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4 Die Braut

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Gegen Ende des Wonnemonats Mai wurde es in Prag vorsommerlich warm. In den pittoresken barocken Kirchen, fanden nun nicht nur Maimessen - diese, so wie die gesamte römisch - katholische Kirche waren damals geradeso halbherzig geduldet -, sondern mitunter auch Maikonzerte statt. In diesem besonderen Ambiente kam insbesondere klassische Barockmusik gut an: Bach, Händel, Telemann, Vivaldi.

Die Kirchen waren voll - nicht nur von Touristen auf der Jagd nach sehens- und- hörenswürdigen musikalischen Attraktionen - auch viele einheimische Musikliebhaber waren dabei. Die Tschechen sind ein musikalisches Volk.

In den Prager Stadtgärten - nun voll von blühenden Büschen und Bäumen - wurden Konzerte unter freiem Himmel veranstaltet; für Jan, dem dierMusik viel bedeutete, ein guter Grund für ausgedehnte Spaziergänge im Grünen mit musikalischem Hintergrund. Angeboten wurden meist als Kammermusik arrangierte, leichtere Operettenstücke der klassischen oder späten Romantik: Brahms, Mozart, Verdi.

Die Vorführungen fanden auf gelegentlich mit Blumen geschmückten Freibühnen statt, die genug Platz für ein Quartett mit Sänger oder Sängerin boten.

Einmal gelang es Jan einen Sitzplat direkt in der ersten Reihe vor der Konzertbühne zu erlangen; an jenem Nachmittag wurden im Wallensteiner Palaisgarten ausgewählte Operettenarien angeboten, vorgetragen von angehenden Absolventen des Prager Konservatoriums. Die Veranstaltung galt als nur halbprofessionell, der Eintritt war frei.

Die blonde Sängerin, die direkt vor ihm auf der Bühne stand und ihm bekannt vorkam, suchte unentwegt seinen Blickkontakt und schien nur für ihn zu singen. Ihr Glanzstück war eine bekannte Arie aus der Traviata von Verdi. Sie war eine gute Sopranistin, aber in den höheren Stimmlagen etwas unsicher, - was wohl keinem der Zuhörer auffiel, außer Jan. Mit einem Ausdruck von Zuversicht lächelte er sie an.

Nach Ende der Veranstaltung stand sie da mit einem Blumenstrauß in der Hand, den ihr wohl ein anonymer Bewunderer aus dem Publikum hatte zukommen lassen.

Jan, so wie einige andere, ging auf sie zu. Sie reichte ihm etwas förmlich die Hand, wohl um sich für die Blumen zu bedanken. Es war ein bunt gemischter Blumenstrauß, in dem die klassischen, roten Rosen überwogen.

"Wir kennen uns doch!"

Jan überlegte. Das gekonnt à la Marilyn Monroe geschminkte Gesicht, die üppige, blonde Haarpracht und die Lachgrübchen um den Mund kamen ihm zwar bekannt vor, doch er wusste nicht warum. Hatte er sie vorher schon gesehen? Wann? Und wo?

"Bei den Hells Angels singe ich nicht mehr."

Es war Ella, das Mädchen aus der Straßenbahn und Theologiestudentin. Jetzt erinnerte er sich plötzlich an alles, an das kurze Gespräch in der alten Trambahn, die Begegnung mit der Band. Doch seitdem war einige Zeit vergangen, in der viel passiert war - und sein musikalisches Interesse am Mitspielen in einer Prager Rockband, hielt sich jetzt in Grenzen.

"Der Blumenstrauß ist nicht von mir", sagte er.

Sie lachte - etwas gezwungen. Jan fiel ihre hohe Sopranstimme dadurch besonders auf.

"Ich weiß, von wem er ist."

"Ein schöner, reicher Blumenstrauß.."

"Von wem ist er?"

Ihre zierliche Hand mit langen, farblos lackierten Fingernägeln strich gleichgültig über die noch nicht ganz aufgegangenen Rosenknospen.

"Von Jeremias."

"Jerry?" Jan erinnerte sich an das nichtssagende Gesicht des Jungmanagers der Hells Angels.

"Ja. Jetzt hat er für sein Konzert in der Spiegelkapelle im Klementinum eine aus London eingeflogene Sängerin engagiert und hat wohl ein schlechtes Gewissen."

