Читать книгу Warum wir sterben - Alejandro Lipschütz - Страница 4
2. Der Tod und die Wissenschaft.
ОглавлениеKein Arzt bezweifelt, daß die Stoffe der Darmfäulnis, die in den Blutkreislauf gelangen, der Gesundheit schädlich sind. Zweifellos können manche krankhafte Zustände, manche Erkrankungen der inneren Organe und wohl namentlich die leichteren Störungen des Nervensystems auf einer Überschwemmung unseres Zellenstaates mit den Stoffwechselprodukten der Darmbakterien beruhen. Wer kennt nicht den Kopfschmerz, der sich mit Sicherheit dann einstellt, wenn einmal der Dickdarm nicht recht arbeiten will? Und es ist heute sicher, daß der Genuß von dicker Milch ein Mittel ist, seinen Körper gesund zu erhalten, weil eben, wie wir im vorigen Kapitel erfahren haben, die Bakterien der sauren Milch und die Milchsäure uns eine Waffe sind im Kampfe gegen die Darmbakterien.
Nun hat sich natürlich in der kurzen Spanne Zeit, seit der die Welt von der dicken Milch als von einem eigentlichen Lebensverlängerungsmittel etwas weiß, nicht feststellen lassen, ob Metschnikoff die saure Milch in ihrer Bedeutung als eines Lebenselixiers nicht doch zu hoch eingeschätzt hat. Es ist wohl möglich, daß die dicke Milch uns schließlich doch nicht das Alter von weiland Methusalem garantiert.
Aber nehmen wir an, die dicke Milch wäre wirklich ein Lebensverlängerungsmittel Ia, wie es Metschnikoff will, und die Darmbakterien wären die bösen Geister, die uns ins frühe Grab bringen. Wäre damit für die Wissenschaft das Problem des Todes gelöst?
Mit nichten! Auch Metschnikoff selber will ja mit Hilfe seiner dicken Milch das Altern und den Tod der Menschen nur hinausschieben. Und wenn die dicke Milch auch wirklich das Lebensverlängerungsmittel wäre, das Metschnikoff in ihr sieht, wir könnten dann dieses Lebensverlängerungsmittel doch nicht anders werten als tausend andere auch.
Schaut um euch, wie ihr lebt! In engen Häusern zusammengepfercht, die aussehen wie Zwingburgen. Zwingburgen der frischen Luft sind eure Wohnstätten. Ihr baut Bollwerke gegen Luft, Sonne und Licht. Ihr vergiftet euch mit Alkohol, schwächt euern Leib durch Arbeit über alles Maß, mißachtet verbriefte Rechte der Frucht im Leibe und des Nachwuchses, der nach Lebensbejahung lechzt. Und kommen Städtebauer zu euch, die Gartenstädte planieren und die Stätte der Arbeit als einen geweihten Tempel erstehen lassen wollen, kommen Apostel zu euch, die euch die Rechte eurer Kinder predigen, was habt ihr dann für all das übrig? …
Doch gut. Es wird eine Zeit kommen, wo ihr Augen haben werdet für den Städtebauer und Ohren für den Apostel. Und stellt euch vor: auch Metschnikoffs Wort – das von der sauren Milch – war auf fruchtbaren Boden gefallen. Oder gar die ferne Zukunft ist schon gekommen, wo ihr dickdarmlos lustwandelt in Sonne und Licht in den Gefilden des Menschenglücks, und wo euch die Arbeit geworden ist ein kurzweilig Spiel. Nicht siebzig Jahre mehr, nein hundertundzwanzig und schließlich gar das Alter von Methusalem verzeichnet jetzt die Reichsstatistik als das Durchschnittsalter der Menschen.
Und trotz alledem: es wäre auch dann noch so gut wie heute das Problem des Todes für die Wissenschaft da. Auch dickdarmlos in den sonnigen Gefilden des Glücks würden wir nicht ewig leben: wir würden doch altern und sterben. Man trüge schließlich doch eine sterbliche Hülle, eine Leiche zu Grabe. Aus Altersschwäche, wie man zu sagen pflegt, würden wir sterben.
Es hat sehr, sehr lange gedauert, bis die Menschen dahin gekommen sind, sich die Frage nach einem Tod aus Altersschwäche zu stellen. Machen wir einen Spaziergang zu den Indianern in Zentralbrasilien, zu den Bakairi, und erzählen wir ihnen, daß jedermann sterben müsse. Die Bakairi lachen uns gründlich aus. Genau so würde es uns ergehen, wenn wir zu den viel höher stehenden Melanesiern und Polynesiern damit kommen wollten, daß jedermann sterben müsse. Die Erfahrung des „Wilden“ reicht nicht so weit, wie die des Kulturmenschen. Er weiß nur von den Dingen, die sich innerhalb der kleinen Horde abgespielt haben, der er angehört, womöglich auch nur von den Begebenheiten, deren Augenzeuge er und seine wenigen Zeitgenossen waren. Und er selbst hat durchaus nicht alle Leute seiner Horde, durchaus nicht jedermann sterben gesehen. Nur den einen oder den andern aus seiner eigenen Horde oder aus den kleinen Horden, mit denen er in Berührung gekommen ist, hat er sterben gesehen. Auch kann er sich keine Rechenschaft darüber abgeben, wie viele Leute gestorben sind, denn er kann nur bis 10, selten bis 20 zählen. In seinem Erfahrungskreis ist also der Tod eine seltene Erscheinung, durchaus nicht etwas, was alltäglich vorkommt. Zudem ereilt der Tod einen sehr selten auf dem Lager in der Horde, die meisten Genossen sterben im Kampfe mit dem Feind oder erliegen Verletzungen, die sie sich auf der Jagd oder auf einem längeren Marsch zugezogen haben. Für den primitiven Menschen ist aber auch die Krankheit, die einen befällt, ein böser Geist, der teuflischerweise von einem Besitz ergriffen hat. Und so wird auch der Tod des Greises, der schon an und für sich eine ungewöhnliche Erscheinung im Leben der wilden Horde ist, im Sinne des Geisterglaubens der Wilden folgerichtig als ein böser Streich eines feindseligen Geistes gedeutet.
Auch in unserem Denken über den Tod spukt noch der Geisterglaube, wenn wir vermeinen, mit Hilfe irgendeines Elixiers Gevatter Tod von uns ganz abzuhalten. Die Wissenschaft aber, frei von allem Geisterglauben, kennt heute das Problem des Todes aus Altersschwäche, das Problem des Alters und des Todes, der unerbittlich kommt. Trotz saurer Milch und aller herrlichen Dinge der Welt, trotz Licht und Sonne und Glück. Das ist ein viel weiter greifendes Problem in der Biologie, in der Lehre vom Leben, als jener Tod, den wir mit dicker Milch und tausend andern Mitteln glauben bekämpfen zu können.