Читать книгу Lacroix und der Bäcker von Saint-Germain - Alex Lépic - Страница 5

3

Оглавление

»Das war wirklich ein rundum gelungener Abend, ma chère«, sagte Lacroix zu Dominique, als sie gemeinsam aus der Haustür traten.

Jeannine vom Obst- und Gemüsestand zog eben den Rollladen hinauf. Die bunten Früchte, die roten Tomaten, die dunkelgrünen Artischocken, die gelben Paprika leuchteten um die Wette.

»Es war schön, die Ballandrauds mal wieder zu sehen.«

Lacroix nickte und dachte an die Gespräche, den Weißwein, den Cognac als Digestif – es war wirklich ein schöner Abend gewesen. Mit dem Ehepaar Ballandraud war das eigentlich immer so, und deshalb bedauerte Lacroix es, dass sie sich so selten sahen. Giselle Ballandraud arbeitete als Ärztin an der Uniklinik in Rouen, während ihr Mann eine Apfelplantage besaß. Die Früchte wurden zu Calvados verarbeitet. So gab es stets gute Gespräche über medizinische Phänomene und herrliche Spirituosen. Der Commissaire hätte nicht sagen können, was er mehr schätzte, die Kombination aber war einfach perfekt. Und nun stand als Gastgeschenk auch noch eine alte Flasche in seiner Bar, und er freute sich schon jetzt auf den Abend.

»Hast du gleich Termine im Rathaus oder magst du noch mit mir zum Chai laufen? Ich würde mich freuen, noch einen café mit dir zu trinken.«

Sie sah ihn bedauernd an. Das schätzte er so sehr an seiner Frau. Sie kostete jeden Moment mit ihm aus und war immer ehrlich traurig, wenn sich ihre Wege morgens trennten.

»Ich habe leider eine total langweilige Besprechung zu einem Neubau weiter unten an der École Militaire, bedaure.«

Dominique war die Bürgermeisterin des siebten Arrondissements. In diesem Bezirk rive gauche, mit seinen Museen, den alten Bürgerhäusern und Ministerien, einem der wohlhabendsten der Stadt, saß sie natürlich für die konservativen Républicains im Rathaus, das altehrwürdig in der Rue Saint-Dominique lag. Sie war beliebt bei ihren Wählern, weil sie in ihren bisher zwei Amtsperioden viel hatte erreichen können, und mochte ihre Arbeit sehr. Einzig die zahlreichen, nicht enden wollenden Sitzungen empfand sie mitunter als Qual.

»Dann sehen wir uns eben am Abend, ma chère

Sie gaben sich einen Abschiedskuss, dann wandte sie sich nach links in Richtung Rathaus und er nach rechts in Richtung Quais, um den Weg am Fluss entlang zu seinem Stammbistro einzuschlagen.

»Mon cher!« Der Ruf ließ ihn innehalten, er drehte sich um. Dominique hielt ihr Handy in der Hand. »Hier, für dich …«

Es konnte nur Rio sein. Niemand außer seiner Assistentin hatte die Nummer seiner Frau, und auch sie wählte sie nur im absoluten Notfall.

»Hier ist Rio, Commissaire, verzeihen Sie die frühe Störung. Sie waren nicht mehr zu Hause und noch nicht im Chai – und die Angelegenheit kann nicht warten: Es wurde eine Leiche gefunden. In der Rue de Seine.«

Lacroix stutzte.

»Können Sie gleich kommen?«, fragte Rio.

»Haben Sie die genaue Adresse?«

»Boulangerie Lefèvre, 42 Rue de Seine.«

»Herrgott … Ich bin unterwegs.«

Er gab seiner Frau das Telefon zurück, ohne aufzulegen. Er hätte zu lange gebraucht, die richtige Taste zu finden.

»Ach, mein Maigret«, sagte Dominique seufzend, »es wird wirklich Zeit, dass du dir ein Handy zulegst.«

»So können wir uns immerhin noch mal verabschieden.« Er küsste sie zärtlich.

»Etwas Schlimmes?«

Er nickte, in Gedanken schon ganz woanders. »Es ist … du glaubst es nicht. Ein Toter in der … Erst gestern war ich … Ich erzähle es dir heute Abend, nun muss ich los.«

Dominique fragte nicht nach, sah ihn nur erstaunt an. Sie lösten sich voneinander, und er wandte sich in Richtung Invalidendom, in der Hoffnung, dort den 63er-Bus zu bekommen.

