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Magnus ist weg

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Die Tür fällt ins Schloss. Ich bin allein. Ein Rumpeln noch auf der Treppe, dann schlägt die Haustür unten krachend zu. Ich stehe barfuß in meinem pinken Schlafanzug mit den weißen Herzchen im Flur und halte die Luft an. Ist das wirklich gerade passiert? Mit dem rechten Ohr lausche ich von innen an der Tür, ob er doch noch einmal hochkommt, mich in den Arm nimmt, mir einen Kuss auf den Mund gibt und verspricht, dass wir es schaffen. Dass wir aufhören zu streiten, alles gut wird, nichts und niemand uns auseinanderbringt und ich für immer seine Sonne, sein Mond und seine Sterne bin. Ich wage nicht zu atmen, als könnte ich mit Luftanhalten die Zeit stillstehen lassen und die letzten Tage und Wochen rückgängig machen, all das, was ich aus Wut gesagt und aus Frust getan habe. Es nützt nichts: Das Haus bleibt still. Keine Schritte auf der Treppe, kein Schlüsselklimpern, nicht der kleinste Mux. Nachdem Magnus so oft damit gedroht hat, hat er es an diesem Donnerstagmorgen Ende März wahrgemacht. Ich habe ihn angefleht, es nicht zu tun, und gebettelt, dass er bleibt. Alles hinzuschmeißen sei keine Lösung und überhaupt könne er mich nicht einfach so hängen lassen. Er habe genauso Schuld an dem Schlamassel und solle seine Entscheidung noch einmal im Herzen bewegen. Uns würde schon etwas einfallen, wie wir wieder zueinanderfinden. Nach all dem, was wir erlebt haben. Zwölf Jahre sind wir ein Paar. Es wäre doch gelacht, wenn wir es nicht schaffen. Aber weder meine Worte noch meine Tränen konnten etwas ausrichten. Das Letzte, was er zu mir gesagt hat, war: »Schlaf doch noch ein bisschen«. Wie soll ich das je wieder können – schlafen, ohne ihn?

Ich presse die angehaltene Luft aus meiner Brust, meine Hand umklammert die Türklinke so fest, dass die Fingergelenke durch die Haut scheinen. Für einen Moment wird mir schwindelig. Ich lasse los, schlage die Hände vors Gesicht und sinke mit dem Rücken gegen die Tür auf den Boden. »Scheiße, Scheiße, Scheiße …«, flüstere ich, wie wenn etwas Wertvolles kaputtgegangen ist und man begreift, dass es sich nicht mehr reparieren lässt. Nur geht es hier nicht um eine zerdepperte Porzellantasse oder ein Auto, das man gegen eine Laterne gesetzt hat, weil man sich in der Kurve verschätzt hat. Es geht um meine große Liebe und um mein Leben, wie es bisher war – aus, Schluss, vorbei. Magnus sitzt im Taxi in Richtung Flughafen. Er fliegt auf »unsere« Insel. Ausgerechnet dahin, wo wir die glücklichsten Tage aller Zeiten verbracht haben. Im Kofferraum liegen sein Surfbrett und ein paar T-Shirts, Shorts und Flipflops, die er eilig in die schwarze Tasche gestopft hatte, die wir immer zusammen auf Reisen benutzt haben. Ein Gepäckstück für uns beide. So ein Paar waren wir. Wir haben alles geteilt. Jedes Käsebrot und jede Erinnerung. Und das soll jetzt vorbei sein? Ich kann nicht glauben, dass das wahr sein soll.

Magnus hat sich verändert. Früher hat er mich getröstet, wenn ich geweint habe. Jetzt konnte er gar nicht schnell genug wegkommen. Er habe die Schnauze voll, es läge nicht nur, aber vor allem an mir, hat er gesagt. Er käme mit seinem Leben nicht klar und müsse jetzt einfach mal für ein paar Wochen weg, den Kopf freibekommen und was anderes sehen, andere Leute, anderes Wetter, anderes Essen. Ich habe ihm beim Packen geholfen, weil er seine Lieblingshose und die Tabletten gegen Sonnenallergie nicht finden konnte. Anstatt ihm einen Vogel zu zeigen und seine Sachen über den Balkon auf die Straße zu schmeißen, habe ich ihm alles aus dem Schrank in unserem Schlafzimmer rausgesucht und aufs Bett gelegt. Wenn er zurückkommt, soll ich ausgezogen sein. In eine eigene Wohnung. Egal wohin, Hauptsache ich bin weg.

Ich weiß gar nicht, wie ich das machen soll. Dabei haben wir es vor ein paar Nächten gemeinsam beschlossen. Mehr oder weniger. Magnus hat es zuerst ausgesprochen. Ich habe seinen Vorschlag angenommen, aber dabei geheult und mit dem Kopf geschüttelt. So ähnlich muss sich jemand fühlen, der unter Folter einen Mord gesteht: Man weiß, dass es nicht richtig ist, aber man will, dass das Gebrüll um einen herum endlich aufhört. Ich hätte auch zugestimmt, wenn er vorgeschlagen hätte, dass wir auf den Mars ziehen. Ich kann nämlich nicht mehr. Da ist keine Kraft mehr in meinem Körper, um zu streiten, zu weinen, nicht mehr zu schlafen. Ich will dieses Leben, so wie es jetzt ist, auch nicht mehr leben. In diesem Punkt sind Magnus und ich immer einer Meinung gewesen: Es muss sich etwas ändern. Wie oft haben wir uns das vorgenommen? Zehn, zwanzig, hundert Mal? Aber es wollte nicht funktionieren. Wir haben gestritten, uns versöhnt und uns zwei Tage später um denselben Mist wieder in die Haare bekommen: wer welche Rechnung bezahlt hat, wer wen genervt angeguckt hat, wer gestresst ist. Wir sind uns immer mehr aus dem Weg gegangen und haben immer weniger miteinander gesprochen. Abends lagen wir voneinander abgewandt in unserem Bett, zwischen uns ein Abgrund. Die tiefste Stelle des Meeres war nichts im Vergleich zu der kalten Einsamkeit, die sich zwischen uns geschoben hatte. Dabei gilt bei mir eigentlich die Regel, dass man nie wütend aufeinander ins Bett gehen darf. Aber selbst am nächsten Morgen lag Magnus noch mit dem Rücken zu mir und stand mit giftiger Miene auf. Ich saß im Bett und suchte seinen Blick, aber er wollte sich partout nicht mit mir vertragen. Er schaute noch nicht mal auf, als ich morgens heulend im Bett saß, und verließ ohne ein Wort das Haus. Früher hat er immer meine Füße, die morgens unter der Bettdecke hervorguckten, gekitzelt und versucht, mich langsam wach zu bekommen, was schwer ist, weil ich so ein Morgenmuffel und vor der ersten Tasse Kaffee zu nichts zu gebrauchen bin. Dass mein Wunsch nach Veränderung bedeuten würde, Magnus zu verlieren, damit hätte ich nicht gerechnet. Aber habe ich geglaubt, dass es ewig so weitergehen würde? Nein. Jetzt habe ich das Gefühl, die Kontrolle über mein Leben verloren zu haben und vor einer Karambolage aus enttäuschten Hoffnungen und verletzten Gefühlen zu stehen. »Es ist zu viel passiert«, hat Magnus gesagt. Ich stehe mit ungeputzten Zähnen und strubbeligen Haaren im Flur und versuche, einen klaren Gedanken zu fassen. Gleich muss ich zur Arbeit. Verflucht.

Es ist so ruhig in der Wohnung, das war es lange nicht. Keine Tür knallt, keiner droht, ich schreie nicht. Noch hängt der Streit der letzten Wochen wie ein Dunstschleier in der Luft, der sich langsam verflüchtigt, jetzt wo ich weiß, dass mein Freund – ich kann das Wort »Ex-Freund« noch nicht einmal denken – in ein paar Stunden Tausende von Kilometern weit weg sein wird. Mein Bauch kribbelt. Ist das die Aufregung oder die Angst, dass jetzt ein wirklich neuer Abschnitt beginnen soll? Auf der anderen Seite bin ich so wütend darüber, dass Magnus gefahren ist und mich hier mit der Aufgabe zurücklässt, ein neues Zuhause zu finden. Er behauptet, ich hätte ihn dazu getrieben, mich zu verlassen. Ich dagegen finde, er hat alles dafür getan, dass ich dauernd am Rad drehe. Dabei wollte ich etwas, das sich jeder wünscht: eine Familie und einen Ort, wo ich hingehöre. Und ich wollte, dass wir wieder so verliebt wie am Anfang sind. Dass wir Hand in Hand spazieren, romantisch Essen gehen oder dieses Hühnchen von Jamie Oliver nachkochen, bei dem man frische Kräuter unter die Haut schiebt und den Vogel an den Beinen mit Schnur zusammenbindet, bevor man ihn in den Ofen schiebt. Ich wollte nichts Weltbewegendes. Mal wieder ins Kino oder Theater gehen, ein Wochenende in diesem Welldorado auf der Mecklenburgischen Seenplatte verbringen, für das wir uns jedes Jahr Gutscheine schenken, die wir aber nie einlösen, und morgens im Bett frühstücken. Ich wollte von Champagner beschwipst im Park auf einer Decke in der Sonne liegen, auf Grashalmen kauen und Arm in Arm einschlafen. Ich behaupte, dass wir es gemeinsam gegen die Wand gefahren haben. Ausgerechnet wir, Sunny und Magnus, das Traumpaar, das seit Ewigkeiten zusammen ist, sodass Freunde und Familie unsere Namen in einem Atemzug nennen: »SunnyundMagnus«. Ich kann nicht sagen, wo ich aufhöre und wo er anfängt. Jeder Punkt in meinem Leben ist mit diesem Mann verbunden. Ein einziges Netz aus »SunnyundMagnus«. Unsere Freunde, mit denen wir uns zum Fußballgucken oder Kickern treffen. Das Schwimmbad, wo wir unsere Bahnen ziehen. Ich kraule tausend Meter, das ist zwanzigmal die Fünfzigmeterbahn hin und her, Magnus packt in der gleichen Zeit fünfhundert Meter mehr. Der Supermarkt, in dem wir im Gegensatz zu unseren Freunden noch immer einkaufen, weil ich finde, dass es im Bioladen so komisch schwül nach Frischkornbrei riecht. Unsere Lieblingsrestaurants, vor allem die italienischen und vietnamesischen. Die gemeinsamen Reisen der letzten Jahre nach Indonesien, Thailand, Kambodscha, in die USA und nach Indien. In Zukunft werde ich lernen müssen, wieder »ich« statt »wir« zu sagen. Schritt für Schritt, so wie ein Gelähmter wieder laufen lernt.

Ich stemme mich aus der Hocke hoch. Mein rechtes Bein ist eingeschlafen und der Fuß taub. Als ich ins Wohnzimmer humpele, fühlt es sich an, als würde ich mit rechts in ein Nadelkissen treten. Ich reiße die Flügeltür zum Balkon mit Schwung auf. Der Wind bläst mir entgegen und scheucht raschelnd ein paar Blätter auf, die noch vom Herbst übrig sind. Mein Blick fällt auf die Töpfe mit den Blumenleichen auf der Fensterbank. Meine Mutter schleppt die Blumentöpfe von ihrer Terrasse jeden Herbst zum Überwintern runter in den Keller. Ich lasse die Lavendelbüsche und den Rosmarin eingehen, schmeiße das Gestrüpp im Frühjahr weg und kaufe neue Pflanzen. So wollte ich es nächstes Wochenende machen: alles weg, alles neu. Das kann ich mir jetzt wohl sparen. Ich wurde verlassen, an einem schönen Frühlingstag: Der Himmel ist hellblau und mit kleinen Wolken gezuckert. Gegenüber auf dem Dach liegt gefrorener Tau – die Tage werden zwar wärmer, aber die Nächte sind noch immer eisig. Magnus war bestimmt kalt, als er in seiner dünnen Jacke los ist. Hoffentlich wird er nicht krank.

Ich lehne mich über das Balkongeländer und schaue runter auf die Straße, als bestünde eine Chance, dass Magnus unten im Taxi mit laufendem Motor sitzt und darauf wartet, dass ich runterkomme und sage, dass er mein Mond, meine Sonne und meine Sterne ist, und ihn bitte, nicht zu fahren. Aber das Taxi ist weit und breit nicht mehr zu sehen. Die zwei Klappstühle mit verstellbaren Rückenlehnen standen wie die Blumen einen ganzen Winter lang draußen, die Sitzflächen sind voller Taubendreck. Magnus behauptet, dass man von Vogelscheiße blind wird, wenn man sie ins Auge bekommt. Ich setzte mich auf die äußerste Kante des Stuhls, der am wenigsten schmutzig ist, schlinge die Arme um die Beine, hebe das Kinn und lasse die Frühjahrsonne die Tränen auf meinen Wangen trocknen. Die Wärme im Gesicht tut gut. Wieder versuche ich, einen Gedanken zu fassen, aber es ist, als wäre ich ein Tuareg, der in einem Sandsturm sein Kamel sucht. Das kann nicht wahr sein. Ich will das nicht: ausziehen, mich von Magnus trennen. Wie soll das gehen? Erst vor einem Jahr sind wir in diese Wohnung gezogen. Es sollte die Wohnung werden, der Ort, an dem ich mit Magnus eine Familie gründen wollte. Schon bei der Besichtigung habe ich mich zu Hause gefühlt. Große Räume mit hohen Decken, ein ruhiges Schlafzimmer zum Hinterhof – mein absoluter Traum mit Fischgrät-Parkett, Stuckrosetten an der Decke und Flügeltüren mit messingbeschlagenen Klinken. Eine davon schließt allerdings nicht mehr so richtig, weil ich sie im Streit einmal zu doll vor Magnus’ Nase zugeknallt habe. Hinterher brüllte er mich an, dass ich aufhören solle, immer alles kaputt zu machen. Ich könne nicht immer so ausrasten. Dabei wollte ich das gar nicht: alles kaputt machen. Ich wollte rot-weiß-karierte Vorhänge in der Küche aufhängen und einen Tisch mit einer Sitzbank in die Ecke stellen. Ich sah uns schon mit unseren Kindern beim Abendbrot sitzen. Fischstäbchen und Kakao würde ich ihnen machen, danach eine Geschichte vorlesen, Zähneputzen und ab ins Bett. Unsere Freunde und Familien haben sich mit uns über die schöne Wohnung gefreut und jeden Tag auf die Nachricht gewartet, dass »SunnyundMagnus« nach so vielen Jahren Betonbeziehung endlich Nachwuchs bekommen. Vor allem meine Mutter! Sie rief an und jubelte mit vollem Mund, weil sie gerade beim Frühstück saß: »Ich habe geträumt, dass du schwanger bist!« Solche Anrufe bekam ich ständig und bei all den Hochzeiten, die in den letzten Jahren in unserem Kreis gefeiert wurden, fing, bis auf eine Ausnahme, immer ich den Brautstrauß. Nicht, weil ich es unbedingt gewollt und meine Hände danach ausgestreckt hätte, sondern weil die Braut ihn mir absichtlich vor die Füße warf und die anderen Frauen freiwillig zur Seite traten. Irgendwann nervte es mich nicht nur, sondern tat richtig weh. Denn die Wahrheit ist: Magnus und ich kommen schon lange nicht mehr miteinander klar. Bevor er heute gegangen ist, habe ich sogar ein paarmal im Hotel oder bei meiner Freundin Sophie übernachtet. Doch schon nach zehn Minuten in einem fremden Bett hatte ich Heimweh. Aber ich wollte, dass er begreift, wie ernst es mir war. Dass wir uns mehr Zeit für uns nehmen, weniger am Computer und vor dem Fernseher sitzen und vor allem nicht dauernd auf dem Handy rumwischen. Ehrlich gesagt fällt mir das selbst schwer: Dauernd habe ich es in der Hand und starre mit Geiernacken auf das Display. Dieses Ding ist schon wie ein Körperteil von mir. Magnus sagte, ich hätte hehre Ansprüche, denen ich nicht gerecht werde, und würde Regeln aufstellen, mich selbst aber nie daran halten. Ich blase die Luft durch die Lippen. »Pwwwwh!« Ich muss mich dringend anziehen und schnell zur Arbeit fahren. Wenn heute nicht schon Donnerstag wäre und ein freies Wochenende in Sicht, würde ich durchdrehen.

Ein Zimmer, zwei Zimmer – wie viel Platz brauche ich, Helena »Sunny« Schulz, seit vierzehn Minuten Single? Was für ein Unwort, es klingt wie ein Makel. Abgesehen davon fühle ich mich nicht als »Single«. In welchem Bezirk soll die neue Bude sein, hier in der Nähe oder ganz weit weg? Will ich überhaupt noch leben? All das sind Entscheidungen, die ich jetzt nicht treffen kann und auch gar nicht treffen will. »Du musst dich zusammenreißen!«, sage ich laut zu mir selbst. In einer halben Stunde gilt es, mit rosigen Wangen und einer knitterfreien weißen Bluse unserem wichtigsten Kunden die Strategie für die nächsten Jahre zu präsentieren. Es geht darum, wie Oh So Lovely, ein Onlineshop für Mode mit Sitz in Süddeutschland, vor dem Auge der Öffentlichkeit wachsen und gedeihen soll. Seit Monaten regele ich dafür alle Details, leite einzelne Schritte ein, schließe andere ab und meistere Herausforderungen. Aber welchen Plan habe ich für mich und mein Leben gemacht? Ich wünschte, ich könnte jetzt zu meinem Schreibtisch gehen, eine Schublade aufmachen und ein Blatt Papier hervorzaubern mit einer übersichtlichen Skizze für meine Zukunft. Oder zumindest mit einem Plan B für den Fall, dass Plan A nicht funktioniert. Aber einen solchen Plan gibt es nicht. Mein Schreibtisch hat noch nicht mal eine Schublade, wo ich ihn sicher hätte verwahren können.

Im Büro ahnt keiner, was bei mir zu Hause los ist, und selbst wenn jemand wüsste, dass ich gerade verlassen wurde, würde niemand Rücksicht nehmen. Liebeskummer? Pah! Wenn die Espressomaschine nicht funktioniert, wäre das die größere Katastrophe. In der Kaffeeküche hängt ein Poster «Don’t cry, work«. Das hat meine Chefin mit Reißzwecken und einer Wasserflasche an die Wand geschlagen. Ihr ist es egal, ob ich mit Magendarminfekt oder ohne Beine ins Büro komme, Hauptsache ich sitze an meinem Platz und nehme den Telefonhörer ab, wenn es klingelt. Ich arbeite in einer PR-Agentur und keiner in meiner Familie kapiert so richtig, was ich da genau mache, warum der Job so viel Zeit in Anspruch nimmt und ich trotzdem nie Geld auf dem Konto, dafür aber oft schlechte Laune habe und immer so angespannt bin. Ich fange dann an, mit den Armen zu rudern und zu erklären: »Leute, ich sitze zwischen acht und zehn Stunden täglich am Computer, telefoniere und schreibe gleichzeitig E-Mails und immer wenn ich hoffe, dass ich am Wochenende etwas gegen das Piepen in meinem Ohr machen kann, kommandiert mich meine Chefin in einem Abendkleid und Hochsteckfrisur vor ein weißes Zelt und lässt mich Häkchen hinter die Namen einer Gästeliste setzen. Jep – das ist mein Job, dafür habe ich studiert.« Natürlich macht mich diese Arbeit nicht glücklich, aber viele Alternativen bietet diese Stadt nicht. Die Hauptsache für mich war immer, dass ich in Magnus’ Nähe bin. Dabei hätte ich woanders vielleicht eine bessere Stelle gefunden, die mich nicht mit Haut und Haaren auffrisst, sondern wo meine Talente gefördert werden. Aber was soll’s, alle meine Freunde haben bescheuerte Jobs. Egal ob Webdesigner, Betriebswirt oder Stylist, ich möchte mit keinem von ihnen tauschen. Alle schlittern von einer Sinnkrise in die nächste. Es geht nicht die Karriereleiter hoch, sondern von einem Hamsterrad ins nächste, in dem immer schon übermorgen eine neue Deadline oder Kündigung droht. Keiner verdient viel Geld, ich auch nicht. Es reicht gerade so für die Miete, zwei Wodka Tonic und ein Paar Turnschuhe im Monat. Trotzdem gebe ich immer mehr Geld für Klamotten aus, als ich auf dem Konto habe. Bei Magnus ist es anders. Seitdem er von einer bekannten Unternehmensberatung abgeworben wurde, kann er arbeiten wie und wo er will. Im Anzug in seinem Office – einem riesigen Glaskasten mit Blick über die Dächer der Stadt – oder in Unterhose zu Hause auf dem Balkon. Im Gegensatz zu mir ist er ein totaler Erfolgsmensch, der einen Deal nach dem anderen in trockene Tücher wickelt und gar nicht weiß, wohin mit all der Kohle, die ihm die Firma auf sein Konto überweist. Zwischendurch hatte ich schon mal den Verdacht, dass ich mit einem hyperintelligenten Mathegenie zusammenlebe und er versucht, es vor mir zu verbergen, weil er heimlich für die Regierung arbeitet und die nächste Mondlandung plant. Jede Woche rufen neue Headhunter an, die ihn abwerben wollen und ihm noch mehr Gehalt versprechen. Sein Chef weiß das. Er behandelt Magnus deshalb wie einen Sohn und bietet ihm nicht nur viel Geld, sondern vor allem Freiheiten, nach dem Motto: »Kommen Sie, wann Sie wollen. Hauptsache, das Ergebnis stimmt!« Und Magnus? Der weiß das alles gar nicht zu schätzen. Selbst das Reisen macht ihm keinen Spaß. Er sagt, er sieht nie Mailand oder London, sondern immer nur den Flughafen und die Ledersitze von den Taxis. Ich halte immer dagegen, er soll froh sein, dass er nicht so eine Chefin hat wie ich. Die Frau heißt Beatrice Möser und ist der Grund für meine dauernden Kopfschmerzen, Magenbeschwerden und das Ohrensausen. Sie grüßt mich noch nicht mal, wenn ich ihr auf dem Flur begegne und einen »Guten Morgen« wünsche. Stattdessen zitiert sie mich und die Kollegen täglich zum Rapport, jeder muss seitenweise jeden Arbeitsschritt, Telefongespräche oder Meetings dokumentieren. Trotzdem ruft sie hinter meinem Rücken bei den Kunden an, um sich zu erkundigen, ob alles gut gelaufen ist. Nie ist sie zufrieden und wenn ich sie etwas frage, verdreht sie die Augen oder unterbricht mich und sagt »Werden Sie eins mit der Tapete!«. Wegen dieser Frau habe ich Schlafstörungen und knirsche mit den Zähnen. