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2.2.4.1 Liturgiewissenschaft seit dem 18. Jahrhundert
ОглавлениеInteresse an einer Anthropologie der Liturgie
Die katholische Aufklärung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts prägte das spätere Fach „Liturgiewissenschaft“ mit. Die Liturgie war zumindest für diejenigen, die sich als aufgeklärt verstanden, nicht mehr unumstritten. Sie wurde hinterfragt oder gar gänzlich in Frage gestellt. Dies war Anlass genug, sich mit Inhalt und Form der tradierten Liturgie auseinander zu setzen. Die kritische Beschäftigung mit der Liturgie und folglich mit der Tradition wurde kennzeichnend für die Liturgik der katholischen Aufklärung. Die Liturgie sollte zur Glückseligkeit des Menschen und zu seinem tugendhaften Leben vor Gott beitragen. Neben die Auseinandersetzung mit der Theologie und Geschichte des Gottesdienstes trat das Interesse an der Anthropologie der Liturgie. Man entwickelte Vorschläge zur Reform des Gottesdienstes. Damit gewann die Auseinandersetzung mit der Liturgie einen sehr prak-tisch-pastoralen Zug (Kohlschein/159).
Theresianisch-josephinische Studienreform
Im Hintergrund dieser Entwicklung steht nicht zuletzt unter anderem die theresianisch-josephinische Studienreform. Die grundlegende Programmschrift Franz Stephan Rautenstrauchs (1734–1785) „Entwurf zur Einrichtung der theologischen Schulen“, zunächst 1774, dann überarbeitet mehrfach neu aufgelegt, sah neben der Katechetik die Liturgik als ein Aufgabenfeld der Pastoraltheologie. Das Theologiestudium wurde reformiert, die praktische Ausbildung der angehenden Priester gefördert. Man betonte die Handlungsrelevanz der Theologie; ein Theologe wie Franz Giftschütz (1748–1788) definierte die Pastoraltheologie als „Pastoralanweisung“ und damit als Anwendungswissenschaft.
Das Liturgieverständnis der katholischen Aufklärung prägten Theologen wie Beda Pracher (1750–1819), Benedikt Maria Werkmeister (1745–1823) und Vitus Anton Winter (1750–1814). Eine einflussreiche Gestalt war der Konstanzer Generalvikar Ignaz Heinrich Freiherr von Wessenberg (1774–1869), der ein umfangreiches Reformwerk in Gang setzte, das die Erneuerung nicht nur einzelner liturgischer Bücher, sondern auch der Priesteraus- und fortbildung im Blick hatte.
Praktische Konsequenzen
Kennzeichnend ist für die Liturgik dieser Zeit, dass man sich nicht auf theoretische Auseinandersetzungen beschränkte, sondern auch in der Praxis Veränderungen vornahm. Gesang- und Gebetbücher sowie Ritualien in großer Zahl wurden überarbeitet oder neu konzipiert und in den Gemeinden vor allem Südwestdeutschlands eingesetzt. Neben die Erklärung und Vermittlung von Liturgie trat hier die Reform. Ziel war ein Gottesdienst, der die Gläubigen belehren und zugleich erbauen konnte und entsprechend zweckmäßig aufgebaut war. Die Gläubigen sollten an der Liturgie teilnehmen können. Maßstäbe wie die Vernunftgemäßheit, die man zugrunde legte, wurden unter anderem aus der Heiligen Schrift und der sehr idealistisch gesehenen frühchristlichen Liturgie abgeleitet. Von letzterem Rekurs erhoffte man sich klarere liturgische Strukturen, vor allem aber eine unverfälschte Liturgie.
Auf eine entsprechende gottesdienstliche Praxis sollte die Ausbildung vorbereiten. Für die Weiterbildung standen verschiedene Zeitschriften mit Aufsätzen und Rezensionen zur Verfügung, die zum Teil von einzelnen Bistümern herausgegeben wurden. Aber auch Pastoralkonferenzen, bisweilen mit thematischen Vorgaben, veranstaltete man, die offensichtlich zwar autoritär, aber effizient organisiert waren (Liturgiewissenschaft/168).
Die katholische Aufklärung ging mit dem Aufkommen der Romantik unter; sie scheiterte an gesellschaftlichen Umbrüchen und an innerkirchlichen Widerständen, nicht zuletzt aus Rom.
Dom Prosper Guéranger
Ohne explizit die Liturgiewissenschaft zu fördern, hat auch Dom Prosper Guéranger (1805–1875), der Wiederbegründer der Abtei Solesmes, die Auseinandersetzung mit der Liturgie mitgeformt. Als Ultramontanist verschrieb der Benediktiner, der zu den Vorläufern der Liturgischen Bewegung des 20. Jahrhunderts gezählt wird, sich der römischen Liturgie, die für ihn Ausdruck des apostolischen Anfangs war:
„Erschließt also Eure Herzen, Kinder der katholischen Kirche, und kommt, um mit dem Gebete Eurer Mutter zu beten. Machet durch Euren Anschluß die Harmonie vollständig, die so angenehm dem Ohre Gottes klingt. Möge der Geist des Gebets an dieser seiner natürlichen Quelle neuen Geist schöpfen“ (Gueranger/143: 1,7).
Von Solesmes aus initiierte Guéranger in Frankreich eine Reform des Gottesdienstes, die bis 1875 zum Untergang aller dortigen Diözesanliturgien zugunsten der römischen Liturgie führte. In der Liturgie sollte Kirche erfahrbar werden. Guéranger legte deshalb auf Ursprünglichkeit, Universalität, Autorität etc. der Liturgie großen Wert. Die Beschäftigung mit der Liturgiegeschichte und insbesondere die Erneuerung des gregorianischen Chorals gehörten zum Programm von Solesmes. Einflussreich waren Guérangers Werke „Institutions liturgiques“ (1840, 1841, 1851) und „L’annee liturgique“ (1841–1861). Prägend war seine Art des Rückgriffs auf die Tradition. Guéranger verlangte eine Liturgie unter Mitwirkung der Gemeinde, weil nur so die Gläubigen aus den gefeierten Glaubensgeheimnissen leben könnten (Schilson/187).
Oxford-Bewegung
Zeitgleich versuchte die Oxford-Bewegung im anglikanischen England (seit 1833) durch den Rückgriff auf die apostolische Überlieferung die Kirche zu erneuern. Durch eine Vielzahl theologischer Studien, darunter die sog. Tracts, bemühte man sich um die Reform des liturgischen Lebens. Theologie, Ekklesiologie und Liturgie wurden wieder in ein enges Verhältnis gesetzt (Berger/124).