beobachtete Co’neta, wie sie ihren Platz im Garten einnahm. Regungslos stand sie in der prallen Sonne und musterte die beiden alten Menschen in ihrem Kellerzimmer. Velons Körper fühlte sich nach dem Essen so schwer und erschöpft an, dass er einfach sitzen blieb und die schäumende Milch der Ko’wen-Frucht trank. Immer wieder glitt dabei sein Blick zu der Gärtnerin, die sich um seine Anwesenheit nicht im Geringsten kümmerte. Nach einer geraumen Weile, Velon wäre beinahe am Tisch eingenickt, erklang ein Schrei und ließ ihn zusammenzucken.
»Sagt was! Sagt endlich was!«
Die alte Frau stand immer noch an derselben Stelle, starrte auf den Punkt unterhalb der Terrasse und schüttelte drohend die Faust.
»Sagt was! Los!«
Ihre Stimme war schrill und kraftvoll und hallte durch den stillen Garten. Die Schreie erklangen wie ein Misston in der exotischen Pracht um sie herum und ließen einige bunte Vögel auffliegen.
»Ich weiß, dass ihr da seid.« Co’netas magere Faust fuhr zornig in die Luft. »Ich höre euch atmen. Sagt endlich was!«
Velon stand langsam auf und trat an die Steinbrüstung.
Die alte Frau streckte den Kopf nach vorne wie ein Raubvogel, die Falten in ihrem Gesicht gruben sich deutlicher in die sonnengegerbte Haut. Ihre Augen forschten nach der kleinsten Bewegung, als wäre sie bereit, bei dem geringsten Anzeichen von Leben in die Tiefe zu stürzen.
»Ihr sollt verrecken«, stieß sie hervor. »Sterbt endlich! Hört ihr! Ihr sollt endlich verrecken!« Ihre Stimme hallte von den Wänden des Gebäudes wieder und durchschnitt die mittägliche Ruhe des Anwesens. Sie schüttelte erneut die Faust, das Gesicht verzerrt und ganz dem Hass hingegeben.
Taumelnd, als hätte sie der Wutausbruch ihre letzte Kraft gekostet, entfernte sie sich und verschwand hinter einigen Büschen.
Was haben ihr diese beiden Menschen bloß angetan?, dachte Velon.
Velon ertappte sich an den nächsten Tagen dabei, wie sich seine Gedanken immer wieder mit dem Schicksal der drei alten Menschen beschäftigten. Als er in einer Zeitschrift zum wiederholten Mal denselben Satz gelesen hatte, ließ er sie sinken und trat auf die Terrasse hinaus, wo er, eingehüllt in den schweren Duft der üppig blühenden Büsche, in den Garten starrte. Die beiden Leute verließen nie ihr Zimmer, jedenfalls sah er sie niemals draußen herumlaufen. Manchmal sah er den Lichtschacht hinunter, diese Male aber ungeniert und ohne sich um die Blicke der beiden Alten zu kümmern. Während Velon durch den Garten streifte und von einer seltsamen Unruhe erfüllt war, traf er nur selten jemanden von den Bediensteten. Co’neta hielt sich von ihm fern, aber er spürte immer wieder, wie sie ihn musterte. Ach’tun war die meiste Zeit im Haus oder fuhr mit dem Gleiter über die Insel. Den Koch hatte er nur einmal von Weitem gesehen, ein kleiner, ruhiger Mann mit kurzem schwarzen Haar.
Die Tage auf Cela 14 waren lang und so kam es Velon wie eine Ewigkeit vor, bevor die Sonne hinter dem Horizont verschwand und von dem Nachthimmel mit seiner fremden Sternenkonstellation abgelöst wurde. Auf den Inseln gab es keine starken Lichtquellen und mit Einbruch der Nacht versank der ganze Planet in Dunkelheit.
Velon saß mit einer Flasche Bier auf der Veranda, die Füße auf die Steinbrüstung gelegt, und lauschte abwesend der fremdartigen Tierwelt, während sich seine Gedanken um die beiden alten Menschen in ihrem Kellerzimmer drehten. Einige nachtaktive Leuchtkäfer von einem tiefen Blau umkreisten einander spielerisch und wechselten die Farbe von Grün über Gelb, bis sie allmählich in der Tiefe des nächtlichen Gartens verschwanden. Velon dachte noch nicht einmal mehr daran, sie mithilfe seines RID-Chips zu bestimmen. Erst im letzten Moment bemerkte er die Gestalt La’lyns, die lautlos aus der Dunkelheit aufgetaucht war und langsam die Stufen zur Terrasse hochstieg. Überrascht nahm er die Füße von der Steinbrüstung und setzte sich auf.
La’lyn legte die Hände zum rituellen Gruß zusammen. »Guten Abend, Celot’on Harris!«
»Guten Abend, Cela’ta La’lyn«, erwiderte er die Begrüßung.
