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Es hatte wieder zu regnen begonnen, sodass La- croix seinen Schritt beschleunigen musste. Dennoch war er pitschnass im Kommissariat angekommen. Er ging hier seit so vielen Jahren tagtäglich ein und aus, dass er die schreckliche Architektur gar nicht mehr recht wahrnahm. Das Haus war ein Betonblock in der Leichtbauweise, die in den Sechzigern Standard gewesen war, und damit eine Beleidigung für all die herrlichen Bürgerhäuser ringsum, die aus der Ära Haussmann stammten, dessen Architektur das Pariser Stadtbild prägte wie keine andere. Mittendrin lag das Kommissariat, gesichert von bewaffneten Polizisten und Straßensperren. Die moderne Zeit. Es machte Lacroix traurig, dass all das nötig war, um sich und seine Kollegen zu schützen, obwohl es doch eigentlich ihre Aufgabe war, die Pariser zu beschützen.

Lacroix leitete die Brigade criminelle des fünften und sechsten Arrondissements. Rive gauche, die Viertel, in denen die Sorbonne lag, das Quartier Latin, wichtige Denkfabriken wie die Académie française, die schönsten Buchhandlungen und Cafés der Stadt.

Er stieg die drei Etagen hinauf, im zweiten Stock passierte er das Museum der Pariser Polizeipräfektur, das direkt unter seinem Büro lag. Es beherbergte eine Sammlung von Polizeiartefakten aus drei Jahrhunderten: Bilder, Waffen, Uniformen, Geschichten über die spektakulärsten Morde, die Paris erleben musste.

Oben herrschte ein geschäftiges Treiben: Rio und Paganelli telefonierten, der Korse wie stets mit lauter Stimme und wild gestikulierend. Lacroix ging an ihnen vorbei und betrat sein Büro. Als sein Blick auf die Glasscheibe fiel, die sein kleines Büro von dem seiner Kollegen trennte, nickte er anerkennend. Wahrscheinlich war es Rio gewesen, die in der Kürze der Zeit die Fotos von allen, die an dem Fall beteiligt waren, besorgt, ausgedruckt und aufgehängt hatte. Noch kannte Lacroix nur die wenigsten. Das freundliche und sanfte Gesicht von Maurice Lefèvre, dem Opfer. Die rosigen Wangen seiner Frau direkt daneben. Zudem waren Passfotos aller Angestellten der Boulangerie aufgehängt. Lacroix erkannte zwei der Verkäuferinnen des Vortages auf den ersten Blick. Direkt daneben der Mann von Gaz de France, der als Erster am Tatort gewesen war und die Leiche gefunden hatte. Offenbar hatte das Ehepaar Lefèvre keine Kinder, sonst hätte Rio auch Fotos von ihnen aufgehängt. Er würde sie gleich danach fragen.

Lacroix hatte die Tür offen stehen gelassen, und so trat die Capitaine ein, ohne anzuklopfen. In der Hand hielt sie zwei weitere Fotos.

»Das hier«, sie zeigte auf die beiden Gesichter, eine Frau und einen Mann, beide Mitte, Ende 50, »sind Claudine Rabaly, die zuständige Handelssekretärin, und Bertrand Lemaire, der Chef der Bäckerinnung. Sie waren gestern bei der Prämierung dabei. Ich habe sie informiert. Sie erwarten uns um 16 Uhr im Rathaus.« Sie hing die Fotos auf und sah ihn an. »Commissaire, seit einer Stunde klingelt ununterbrochen das Telefon. Die Presse will alles wissen. Der berühmteste Bäcker der Stadt ermordet, nur wenige Stunden nach seinem großen Triumph! Das ist ein gefundenes Fressen für die.«

»Sie wissen also auch schon Bescheid …« Lacroix seufzte. »Herrgott noch mal!«

»Was sollen wir tun?«, fragte Rio, obwohl sie die Antwort kannte.

