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2.2.7 Liturgiewissenschaft heute 2.2.7.1 Liturgie im veränderten kirchlichen und gesellschaftlichen Umfeld

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In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veränderten sich sowohl das gottesdienstliche Leben der Kirche hinsichtlich Theologie und Feierpraxis als auch das gesellschaftliche und kirchliche Umfeld der Liturgie grundlegend. Das tangiert die Liturgiewissenschaft, die nun vor anderen Fragen steht als noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zur Konzilszeit. Grundzüge dieser Veränderungen sind unter anderem folgende:

Liturgie als Dialog und Begegnung

– Durch das Zweite Vatikanische Konzil wandelte sich das Verständnis der Liturgiefeier; an die Stelle eines vor allem am Kult orientierten Gottesdienstverständnisses trat ein theologisches Modell, das die Liturgie als Dialog- und Begegnungsgeschehen interpretiert. Im Mittelpunkt der Liturgietheologie steht nun das Zusammenwirken von Katabasis und Anabasis, von Heiligung des Menschen und Verherrlichung Gottes, wobei der Primat des Handelns Gottes durch Christus im Heiligen Geist betont wird. Die gottesdienstlichen Vollzüge, in denen sich dieses Geschehen performativ vollzieht, sind Wortverkündigung, Gesang und Gebet sowie die Zeichenhandlung. Der Mensch vor Gott gelangt in der Liturgie in ganz neuer Weise ins Blickfeld. Entsprechend wird jetzt die Teilnahme der Initiierten an der Liturgie gewichtet und das Rollengefüge der Liturgie neu definiert: Leitparadigma ist die Erneuerung der Gemeindeliturgie. Das zieht Konsequenzen für Versammlungsform und Rollengefüge, für die Liturgiesprache, die Gestaltung von Handlungsvollzügen usw. nach sich. Die Anthropologie der Liturgie wird zur Aufgabe der Liturgiewissenschaft, denn die vielfältige Mitwirkung des Menschen am Gottesdienst ist jetzt hinsichtlich Theologie und Gestaltgebung zu reflektieren.

Liturgiereformen

– Indem man die Teilnahme der Gläubigen an der Liturgie hervorhebt, verändert sich die Wahrnehmung des Gottesdienstes noch in anderer Weise. Die Illusion einer in sich statischen, unveränderlichen Liturgie, die auch historisch eine Fiktion ist, zerbricht. Das Konzil spricht sich implizit für eine mit dem glaubenden Menschen sich wandelnde Liturgiefeier aus. Da sich die Fähigkeiten des Menschen zum Gebet und zur Liturgiefeier, aber auch seine Frömmigkeit und sein Glaube verändern, ist auch mit Konsequenzen für die Gestalt der Liturgiefeier zu rechnen. Wie immer sich das in der Praxis auswirkt, grundsätzlich ist von einer Offenheit der Kirche für Veränderungen in der Liturgie auszugehen. SC 21 nennt neben dem Unveränderlichen in der Liturgie die „Teile, die dem Wandel unterworfen sind“. Liturgiereform wird damit zum Thema der Liturgiewissenschaft (Liturgiereformen/167). Sie hat die entsprechenden Prozesse historisch zu reflektieren und theologisch-kritisch auf Zukunft hin zu begleiten. Sie muss sich mit der Krise des Gebets beschäftigen und für die Menschen der Zeit offen sein. Sie muss sich im Hinblick auf die Liturgie mit der Frage nach der zeitgenössischen Gotteserfahrung auseinander setzen und so die Kirche schützen vor einem allein systemimmanenten Denken. (Zur Liturgiewissenschaft als kritisch reflektierender theologischer Disziplin vgl. Häußling/147, 148 u. 150.)

Ökumene

– Einfluss auf die Entwicklung der Liturgiewissenschaft nahm auch der Aufbruch in der innerchristlichen Ökumene, machte sich doch das Zweite Vatikanische Konzil – vor allem in „Unitatis redintegratio“, dem Dekret über die Ökumene – das Bemühen um die Einheit der Christen zu einem zentralen Anliegen. Auch von der Liturgiekonstitution gingen Impulse für die Ökumene aus (vgl. schon SC 1), indem sie die Liturgie für Reformen öffnete, sie in die Heilsgeschichte einordnete und mit dem dialogischen Verständnis von Liturgie das Heilshandeln Gottes in der Liturgie betonte. Zugleich nahm die Konstitution Einflüsse aus den Kirchen der Reformation auf, so z.B. für die Gewichtung der Wortverkündigung, desgleichen Einflüsse aus der Orthodoxie; hier wäre etwa die stärkere Betonung der Pneumatologie zu nennen (Berger/125; dazu auch Fischer/135 und Schulz/193). Dokumente, die nach dem Konzil von den christlichen Kirchen gemeinsam erarbeitet wurden, wie „Das Herrenmahl“ (1978 [Herrenmahl/77]) oder „Taufe, Eucharistie und Amt“, die Lima-Erklärung (1982 [Taufe/199]), konnten vielfach Konvergenzen im Bekenntnis herausarbeiten, die sich auch in der Liturgie auswirkten. Das Wissen um das Gemeinsame und das Interesse am Eigenen der anderen Kirchen wuchs. Für die Liturgiewissenschaft, die innerhalb der Liturgiegeschichtsforschung schon auf eine längere Beschäftigung vor allem mit den orthodoxen und orientalischen Kirchen zurückblicken konnte, begann eine Entwicklung, die heute in Richtung auf eine ökumenische Liturgiewissenschaft hin weitergeführt wird (Lurz/172; Kranemann/162).