Sie trug eines der schlichten Kleider, die bis zu den Knien reichten und im Nacken verknotet waren. Der tiefdunkle Blauton ließ sie beinahe mit dem nächtlichen Garten im Hintergrund verschmelzen.
»Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«
»Danke«, antwortete Velon. »Es ist schön hier. Und doch vergisst man nie, dass man nicht auf der Erde ist.«
Sie schaute ihn abwartend an, das ebenmäßige Gesicht undurchdringlich.
Velon nahm einen Schluck aus der Bierflasche und sah wieder in den Garten hinaus. »Cela 14 ist der schönste Planet, auf dem ich jemals war. Er ist wie das irdische Paradies aus früheren Tagen. Man kommt hier hin und ist angesichts der Schönheit der Natur geblendet. Wenn man von einem zugrunde gerichteten Planeten wie der Erde stammt, erscheint alles wie ein Wunder! Und dann guckt man genauer hin und erkennt die Makel unter der perfekten Oberfläche.«
La’lyn stellte sich an die Steinbrüstung und sah ebenfalls in den Garten hinaus. Für einen Moment blitzte ein Bild vor Velons Augen auf, wie Ach’tun den Knoten des Kleides in ihrem Nacken löste und der dünne Stoff hinab glitt, um sich zu ihren bloßen Füßen zu ringeln. Dieser unglaublich schöne Körper vor dieser unglaublich schönen Kulisse.
»Ich habe gesehen«, begann La’lyn langsam, »dass Ihr die beiden Geschwister unter der Terrasse beobachtet habt.«
Geschwister!, dachte Velon. Die Familienähnlichkeit war nicht zu übersehen.
»Wer sind die beiden?«, fragte er.
La’lyn zögerte ein wenig mit der Antwort. »Es sind Celo’ton Rach’tel und seine Schwester Cela’ta Fe’lata. Sie leben schon lange bei uns.«
»Waren sie mal Angestellte des Hauses?«
»Früher hat Celo’ton Rach’tel als Maler gearbeitet und den Besuchern Bilder verkauft. Daneben war er als Anstreicher und Restaurator für die alten Gebäude auf den Inseln tätig. Später kümmerte er sich hier um das Haus und die Gäste.«
»Und seine Schwester?«
»Nachdem Celo’ton Rach’tel keine Frau geheiratet hatte, wohnte er weiterhin bei ihr.«
Velon dämmerte etwas. Er musterte La’lyn, die mit dem Rücken zu ihm stand. »Gab es einmal eine Liebesbeziehung zwischen Co’neta und Rach’tel?«
La’lyn drehte sich zu ihm um »Ich weiß es auch nur aus Erzählungen. Weder Celo’ton Rach’tel oder seine Schwester, noch Cela’ta Co’neta reden jemals davon.«
»Was ist passiert?«
»Vor langer Zeit, als Cela’ta Co’neta und Celo’ton Rach’tel jung waren, liebten sie sich. Doch nun tragen sie nur noch den Hass auf den anderen im Herzen. Die meisten auf der Insel sind amüsiert darüber, aber mich macht die Sache traurig.« La’lyn strich sich das dunkle Haar zurück und atmete tief aus. »Vor fünfzig Jahren war Co’neta als junge Witwe zu uns gekommen, zusammen mit ihrer Tochter, einem Mädchen mit verwirrtem Geist. Sie wurde die Geliebte von Celo’ton Rach’tel. Rach’tel war damals schon ein angesehener Mann gewesen, immer elegant gekleidet und gut aussehend. Sie wollte ihn heiraten und Rach’tel war damit einverstanden. Seine Schwester aber, mit der er zusammenlebte, war dagegen. Cela’ta Co’neta sorgte bereits für den Garten und sie wäre ihm eine tüchtige Ehefrau geworden, doch gegen sein eigenes Blut konnte Rach’tel sich nicht durchsetzen.«
Velon leerte die Bierflasche mit einem letzten Schluck und stellte sie auf den Beistelltisch. »Also verstieß er seine Geliebte!« Seine Vermutung richtig gewesen, man hatte der Gärtnerin übel mitgespielt. Sie zuerst verführt und ihr anschließend das Herz gebrochen. Nur eine Sache interessierte ihn noch. »Hat Rach’tel jemals geheiratet?«
La’lyn schüttelte den Kopf. »Niemals. Er wohnt seit Jahrzehnten mit seiner Schwester zusammen.«
»Und Co’neta auch nicht ...?«
»Nein. Sie teilt sich seit ihrer Ankunft hier eine Hütte mit ihrer Tochter.«
Velon spürte den Puls in seinen Schläfen. »Trotzdem wohnen die Geschwister immer noch hier in der Villa, obwohl sie nicht mehr hier arbeiten?«
Sie sah ihn erstaunt an. »Aber natürlich. Es ist unsere Pflicht und Ehre, uns um die Alten zu kümmern.«
»Die beiden kommen mir vor wie bösartige Spinnen in ihrem Versteck.«
La’lyn neigte den Kopf und das vorne kinnlange und nach hinten hin kürzer werdende Haar verdeckte ihr Gesicht.
