Читать книгу Einführung in die Liturgiewissenschaft - Albert Gerhards - Страница 10

1.3 Die Neuentdeckung der rituellen Dimension von Liturgie

Оглавление

Wenig beachtet blieb – vor allem in der deutschsprachigen Diskussion der letzten Jahrzehnte – ein Aspekt, der in den Beschreibungen des Phänomens Liturgie schon anklingt: Liturgie ist Ritual (Mitchell/106; Post/108). Für die Liturgiewissenschaft, gleichgültig, ob sie sich für Theologie, Geschichte oder Fragen der Pastoral interessiert, ist die Beachtung der Ritualität gottesdienstlicher Feiern unverzichtbar, soll nicht eine wesentliche Dimension dieser Feiern ausgeblendet werden (Odenthal/107). Zugleich stoßen Rituale in der Gesellschaft auf ein neues Interesse, das auch liturgiewissenschaftlich zu reflektieren ist.

Was ist ein Ritual?

Der Begriff „Ritual“ wird heute so inflationär verwendet, dass einige Aspekte festgehalten werden müssen: Innerhalb der Liturgiewissenschaft bedeutet „Ritual“ ein strukturiertes, in der Regel wiederholbares und stilisiertes Handeln, das von einer Gruppe sanktioniert ist. Rituale sind von einer Gemeinschaft verantwortetes Handeln in zentralen Lebenssituationen, insbesondere an Lebensübergängen (Übergangsrituale), in Krisen (Krisenrituale) und an kalendarisch fixierten Punkten (kalendarische Rituale). Im Einzelnen ermöglichen sie dem Individuum und der Gruppe den Vollzug eines Lebensübergangs, die Bewältigung einer Krise, die Fundierung und Erneuerung kollektiver Identität. Rituale verleihen darüber hinaus Erfahrungen, die anders nicht adäquat artikuliert werden können, symbolischen Ausdruck; mehr noch: „Rituale sind … der Handlungsmodus der Symbole“ (Luck-mann/104: 177). Sie sind insbesondere ein primäres Medium religiöser Äußerung. In ihnen liegt, und das ist mit Blick auf die Wahrnehmung von Liturgie entscheidend, ein besonderer Akzent auf der nichtsprachlichen Handlungsdimension und damit auf Sinnlichkeit und Leiblichkeit. Ohne die Bedeutung verbaler Elemente in Ritualen mindern zu wollen, kommt es in ihnen doch wesentlich auf das expressive Handlungsgeschehen an. In der Taufe sind entscheidende Riten das Übergießen mit Wasser oder das Untertauchen ins Wasser, die Salbung mit Chrisam, das Anlegen des Taufkleides und die Übergabe der Taufkerze. Der Übergang in den neuen Status des Christseins wird zwar in den Texten ausgesagt, sinnlich wahrgenommen aber in der Taufhandlung. In der Begräbnisliturgie findet man beeindruckende biblische Texte und Gebete, doch der Abschied vom Toten und die Hoffnung für ihn wird emotional dicht in Handlungen ausgedrückt: dem Einsenken des Sarges in das Grab, dem Besprengen des Sarges mit Weihwasser (Aspersion) oder seiner Inzens mit Weihrauch, dem Hinabwerfen von Erde auf den Sarg und dem Kreuzzeichen über dem Grab. Die Sprache trägt vor allem dazu bei, dass das Ritual eine Deutung im Sinne der Glaubensgemeinschaft erhält. Das Übergießen mit Taufwasser ist also weder primär ein Reinigungs- noch ein Erfrischungsritus, sondern ein Geschehen im Rahmen christlich gedeuteter Heilsgeschichte, wie Taufwasserweihe und Taufformel aussagen. Die Beerdigung eines Toten ist nicht nur Begraben und Verabschieden, sondern Ausdruck von Glaubenshoffnung auf Auferstehung, was durch die Begleittexte identifizierbar wird. Bei Ritualen, wie sie in der Liturgie begegnen, handelt es sich folglich um komplexe Vollzüge mit sehr differenzierten Binnenstrukturen und Bedeutungen.

