Читать книгу Der gläserne Vogel - Albrecht Gralle - Страница 7

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Sie saßen alle drei leicht verdattert auf dem weichen Waldboden und sahen sich an.

Gina räusperte sich und meinte: „Also, da wären wir: Im zeitlosen Wald!“

„Nicht ganz“, sagte Joker. „Schaut mal nach oben in die Bäume.“

Alle folgten seinem ausgestreckten Arm und merkten jetzt, dass sie nicht mehr in einer Tannenschonung saßen, sondern auf einer kleinen Lichtung, die von Gestrüpp umgeben war. Über ihnen bewegten sich vollbelaubte Buchenäste leise im Wind, und für April war es viel zu heiß.

„In diesem Wald ist es nicht mehr Frühling, sondern Sommer“, stellte Phil fest.

„Vielleicht ein ewiger Sommer“, sagte Joker. „Nie mehr Eis und Kummer – im ewigen Summer.“

Phil stand auf und klopfte sich den Dreck aus der Hose. „Oder es gab eine Zeitverschiebung. Wir sind ein paar Monate in die Zukunft gebeamt worden …“

„Oder ein paar Monate zurück in die Vergangenheit …“, sagte Gina.

„Egal, wie auch immer“, meinte Joker und stand ebenfalls auf. „Wir können es nur herausfinden, wenn wir auf Entdeckungsreise gehen.“

Er gab Gina die Hand und zog sie hoch. Neugierig blickten sie sich um. In einer Ecke der Lichtung, gut versteckt hinter einem Haselnussstrauch, lag die Kugel und schimmerte hell.

„Wir brauchen irgendein Zeichen, an das wir uns halten können, wenn wir die Kugel wiederfinden wollen“, sagte Gina. „Ich hab‘s!“

Alle blickten zu ihr hinüber. Sie deutete auf einen Baum, der vermutlich durch einen Blitzeinschlag gespalten war und dessen helles Holz zerfasert nach oben stach.

„Und dort scheint auch ein Weg zu sein“, rief Gina.

„Vor allem“, sagte Phil, „müssen wir auf jeden Fall zusammenbleiben.“

„Und wenn wir getrennt werden?“ Joker kickte einen Stein in ein Gebüsch.

„Dann muss jeder auf eigene Faust zu der Kugel gelangen und durchschlüpfen.“

„Klar. Wenn uns die Eingeborenen nicht fesseln und langsam über dem Feuer braten.“

Phil hob den Finger. „Hört mal!“

Die anderen zwei erstarrten und horchten.

„Hört sich an wie Autos aus der Ferne.“

„Stimmt“, nickte Joker. „Also, die Eingeborenen fahren mit Autos herum, irgendwie beruhigend.“

Langsam gingen die Kinder weiter mit wachen Sinnen und offenen Augen, aber es passierte nichts. Im Gegenteil, dieser Teil des Waldes war sogar besonders schön, mit seinen hohen Bäumen und dem saftigen Grün der Blätter, die gegen das Sonnenlicht hunderte von verschiedenen Grüntönen erkennen ließen. Der Weg schien seit Ewigkeiten nicht mehr begangen worden zu sein, denn er war von Gras und Blumen überwuchert.

„Ich kann‘s immer noch nicht ganz glauben, dass wir in einem anderen unbekannten Wald sind“, meinte Gina nach einer Weile. „Und die Zeit spielt keine Rolle mehr.“ Sie blieb stehen und schrie: „Hallo, wir sind in einem zeitlosen Waahald!“

„He! Bist du verrückt?“, rief Phil. „Wenn uns einer hört!“

„Wer soll uns denn hören, Phil?“ Joker zuckte mit den Schultern. „Hier sind doch nur Vögel und irgendwelche Waldtiere.“

Über den Kindern zwitscherten tatsächlich ein paar Vögel, und an einem Buchenstamm sah Joker ein Eichhörnchen.

„Schaut mal, ein Eichhörnchen!“

„Wo?“

Alle blieben stehen. „Bei dieser großen Buche da hinten!“

Jetzt sahen es die anderen auch. Es sah lustig aus, wie das Tier nach oben raste, sich bewegungslos an der Rinde festkrallte und dann den Kopf hin- und herbewegte.