Jan kam sich verdutzt vor und die Gleichgültigkeit mit der sie ihm, den sie kaum kannte, dieses erzählte, überraschte ihn.

"Engländerinnen sind in Prag eine Seltenheit. Hat sie etwas Besonderes an sich oder hat Jerry deine Stimmlage nicht mehr gepasst?"

Ella streichelte nachdenklich die Blumenknospen.

"Eigentlich ist Ivana aus Prag, ist aber von ihren jüdischen Zieheltern in London großgezogen worden. Jetzt pendelt sie zwischen London und Prag. Ihr Englisch ist akzentfrei und obwohl sie mehr mit dem Körper als mit der Stimme singt, kommt sie als britisches Showgirl bei den Leuten hier gut an. Besser als ich", erklärte sie. Die Stimme klang emotionslos, zwischendurch kicherte sie sogar.

"Außerdem gefällt mir die moderne Pop - Musik aus England nicht wirklich. Mir gefällt Gospelmusik, die passt zur Kirchenakustik viel besser als sein Kuschelrock", sagte sie kritisch

"Ja", sagte Jan, "tanzen soll man in den Kirchen nicht."

"Nicht in der Spiegelkapelle des Klementinums."

"Wird das Rockonzert dort stattfinden?"

"Ja, wenn nichts dazwischen kommt."

Sie schritten beide langsam zum großen Ausgangstor des Wallenstein - Palais auf einem der mit weißem Kieselstein bestreuten Fußwege, an blühenden Gartenbüschen vorbei. Ellas Stöckelschuhe mit hohen Absätzen blieben dann und wann im Boden stecken.

"Darf ich mich bei dir einhängen?" fragte sie.

Sie lehnte sich an seine Schulter an und das war sein erster, wenn auch nicht gsnz hautenger Körperkontakt mit ihr. Er empfand ein Gefühl des Vertrauens, welches irgendwoher kam, er wusste nicht woher. Auch Körperlichkeit keimte gedämpft auf, doch in dem Augenblick empfand er eher eine Art geteilte Intimität.

Als sie das Palaistor hinter sich gelassen hatten und auf der Straße standen, nahm Jan ihre Hand und drückte sie leicht - als möchte er sich von ihr verabschieden. Instinktiv behielt er ihre kleine Hand etwas länger in seiner als beim Abschiedsgruß üblich. Sie löste den langen Händedruck nicht auf und lächelte.

"Sehen wir uns bald wieder?" fragte er. " Es gibt so viele Dinge über die wir reden könnten."

"Du kannst mich noch bis zur Straßenbahnhaltestelle begleiten."

Die nächste Haltestelle war nicht weit, einige Minuten zu Fuß bis zur Nikolauskirche. Ein kurzer, etwas mühsamer Spaziergang im lästigen Lärm des Prager Straßenverkehrs. Sie setzten ihren Fußmarsch zunächst schweigend und eine Spur zu ernst fort - Hand in Hand.

"Sollen wir uns verabreden?"

"Morgen nachmittag um vier Uhr bin ich im Klementinum", sagte sie. "Vor der Spiegelkapelle."

Die Straßenbahn war angekommen. Er umarmte sie, ohne einen Kuss zu wagen.

"Bis morgen dann?"

"Vor der Spiegelkapelle."

Sie stieg ein und winkte ihm freundlich durch das Fenster zu.

Zu Fuß lief er weiter über die Karlsbrücke. Nur langsam ging die Sonne für ihn unter und er spürte eine ungewöhnliche Leichtigkeit in sich. Der Abend war windstill und warm, der Flußstrom der Moldau floß ruhig dahin. Kurz blieb er stehen und betrachtete die Wellen.

Von der Insel Kampa her - mitten in der Moldau - ertönte der helle Klang einer Trompete in einer Kaskade, die sich langsam steigerte und immer höher wurde, als ob sie bis zum Himmel steigen möchte. De r Himmel war wolkenlos - schimmernd rot verfärbt nur durch die Abenddämmerung im Westen. Ein runder, farbloser Mond ging langsam auf. Nachts schlief er tief und träumte von einem fernen Land, dessen Namen er nicht kannte.