In seinem Kopf kreisten die Gedanken, er versuchte sich zu erinnern. Ein paar Stunden war es erst her. Er rief sich die Bilder des Ladens vor Augen, die Auslage, die Gesichter der Verkäuferinnen. Er hatte einen Blick in die Backstube werfen können, in der kurz vor Ladenschluss nicht mehr viel los gewesen war. Nur ein junger Mann mit weißer Schürze hatte dort aufgeräumt, erinnerte er sich.

Lacroix verließ die Rue de l’Université und trat auf den weitläufigen Platz, der zwischen dem alten Air-France-Gebäude und dem Invalidendom lag. Ein kalter Wind wehte, trieb die Passanten wie fliehende Rehe vor sich her.

Er wartete zwei Minuten völlig in Gedanken versunken, hörte dann das Klingeln, das den nahenden Bus ankündigte. Lacroix stieg ein, der Fahrer nickte ihm zu, er fuhr oft diese Linie. An der Station Seine-Buci stieg er aus, die Zufahrt zur Rue de Seine war schon abgesperrt, ein Verkehrspolizist hatte seinen Motorroller quer auf die Fahrbahn gestellt und war dabei, den Tatort zu sichern.

»Bonjour, Commissaire«, sagte er und hielt das rot-weiße Band hoch, damit Lacroix darunter durchtreten konnte.

Der Commissaire ging die wenigen Schritte die kleine Straße hinab, wie er es gestern getan hatte. Heute war der Himmel zwar grau, aber es regnete nicht. Über ihm die drei- und vierstöckigen feinen Häuser mit ihren schmiedeeisernen Balkonen, wie Georges-Eugène Haussmann sie erdacht hatte. Die Galerien in den Erdgeschossen, dunkle Möbel und goldschimmernder Kitsch zu astronomischen Preisen.

Vor der Boulangerie stand nur ein Polizeiauto, zwei Beamtinnen warteten vor dem Laden und sahen grimmig die Straße entlang, als erwarteten sie, dass sich der Täter noch mal sehen lassen würde.

Sie traten zur Seite und ließen Lacroix vorbei. In der Boulangerie war es viel kälter als am Vortag. Lacroix war mittlerweile überzeugt, dass das Opfer einer der Bäckermeister sein musste – wer war sonst um diese Uhrzeit schon auf den Beinen.

Capitaine Rio hatte die Klingel über der Tür gehört und kam sofort aus der Backstube in den Verkaufsraum.

»Commissaire, guten Morgen, bitte, kommen Sie.«

Die Polizistin ging voran und wies auf den Fußboden. Statt der alten Holzdielen im Verkaufsraum waren hier blitzsaubere weiße Fließen. Vor dem großen metallenen Ofen blieb sie stehen.

Da lag er, nicht der junge Bäcker von gestern, sondern ein älterer Mann mit dichten grauen Haaren. Er lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite geneigt, Arme und Beine weit von sich gestreckt, als würde er friedlich schlafen. Nur die Wunde am Hinterkopf zeigte, dass dem nicht so war. Es war nur wenig Blut am Boden, genau wie an dem hölzernen Brotschieber, der neben dem Mann lag.

Eben betrat Paganelli den Raum.

»Guten Morgen, Rio, guten Morgen, Commissaire. Sorry, mein Roller ist nicht angesprungen. Was haben wir?«

»Maurice Lefèvre«, sagte Rio, die wohl als Erste von der Police nationale am Tatort gewesen war. »56 Jahre alt. Der Besitzer des Ladens, Bäckermeister in dritter Generation. Seine Jacke hing im Spind, als einzige, darin war sein Portemonnaie.«

»Wer hat ihn gefunden?«

»Ein Mann von Gaz de France, der sich für den Morgen zum Ablesen angekündigt hatte. Wir nehmen an, dass der Tote deshalb hier war. Mittwoch ist eigentlich Ruhetag. Der Gasmann hatte vom Hof aus durchs Fenster geguckt und ihn hier liegen sehen. Er hat uns sofort angerufen.«

Ruhetag, dachte Lacroix. Deshalb hatten sie den Toten so spät gefunden. »Wo ist der Mann?«

»Sitzt draußen im Hof und raucht. Madame Lefèvre ist auf dem Weg hierher. Ich habe sie vorhin angerufen. Sie weiß noch nicht Bescheid.« Rio sah Lacroix mit großen Augen an. Angehörigen die schreckliche Nachricht vom Tod eines geliebten Menschen zu überbringen, gehörte zu den Aufgaben, die wohl jeder Polizist am meisten fürchtete.

Lacroix ging durch die Backstube, betrachtete die Urkunden an der Wand und ein Foto der Belegschaft. Er erkannte die drei Verkäuferinnen von gestern, dahinter standen die Männer aus der Backstube, alle mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Neben ihnen eine ältere Dame im Kostüm, sicher die Chefin, wiederum daneben Maurice Lefèvre. Sein Blick war freundlich und sanft, ein Handwerker, wie er im Buche steht: der Schnauzbart fein gestutzt, die Bäckeruniform strahlend weiß, nur das Mehl an den Ärmeln wies darauf hin, dass das Foto inmitten der alltäglichen Arbeit gemacht worden war.

»Rio, sagen Sie mir …«, begann Lacroix, wurde aber von einer wohlbekannten und ein wenig zu heiteren Stimme aus dem Verkaufsraum unterbrochen.

»Bonjour, Messieurs-dames, wo ist denn unser berühmter Commissaire?«

Wenige Sekunden später schlenderte Docteur Obert in die Backstube, in der rechten Hand eine Zeitung, in der linken die obligatorische Arzttasche, die er direkt neben dem Toten abstellte. Er wandte sich Lacroix zu und wedelte mit der Zeitung. Auf der Titelseite ein altes Foto des Mannes, der nun hier am Boden vor ihnen lag, und in großen Lettern die Schlagzeile: »Sensationelle Wiederwahl«. Dem Bäcker aus der Rue de Seine sei mit dem zweiten Sieg in Folge das Unmögliche gelungen.

Der Wettbewerb um das beste Baguette der Stadt fiel Lacroix erst in dieser Sekunde wieder ein. Doch als er den Toten da liegen sah, dachte Lacroix einmal mehr, dass nichts so alt war wie die Zeitung vom Vortag.

»Ich darf nichts mehr über bekannte Persönlichkeiten unserer Stadt lesen. Fünf Minuten später ruft immer ihr an, weil die Person abscheulich um die Ecke gebracht wurde. Ich hoffe, Le Parisien schreibt nie über mich.« Obert lachte laut auf.

»Ein schneller Blick«, bemerkte Lacroix trocken.

»Ich bitte Sie, Commissaire, wir sind doch keine Anfänger, wir beiden. Den besten Bäcker der Stadt erkenne ich natürlich sofort, und auch von hinten. Und um zu rekonstruieren, was passiert ist, braucht es in diesem Fall auch nicht viel. Aber wo ich schon mal hier bin, schaue ich ihn mir natürlich an.«

Der Gerichtsmediziner holte Plastikhandschuhe aus seiner Manteltasche, zog sie an und bückte sich über die Leiche.

»Ei, ei, ei, ein ziemlich heftiger Schlag war das. Und ja: einer. Nicht zwei oder drei. Würde ich jetzt zumindest sagen.«

Er griff nach dem Holzschieber, mit dem die Brote aus dem Ofen geholt wurden, die hellen pain de mie oder die dunklen krossen Landbrote.

»Sieht ganz danach aus, als hätten wir hier auch gleich die Tatwaffe, aber ich muss mir das natürlich im Institut alles noch mal genauer anschauen.«

»Können Sie mir sagen, wie lange er schon tot ist?«

»Mal sehen … Kann ich ihn umdrehen? Wurden schon Fotos gemacht?«

Rio nickte.

Der Leiter des Institut médico-légal legte den Toten vorsichtig auf den Rücken. Mochte er auch noch so viel scherzen, mit seinen Klienten ging er stets sorgsam um.