„Niedlich“, lachte Gina.

Sie gingen weiter und merkten, dass die Hitze zunahm, als sie den Wald verlassen hatten. Vom Waldrand aus sahen sie die Straße und blieben stehen. Es war eine normale Asphaltstraße mit weißen Strichen in der Mitte.

„Wir müssen uns die Stelle merken, wo der Waldweg abbiegt“, sagte Phil. „Hier unten bei diesem komischen Stein, neben der Straße.“

„Au!“, rief Gina und fasste sich am Kopf. „Jemand hat irgendwas nach mir geworfen!“

Erschrocken drehten sich die Kinder um und starrten in den stillen Wald. Aber es war niemand zu sehen.

„Vielleicht ist ein … ein Tannenzapfen heruntergefallen“, schlug Joker vor.

„Toll! Hier stehen aber gerade Buchen und keine Tannen oder Fichten!

„Kommt, lasst uns auf die Straße gehen und …“, sagte Phil, aber er wurde von etwas unterbochen, denn er schrie: „Au!“ und fasste sich am Kopf. „Was war das?“

„Verdammt! Irgendjemand wirft mit Nüssen nach uns!“, sagte Gina, bückte sich und hob eine Haselnuss auf. „Eine Frechheit! Wenn ich den Kerl erwische, dann …“

„Aua!“ Jetzt war Phil an der Reihe, getroffen zu werden. „Lasst uns aus dem Wald verschwinden!“, rief er und zog die anderen mit sich fort. Eine Nuss flog knapp an seinem rechten Ohr vorbei. Und Joker wurde zum zweitenmal getroffen. Blitzschnell drehte er sich um. Dann kratzte er sich am Kopf und fing plötzlich an zu lachen.

„Sag mal, spinnst du?“ Gina blieb stehen und blickte ihren Freund ärgerlich an.

„Das glaubt mir keiner“, lachte Joker. „Ich glaub‘s ja selber kaum.“

„Was denn?“

Joker schüttelte nur den Kopf. „Das kann nicht sein!“

Gina rüttelte ihn hin und her. „Bist du total verblödet? Was ist denn los?“

Joker atmete tief durch. „Ob ihr‘s glaubt oder nicht, aber als ich mich vorhin blitzschnell umgedreht habe, kam es mir vor, als ob ein Eichhörnchen Nüsse nach uns geworfen hat, dieses niedliche Eichhörnchen von vorhin. Ich weiß, es ist völliger Quatsch.“

Er holte tief Luft. „Ich seh schon den Artikel in der Zeitung: Spaziergänger wurden von Eichhörnchen angegriffen. Das Forstamt empfiehlt Waldspaziergängern, Luftgewehre mitzunehmen mit der Bitte: ‚Knallen Sie alle Eichhörnchen ab, die Ihnen vor die Flinte kommen.‘

„Sehr witzig“, sagte Phil. „Kommt, lasst uns endlich zur Straße gehen und diesen seltsamen Wald hinter uns bringen.“

Eine Art Findling, so groß wie ein Koffer, lag neben dem Weg, der in die Autostraße mündete.

Während die Kinder noch dastanden, hörten sie Bremsen quietschen und sahen, dass ein Auto hielt. Es war ein alter Mercedes, der schon bessere Tage erlebt hatte. Dort, wo der Auspuff saß, qualmte weißer Rauch nach oben. Hinter dem Steuer saß ein Mann, der nicht gerade Vertrauen erweckend aussah, denn er hatte einen wilden Vollbart, der bis auf die Brust reichte, eine lange Narbe zog sich über die Stirn, und seine Augen sahen für die Kinder irgendwie stechend aus. Die Seitenfenster waren heruntergekurbelt.

„Na?“ Seine Stimme klang laut und unangenehm, und Phil sah, dass im offenen Handschuhfach ein Revolver lag.

„Wo wollt ihr denn hin?“

„Wir machen gerade einen … einen Spaziergang und wollen zur nächsten Ortschaft“, antwortete Gina.

„Aha“, brummte der Bärtige. „Und wo kommt ihr her?“

„Na, aus dem Wald da hinten“, sagte Gina und ihre Stimme zitterte ein wenig.

Der Bärtige trommelte nervös auf dem Steuerrad herum und blickte schnell hin und her.

„Los, steigt ein!“, befahl er. „Ich fahre euch zur nächsten Stadt.“

Die drei zögerten.

„Steigt ein, hab ich gesagt“, brüllte der Mann und griff nach dem Revolver. „Wenn ihr nicht sofort einsteigt, knall ich euch alle nieder!“ Das kürzte die Entscheidungsfindung erheblich ab.

Alle drängten sich nach hinten.

„Die Rothaarige soll nach vorne.“ Der Mann fuchtelte mit seiner Waffe herum, und Gina ließ sich zitternd auf dem Beifahrersitz nieder.

Er drehte an einem Knopf und fuhr langsam weiter.

„Manche Leute muss man zu ihrem Glück zwingen“, brummte er in seinen Bart. „Möchte bloß wissen, wo ihr herkommt, sonst wüsstet ihr, dass die Gänseblümchen wieder gefährlich werden, gerade jetzt um diese Zeit. Hier!“, er zeigte mit dem Revolver zu der Wiese hin, die neben der Straße lag. „Alles voll davon. Verdammte Killerblumen!“ Er schoss während der Fahrt in die Wiese und zog seine Hand wieder zurück.

„Das hätte schlimm enden können für euch, wenn ihr über die Wiesen gegangen wärt mit euren schmalen Schuhen. Seid froh, dass der alte Hieronymus euch gerettet hat. Natürlich hätte ich euch nicht wirklich erschossen.“

„Wie … wieso sind denn Gänseblümchen gefährlich?“, fragte Gina vorsichtig.

Hieronymus antwortete nicht, sondern streckte den Arm aus und winkte. Hinter ihnen quietschten Bremsen, und ein Ford zog links an ihnen vorbei. Gerade noch rechtzeitig vor dem Gegenverkehr.

„Hab ihn vorgelassen“, sagte Hieronymus. „Die Leute haben keinen Respekt mehr vor Langsamfahrern. Werden immer waghalsiger. Kein Gefühl mehr für Gefahr.“ Dann blickte er die Kinder an.

„Und was soll die blöde Frage, warum Gänseblümchen gefährlich sein sollen?“

Er seufzte und beantwortete seine Frage selber: „Seid wahrscheinlich aus einer netteren Gegend als hier, vielleicht hat die Veränderung noch nicht überall so tief eingegriffen.“ Er drückte wieder auf einen Knopf. Der Wagen wurde etwas schneller.

Bäume säumten die Straße. Dann tauchte das Ortsschild auf.

„Garbstetten“, lasen die drei verwundert. Hieß nicht eine Ortschaft in ihrer Nähe auch so ähnlich?

Wieder quietschten die Bremsen, und der Fahrer hielt. „Ich lass euch hier mal raus, muss gleich abbiegen. Also, ihr Hinterwäldler, passt auf euch auf.“ Er kramte in seiner Tasche und gab Gina eine Karte.

„Meine Adresse. Falls ihr mich mal braucht.“

Gina räusperte sich und sagte: „Vielen Dank, ähm … Hieronymus, aber trotzdem möchte ich wissen, warum Gänseblümchen nun gefährlich sind.“

Die andern auf der Rückbank blickten sich vielsagend an.

Hieronymus ließ die Hände sinken und blickte träumend nach draußen.