Die Gedanken an die Geschwister ließ Velon die Galle hochsteigen. Während die arme Gärtnerin tagein, tagaus unter der prallen Sonne arbeiten musste, lagen sie in ihrem schattigen Versteck und lauerten darauf, dass Co’neta zusammenbrach. Der Frau, die sie vor Jahren so schlecht behandelt hatten. Und zur Belohnung wurden sie auch noch bis an ihr Lebensende versorgt.
In der Nacht schlief Velon unruhig und war schon im Morgengrauen wach. Der Wind bauschte die Vorhänge vor der offenen Terrassentür und ließ die würzige Luft des Gartens einströmen. In der Ferne erklangen die Gesänge der Wach’tins, die in der Dämmerung melancholisch über die Insel schallten. Bald hörte er die leisen Schritte der Gärtnerin, gefolgt von ihrem eindringlichen Einreden auf die Pflanzen, während sie die Erde in den Holzkübeln wässerte. Velon verspürte Sympathie für die alte Frau, deren Schicksal ihn traurig stimmte. Als er aufstand, war Co’neta im Garten beschäftigt und er absolvierte auf den Steinfliesen der Terrasse seine hundert Liegestütze, die er mit ungewohnter Intensität durchführte. Nach dem Frühstück setzte er sich vor sein Zimmer und beobachtete Co’neta. Mit geübter Hand ging die hagere, leicht gebeugte Gestalt ihrer Arbeit nach, das graue Haar zu einem langen Zopf gebunden. Ab und zu sah sie zu ihm herüber und Velon nickte ihr freundlich zu, aber sie wandte sich stets ausdruckslos ihren Pflanzen zu. Langsam wanderte die Sonne am tiefblauen Himmel höher, bis sie ihren Zenit erreicht hatte. Velon setzte sich zum Mittagessen nieder, während die Gärtnerin ohne Unterlass ihren Tätigkeiten nachging. Ausgedörrt wie ein altes Stück Leder, schien ihr die Mittagshitze nichts auszumachen. Abwesend nahm Velon das Essen ein und sprach einige Worte mit Ach’tun, ohne seine Aufmerksamkeit vom Garten abzuwenden. Im Schutz der Markise blieb er nach der Mahlzeit sitzen und trank die süße Milch der Ko’wen-Frucht, als er zwei Gestalten erblickte. Langsam, wie ausgebleichte Schatten, wandelten zwei alte Menschen vom Haus in Richtung des Gartenteichs. Velon richtete sich ruckartig auf.
Auch Co’neta war auf die beiden aufmerksam geworden und ließ die Gartenschere sinken. Mit Stolz erhobenem Kopf, ohne auf die Gärtnerin zu achten, gingen Celo'ton Rach’tel und Cela’ta Fe’lata über den kiesbestreuten Weg.
Co’neta kauerte neben dem Busch und sah ihnen zu, wie sie langsam näher kamen.
Celo’ton Rach’tel ging eingehakt bei seiner Schwester und stützte sich dabei auf einem schwarzen Stock. Seine schlanke Gestalt besaß noch den aufrechten Gang eines jungen Mannes, aber auf dem zweiten Blick war zu erkennen, dass seine Knie steif waren und die Beine zitterten. Sein schmales Gesicht mit der großen Nase war immer noch eindrucksvoll, früher musste er ein schöner Mann gewesen sein.
Langsam und ohne die beiden aus den Augen zu lassen, legte Co’neta die Gartenschere auf den Rasen und machte einige Schritte auf die Geschwister zu.
Celo’ton Rach’tel und seine Schwester sahen beide geradeaus, als wäre die alte Gärtnerin nicht da, aber Velon erkannte, wie das ausgemergelte Gesicht des Mannes zu einer Maske erstarrte. Langsam erhob sich Velon und trat an die Verandabrüstung.
Die Geschwister blieben stehen und beide Parteien starrten sich hasserfüllt an.
»Hure!«, zischte Celo'ton Rach’tel. Es klang wie ein Peitschenschlag. »Alte Hexe!«
Velon konnte die Beleidigung noch in etlichen Metern Entfernung deutlich hören und ein merkwürdiges Feuer begann in seinem Inneren zu lodern.
Co’neta bückte sich wie zum Sprung, funkelte die beiden an. »Schwächling!«, spuckte sie aus. »Schlappschwanz!«
»Dreckstück!«, schrie die Schwester.
»Du Schlampe!«, brüllte Rach’tel mit erstaunlich kräftiger Stimme.
Ohne es zu bemerken, war Velon in den Garten gesprungen und lief auf die alten Leute zu. Als Velon neben der Gärtnerin stehen blieb, schlug sein Herz bis zum Hals. Eine animalische Wut brannte in ihm. Er spürte den Wunsch, seine geballte Faust in das Gesicht des alten Mannes zu schlagen, der ihn hochmütig betrachtete.
»Packt euch«, stieß Velon hervor, »sonst passiert hier ein Unglück!«
Er fühlte die Kraft in seinen Muskeln und wie leicht es wäre, seinem Zorn freien Lauf zu lassen. Es brauchte nur ein abfälliges Wort der beiden, nur eine weitere Beleidigung der alten Gärtnerin ...
Die Lippen in dem blassen Gesicht von Rach’tel waren ein schmaler Streifen, aber schließlich drehte er sich langsam um und ging, schwer auf den Stock gestützt, zum Haus zurück. Seine Schwester warf Co’neta noch einen giftigen Blick zu und folgte dann dem alten Mann.
Velons Herz schlug kräftig. Er merkte, dass seine Hände zitterten. Cela’ta Co’neta murmelte etwas vor sich hin, begab sich wieder zu ihrer Gartenschere und schnitt energisch die Äste des Busches zurück.
Am Abend betrat Velon sein Zimmer und bemerkte einen feinen, fremdartigen Geruch in der Luft. Die Terrassentür war geschlossen und sein Bett frisch bezogen worden. Auf seinem Kopfkissen erblickte er einige langstielige Blumen. Er nahm sie vorsichtig auf und roch an den kleinen Blüten, deren Kelche kaum größer als sein Daumennagel waren.
»Angenehm«, murmelte er.
Der Duft war kaum wahrnehmbar, aber erfrischend und klar. Auf dem Sideboard stand neben der blaulasierten Trinkwasserschüssel eine weitere Schüssel aus Glas. In dem Wasser schwammen etliche von den dunkelroten Blütenkelchen. Velon legte die Blumen auf das Bett zurück und trat zur Terrassentür, um Luft hineinzulassen. Irritiert bemerkte er, dass der Griff fehlte und die Tür fest verschlossen war. Er drückte noch einige Male dagegen und zuckte dann mit den Schultern. Er würde Ach’tun morgen dazu befragen. Gähnend zog er sich aus und hängte die leichte Sommerkleidung über die Stuhllehne. Das seidenartige Schlafgewand fühlte sich kühl auf der Haut an. Velon legte die Blumen ordentlich neben sein Kopfkissen, streckte sich aus und war nach wenigen Atemzügen eingeschlafen.
Er erwachte in der ungewohnten Stille des geschlossenen Raumes. Die Sonne war bereits schon aufgegangen. Auf der Terrasse sah er dünne Wasserrinnsale, die verrieten, dass die alte Gärtnerin mit dem Gießen der Pflanzen fertig war. Wegen der verschlossenen Tür hatte er sie wohl nicht gehört.
Der Tisch für das Frühstück, zu dem er durch den Leseraum ging, war umgestellt worden und befand sich auf der fast kahlen Terrasse in der Nähe der Dienstbotenzimmer. Velon fragte Ach’tun während des Essens nach der Verandatür in seinem Zimmer und der Einheimische lächelte schüchtern.
»Leider habe ich gestern beim Reinigen des Raumes den Griff der Tür beschädigt«, sagte er. »Ein neuer Griff wird bald montiert werden. Bis dahin möchte Celot’on Harris bitte eine der anderen Türen nehmen.«
Velon kaute etwas von dem scharfgewürzten Reis und spülte ihn mit der schäumenden Milch der Ko’wen-Frucht hinunter. Der Morgen war klar und es versprach ein weiterer sonniger Tag auf Cela 14 zu werden.
»Was wollen Celot’on Harris heute tun?«, fragte Ach’tun.
Velon fühlte sich in der Stimmung, ans Meer zu gehen und in die Bucht hinauszuschwimmen, auch wenn die Nacht weniger erholsam als die anderen gewesen war. »Zum Wasser!«, sagte Velon. »Wer weiß, wann ich wieder in den Genuss komme.«
Ach’tun strich sich über seinen bunten Wickelrock und wirkte erleichtert.
»Auf der Erde ist es nicht möglich, sich länger draußen aufzuhalten«, erklärte Velon. »Die Luft macht uns alle krank. Deswegen verbringen wir viel Zeit in geschlossenen Räumen und atmen gefilterte Luft. Ein ganzer Tag unter einem blauen Himmel ist wie ein Stück Unendlichkeit!«
Zum ersten Mal seit Tagen freute sich Velon wieder, das Meer sehen zu können. Er brach direkt nach dem Frühstück auf. Als er an der Stelle im Garten vorbeikam, an dem es am Vortag zum Streit gekommen war, runzelte er die Stirn, ging dann aber schnell weiter.
Velon schwamm noch einmal zu der kleinen Insel in der Bucht hinaus und verbrachte den halben Tag damit, die Unterwasserwelt zu erkunden. Dem Bioengineering war es zu verdanken, dass dabei seine helle Haut nicht verbrannte und schädliche UV-Strahlung abgewehrt wurde. Während er mittags zum Strand zurückschwamm, sah er La’lyn im Schatten einiger Bäume sitzen. Er winkte ihr zu und lief barfuß durch den warmen Sand.