Lacroix hatte schon viel über den Bäcker gelesen, ihn manches Mal in der Backstube gesehen. Doch nun, als er hier vor ihm lag, ging es ihm wie stets, wenn er einen Toten sah. Er war erschrocken, wie leer so ein Gesicht wirkte, wenn das Leben aus einem Menschen verschwunden war, auch wenn Maurice Lefèvres Züge sanft und gleichmütig waren. Lacroix konnte sich nicht erinnern, einmal mit dem boulanger gesprochen zu haben, was er nun bedauerte. Lefèvres Augen standen offen. Docteur Obert wartete nicht erneut auf den Fotografen, sondern schloss sie mit zwei Fingern.

»Ich kann den Todeszeitpunkt nicht genau bestimmen. Aber es sind wohl eher sechs Stunden vergangen als zwei. Ich sehe auf den ersten Blick keine weiteren Verletzungen, aber wie gesagt: Ich melde mich.« Mit diesen Worten erhob er sich. »Ihnen allen«, er nickte in die Runde, »einen guten Tag. Meine Leute kommen in 20 Minuten, um ihn abzuholen. Es ist derzeit recht ruhig im Institut, Commissaire. Kommen Sie doch morgen vorbei, dann sollte ich mehr wissen.«

Er verabschiedete sich formvollendet, dann schlenderte Docteur Obert so lässig hinaus, wie er fünf Minuten vorher hereingekommen war.

Lacroix sah sich in der Backstube um, betrachtete die sauberen Arbeitsflächen, die Rühr- und Knetmaschine. Alles hier sah nach echter Handarbeit aus. Dann stutzte er.

»Habe ich auch schon gesehen«, sagte Rio, die seinem Blick gefolgt war. »Vielleicht war der Gasmann doch nicht der Grund, warum er trotz Ruhetag hier war.«

»Oder nicht ausschließlich«, sagte Lacroix und näherte sich der kleinen Ecke hinter den Arbeitsflächen, in der ein breiter Ohrensessel stand, daneben ein winziges Tischchen, auf dem ein alter Wälzer lag. Gedichte von Rimbaud, Gesamtausgabe. Daneben stand eine offene Cognacflasche, in einem Glas nur noch eine wässrige Lache.

Der Commissaire besah sich die Flasche und pfiff leise durch die Zähne. Er kannte sich nicht sonderlich gut aus, aber dass sich der Bäckermeister zur Lektüre eine Flasche Hennessy No. 1 schmecken ließ, war nun doch außergewöhnlich. Wenn überhaupt, war dieser Cognac nur für echte Glücksritter zu bekommen, so selten gab es ihn zu erwerben, und dazu kostete eine Flasche in etwa so viel wie ein mittelalter Gebrauchtwagen.

Lacroix beugte sich herab und roch am Glas. Cognac, ganz sicher.

»Ich möchte …«, begann er, doch als er sich zu ihr umdrehte, sah er, dass Rio bereits angefangen hatte, die Ecke aus allen Perspektiven zu fotografieren. »Gut, Sie wissen Bescheid. Wann kommt Madame Lefèvre?«

»Sie müsste jeden Moment hier sein«, sagte Paganelli, der von Rio ins Bild gesetzt worden war.

Am Ende der Backstube war eine Tür, in die ein vergittertes Fenster eingelassen war. Lacroix öffnete sie und trat in den kleinen Hinterhof. Nach oben waren es vier Etagen, der Geruch von Hefe lag schwer in der kalten Luft. So ordentlich und geschrubbt die Backstube und der Verkaufsraum waren, so heruntergekommen war der Hof. Zwischen unzähligen Zigarettenkippen erkannte der Commissaire Rattenkot.

Der Mann von Gaz de France, ein kleiner dicker Mittfünfziger in einem blauen Overall, saß auf einer niedrigen Mauer und zündete sich eine Zigarette an. Er blickte auf und sah den Commissaire aus blutunterlaufenen Augen an.