Bedeutung von Tradition und Formalisierung

Zu dieser Komplexität tragen verschiedene Charakteristika religiöser Rituale bei (Lang/100). In aller Regel sind sie als Handeln einer Gruppe angelegt und besitzen daher kollektiven Charakter. Sie sind stark durch Tradition und Vorschrift bestimmt. Die Traditionsbindung garantiert die Verbindung der Rituale mit der zentralen Überlieferung der jeweiligen religiösen Gruppe. Die katholische Theologie formuliert heute als Mittelpunkt aller Liturgie das Pascha-Mysterium Jesu Christi; sie macht damit deutlich, dass alle liturgischen Feiern mit Leiden, Tod, Auferstehung und Erhöhung Jesu Christi verbunden sind, das heißt in umfassenderem Sinn verbunden mit der Heilsgeschichte von der Schöpfung bis hin zur Vollendung, von der Altes und Neues Testament sprechen. In diesen Ritualen geht es also um symbolisches Handeln, das nicht allein funktional beschrieben werden kann, sondern einen „Mehrwert“ enthält und an einer anderen Wirklichkeit partizipiert. Inhalt und Form dieser Feiern regelt die Kirche über ein weiteres oder engeres Netz von Vorschriften. Die liturgischen Rituale sind formalisiert; so kehren beispielsweise bestimmte Handlungs- und Sprachmuster immer wieder, Rollen wie Handlungsabläufe sind festgelegt. Dies ermöglicht die Wiederholbarkeit der Rituale – ein ganz wesentlicher Zug gerade der Liturgie, der aber Varianz und Gestaltung nicht ausschließt.

In Ritualen spielen unter anderem Assoziation, Emotion und Intuition eine große Rolle. Rituale besitzen damit Qualitäten, die anderen Äußerungen von Religion nicht ohne weiteres zukommen. So bleiben Rituale immer mehrdeutig und entziehen sich im Letzten völliger Festlegung und Deutung. Ihr Überschuss an Zeichen macht sie für Assoziationen und Konnotationen offen, die eine Dynamik dieser Rituale und deren immer neue Rezeption ermöglichen.

Funktionen von Ritualen

An einer Reihe unterschiedlicher Funktionen solcher Rituale hat auch die Liturgie Anteil, wobei von Liturgie zu Liturgie differenziert werden muss. Zu nennen ist die Bewältigung von Lebensübergängen durch die Rites de passage mit ihrer Dreigliederung von Trennung, Umwandlung und Angliederung (van Gennep/111). Einer der Lebensübergänge ist die Eingliederung in die Kirche und in das Christusgeschehen, die in der Taufe vollzogen wird; ganz andere Lebensübergänge sind die Hochzeit, die in der Trauung gefeiert wird, oder Sterben und Tod, für deren Bewältigung Sterbegebete, Viatikum und Begräbnis Hilfen bieten; sie erfüllen eine entlastende Funktion. Rituale können komplexe Wirklichkeiten verdichten, wie dies in der Liturgie etwa bei der Eucharistie oder beim Osterfest im Hinblick auf das Christusereignis zu beobachten ist. Zugleich werden in ihnen Überzeugungen inszeniert, beispielsweise in Prozessionen, in denen eine Glaubensüberzeugung für die kirchliche Gemeinschaft in der Öffentlichkeit zum Ausdruck gebracht wird. Diese rituelle Darstellung von Überzeugungen kann zugleich auf menschliches Handeln zurückwirken und dadurch Verhalten beeinflussen, so dass man Ritualen eine ethische Funktion zusprechen kann.

Tendenz zur Unveränderlichkeit

Die durchgeformte Handlung unterstützt die Entfaltung dieser Funktionen und damit die Wirkung von Ritualen. Sie ermöglicht, dass man sich auf ein Ritual einlassen, sich darauf verlassen kann. Denn das Ritual wird nicht jedes Mal neu kreiert, sondern erscheint als tradiert und unveränderbar; inwieweit dies für das einzelne Ritual wirklich zutrifft, ist jeweils zu prüfen. Generell haben Rituale die Tendenz, sich selbst als unveränderlich zu präsentieren. Der Blick auf Veränderungen und Umbrüche, die in der Liturgiegeschichte stattgefunden haben, und auf „erfundene“, also neue Rituale der Gegenwart mahnt hier allerdings zur Vorsicht.

Vielfalt

Insgesamt kann man Rituale als symbolhafte Handlungen mit eigener Rationalität bezeichnen, die nach eigener Grammatik funktionieren und als komplexe Vorgänge einer kritischen wissenschaftlich-theologischen Reflexion sowie pastoraler Sorgfalt bedürfen. Es gibt unterschiedliche Rituale, die mannigfaltigen Situationen und Bedürfnissen im Leben von Gruppen und Gemeinschaften oder des Einzelnen entsprechen. Diese Vielfalt der Rituale korrespondiert der Vielfalt unterschiedlicher liturgischer Feiern.