Mit dem Polizeireporter Havrincourt hatte Lacroix eine enge Freundschaft verbunden. Doch nachdem sich der Mann vor einem knappen Jahr mit dem Rasenmäher über den Fuß gefahren und anschließend an einer Thrombose gestorben war, mied der Commissaire jeden Kontakt zur Presse. Leider funktionierte das in den wenigsten Fällen. Paris war eine Stadt, die den Klatsch so sehr liebte, wie sie das Verbrechen fürchtete.

»Versuchen wir es vorerst mit einer simplen Pressemitteilung. Bäckermeister aus der Rue de Seine wurde erschlagen. Uhrzeit, grobe Fakten, keine Details. Das muss reichen. Faxen Sie es an die Redaktionen. Sollte der Druck größer werden, muss Arnaud eine Pressekonferenz geben.«

Arnaud Mercier war der Polizeichef. Er residierte in seinem Büro im Quai des Orfèvres mit Blick auf die Seine und war Lacroix’ direkter Vorgesetzter. Er liebte die Öffentlichkeit in dem Maße, in dem Lacroix sie scheute.

»Können Sie Paganelli rufen?«

Rio verschwand, und Lacroix sah ihr nach. Er hatte die Capitaine vor über zwölf Jahren in sein Team geholt, damals stand sie am Anfang ihrer Karriere, hatte gerade erst ihren Abschluss an der Polizeiakademie gemacht. Sie stammte ursprünglich aus Mayotte, hatte zusammen mit ihrer Frau zwei Kinder, Zwillinge, die Capitaine Rio geboren hatte. Vor einem guten halben Jahr hatte ihre Frau sie für eine andere verlassen – momentan war es eine schwierige Dreiecks- beziehung.

Nach wenigen Momenten betrat sie das Büro, Commandant Paganelli im Schlepptau. Der junge Mann stammte ursprünglich aus Korsika und war – wie viele Bewohner der autonomen Insel – ein echtes Raubein. Auch ihn hatte Lacroix angeworben, als er am Beginn seiner Karriere stand.

Sie setzten sich auf die Stühle gegenüber dem Schreibtisch. Lacroix aber stand auf und ging auf und ab.

»Was haben wir?«, fragte er.

»Einen Bäcker, erschlagen mit seinem Brotschieber«, sagte Rio. »Wenige Stunden vor seinem Tod hat er als erster boulanger überhaupt im Wettbewerb um das beste Baguette der Stadt den Titel verteidigt. Er war laut Zeugenaussagen nach der Prämierung noch bei dem Festumtrunk der Bäckerinnung, ist von dort aber nach kurzer Zeit verschwunden. Offenbar ist er in seine Backstube gegangen.«

»Dort hat er wohl an neuen Rezepten getüftelt und allein seinen Sieg gefeiert, vermutet zumindest seine Frau. Ziemlich still, so scheint es, mit einem Buch und einem sehr teuren Cognac. Können Sie das Foto von der Leseecke noch an die Scheibe kleben, Capitaine? Ich fand es bemerkenswert.«

»Der Todeszeitpunkt steht noch nicht genau fest«, fuhr Rio fort. »Wir wissen lediglich, dass er mit großer Wucht erschlagen wurde, jemand also eine furchtbare Wut auf ihn hatte. Dabei scheint es so, als sei Lefèvre ein Mann gewesen, der von vielen Menschen gemocht wurde. Was wir ausschließen können, ist ein Raubmord: Der gesamte Tagesumsatz war am Abend von einer der Verkäuferinnen mitgenommen und bei der Crédit Agricole auf dem Boulevard eingezahlt worden. Auch im Haus hat niemand etwas gehört, wir haben fast alle Nachbarn angetroffen. Bei den zweien, die nicht zu Hause waren, bleiben wir dran. Aber bisher, wie gesagt, Fehlanzeige. Alle kannten Lefèvre, viele waren seine Kunden. Einige waren genervt von der Menschenmenge vor der Tür, was aber wohl nicht für ein Motiv reicht. Und niemand hat einen Eindringling bemerkt.«

»Wir sollten so schnell wie möglich die Angestellten befragen«, sagte Paganelli. »Von denen erfahren wir sicher am besten, was er für ein Mensch war. Bei diesen Handwerkern herrscht ja manchmal ein rauer Umgangston.«

»Das können wir morgen gleich als Erstes machen. Madame Lefèvre will den Laden wieder öffnen, sobald wir ihn freigeben. Wann wird das sein?«

»Die Kollegen von der Spurensicherung sind eigentlich fertig. Heute Abend sind wir da raus.«

»Gut. Dann gehen wir beide gleich ins Rathaus, Rio?«

»Natürlich, Commissaire. Was hatten Sie für einen Eindruck von der Frau des Bäckers?«

Lacroix überlegte einen Moment. »Ich glaube, sie hat ihn sehr geliebt. Sie hat voller Wärme von ihm gesprochen. Von seiner Leidenschaft für seine Arbeit.«

Rio schlug sich plötzlich mit der Hand an den Kopf. »Moment, ganz vergessen …« Sie ging zu ihrem Schreibtisch, um kurz darauf mit der Zeitung wiederzukommen.

»Hier, Commissaire, damit sollten wir uns beschäftigen.«

Lacroix überflog erneut die Schlagzeile: »Sensationelle Wiederwahl – Lefèvre ist der Baguette-König von Paris.«

Paganelli stöhnte. »Was für ein Blödsinn.«

»Nicht so voreilig«, sagte Lacroix. Er schlug die Zeitung auf, um endlich in Ruhe den ganzen Artikel zu lesen.

Maurice Lefèvre, Bäckermeister im sechsten Arrondissement, hat zum zweiten Mal in Folge den Wettbewerb um das beste Baguette der Stadt gewonnen – ein absolutes Novum. Die Jury kürte den gebürtigen Pariser nach einer Blindverkostung, in der sie Kruste, Geschmack und Konsistenz der Baguettes bewertete und das von Monsieur Lefèvre zum Sieger erhob. Aus Kreisen der Jury hieß es, dass der Punktevorsprung des Bäckers von rive gauche gewaltig war.

Die Jury besteht aus Mitarbeitern der Bäckerinnung, des Rathauses, aus Journalisten und sechs Bürgern, die sich auf das Amt beworben hatten und ausgelost wurden. Pikant ist, dass auch der Vorjahressieger selbst in der Jury saß. Lefèvre hätte sich also auch selbst wählen können – wenn eine einzelne Bewertung auch nicht den Ausschlag hätte geben können.

Insgesamt wurden fast 250 Baguettes eingereicht. Zweitplatzierter wurde der bekannte boulanger Dany Moeller aus der Rue des Abbesses im achtzehnten Arrondissement. Er hat den Titel bereits 2010 und 2015 gewonnen und galt damit als absoluter Ausnahmebäcker.

Die Prämierung lohnt sich: Der Sieger erhält ein Preisgeld von 4000 Euro, die Verkaufszahlen verdoppeln sich, außerdem beliefert er für ein Jahr den Präsidenten der Republik – und das bringt zusätzliches Renommee.

Lefèvres zweifacher Sieg in Folge übertrifft alles bisher Dagewesene und wird ihn unsterblich machen.

»Da hat aber jemand den Mund etwas zu voll genommen«, sagte Paganelli. »Wenn unser Wurstblatt jemandem Unsterblichkeit nachsagt, kann man fast davon ausgehen, dass er ein paar Stunden später tot ist.«

»Merkwürdig …«, sagte Lacroix zu Paganelli. »Dasselbe hat Docteur Obert heute Morgen auch schon gesagt.«

»Der Zusammenhang ist einfach zu offensichtlich, oder?«, fragte Rio und runzelte die Stirn.

»Es wäre wirklich ein sehr großer Zufall.« Lacroix’ Blick verriet seinen Mitarbeitern, dass er allein sein wollte. Sie verließen den Raum, der Commissaire lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss die Augen.

Lacroix und der Bäcker von Saint-Germain

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