»So was wünscht sich keiner, das sag ich Ihnen aber«, sagte er und klang, als sei er es gewesen, der dem Cognac zugesprochen hatte. »Ich habe schon einiges gesehen«, fuhr der Mann fort. »Einmal habe ich eine alte Frau gefunden, die schon ein paar Wochen hinter ihrer Tür gelegen hatte. Der Hausmeister hatte mir den Schlüssel gegeben. Aber das hier …«, er stockte, »das hat mich echt umgehauen. Wie der da lag … Mir war gleich klar, dass der nicht mehr ist.«

»Wann waren Sie hier?«

»Um Punkt acht. Ich halte meine Termine ein.«

»Vorn war abgeschlossen?«

Der Mann nickte. »Ja, ich bin mit dem Türcode rein. Ich hatte ja Termine in allen Wohnungen, wollte aber zuerst zu Monsieur Lefèvre. Ich habe erst an der Hintertür geklopft, dann habe ich durch das Fenster gesehen und dachte, mich trifft der Schlag. Das war …«

»Kannten Sie Monsieur Lefèvre?«

Wieder nickte der Gasmann. »Ein ganz feiner Kerl. Ein echter Handwerker. Gibt’s ja beinahe nicht mehr, heute, wo die Algerier denken, sie könnten französisches Brot backen. Können Sie vergessen, den Mist. Die Kruste der Baguettes vom alten Lefèvre, die war einmalig. Nein, der war ein Mann von echtem Schrot und Korn. Mir hat er immer ein tradi geschenkt. Der wusste, wer ein echter Kollege war. Wir Handwerker halten zusammen.« Er hielt einen Moment inne. »Ist wirklich schade um ihn, so ein feiner Mann.«

»Haben Sie jemanden gesehen? Im Laden oder im Hof?«

»Niemanden«, sagte der Gasmann kopfschüttelnd.

»Gut«, sagte Lacroix und hob den Kopf, um die Etagen zu taxieren. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, dann melden Sie sich bitte im Kommissariat im Fünften. Einen guten Tag.«

Er wollte zurück in die Backstube gehen, doch etwas hielt ihn auf. Er drehte sich noch mal um.

»Wie lange kennen Sie Monsieur Lefèvre schon?«

Der Mann richtete sich auf. »Ich betreue diesen Bezirk seit 25 Jahren. So lange kenne ich auch Monsieur Lefèvre. Es war die Zeit, als er den Laden von seinem Vater übernommen hat.«

»Wissen Sie, ob er Probleme hatte? Feinde?«

»Commissaire, ich bin zweimal im Jahr für eine halbe Stunde bei meinen Kunden, höchstens. Woher soll ich denn wissen … Ich habe ihn immer als Mann mit Format wahrgenommen. Ich bin wirklich geschockt, ihn da liegen zu sehen, das wird mich in meine Träume verfolgen, glauben Sie mir.«

Lacroix ging in die Bäckerei zurück. Rio und Paganelli standen schweigend neben der Leiche, die gerade in einen metallenen Sarg gehoben wurde.

»Capitaine«, sagte Lacroix leise, und Rio trat einen Schritt näher.

»Bitte befragen Sie die Nachbarn. Hier und im Haus nebenan. Vielleicht ist irgendjemandem etwas Ungewöhnliches aufgefallen, vielleicht wurde jemand aus dem Schlaf gerissen. Fragen Sie die Leute, was in der Nacht los war. Sie haben Docteur Obert gehört, das Opfer ist schon eine Weile tot. Wir sehen uns später im Kommissariat, ich werde draußen auf Madame Lefèvre warten.«

Sie nickte, und Lacroix verließ die Bäckerei, ging auf dem Gehsteig auf und ab, aber er musste nicht lange warten. Von ganz hinten, aus Richtung des Boulevards, eilte eine Frau auf ihn zu. Sie war groß und kräftig, eine herbe Schönheit, ihr Gesicht war voll und rot. Gesund und kräftig sah sie aus, dachte Lacroix.

Er stellte sich ihr in den Weg, sie sollte keine Gelegenheit haben, im Laden die Schrecken der vergangenen Stunden zu sehen.

»Madame Lefèvre?«, fragte er, obwohl er keinen Zweifel hatte. »Mein Name ist Commissaire Lacroix von der Police nationale. Ich würde Sie gern auf einen café einladen, vielleicht gehen wir ein Stück.«

»Was ist denn passiert?«, fragte sie, während sie versuchte, an ihm vorbei in den Laden zu schauen.