Entstehung neuer Rituale

Zugleich entspricht das wachsende Interesse am Rituellen in der Liturgie der Wiederentdeckung der Rituale in der Gesellschaft. Rituale spielen in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, aber auch im Leben des Einzelnen offensichtlich eine neue Rolle. Verhaltensunsicherheit, Empfindung von Leere, fehlende Ordnung von Lebensabläufen führen zur Neubelebung tradierter Rituale (zum Teil in neuen Kontexten und verändert in Inhalt und Form), bedingen aber auch die Schaffung ganz neuer Rituale. Deren besondere Kennzeichen sind Individualität und Kreativität – das Individuum schafft sich seine eigenen Rituale – und die Unabhängigkeit von Institutionen. Schon bei der Kennzeichnung solcher Rituale sind deutliche Unterschiede zum „traditionellen“ Ritual zu erkennen, ebenso in den Funktionen, zu denen neben dem spirituellen Wachstum das Ordnen von Leben und Lebensräumen sowie Krisenbewältigung und Selbsterkenntnis zu rechnen sind (Lüddeckens/105). Solche Rituale sind flexibel gestaltbar und können sich mit unterschiedlichen religiösen Vorstellungen verbinden.

Für die Liturgiewissenschaft sind solche Phänomene aus zweierlei Gründen interessant: Zum einen dokumentieren sie ein verstärktes Interesse an symbolischem Handeln, das lange Zeit durch Liturgie in ihrer ganzen Vielfalt befriedigt wurde. Insbesondere Andachten, Segnungen, Prozessionen und Wallfahrten waren wesentliche Ausdrucksformen katholischen Glaubens. Der Verlust von Formenvielfalt ist problematisch, umso mehr, wenn in neuen Ritualen heute etwas gesucht wird, das ursprünglich durch kirchliche Rituale abgedeckt wurde.

Christliche Anfrage an säkulare Riten

Zum anderen beeinflussen sich Phänomene von Ritualität wechselseitig. Das, was in den neuen Ritualen gesucht wird, wird zugleich als Anfrage an die tradierte Liturgie herangetragen und beeinflusst diese in Gestalt und Deutung. Umso notwendiger sind für die Beschäftigung mit der Liturgie die Analyse der wiedererstarkten Rituale und eine differenzierte Wahrnehmung. Dazu gehört die kritische Sicht auf Rituale jeglicher Provenienz. Diese wären missverstanden, wollte man sie vor allem unter Aspekten wie Therapie, Heilung oder Lebenshilfe betrachten. Auch darf die suggestive und manipulative Kraft von Ritualen im Dienste von Ideologien aller Art nicht übersehen werden. Nach dem Menschenbild von Ritualen ist zu fragen. Im gesellschaftlichen Umfeld ist an das Proprium christlicher Rituale zu erinnern: Das christliche Ritual vergegenwärtigt, dass Menschen in die Heilsgeschichte Gottes eingebunden und zur Freiheit berufen sind, in dieser Geschichte mitzuleben. In den Feierformen wird dem Menschen diese von Gott geschenkte Freiheit verkündigt; er wird ermutigt, diese Freiheit anzunehmen und zum Grund der eigenen Existenz zu machen. Das christliche Ritual kommt ohne diesen Bezug auf Heilsgeschichte nicht aus, will es nicht seine Mitte verlieren (Bieritz/86). Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu säkularen Riten in der pluralen Gesellschaft, auf den in der Diskussion um Rituale hingewiesen werden muss. Zum Pluralismus leistet die Theologie einen Beitrag, indem sie das Proprium der eigenen Liturgie zur Anfrage an rituelle Formen und Inhalte macht, die christlichen Überzeugungen und den Gedanken einer im Christlichen wurzelnden Aufklärung widersprechen (Kranemann/99).

Rückwirkung säkularer auf kirchliche Rituale

Zugleich führen die neuen Rituale zur Ausdifferenzierung auch der kirchlichen Feierkultur und zur Erweiterung des Feierrepertoires. Diese neuen kirchlichen Feierformen versuchen auf Veränderungen in der Gesellschaft, gewandelte Glaubensvorstellungen, Wertsysteme oder Lebensformen zu reagieren. Man trifft auf Segnungsfeiern für Säuglinge, Segnungen von Kindern ungetaufter Eltern, Lebenswendefeiern als Alternative zur Jugendweihe (Hauke/92), auf unterschiedliche Rituale der Trauer und des Totengedenkens, auf Formen des Wortgottesdienstes oder auch christlicher Feste, die auf Großstadt oder säkulares Milieu hin adaptiert oder neu geschaffen wurden, und dergleichen mehr (Gott feiern/91). Es handelt sich um Versuche, religiösen Pluralismus auch von den kirchlichen Feierformen her als Möglichkeit authentischer Gläubigkeit wahrzunehmen. Die Bindung an die Glaubensgemeinschaft beruht auf freier Einwilligung. „Pluralismus schwächt Glauben nicht, … sondern kann ihn unter bestimmten Bedingungen sogar stärken“ (Joas/97: 45). Er muss als Herausforderung auch für die Liturgie begriffen werden.

Einführung in die Liturgiewissenschaft

Подняться наверх