Velon grüßte die junge Frau freundlich und sie legte die beiden Handflächen zusammen. »Wollen Sie mir ein wenig Gesellschaft leisten?«, fragte er.
Gemeinsam gingen sie den blauen Strand entlang, an dem das klare Wasser des Meeres in weichen Bögen auslief. La’lyn erschien ihm nachdenklich und er hatte den Eindruck, dass sie etwas auf dem Herzen hatte.
»Muss ich mich bei Ihnen für die Blumen bedanken?«, fragte Velon.
La’lyn warf ihm einen kurzen Blick zu. »Ich habe mir erlaubt, sie in Ihr Zimmer zu legen.«
»Ihr Duft lag die ganze Nacht in der Luft. Glücklicherweise rochen sie angenehm, denn ich hätte nicht zu lüften vermocht.«
»Haben sie Sie gestört?«
»Nein, nein …!«, beruhigte Velon sie. »An ihnen liegt es bestimmt nicht, dass ich mich ein wenig zerschlagen fühle. Ich glaube, die Ereignisse am Tag haben an meinen Nerven gezerrt.«
Sie schwieg und schien darauf zu warten, dass er weiterredete. Er bückte sich, um eine bläulich schimmernde Muschel aufzunehmen, und warf sie ins Meer zurück.
»Es ist merkwürdig«, sagte Velon. »Gestern war ich so zornig, dass ich beinahe einen alten Mann geschlagen hätte.«
»Und nun?«, fragte La’lyn.
Velon hielt sein Gesicht in den sanften Wind und sah über das Meer hinaus. »Ich habe noch nie einen Menschen geschlagen. Ehrlich gesagt, ist mir die ganze Angelegenheit ziemlich peinlich.«
»Ich hoffe, Celo’ton Harris, Sie werden Ihren Aufenthalt hier nicht in schlechter Erinnerung behalten.«
Velon schüttelte den Kopf. »Cela 14 ist ein wunderschöner Ort. Ich werde noch lange an ihn denken.«
»Wir sind es gewohnt, mit Celo'ton Rach’tel, seiner Schwester und Cela’ta Co’neta unter einem Dach zu wohnen. Es macht uns nichts aus. Aber für Besucher kann das irritierend sein.«
»Mich irritiert eher mein eigenes Verhalten, La’lyn«, sagte er.
Im Halbschlaf hörte Velon das Murmeln der alten Gärtnerin, die mit ihren Pflanzen sprach und ihnen vorhielt, wie undankbar sie waren, bei all der Pflege nur so schlecht zu wachsen. Er schlug die Augen auf und stellte fest, dass er die Worte nicht geträumt hatte. Velon war nach dem Mittagessen im Lesezimmer auf der Liege eingeschlafen, ein Luxus, den er sich im Alltag nicht gönnte, und jetzt begann die Sonne schon zu sinken. Draußen konnte er das Plätschern des Wassers hören, als Co’neta die großen Blumenkübel wässerte, und der sanfte Geruch nach feuchter Erde machte sich im Zimmer breit. Die Worte der Gärtnerin waren ein monotoner Singsang und ihr im Laufe der Jahre längst in Fleisch und Blut übergegangen. Velon döste noch eine Weile vor sich hin und lauschte den Geräuschen von draußen, während das Sonnenlicht durch den Raum wanderte.
Als er sich aufsetzte, war die Gärtnerin mit ihrer Tätigkeit fertig. Er rieb sich mit den Handflächen über das Gesicht und versuchte die Zeit zu schätzen. Dem Stand der Sonne nach musste er länger geruht haben. Velon dachte an das Gespräch mit La’lyn und warf einen Blick durch das Fenster und sah Co’neta, die an der Balustrade gelehnt dastand, wie ein altes Spiegelbild der jungen Einheimischen.
Velon ging den schlichten Flur hinüber in sein Zimmer, wo er zwei Becher von dem wohlschmeckenden Wasser in einem Zug leerte, das ein Aroma nach Minze in sich trug. Er sah sich eine Weile in dem kleinen Raum mit der spartanischen Einrichtung um, der ihn in den letzten drei Wochen so vertraut geworden war und dachte daran, dass sich die Zeit hier auf Cela 14 ihrem Ende entgegen neigte. Er berührte eine von La’lyns Blumen in der Wasserschüssel und schlenderte anschließend ein wenig durch die prächtige Grünanlage, die das alte Haus so weitläufig umgab. Die milde Luft war angenehm und der Gesang der Wach’tins hallte durch den Wald.
Im abnehmenden Licht des Tages kehrte Velon zur Villa zurück und sah, dass Co’neta noch immer an das steinerne Geländer der Terrasse gelehnt dastand. Nachdenklich, in abwesender Ruhe, wirkte sie wie eine Statue.