»Kommen Sie«, Lacroix führte sie ein Stück die Straße hinab. »Gehen wir hier hinein«, sagte er und öffnete die Tür zum La Palette. Er hätte auch mit ihr ins Chai gehen können, das nur wenige Meter entfernt lag, aber er wollte die Witwe eines Mordopfers nicht in sein Stammlokal führen, wo er von allen begrüßt worden wäre. Er bemerkte, dass die Frau vermied, ihn anzusehen, selbst als sie ihm gegenüber Platz nahm. Er verstand sie. Die Menschen wussten, dass er selten gute Nachrichten brachte, spürten meist gleich, dass etwas nicht stimmte.

»Monsieur, deux cafés, s’il vous plaît«, rief er in Richtung Bar, und als der Mann hinter dem Zinktresen nickte, beugte Lacroix sich ein Stück vor, um leiser sprechen zu können.

»Madame Lefèvre, ich habe leider eine schreckliche Nachricht für Sie. Ihr Mann wurde in der vergangenen Nacht erschlagen. Ein Zeuge hat ihn heute Morgen in der Backstube gefunden, und wir sind uns sicher, dass Monsieur Lefèvre getötet wurde.«

Ihr Gesicht wurde noch röter, sie war ganz und gar starr, dann erhob sie sich schwerfällig, ohne ihn anzusehen. Lacroix hatte Angst, dass sie zusammenbrechen würde, doch sie blieb nur kurz vor dem roten Ledersessel stehen und fing dann an, im Café auf und ab zu gehen, den Blick gesenkt. Er sah ihre Augen nicht, sah nicht, ob sie weinte. Als sie sich umwandte, bemerkte er, wie sich unablässig ihre Lippen bewegten, als murmele sie etwas. Es klang wie eine Litanei, doch genaue Worte drangen nicht zu ihm durch.

Lacroix blieb sitzen, der Kellner brachte die beiden cafés, ohne die Frau aus den Augen zu lassen, die er zweifellos für verrückt hielt.

Der Commissaire nahm seine Tasse, rührte mit dem kleinen Löffel darin herum und ließ ihr die Zeit, die sie brauchte, um zu verstehen, was er ihr da gerade gesagt hat. Erst nach einigen Minuten kam Madame Lefèvre an den Tisch zurück, blieb noch einen Moment abgewandt stehen, dann setzte sie sich.

»Ich habe ihn nicht nach Hause kommen hören.«

»Ist Monsieur …«, begann Lacroix, doch sie unterbrach ihn gleich wieder mit einer wegwerfenden Geste, ihre Augen richteten sich auf ihn, als sei sie aus einem Traum erwacht.

»Das ist nicht ungewöhnlich, das wollte ich damit nicht sagen. Überhaupt nicht. Er war oft nächtelang in der Bäckerei. Und dass er gestern geblieben ist, nach seinem Triumph, hat mich nicht überrascht.«

»Sie meinen die Wahl zum besten Baguette der Stadt? Ich habe es vorhin in der Zeitung gelesen.«

Sie lächelte in sich hinein und nickte sanft. »Niemand hat es für möglich gehalten, außer ihm. Aber er hat es tatsächlich geschafft und den Titel verteidigt.«

Lacroix nahm einen Schluck von seinem café, tatsächlich erstaunt. »Ist das denn so ungewöhnlich?«

Sie nickte stolz. »Das gab es noch nie, Commissaire. Noch nie. Es gibt einen Bäcker, der den Titel zweimal geholt hat, aber nicht in aufeinanderfolgenden Jahren. Aber mein Maurice hat es geschafft. Er wird damit in die Geschichte eingehen.«

Lacroix war selten sprachlos, jetzt aber brauchte er einen Moment, um sich zu sammeln. Er hatte dem Wettbewerb keine große Bedeutung beigemessen, ganz anders als Madame Lefèvre. Seine Gedanken rasten. Der Sieger lag wenige Stunden nach der Verkündung erschlagen in seiner Backstube – das konnte doch kein Zufall sein.