„Oh, ihr Glücklichen, wenn ihr‘s nicht wisst. Ich kann mich noch erinnern, dass meine Tochter Gänseblümchen im Haar gehabt hat.“

Gina zuckte zusammen, weil Hieronymus‘ Kopf auf das Lenkrad knallte. Dann hörte sie, wie er laut schluchzte. „Stellt euch das vor: Gänseblümchen im Haar!“

Er hob den Kopf, wischte sich über die Augen und sagte: „Gänseblümchen sind gemein. Sie töten hemmungslos, wo sie können. Natürlich sind nicht alle Gänseblümchen so. Das ist ja das Gemeine. Aber man weiß nie. Am besten nicht anfassen, sonst bist du erledigt. Mein Gott! Gänseblümchen im Haar!“

Er blickte wieder sinnend ins Weite, dann fuhr er fort und seine weinerliche Stimmung war verflogen. Stattdessen kam Wut hoch: „Aber daran ist nur dieser Vogel schuld. Wenn ich es könnte, ich würde seinen Kopf mit meinen bloßen Händen umdrehen, und es würde mir das größte Vergnügen bereiten …“

Die drei saßen schweigend im Auto und begriffen immer weniger. Als Hieronymus nichts mehr von sich gab und nur verzweifelt nach draußen sah, sagte Gina vorsichtig: „Also … wir steigen dann mal aus und vielen Dank fürs Mitnehmen.“

Sie öffnete leise die Tür und kletterte aus dem Auto. Die anderen taten es ihr nach. Hieronymus blickte auf, nickte den Kindern zu, tippte an seine Stirn, als trüge er eine Mütze, und fuhr weiter.

Als das Auto um die Ecke gebogen war, sagte Joker: „Mann! Das war das Schärfste, was ich je erlebt habe. Da fuchtelt dieser Hieronymus doch echt mit einem Revolver in der Luft herum und erschießt Gänseblümchen. Ich glaube, er hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.“

„Scheint mir auch so“, sagte Phil. „Diese stechenden Augen gefielen mir von Anfang an nicht.“

„Ich möchte jetzt nur eins“, erklärte Gina mit selten entschlossener Stimme: „Ich will möglichst schnell die Straße zurückgehen bis zu unserem Stein, leise durch den Wald schleichen, mich in die Kugel stürzen und auf der netten, harmlosen, gemütlichen Schonung ankommen, dann nach Hause gehen, duschen, lange schlafen und nie mehr diesen Wald besuchen.“

„Ich schließe mich meiner Vorrednerin an“, sagte Joker.

„Okay“, meinte Phil. „Ich komm auch mit, schließlich kann man euch nicht so allein durch die Gegend gehen lassen.“

Sie gingen im Sturmschritt die Straße zurück. Nach kurzer Zeit lief ihnen der Schweiß nur so herab, aber das war ihnen gleichgültig.

Sie erreichten den Stein, bogen zum Wald ab und schlichen mucksmäuschenstill den Weg entlang. Keine Nüsse flogen durch die Luft. Jokers Beobachtung musste eine Täuschung gewesen sein. Sie kamen zu dem abgebrochenen Baum, und da war auch schon ihre kleine Lichtung.

Mit großer Erleichterung sahen sie dort die Kugel liegen. Einer nach dem anderen verschwand darin.

Als sie alle wohlbehalten wieder auf dem Boden ihrer Tannenschonung saßen, sagte Phil: „So, und jetzt müssen wir mal überlegen, was das Ganze bedeuten soll.“

Joker stand auf. „Das können wir auch unterwegs bereden.“

Aber so sehr sie auch alles durchsprachen, richtig verstehen konnten sie die Ereignisse nicht.

Gina meinte: „Wahrscheinlich war ein anderer Junge in dem Wald und hat nach uns geworfen, und Joker hat zufällig ein Eichhörnchen gesehen. Und dass dieser Hieronymus nicht ganz dicht war, ist doch jedem klar gewesen, oder? Gänseblümchen als Killerblumen! So ein Quatsch!“

„Ich fand es beruhigend, dass die Ortschaft irgendwo in unserer Nähe sein muss. Der Name kam mir irgendwie bekannt vor“, sagte Phil.

Sie verabredeten sich für den nächsten Nachmittag bei Gina, und Joker meinte, es sei gut, eine Nacht darüber zu schlafen.

Und so gingen Ginas Wünsche tatsächlich in Erfüllung. Sie duschte, ging früh ins Bett und fiel in einen tiefen Schlaf.

Nur ihr letzter Wunsch, nie mehr den zeitlosen Wald zu besuchen, ging nicht in Erfüllung.


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