In der Nähe eines breiten Flusses, der kaum Ufer zu haben schien, kamen ihm Elephanten entgegen, auf denen bunte indische Reiter saßen. Die Elephanten waren nicht groß, klein und grau waren sie. Bis auf einen großen, weißen Elephanten in deren Mitte - auf dem eine in Weiß verhüllte Frau saß.

Als sie an Jan vorbeiritt, zog sie plötzlich ihren Schleier vom Kopf herunter. Sie war blond und hatte das edle Gesicht einer Prinzessin. Ein barfüßiger indischer Mönch erschien plötzlich neben ihm und sagte: "Ich bin Vatsyayana und sie ist deine Frau." Zu gut um wahr zu sein, Jan wurde wach und sein erster Gedanke galt Ella

.

Er freute sich auf das so unerwartet vorgeschlagene Stelldichein, doch in diese Freude und Lust, einen Menschen zu entdecken, der ähnlich denkt, wie er selbst, mischten sich auch Zweifel und Unsicherheit. Trotz der zwei flüchtigen Begegnungen, in denen sie ihm auffgefallen war, kannte er sie nicht.

Ella hatte eine außergewöhnliche Ausstrahlung durch die sie überall auffiel. Sie war immer und überall der Blickfang von allen; möglicherweise ohne es überhaupt zu wollen. Männer schauten ihr im allgemeinen nach, mit eindeutigen Kommentaren. Frauen oft mit verhaltenem Neid oder vielleicht lesbischen Wünschen. Eine Mischung aus Aschenputtel und Kurtisane mit Marilyn-Monroe-Gesicht - für die meisten galt sie als eine ausgemachte Herzensbrecherin.

Dass ein Mädchen mit diesen Eigenschaften - die in einer Rockband mitsang und gleichzeitig auf der Bühne eine Arie aus der Traviata von Verdi singen konnte - und auch noch Theologie studierte, schien ihm einfach zu außergewöhnlich.

Als er eine halbe Stunde vor der ausgemachten Zeit im Klementinum ankam, war Ella schon da, umgeben von mehreren jungen Männern. Sie diskutierten und lachten, es schien, dass in der Spiegelkapelle gerade eine Musikprobe für die geplante Rockvorführung lief. Jan blieb etwas abseits stehen, wohlwissend, dass er zu früh da war. Sie bemerkte ihn und hatte ihm flüchtig zugewunken.

Abwartend setzte er sich auf eine Sitzbank im Klementinumhof und behielt die Spiegelkapelle im Blick.

Ella stand im Gespräch mit ihren männlichen Begleitern vor dem Eingang. Das Traviata - Mädchen vom Vortag wirkte auf einmal ganz anders: in ihren schwarzen Lederstiefeln hätte sie vom Pariser Place Pigalle kommen können. Zur Bluse aus roter Seide mit weit offenem Ausschnitt trug sie eine schwarze Lederweste und ein goldfarbenes Halstuch, das zwar ihren Hals zudeckte, aber nicht den gewölbten Ansatz ihrer Brüste.

Die Jungs, die um sie herumstanden, und eine Art aggressiven Großstadtslang sprachen, waren allem Anschein nach einfache, aufsässige Jungarbeiter, die sich aus irgendeinem Anlass fein zurechtgemacht hatten. Auch ein großer Rothaariger mit schulterlangen, gewellten Haaren und leicht irrem Blick eines Drogensüchtigen war dabei.

Aus dem Inneren der Spiegelkapelle ertönte mächtig die Orgel, an der jemand seine Kunstfertigkeit für die kommende Musikprobe unter Beweis stellte.

Jan empfand leichtes Unbehagen. Mit gemischten Gefühlen versuchte er intuitiv, die Situation aus seiner Sicht einzuschätzen. Etwas gefiel ihm nicht und vor allem nicht die Jungs, in deren Begleitung Ella war. Mit keinem von diesen Typen hätte er sich ein sinnvolles Gespräch vorstellen können, erst recht nicht in dem lässigen und leichtfertigen Jargon, den sie sprachen.

Im Innenhof des Klementinum waren mehrere Sitzbänke an verschiedenen Stellen aufgestellt - meist direkt neben den Blumenbeeten an den ockergelben Mauern der Bibliothek.

Auch Passanten setzten sich oft dahin sowie Hundebesitzer, die hier ihre Maskottchen im Freien spielen ließen. Hier konnte man Stunden verbringen und als Zeitvertreib die Menschen beobachten, die durch den Innenhof wanderten.

Jan wechselte die Sitzbank, um mehr Abstand zum Eingang der Spiegelkapelle zu gewinnen und gleichzeitig eine bessere Sicht über den gesamten Innenhof zu haben.

Eine Gruppe von jungen Mädchen scharte sich um eine gut aussehende Brünette mit glatten, schwarzen und überlangen Haaren, die ihr üppig über die Schultern fielen und ihren Rücken fast vollständig zudeckten. Eher schmucklos angezogen, mit Jeans und weißem Pullover, wirkte sie dennoch selbstbewusst und steuerte mit ihrer Mädchengruppe - die meisten waren jünger als sie selbst und wohl sämtlich ihre Fans - auf die Eingangstür der Spiegelkapelle zu. Sie nannten sie Ivana und sie war zweifelsfrei die neue Starsängerin in der anstehenden Vorführung.

Die Gruppe betrat die Kapelle, worauf einige Pfiffe ertönten, in die sich auch einige Buhrufe mischten. Ella und ihre Begleiter folgten ihr und nach einigen Minuten ertönte in der Kapelle das erste Probestück - es war das Ave Maria von Bach - arrangiert im Stil eines Kuschelrockstücks mit geschickter Verwendung von Saxophon und begleitet von einem Gitarrenensemble, das sich jetzt Heavens Angels nannte.

Auch Orgelpassagen und Harfentöne waren zu hören; ein durchaus interessantes Arrangement für die damalige Zeit. Nach der Saxophon - Ouvertüre erklang die Stimme der neuen Sängerin, kräftig, warm und gefühlvoll; absolut sicher in allen Tonlagen. Ein sturmähnlicher Applaus und Pfiffe der Anerkennung folgten.

Es war faszinierend, dieses modern und eindrucksvoll arrangierte Ave Maria vor dem Hintergrund des Klementinums zu hören; viele Passanten blieben einfach stehen, nur um zu lauschen.

Doch es bedeutete gleichzeitig das Ende von Ellas Träumen als Sängerin bei den Heavens Angels.

Das Publikum war von Ivanas Gesang so überwältigt, dass Ella in der Probe gar nicht zum Zug kam.

Nachdem der Beifall sich legte, erschien Ella in der Eigangstür der Kapelle ganz allein und winkte Jan zu.

"Hier bin ich", sagte sie mit etwas erzwungenem Lächeln, " und jetzt haben wir Zeit genug für uns!"

"Schön", sagte er, " dass du da bist." Er stand auf und wollte sie umarmen, doch sie entzog sich, es blieb bei einem langen Händedruck.

"Hier besser nicht", sagte sie, "lass uns hier weggehen."

Jan hätte zwar gerne noch mehr von der Musik gehört, doch Ella wirkte nervös und ungeduldig, als wäre etwas passiert, was sie nicht erwartet hätte. Sie liefen nebeneinander her, ohne sich anzufassen.

"Wo sollen wir hin?" fragte er.

"Egal. Irgendwohin. Quer hinüber durch die Altstadt, zum Pulvertor."

Das war ein schöner, kleiner Spaziergang in den schmalen, romantischen Gassen der Altstadt, an den barocken Fassaden und unter den Giebeln von alten Patrizierhäusern vorbei, dort, wo einst auf dem Kopfsteinpflaster Pferdekutschen rollten. In einem der nahezu menschenleeren Gässchen blieben sie stehen und umarmten sich.

Er küsste sie kurz auf den Mund und sie erwiderte den Kuss, ohne mit ihren Lippen auf seinen Lippen zu verweilen.

"War vorhin etwas Schlimmes passiert?" fragte er und drückte sie fester an sich. Sie war zierlich und selbst in Stiefeln mit hohen Absätzen war sie um einen guten Kopf kleiner als er.

" Nein...eigentlich nicht. Ich wusste ja, dass Ivana mich ersetzen wird. Nur die Art und Weise, wie mir gezeigt wurde, dass sie besser ist als ich, hat mich verletzt."

"Hat Jerry dir gesagt, dass sie singen wird?"

Ella biss sich verlegen auf die Unterlippe und schwieg. Er strich ihr mit der Hand über die Wange.

"Er hat gesagt, sie würde auch dabei sein. Aber nicht, dass sie vor mir singen wird."

Jan schaute ihr in die Augen, die zwei kleinen, blauen, von Morgentau umspülten Feldblümchen glichen. Ein zartes Tränchen lief ihr die Wange hinunter.

"Ja, die Reaktion der Leute war umwerfend.." meinte er. "Hatte Jerry einen besonderen Grund, dich so zu behandeln?"

"Er liebt mich", sagte Ella mit einem Hauch von Ironie in der Stimme. "Aber ich ihn nicht!"

Sie nahm Jan fest bei der Hand und sie liefen weiter. Jan schwieg. "Nie war etwas zwischen uns", fügte sie ungefragt hinzu. Fast lässig wischte sie sich die Tränen vom Gesicht ab, mit einer Handbewegung, die etwas Stolzes an sich hatte.

"Wer waren die anderen Jungs?" fragte er nach einer Weile.

"Ach, die...", winkte sie ab. "Das sind meine Beschützer..die Gang aus meinem Viertel."

"Wo wohnst du eigentlich?"

"In Smíchov, bei der Oma, aber bald werde ich woanders hinziehen."

Diesen Stadtteil Prags kannte Jan nur vom Namen her. Es war ein reines Wohnviertel, erbaut vor fast Hundert Jahren auf dem linken Moldauufer. Ziemlich zentral, bestand es hauptsächlich aus großen, heruntergekommenen Mietshäusern und besaß sogar einen kleinen Bahnhof für den örtlichen Nahverkehr mit Dampflokomotiven. Daher war die Luft in der Bahnhofgegend verrußt und unsauber, obwohl der Straßenverkehr sich in Grenzen hielt.

Ursprünglich - als die Bahn noch unter österreichischer Regie fuhr, wohnten hier viele Bahnbedienstete des österreichischen Kaiserreichs. Jan hatte noch nie einen Weg dahin, seitdem er in Prag war.

"Und wieso wohnst du bei der Oma?"

Sie schaute ihn ernst an.

"Weil ich woanders nicht wohnen kann."

Sie standen jetzt am Altstädter Ring vor dem Altstädter Rathaus, an der Stelle, wo die historische Tafel daran erinnerte, dass hier im Jahre 1620 der gesamte tschechische Adel von den siegreichen Österreichern öffentlich enthauptet wurde.

Die spektakulären Hinrichtungen zogen sich über mehrere Stunden hin und besiegelten den Anschluss Böhmens und Mährens an das österreichische Kaiserreich - bis zu seiner Zerschlagung und endgültigem Zerfall im Herbst 1918, was auch das Ende des ersten Weltkriegs bedeutete..

Sie liefen weiter Hand in Hand, doch nicht zum Pulvertor, sondern durch die mondäne Pariser Straße bis zur übergroßen Stalinstatue am Stromovka-Park und setzten sich dort im Schatten eines üppigen, roten Rhododendron-Strauchs auf eine entlegene Steinbank. Hier war die Luft gut und wohlriechendend, Büsche und Bäume waren in voller Blüte und die Luft roch nach Jasmin.

Dort blieben sie sitzen und küssten sich zum ersten Mal wirklich und lange, während die Vögel an den Bäumen um sie herum lustig zwitscherten. Ein Rotkehlchen kam hüpfend auf die Bank zu und sprang herum um sie, auf der Suche nach Brotkrumen.

Nach einer Weile flog es fort mit sonorem, hohen Getzwitscher.

"Glaubst du, dass eine Vogelsprache gibt", fragte Jan.

"Ja, aber sie ist nicht für alle Vögel gleich."

Später als die Sinnesfreude abgeflaut und ein leichter Wind aufgekommen war, wurde es von der Moldau her kühler und Ella erzählte ihm einiges über sich.

Es stellte sich heraus, dass sie genau um ein Jahr älter war als er und am gleichen Tag wie er im Tierkreiszeichen der Waage in Prag geboren.

"Sind wir uns deswegen ähnlich?"

Im Mittelalter galt Prag als die Hochburg von Astrologen und Alchymisten und der berühmte König Karl I, dessen Namen die Moldaubrücke trägt, tat keinen Schritt, ohne seinen Hofsterndeuter Tycho de Brahe zu befragen. Doch von der Astrologie hatte Jan keine Ahnung.

"Ich glaube, wir sind uns ähnlich", sagte er," aber warum, weiß ich nicht".

Ella hatte ihren leiblichen Vater nie gekannt. Ihre Mutter, die in zweiter Ehe mit einem primitiven, ehemaligen Prager Ladenbesitzer verheiratet war, sprach wenig über ihre Vergangenheit. Jetzt bestimmte der Laden ihr Leben, der freilich jetzt nicht mehr ihm, sondern der staatlichen Lebensmittelkette Pramen gehörte. Immerhin war er nach wie vor Geschäftsleiter des Ladens. Dies gewährte der Familie eine gewisse Absicherung und bevorzugten Zugang zu Grundnahrungsmitteln jener Zeit - nach dem Krieg - auch ohne Bezugsscheine. Ella hasste diesen Mann.

Wer ihr Vater war, erfuhr sie später von ihrer Großmutter, bei der sie zeitweise leben musste und die sie großgezogen hatte. Er war ein einfacher Soldat der deutschen Kriegsmacht, kurz in Prag stationiert, und später in Russland gefallen.

Somit hatte Ella Verwandte im Rheinland - in der Gegend von Bonn. Als kleines Kind wurde sie von ihnen nach Westdeutschland eingeladen und blieb dort einige Wochen, einmal und nie wieder.

Sie sprach kein Deutsch, das einzige Wort, das sie je gelernt hatte, war " ekelhaft ".

Ihre Mutter, eine erotische Brünette mit Augen, die grün wie Efeu waren, und sehr temperamentvoll, heiratete einen Tschechen, der Ella adoptiert hatte und für sie einen kleinen Bruder zeugte. Die Ehe wurde nach drei Jahren wegen fortgeschrittenem Alkoholismus des Mannes geschieden, die Kinder blieben bei der Mutter. Ellas Stiefbruder Vladimir war um fünf Jahre jünger als sie selbst.

Nach einiger Zeit heiratete die Mutter, die noch keine Dreißig war, zum zweiten Mal - den ehemaligen Ladenbesitzer mit despotischen Manieren. Sie arbeitete fleißig in seinem Laden mit. In der kleinen Wohnung wurde es eng und Ella zog zur Großmutter, wo es ebenfalls eng war. Doch die Oma war Witwe und ohne Interesse an männlichen Bekanntschaften.

Sie - überzeugte Kommunistin - lebte mit ihrer jüngsten Tochter zusammen, die jünger war als Ella. Sie bewohnten zusammen eine Einzimmer-Wohnung mit großer Küche in einem der verkommenen Mietshäuser in der Bahnhofsgegend von Smíchov.

Dort war Ellas Zuhause. Jan, der aus einer ganz anderen Welt kam, fand ihre Geschichte eher interessant als tragisch.

Er erzählte über sich, aber Ella schien nur mit einem Ohr zuzuhören. Ein Leben weit weg von Prag, in der Provinz war ihr ebenso fremd, wie Jan ihre Lebensgeschichte. Doch der erste Schritt war jetzt getan und es galt, sich noch besser kennenzulernen.

Als es dunkel wurde, begleitete er sie zur nächsten Straßenbahnhaltestelle und sie verabredeten sich für den nächsten Sonntag am Nationalmuseum vor der Statue des berittenen Heiligen Wenzels - direkt am Wenzelsplatz.

"Ich komme mit meinem Hund!", sagte sie zum Abschied.

"Mit einem kleinen Schoßhund?" Er konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Großmutter auch noch einen Hund, der diesen Namen verdient, bei sich beherbergen könnte.

"Nein. Du wirst schon sehen...", schmunzelte sie.

Allein wanderte er zurück zum Pulvertor. Von dort aus konnte er seine Straßenbahn der Sehnsucht besteigen und zu der Studentenkolonie zurückkehren.

Vor einer Fußgängermpel blieb er stehen, obwohl sie auf Grün geschaltet war. Er nahm die Welt um sich nur halb wahr. Hatte er seine künftige Frau gefunden?

Das Lächeln von Kleopatra

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