Liturgie und Judentum

– Neben dem Verständnis von innerchristlicher Ökumene revidierte das Konzil das Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum und entwickelte eine neue Israeltheologie (Kranemann/163). Dies fand in der Konzilserklärung „Nostra aetate“ seinen Ausdruck, die sich mit dem Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen befasst, und in vielen Folgedokumenten, in Veränderungen der Liturgie, insbesondere der entsprechenden Karfreitagsfürbitte. Betont wird der bleibende Bund Gottes mit Israel; Gemeinsamkeiten in Theologie und Spiritualität werden gesucht, Kenntnis und Achtung des Judentums gefördert. Diese Revision des Verhältnisses zum Judentum, die in ihrer Bedeutung vor dem Hintergrund einer jahrhundertelangen Unterdrückungsgeschichte und der Shoah zu sehen ist, betrifft das neue Israelbild der Liturgietheologie, den Umgang mit jenen biblischen Texten, die auch in der Synagoge gelesen werden und erfordert unter anderem die Eindeutigkeit des Bekenntnisses zum einen Gott im trinitarischen Beten. Die Revision wirft zudem ein neues Licht auf die Liturgiegeschichte, vor allem auf die jüdischen Ursprünge christlicher Liturgie, auf Austauschbeziehungen und Abgrenzungen zwischen jüdischem und christlichem Gottesdienst (Rouwhorst/185a). Ein weites Arbeitsfeld mit vielfältigen Fragestellungen tat sich auf und beeinflusste die Hermeneutik der Liturgiewissenschaft (Gerhards/138). Die Marginalisierung der jüdischen Liturgie durch die Liturgiewissenschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird zunehmend überwunden; allerdings finden die Liturgien des zeitgenössischen Judentums immer noch zu wenig Beachtung.

Glaubenskrise

– Das kirchliche und gesellschaftliche Umfeld, in dem heute in weiten Teilen Westeuropas Liturgie gefeiert wird, hat sich in den Jahrzehnten seit dem Konzil tiefgreifend verändert. Verallgemeinernd wird man für das deutsche Sprachgebiet zunächst die weitgehende Auflösung des zuvor sehr homogenen katholischen Milieus mit seiner engen Bindung an die Liturgie und einer sehr lebendigen Frömmigkeitspraxis nennen müssen. Die damit verbundene, zumindest über mehrere Generationen selbstverständliche Tradierung des Glaubens und der Liturgie geriet bereits seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in die Krise. Der Wegfall der Durchorganisation des religiösen Lebens (Altermatt/113: 43) tangierte auch die Liturgie, was sich langfristig in einem drastischen Rückgang der Teilnahmefrequenz am sonntäglichen Gottesdienst und – in unterschiedlichem Maße – an den anderen Sakramenten äußerte. Langfristig problematischer ist die Entfremdung vieler Gemeindeglieder von der Liturgie der Kirche; die Voraussetzungen für eine „tätige Teilnahme“ sind häufig nicht mehr gegeben. So wirkt sich die Säkularisierung nicht nur im gesellschaftlichen Umfeld, sondern auch in den Kirchen aus. Zugespitzt wird man von einer Gottes- und Glaubenskrise sprechen müssen, die vor der Liturgie nicht Halt macht.

Nicht kodifizierte Rituale

– Zugleich ist außerhalb der Kirchen eine neue Religionsproduktivität zu beobachten. Sie äußert sich auch in einer Wiederentdeckung der Rituale, nicht nur durch okkulte und esoterische Zirkel, sondern in ganz unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft. Die kirchliche Liturgie ist betroffen, insofern sich zunehmend – vor allem für die Eheschließung und das Begräbnis, aber auch schon für die Namensgebung – nichtchristliche Lebenswenderituale etablieren. Sie werden zu einer Herausforderung für die kirchliche Liturgie. Eine heute schon zu beobachtende Konsequenz ist die Pluralisierung der kirchlichen Liturgie, die zunehmend nicht mehr auf die Hochformen der Sakramente begrenzt ist. Neue Gottesdienstformen entwickeln sich, die auf Lebenssituationen und Teilnehmergruppen bezogen und häufig den Sakramentalien vergleichbar sind. (Beispiele für verschiedene Segnungsgottesdienste und christliche Feiern mit Ungetauften finden sich in: Gott feiern/91.)

Individualisierung

– Zudem verändern sich die Erwartungen an Rituale, die nicht mehr einfach als vorgegeben akzeptiert, sondern im Kontext von Individualisierung als persönlicher Ausdruck derer, die an diesem Ritual beteiligt sind, verstanden werden (biographische Prägung). Dieses Ritualverständnis unterscheidet sich dort von der kirchlichen Liturgie, wo die Glaubensgemeinschaft der Glaubensüberlieferung verpflichtet ist und Liturgie im theologischen Sinne als Handeln Gottes, damit das in der Liturgie Gefeierte als Gabe an den Menschen betrachtet wird. Mit diesen knapp skizzierten Spannungen, die weit in den kirchlichen Binnenraum hineinreichen, tun sich für die Liturgiewissenschaft Fragen nach Objektivität und Subjektivität auf, nach der Dimension der Personalität im Gottesdienst, nach vorgegebener Gestaltung und Gestaltungsfreiheit usw. (Gerhards/323). Immer stärker treten neben den kirchlich verfassten Formen von Liturgie neue – kirchliche wie nichtkirchliche, religiöse wie säkulare – Rituale ins Blickfeld (Post/181).

Einführung in die Liturgiewissenschaft

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