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Liturgiegeschichtsforschung
ОглавлениеNeue Herangehensweisen
Die Geschichte der Liturgie wird durch die Liturgiewissenschaft nicht mehr allein als verschriftlichte Liturgie (Handschrift oder gedrucktes Buch) untersucht, wiewohl in den liturgischen Handschriften und Büchern wesentliche Aspekte christlicher Liturgie festgehalten sind. Vielfältigere Zugänge zur Liturgiegeschichte werden gesucht. Die unterschiedlichen gesellschaftlichen und kirchlichen Faktoren bei der Entstehung dieser Quellen (Produktion) sind zu berücksichtigen, ihre nach Region, Zeit und Teilnehmergruppe sehr unterschiedlichen Rezeptionen zu beachten. Die Erkenntnis, dass Bild, Gesang, Raum, Gewand, liturgisches Gerät usw. mindestens ebenso entscheidend für das liturgische Handlungsgeschehen sind wie Texte, ist auch für die Liturgiehistorie grundlegend. Die Liturgie besteht aus komplexen Ritualen, die mit einem entsprechend differenzierten Instrumentarium zu untersuchen sind.
Liturgie besteht nicht allein aus der römischen Liturgie; auch kann sie nicht allein auf der Ebene der verschiedenen Liturgiefamilien beschrieben werden (vgl. dazu Kap. 3). Fokus kann ebenso die gottesdienstliche Situation in der einzelnen Diözese, Stadt oder Kirche sein. Eine Idealliturgie kann beschrieben werden, also das, was die jeweilige Kirche in ihren liturgischen Büchern und Anweisungen zur Liturgie als Norm formuliert. Untersuchungsgegenstand ist aber ebenso die tatsächliche liturgische Praxis. Gefragt wird dann, wie die konkrete gottesdienstliche Praxis sich gestaltet hat. Die Liturgiehistorie beschäftigt sich zudem nicht allein mit dem Handeln des Klerus, sondern auch mit monastischen Gemeinschaften und mit Laien, die in durch die Jahrhunderte variierender Form an der Liturgie teilnehmen. Jeder der Partizipanten des Gottesdienstes mit seiner jeweiligen Teilnahmeform kann ins Blickfeld treten. Zugleich werden nicht nur liturgische Hochformen wie beispielsweise die Liturgie der Sakramente oder des Breviers bzw. der Tagzeitenliturgie berücksichtigt, sondern z.B. auch Andachten, Heiligenverehrung und Prozessionen, die in vielen Epochen der Liturgiegeschichte die für den Glauben der Menschen eigentlich prägenden Vollzüge des Gottesdienstes waren.
Weitung des Fragehorizontes: kontextuelle Forschung
Liturgiewissenschaft lässt sich deshalb nicht ausschließlich philologisch betreiben. Mentalitäts- und sozialgeschichtliche Zugänge müssen ebenso einfließen wie kirchen- und religionsgeschichtliche Herangehensweisen, um den unterschiedlichen Dimensionen des Gottesdienstes gerecht zu werden. Für die liturgiegeschichtliche Beschäftigung mit der Messe ist nicht allein interessant, mit welchen Texten eines Messbuches eine Kirche oder der Klerus dieser Kirche betete; auch die Lebensumstände der Menschen in einer agrarischen, urbanen oder industriellen Kultur, ihre Weltsicht oder Weltanschauung, die jeweilige kirchliche Lehre über die Liturgie, der Stellenwert religiöser wie säkularer Rituale usw. prägen das gottesdienstliche Geschehen mit. Eine kontextuelle Liturgiegeschichtsforschung wird dieser Vieldimensionalität gerecht.
Von den bereits beschriebenen Ansätzen der Liturgiegeschichtsforschung haben die Vergleichende Liturgiewissenschaft sowie die historisch-genetische Methode bis heute Bestand. Die inhaltliche Gestaltung dieser Methoden variiert allerdings gegenüber der Forschungsgeschichte und entwickelt sich in der Gegenwart.
