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Am nächsten Tag regnete es, und Gina und Phil kamen fast gleichzeitig zu Fuß bei Joker an.

Ohne Kommentar zogen sie ihre nassen Schuhe aus, als Joker ihnen öffnete (eine Erziehungsmaßnahme Ginas) und gingen auf Socken mit ihm eine Treppe nach oben in sein Zimmer.

Joker hatte sich redlich bemüht, ein wenig Ordnung zu schaffen, aber Gina entdeckte ein zerkrümeltes Brötchen zwischen den Polstern eines ausgedienten Sessels, und der Papierkorb unter dem Schreibtisch quoll über, sodass zwei leere Joghurtbecher auf den Boden gefallen waren. Die Bücher, Zettel und Hefte, die sonst auf dem Schreibtisch lagen, hatte Joker einfach auf den Teppich gestapelt.

„Na, Alter, wie geht’s?“, sagte Joker und haute Phil auf den Rücken.

„Geht so.“

„Geht so? Besonders munter siehst du tatsächlich nicht aus.“

„Schlecht geschlafen.“

Joker raschelte mit der Zeitung. „Also, Leute, ich weiß auch nicht. In letzter Zeit gibt es die merkwürdigsten Meldungen. Neulich war ja diese Geschichte über das Schaf, das seinen Schäfer erschossen hat, und heute … Hört euch das an. Eine irre Überschrift!“

Phil und Gina ließen sich auf das ausrangierte Sofa nieder.

„Angriff der Gummibärchen!

In einer Süßwarenfabrik gab es am Samstag einen Unfall. Ausgelöst wurde er durch eine Fehlsteuerung der Fließbänder, die Gummibärchen zu der Verpackungseinheit transportierten.

Die wohlschmeckenden bunten Tiere waren in das Getriebe geraten, hatten die Fließbänder blockiert und dabei einen riesigen Stau verursacht. Bei der Reparatur der Maschinen wurden zwei Ingenieure aus bisher noch unbekannten Gründen schwer verletzt.“

Phil verzog den Mund zu einem müden Lächeln und sagte: „Ziemlich witzig. Ich hab übrigens eine Neuigkeit. Gestern war ich …“

Er wurde unterbrochen, weil die Tür aufging und Jokers Mutter im Türrahmen stand.

„Hallo, Gina und Phil!“

„Hallo, Frau Konradin!“

Man merkte, dass Joker der Sohn von Frau Konradin war, denn er hatte dieselben blonden Locken wie sie und einen Ausdruck im Gesicht, den Gina mit „dieser versteckte Charme in den Augenwinkeln“ bezeichnete.

„Na, wie sieht’s aus?“, fragte sie. „Habt ihr Lust auf ein paar Knabbersachen?“

„Klar haben wir Lust“, antwortete Joker.

„Und bei diesem ekligen Wetter“, fuhr Jokers Mutter fort, „würde vermutlich ein Becher heißer Kakao nicht schaden.“

„Das wäre echt toll!“ Gina verströmte ihr Nettes-Mädchen-Lächeln.

Als Frau Konradin die Tür zugemacht hatte, platzte Gina los: „Was für eine Neuigkeit hast du denn, Phil? Irgendwas mit unserer Kugel-Tür?“

„Was sonst? Ich bin gestern nicht gleich nach Hause gefahren, sondern nochmal durch das Tor geschlüpft.“

„Also doch!“, rief Joker.

„Wieso: also doch?“

„Ich hab gestern noch zu Gina gesagt: Komisch, dass Phil ausgerechnet Englisch lernen will, das macht er doch sonst bei seinem Lieblingsfach nicht.“

„Na ja, ich bin also umgedreht und habe mein Fahrrad durch die Tür geschoben und dann mich selber.“

„He, gute Idee!“, meinte Joker. „Und nicht kaputt?“

„Hat einwandfrei geklappt!“

Phil richtete sich auf und sagte: „Ich wollte unbedingt herausbekommen, ob das Tor sich in die Vergangenheit öffnet und Garbstetten früher anders hieß. Das hätte viel erklärt …“

Phil erzählte den anderen beiden ausführlich von seiner Tour.