Sie träumt vor sich hin, dachte Velon und nahm den Weg zu der flachen Treppe die Terrasse hinauf, als er etwas Großes auf den Steinstufen liegen sah.
Co’neta starrte unbeweglich auf diesen Punkt.
»Die ganze Zeit über ...«, murmelte Velon.
Halb auf den Stufen, halb auf der Terrasse lag, die Glieder hilflos verrenkt, Celo’ton Rach’tel.
»Er schreit nicht«, sagte die alte Gärtnerin zu Velon. Es waren die ersten Worte, die sie an ihn richtete. »Er weiß, dass es keinen Sinn hat.«
»Was ist passiert, wie lange liegt er schon da?«
Ohne eine Antwort wandte Co’neta sich wieder dem gestürzten alten Mann zu.
Velon lief zu Rach’tel hinüber. Die Lippen zusammengepresst, die Augen fest auf die blühenden Pflanzen in den Holzkübeln gerichtet, reckte er einen dünnen Arm in ihre Richtung. Als der Alte Velon bemerkte, begann er zu wimmern.
Velon kniete sich neben ihn hin und sprach ihn an, aber aus der Kehle von Celo’ton Rach’tel drang nicht mehr als ein heiseres Stöhnen. Mit erstaunlich festen Griff gruben sich seine Finger in Velons Unterarm. Vorsichtig untersuchte Velon die Arme und Beine des alten Mannes, während die alte Gärtnerin ihm zusah, und konnte zwei Bruchstellen am rechten Bein feststellen. Vermutlich war auch eine Schulter ausgekugelt. Trotz der Schmerzen, die der Greis verspüren musste, folgten die grauen Augen jeder seiner Bewegungen.
»Wie ruft man denn auf euren Planeten einen Arzt«, murmelte Velon, der kurz überlegte, sein Schädelimplantat wieder einzuschalten, aber der RID-Chip würde ihn hier auf Cela 14 nichts nutzen.
Co’neta stand regungslos auf ihrem Platz, nach vorne gebeugt und Celo’ton Rach’tel nicht aus den Augen lassend, ein stiller Ausdruck auf ihrem Gesicht. Von ihr war keine Hilfe zu erwarten.
Velon lief die Terrasse entlang und klopfte an die Glastür zu Ach’tuns Zimmer. Erleichtert hörte er die sich nähernden Schritte.
Mit einem leisen Klicken schloss Velon seine Reisetasche und sah sich in dem Raum um. Nichts deutete mehr auf seine dreiwöchige Anwesenheit hin. Er stellte die Reisetasche neben die große Tasche am Fußende des Bettes und öffnete noch einmal den Schrank, aufmerksam nach vielleicht vergessenen persönlichen Gegenständen suchend. Als er die Schranktüren schloss, klopfte es an der Tür.
»Herein!«, rief Velon.
Ach’tun trat ein und verbeugte sich mit einem Lächeln. »Haben Celot'on Harris fertig gepackt?«
Velon nickte. Durch die immer noch defekte Terrassentür konnte er sehen, wie die Sonne aufging und der prächtige Garten langsam zum Leben erwachte. »Wo ist Co’neta?«, fragte er. »Ich habe sie gestern gar nicht gesehen.«
»Cela’ta Co’neta ist krank!«, antwortete Ach’tun.
Velon sah ihn fragend an. Die morgendlichen und abendlichen Gießrituale der alten Frau waren ein so fester Bestandteil dieses Hauses gewesen, dass eine Unterbrechung der Routine gar nicht möglich schien.
»Vorgestern, nach dem Unglück mit Celo’ton Rach’tel, legte sie sich abends ins Bett und wurde noch in der Nacht krank. Am Morgen konnte sie sich nicht mehr erheben.«
»Wie merkwürdig. Sie wirkte auf mich immer sehr gesund.«
»Oh, sie war auch nie krank gewesen. Ihr ganzes Leben nicht. Aber nun kann sie das Bett nicht mehr verlassen.«
Nachdenklich sah Velon zu den Blumenkübeln auf der Terrasse hinaus. Den Duft der großen, schillernden Blüten. »Was ist mit Rach’tel?«
»Glücklicherweise geht es ihm langsam wieder besser!«
»Ich würde Cela’ta Co’neta noch gerne einen Besuch abstatten, bevor ich abreise.«
Ach’tun lächelte und senkte den Blick. »Cela’ta Co’neta wird von ihrer Tochter gepflegt. Es ist nicht notwendig, dort zu erscheinen.«
»Ich weiß, Ach’tun. Aber ich würde es trotzdem gerne tun.«
Der Einheimische trat an Velon vorbei. »Wir sollten die Taschen schon einmal in den Gleiter bringen!«
Gemeinsam gingen sie nach draußen und Ach’tun verstaute die beiden Gepäckstücke im Fahrzeug, das vor dem Eingang des alten Hauses stand. In den Bäumen erklang das melodische Singen der Wach’tins, ohne dass man eines der Tiere zu Gesicht bekommen hätte. In den blassen Strahlen der Morgensonne schritten sie über den Rasen zum hinteren Teil des Gartens. Velon sah La’lyn, die in einiger Entfernung den Stamm einer der Ko’wen-Bäume hinaufkletterte.
Ach’tun schwieg, während er Velon in den abgelegenen Gartenbereich führte. Velon entdeckte die kleine Hütte erst, als sie zwischen zwei hochgewachsenen Büschen hindurchtraten, hinter denen sie sich zu ducken schien. Am Ende des Grundstücks, im Schatten der Bäume des angrenzenden Waldes gelegen, besaß das Heim der Gärtnerin etwas von einer Höhle. Ach’tun klopfte an die verwitterte Tür, von der die grüne Farbe abblätterte, und wartete geduldig, bis man sie öffnete.
Die dicke Frau mit strähnigen grauen Haaren musste die Tochter der Gärtnerin sein, selbst schon in den Sechzigern und ohne die geringste Familienähnlichkeit mit ihrer Mutter.
»Ja?«, fragte sie mit grober Stimme.
»Unser Besucher möchte sich von Cela’ta Co’neta verabschieden«, sagte Ach’tun.
Die Frau warf ihnen einen unwilligen Blick zu und ging dann ohne ein Wort wieder nach drinnen. Velon trat hinter Ach’tun in den engen Raum, der das einzige Zimmer der Hütte bildete. In der Mitte stand ein Tisch mit benutztem Geschirr mehrerer Tage, ein Bett unter dem Fenster war ungemacht. Der Geruch von altem Essen und körperlichen Ausdünstungen hing in der Luft.
Cela’ta Co’neta lag in einem Bett auf der anderen Seite des Raumes. Ihr schmaler Kopf auf dem fleckigen Kissen wirkte um Jahre gealtert. Velon musterte kurz ihre Tochter, die mit mürrischem Gesicht am Tisch saß und die rundlichen Arme vor der Brust verschränkt hatte. Er näherte sich dem Bett der Greisin und der Geruch nach Urin und Verfall wurde so intensiv, dass er durch den Mund atmen musste. Offenbar lag die alte Frau in ihren Exkrementen. Der Blick ihrer Augen war aber immer noch hart und unnachgiebig.
»Ist er tot?«, fragte sie heiser.
Velon schüttelte langsam den Kopf. »Celo’ton Rach’tel lebt, er erholt sich von seinem Sturz.«
Die fleckigen Hände auf der Decke zuckten. »Beinahe hätte ich es geschafft ...«, sagte sie ruhig. »Es war so knapp gewesen ...«
Sie hat sich nicht verändert, dachte Velon. Obwohl sie bald sterben wird ... Der schnelle Verfall ihres Körpers war offensichtlich und ein Blick in ihre Augen zeigte, dass sie es mehr als alles andere verbitterte, vor ihrem ewigen Widersacher sterben zu müssen, der ihr eine so tiefe Kränkung zugefügt hatte.
Velon wollte instinktiv etwas Tröstliches sagen, aber er erkannte, dass sich auch auf der Schwelle des Todes nichts an Co’netas Einstellung geändert hatte. Hier gab es kein Erbarmen und keine Vergebung. Velon sah sich um. Ach’tun war direkt neben der Tür stehen geblieben und blickte auf den Boden. Die Tochter saß immer noch mit verschränkten Armen auf dem Stuhl. »Was hat sie?«, fragte er sie.
Die dicke Frau am Tisch zuckte mit den Schultern. »Ist krank!« Es schien sie nicht besonders zu interessieren.
La’lyn hatte recht, dachte Velon. Sie ist auf dem geistigen Stand eines Kindes stehen geblieben. Er spürte das starke Verlangen, diesen stinkenden, trostlosen Ort zu verlassen. Er ging zur Tür und bedeutete Ach’tun, dass sie aufbrechen konnten. Kurz bevor er hinter ihm die Hütte verließ, drehte Velon sich noch einmal um und sah die alte Gärtnerin eine Weile an.
»Falls es Sie interessiert: Die Pflanzen auf der Terrasse blühen prächtig. La’lyn kümmert sich um sie.«
Die alte Frau starrte zur Decke, als hätte sie seine Worte nicht gehört. Velon wartete ein wenig und trat dann an die frische Luft hinaus.
Schweigend ging Velon neben Ach’tun her. Der Hass Co’netas war von so einer Intensität, dass er sich fragte, ob er mit ihrem Tod enden oder ob er noch jahrelang über dem Anwesen liegen würde, bis auch Celo’ton Rach’tel gestorben war. Jede Pore des Gartens schien ihren Zorn zu atmen. Die Geschwister würden also die alte Frau überleben, die sie so lange mit ihrem Hass verfolgt hatte. Aber was für ein Sieg war das?
»Celot’on Harris!«
La’lyn wartete am Gleiter auf sie. In ihren Händen hielt sie drei Ko’wen-Früchte und einige der langstieligen Blumen mit den dunkelroten Blütenkelchen. Nach der Trostlosigkeit der Gärtnerinnenhütte freute Velon sich, sie zu sehen.
»Ein Abschiedsgeschenk«, sagte sie und reichte ihm die Früchte und die Blumen, während Ach’tun sich am Gleiter zu schaffen machte. »Damit Sie ein wenig von Cela 14 mit sich nehmen können.«
Velon nahm die Sachen dankend entgegen. Der Duft der Blüten ließ ihn an samtweiche Haut denken, über die der seidige Stoff eines Kleides nach unten rutschte. »Ihr seid es, nicht wahr?«
La’lyn sah ihn fragend an.
»Ihr beeinflusst die Pflanzen mit euren Emotionen, und die Männer …«
»… reagieren auf den Duft der Pflanzen«, ergänzte La’lyn. »So ist es immer schon gewesen.«
»Dann war es sicherlich kein Zufall, dass sich meine Verandatür nicht öffnen ließ.«
»Nehmt uns das bitte nicht übel, Celot’on Harris. Die Blüten vor Ihrem Zimmer waren vollgesogen mit dem Hass von Cela’ta Co’neta. Es begann, auch bei Ihnen zu wirken.«
Velon legte die Hände zum Abschiedsgruß zusammen. »Nein«, sagte er leise. »Im Gegenteil!«
La’lyn neigte lächelnd den Kopf.
Als der Gleiter über den schmalen Pfad zum Eingangstor schwebte, drehte Velon sich noch einmal um und sah zu dem alten Haus mit seiner Terrasse zurück, auf der die schönsten Blüten sich der Sonne entgegenstreckten, die er je gesehen hatte. Ach’tun steuerte das Fahrzeug geschickt und sie glitten zügig zwischen den mächtigen Baumstämmen des angrenzenden Waldes entlang.
»Die Ko’wen-Früchte halten sich ungeöffnet sehr lange«, sagte Ach’tun. »Sie werden Ihnen auch noch auf der Erde schmecken, Celot’on Harris!«
Velon antwortete nicht. Er fühlte sich merkwürdig indifferent. Die Trostlosigkeit der Gärterinnenhütte brannte in seinen Eingeweiden. Gleichzeitig stiegen die farbigen Eindrücke seines Aufenthalts in ihm hoch. Das grünblaue Meer mit den vielen Inseln. Der Geschmack frischer Ko’wen-Milch. Ein glänzender Fischschwarm im Sonnenlicht, der sich wie ein Wesen bewegte. Die Kühle seines schlichten Zimmers. Eine Hummel, die schwankend von Blüte zu Blüte flog. Die nackte Gestalt La’lyns.
Sie erreichten die ersten weitläufigen Gartenanlagen und Velon erkannte die alten Villen von seinen Streifzügen über die Insel wieder. Die Grünflächen lagen still da, es war kein Urlauber zu sehen. Erst als sie einige Minuten geflogen waren, sah Velon Menschen in einem großen Garten, die um einen Tisch saßen und ihr Frühstück einnahmen. Als sie am Raumhafen ankamen, konnte Velon schon von weitem seine Sternennadel ausmachen. Silbrig funkelnd stand sie unter dem blauen Himmel. Ach’tun hielt den Gleiter direkt neben ihr und wollte Velons Gepäck heraushieven, aber dieser kam ihm zuvor.
»Ich hoffe, Sie hatten einen schönen Aufenthalt bei uns«, sagte Ach’tun. »Vielleicht können wir Celot’on Harris ja mal wieder auf Cela 14 begrüßen! Eine gute Reise!«
Velon nickte ihm freundlich zu und aktivierte mental seinen RID-Chip, der die Tür auf der glatten Außenhülle des Schiffes öffnete. Während Velon eintrat, trafen schon die ersten Statusmeldungen ein und diverse Informationen wurden in sein Gesichtsfeld projiziert. Die dicke Tür schloss sich hinter ihm mit einem leisen Zischen und schnitt die Geräusche des Planeten mit einem Schlag ab. In der Stille der Sternennadel verstaute er sein Gepäck und ließ sich in den breiten Sessel fallen. Eine Weile betrachtete er die Blumen von La’lyn, dann legte er sie neben die Ko’wen-Früchte.
»Zurück zur Erde«, sagte er und der Bordcomputer begann, die Flugbahn zu berechnen. Als sich das Schiff in den Himmel erhob, erblickte er Ach’tun, der bei seinem Gleiter stand und winkte, während er allmählich kleiner wurde. Immer mehr der verstreuten, zerklüfteten Inseln tauchten in seinem Sichtfeld auf, grüne Flecken im blauen Meer, die langsam unter ihm zurückblieben. Vor seinen Augen wurde die Information eingeblendet, dass er 240 wichtige Nachrichten erhalten hatte, weitere 950 waren als Standard gewichtet worden.
»Nun denn …!«, sagte Velon und begann damit, die erste Nachricht aufzurufen.