Philologie, Ritenkritik, Konfliktgeschichte
Für die Vergleichende Liturgiewissenschaft liegen aus jüngerer Zeit sehr unterschiedliche Konzepte vor. Gabriele Winkler beschreibt ein philologisches Untersuchungsprogramm, das nach Strukturen, Texten und historischen Entwicklungen der östlichen und westlichen Liturgie fragt (Winkler – Meßner/205). Aus der eigenen Begrifflichkeit heraus sollen die jeweiligen Riten erklärt werden. Mit dem Vergleich der Liturgien will man nicht nur Entwicklungsstränge der Liturgiegeschichte nachzeichnen, man gelangt auch zur Ritenkritik. Robert Taft tritt für eine Weitung des Untersuchungsfeldes ein, wenn er neben der Untersuchung kirchlich approbierter Texte und Riten die Erforschung der tatsächlichen Liturgiefeier und die Berücksichtigung des soziokulturellen Umfeldes anmahnt und damit eine rein philologische Perspektive erheblich überschreitet (Taft/197: 254). Karl-Heinrich Bieritz skizziert das Modell einer Vergleichenden Liturgiewissenschaft, die als Konfliktgeschichte zu betreiben sei und unter Einbezug theologischer wie gesellschaftlicher Motive den Um-, Ab- und Aufbrüchen in den unterschiedlichen Traditionen der Liturgiegeschichte nachzugehen habe (Bieritz/127: 454).
Für die Eucharistiefeier vergleicht Winkler Texte und Ritenstrukturen etwa der Hochgebete, um zu Aussagen über theologische Prägungen, Abhängigkeiten und Entwicklungen zu gelangen. Mit Taft fragt man, wie Eucharistie in den verschiedenen Liturgiefamilien tatsächlich gefeiert wurde und welche Motive es dafür gab. Mit Bieritz vergleicht man die Veränderungen in den Eucharistiefeiern der einzelnen Kirchen, um gerade über das Verstehen der liturgietheologischen Brüche zu einem gegenseitigen Verständnis der verschiedenen Liturgien zu finden.
Text, Rezeption, Performanz
Auch die Frage nach der Entwicklung eines Ritus, also die historisch-genetische Forschung, behält ihre Bedeutung, indem sie das Werden der gottesdienstlichen Vollzüge nachzuzeichnen sucht. Diese Methode schließt sich eng den liturgischen Formularen an und fragt nach den strukturellen und inhaltlichen Grundlinien. Allerdings wird sie ihrem Gegenstand dort nicht gerecht, wo sie sich ausschließlich mit philologischen Fragestellungen auf Texte konzentriert, aber die Rezeption und Performanz der Liturgie beiseite lässt. Auf diese Weise lässt sich zum Beispiel nicht erfassen, dass ein liturgischer Ritus möglicherweise über Jahrhunderte seine schriftlich fixierte Form nicht geändert hat, während ihm aufgrund gewandelter Voraussetzungen in Kirche, Theologie und Gesellschaft längst neue Bedeutungen zugemessen wurden. Historisch-genetische Forschung ist deshalb um Methoden zu erweitern, welche die tatsächliche Performanz der Liturgie beschreiben können (Lurz/276).
Darüber hinaus sind kirchengeschichtliche Zugänge zu nennen; sie interpretieren die unterschiedlichen Liturgiefeiern im Rahmen des kirchlichen Lebens. Untersucht werden die Bedeutung der Liturgie für die verschiedenen kirchlichen Lebensfelder, Veränderungen der Liturgie durch Vorgaben von Konzilien und Synoden, Deutungen der Liturgie in Theologie und Frömmigkeit, die Funktion der Liturgie für den Glauben der Kirche usw.