„Hm“, sagte Joker nachdenklich. „Das wird immer seltsamer. Also einerseits gibt es Garbstetten und dann wieder Grabstetten, und du sagst, die Frauen hätten sich auch über Gänseblümchen unterhalten und über ein Mittel dagegen …“

„Und das würde bedeuten“, fuhr Gina fort, „dass Hieronymus vielleicht doch nicht ganz so durchgeknallt ist, wie wir gedacht haben …“

„Genau“, nickte Phil. „Das hat mir zu denken gegeben, und dann bin ich mit einem vagen Verdacht zur Stadtbücherei gefahren und habe …“

Wieder ging die Tür auf, und Frau Konradin kam mit einem Tablett zur Tür herein.

„Oh!“, sagte sie. „Hier scheinen ja sehr wichtige Gespräche stattzufinden, wenn man eure Gesichter so sieht.“

„Du weißt ja, Mama“, sagte Joker, „Kinder in unserem Alter haben immer irgendwelche tiefen Geheimnisse.“

„Ach ja? Welche Art Geheimnisse sind denn das?“

Sie stellte das Tablett auf den Schreibtisch und fegte dabei ein Kabel vom Tisch.

„Vorsicht, das Kabel von dem PC!“, rief Joker.

„Du hast auf meine Frage gar nicht geantwortet“, sagte sie und lehnte sich gegen den Türrahmen.

„Ach, Frau Konradin“, sagte Gina. „Sie wissen doch, dass Waldemar oft übertreibt. Wir reden über das Übliche: über unsere nächste Tour mit den Rädern, blöde Lehrer und so.“

„Na, da bin ich ja beruhigt.“

Sie drehte sich um und verließ den Raum, nicht ohne einen leicht nachdenklichen Blick zurückzulassen.

Als sie die Tür zugemacht hatte, war es dahinter seltsam ruhig, sodass Joker stumm auf die Tür deutete und mit der Hand eine Bewegung machte, die wohl sagen sollte: Unverdächtige Gespräche führen.

„Ich hab neulich deinen Deutschlehrer im Bus gesehen“, fing Gina an und redete ungewöhnlich laut. „Und weißt du, was er gemacht hat?“

„Nee“, sagte Joker. „Hat er vielleicht deutsch gesprochen?“

„Er hat in einem Herrenmagazin geblättert, in dem lauter nackte Frauen abgebildet waren!“

„Ist nicht wahr!“

„Doch bestimmt, und …“

Hinter der Tür hörte man, wie es leise knarrte. Die unsichtbare Lauscherin zog sich offensichtlich zurück.

Jeder der drei nahm einen Becher mit heißem Kakao, und einen Augenblick waren nur leise Schlürfgeräusche zu hören, während draußen der Regen auf das schräge Fenster prasselte und eine gemütliche Stimmung schuf.

„Also“, fing Gina an und senkte unwillkürlich ihre Stimme. „Du bist also mit einem Verdacht in die Stadtbücherei gefahren …“

„Ja, und dann habe ich in der naturwissenschaftlichen Abteilung herumgesucht, besonders bei der Physik. Dort habe ich dann ein Buch gefunden, bei dem es um physikalisch wahrscheinliche Denkmöglichkeiten ging, und dann bin ich auf etwas gestoßen, das mich echt umgehauen hat. Ich hab es zwar geahnt, aber wenn man es dann schwarz auf weiß liest, ist es trotzdem immer noch …“

Phil stockte.

„Heraus damit!“, sagte Joker, legte den Finger auf den Mund und schlich zur Tür, die er leise aufmachte.

„Nur zur Sicherheit“, sagte er. „Die Luft ist rein.“

„In der Physik gibt es die Denkmöglichkeit von parallelen Welten“, sagte Phil.

„Von was?“ Joker hielt den Kakaobecher in der Hand.

„Es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass es Welten gibt, die unserer Welt ziemlich gleichen und mit denen wir durch eine vierdimensionale Tür verbunden sein könnten …“

„Unsere Kugel im Wald …“, flüsterte Gina.

„… könnte solch eine Tür sein“, beendete Joker den Satz.

Gina und Joker waren zu verblüfft, um noch mehr zu sagen, und so fuhr Phil fort: „Genau. Und wenn das stimmt, dann würde das vieles erklären. In dieser parallelen Welt gibt es leichte Veränderungen, da könnte es eine ähnliche Straße geben, einen ähnlichen Wald und ein Dorf mit einem ähnlichen Namen, bei dem nur zwei Buchstaben anders sind …“

„Ja“, nickte Joker, „Grabstetten heißt dann dort Garbstetten. Natürlich!“ Er stand auf und ging erregt hin und her. „Das ist die Erklärung! Phil, du bist genial!“

„War nur so ein Verdacht von mir …“, wehrte er ab.

„Aber wenn das stimmt, dann haben wir bisher ziemlich viel Glück gehabt“, sagte Gina und fuhr sich über ihren Nasenrücken.

„Wieso?“, fragte Phil.

„Wenn die Kugel nicht mehr funktioniert hätte oder verschwunden wäre, dann wären wir nie mehr zurückgekommen und hätten für immer in dieser Parallelwelt leben müssen.“

Einen Augenblick war es still, und die Kinder sahen den Regentropfen zu, die an dem Fenster im Zickzack herunterliefen.

„Gina hat recht“, sagte Joker. „Wir haben keine Ahnung, wie lange diese Kugeltür offenbleibt. Und wenn wir das nächste Mal da rübergehen, dann … also, das müssen wir uns ziemlich genau überlegen.“

Phil stellte den leeren Becher auf dem Boden ab. „Ich möchte zumindest noch einmal rübergehen“, sagte er, „und Hieronymus treffen. Gina hat ja seine Adresse. Jetzt, wo wir wissen, wie das alles zusammenhängt, will ich mehr darüber erfahren. Hieronymus ist höchstwahrscheinlich nicht verrückt, sondern hat von einer echten Gefahr erzählt. Wer weiß, vielleicht kommt diese Gefahr eines Tages auch auf unsere Welt zu …“

Er ließ den Satz offen.

„Du meinst“, setzte Phil den Gedanken fort, „dann könnte man sich darauf vorbereiten?“

„Vielleicht.“

„Nein!“, sagte Gina sehr bestimmt. „Mich bekommen keine zehn Pferde mehr in dieses Paralleldings. Wenn ich daran denke, bekomme ich jetzt schon eine Gänsehaut.“

Joker nickte. „Kann ich verstehen. Aber du könntest uns zumindest die Adresse von Hieronymus geben.“

„Heißt das, du willst mit Phil rübergehen?“

„Klar“, nickte Joker. „Das lass ich mir nicht entgehen. Und solange wir uns vor Gänseblümchen schützen …“

Wieder schüttelte Gina den Kopf. „Nein! Ich bleib hier!“


Sie fummelte in ihrer Hosentasche herum, fischte die zerdrückte Karte mit Hieronymus‘ Adresse heraus, strich sie sorgfältig glatt und reichte sie Joker.

„Okay“, sagte Phil. „Morgen um halb vier mit den Rädern?“

„Ich bin dabei.“

An diesem Nachmittag passierte nichts Ungewöhnliches mehr. Nur Jokers Mutter fragte ihren Sohn abends: „Sag mal, wie hieß nochmal dein Deutschlehrer? Sander oder Brandner?“

Joker grinste und sagte: „Herr Bandner. Was willst du denn von ihm?“

„Ach, nichts Bestimmtes. Mir war nur der Name entfallen.“

„Aha.“

Aus den Augenwinkeln sah Joker, dass seine Mutter sich bückte, um eine unsichtbare Fussel aufzuheben und dachte sich seinen Teil.

Der gläserne Vogel

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