»Was hat Ihr Mann nachts in der Boulangerie gemacht?«

»Was meinen Sie denn, Commissaire? Er trank sicher keinen Champagner und feierte sich selbst. Maurice war ganz anders, er ruhte nicht, nein, er wird die ganze Nacht dort gesessen und über Rezepten gebrütet haben. Er tüftelte immer an neuen Broten und Torten, vor allem aber wollte er die Rezeptur des Baguettes perfektionieren – auch wenn das natürlich totaler Blödsinn ist, wenn man erwiesenermaßen das beste Baguette der Stadt produziert. Aber sei’s drum, das war seine Mission. Zwischendurch putzte er die Maschinen, und wenn er zufrieden war mit seinem Werk, dann genehmigte er sich einen sehr alten Cognac. Das war sein Ritual.«

Das Stimmgewirr um sie herum schwoll an, der Geruch von frisch gemahlenem Kaffee lag in der Luft. An der Bar zapfte der Wirt die ersten Biere des Tages. Nun, um kurz vor zehn, kamen die, die am Morgen schwer geschuftet hatten, Marktleute, Postboten, Reinigungskräfte. Lacroix sehnte sich nach dem Chai.

»Das klingt, als hätten Sie Ihrem Mann häufiger in der Backstube Gesellschaft geleistet«, sagte der Commissaire.

»Früher, ja«, sagte sie und lächelte in sich hinein. Ihre Wangen waren nun noch rosiger, sie wirkte auf einmal viel offener. »Aber Sie wissen ja, wie das ist, Monsieur le Commissaire, all die Pflichten und Verpflichtungen. Wir sind uns nach wie vor sehr nah, aber die Verantwortung für den Laden und die Mitarbeiter zwingt uns, mehr Geschäftspartner als ein Ehepaar zu sein.«

Sie hielt einen Moment inne, betrachtete ein junges Paar am Nebentisch, das Händchen hielt. Einen Augenblick später sah sie betroffen zu Boden.

»Ihr Verlust tut mir sehr leid«, sagte Lacroix. »Haben Sie eine Idee, wer Ihrem Mann etwas antun wollte? Ich weiß, es ist eine plumpe Frage, aber: Hatte er Feinde? Neider?«

»Wissen Sie, Monsieur le Commissaire, in diesem Land gibt es an jeder Ecke einen guten Bäcker – auch wenn es leider immer weniger werden. Als Handwerker, und so verstehen wir uns, sind Sie immer einer unter vielen. Wenn Sie dann diese Auszeichnung erhalten, ist alles anders. Die Kunden rennen Ihnen die Bude ein, aber die Kollegen beginnen, sich abzuwenden, reden mit ihren Kunden schlecht über Sie: ›Ach, beim Lefèvre, da sind ja mittlerweile alle abgehoben, da geben sie sich keine Mühe mehr, die ruhen sich auf ihren Lorbeeren aus.‹ So ist das. Damit sollte Ihre Frage beantwortet sein. Neider gibt es viele.«

»Aber jemand, der Ihrem Mann wirklich nach dem Leben trachtete?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Nicht dass ich wüsste.«

»Wie viele Angestellte haben Sie? Und wie viele von ihnen haben einen Schlüssel?«

»Es sind elf Angestellte. Einen Schlüssel haben die vier Bäcker und die Verkäuferinnen der Frühschicht. Ich mache Ihnen eine Liste und schicke sie in Ihr Kommissariat, d’accord

»Das wäre sehr freundlich. Hören Sie, Madame Lefèvre, wir haben Ihren Mann eindeutig identifiziert, deshalb ist es nicht nötig, dass Sie das tun. Aber wenn Sie ihn noch mal sehen und sich verabschieden möchten, ist das natürlich möglich. Wir haben ihn ins Institut der Gerichtsmedizin am Quai de la Rapée gebracht. Er ist … nun ja, man hat ihn mit großer Wucht erschlagen, und das führt mich zu der Annahme, dass es einen Streit gegeben hat. Der Täter muss sehr wütend gewesen sein. Oft ist es im ersten Schock schwierig, aber wenn Ihnen noch jemand einfällt, an den Sie jetzt noch nicht gedacht haben, bitte ich Sie, mich sofort anzurufen.«

»Natürlich, Commissaire.«

»Werden Sie den Laden nun erst mal schließen?«

Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Wenn Sie mit Ihrer Arbeit fertig sind, öffnen wir wieder. Die Pariser sollen ihr bestes Baguette bekommen, Maurice hätte es nicht anders gewollt.«

Lacroix und der Bäcker von Saint-Germain

Подняться наверх