Methodenpluralismus
Daneben wendet die Liturgiegeschichtsforschung eine Vielzahl unterschiedlicher Methoden an, die sich im weiteren Sinne der Kultur- und Sozialgeschichte zuordnen lassen. Weil ein entsprechender Diskurs fehlt, aber auch wegen der besonderen Anforderungen des Untersuchungsgegenstandes trifft man in liturgiegeschichtlichen Untersuchungen häufig auf einen Methodenpluralismus. Eine klare methodische Zuordnung begegnet selten. Insbesondere religionsgeschichtlichen Fragestellungen wird nachgegangen, welche die Liturgie im Kontext der konkreten Religiosität untersuchen, das heißt religiöse Äußerungen einer Epoche selbst sprechen lassen und vor diesem Hintergrund Phänomene der Liturgie interpretieren. Arnold Angenendt hat wiederholt zeigen können, wie beispielsweise die archaisch-religiöse Vorstellung des Gebens und Nehmens („do ut des“; der Mensch gibt Gott etwas und erhält von Gott dafür eine Gnadengabe) sich in den Bußtarifen des mittelalterlichen christlichen Bußwesens oder im Opfercharakter der Messe auswirkte, wie etwa die mittelalterliche Juridisierung von Ritualen eine Verrechtlichung der Liturgie vorantrieb, die Vorstellung vom Verhängnischarakter des Rechts die Idee eines selbstwirksamen Ritus sowie möglicherweise auch die zunehmende Festschreibung einer ursprünglich freieren Liturgie förderte. Über die Ergebnisse religionsgeschichtlicher Forschung wird das Gespräch mit der Theologie gesucht, indem man den Stiftungscharakter des Christentums und seiner Liturgie zur Geltung bringt und nach der bleibenden christlichen Identität fragt (Angenendt/114, 115 u. 116).
Eine mentalitätsgeschichtlich interessierte Liturgiegeschichtsforschung sucht nach zeittypischen Vorstellungen, nach verborgenen Einstellungen und Handlungsdispositionen, nach bewusstseinsbestimmenden Faktoren, also im Unterschied zu den großen Ereignissen und ihrem Einfluss auf die Liturgie nach der Mentalität einer Epoche. Insbesondere Alltagsgeschichte und Volkskultur werden thematisiert. Damit eröffnen sich andere Themen und Quellen. Neben den festa chori, allein liturgisch begangenen, finden jetzt die festa fori, öffentliche Feste, besondere Aufmerksamkeit. Gegenüber der Ereignisgeschichte werden länger anhaltende Überzeugungen und Prägungen („longue durée“) herausgearbeitet – ein Faktor, mit dem gerade für Liturgie und Liturgiereformen zu rechnen ist (Gy/144).
„Ritual Studies“
Einen anderen Schwerpunkt setzen kulturanthropologische Ansätze in der Liturgiewissenschaft. Hier steht, angeregt durch die sehr vielfältigen „Ritual Studies“ (Ritual Studies/184; Ritualtheorien/185; Post/108), die Untersuchung von Ritual und Symbol im Vordergrund. Unter der Bezeichnung „Ritual Studies“ werden Forschungsprojekte unterschiedlicher Provenienz und mit unterschiedlicher Methodik gefasst, deren Gemeinsames die Beschäftigung mit dem Phänomen „Ritual“ ist. Entsprechend vielfältig sind die Einschätzungen, welche Qualität von Ritualen („Hochrituale“ oder Alltagsrituale) untersucht werden sollte, ob Rituale unveränderlich sind oder nicht, wie sich Ritual und Mythos, Ritual und Sakralität, Ritual und Macht zueinander verhalten und dergleichen mehr. Die Beziehung zwischen dem Vollzug des Ritus und der sozialen Struktur der ihn vollziehenden Gesellschaft, die verschiedenen Bedeutungen, die einem Ritus beigemessen werden, und das Verhältnis von Performanz und Text zählen zu den Themen eines solchen Zugangs (Stringer/194). Auch liturgische Rituale als Kulturphänomene werden auf ihre Funktionsweise hin und in ihrer Bedeutung hinsichtlich der Konstruktion von Wirklichkeit befragt. Die Ritual Studies eröffnen der Liturgiewissenschaft einen neuen Zugang und neue Einsichten zur Liturgie als Ritual; sie erweitern vor allem auch die Methodik des Faches.
Eine geistesgeschichtliche Erforschung der Liturgiegeschichte, die an den entscheidenden geistigen Leitvorstellungen einer Epoche und ihren Auswirkungen auf die Liturgie interessiert ist, betrieb man seit den Arbeiten von Anton Ludwig Mayer nicht mehr. Viele Faktoren des geistesgeschichtlichen Umfeldes der Liturgie hat man nicht oder kaum untersucht, was sich für die Liturgiegeschichtsforschung als Handikap erweist.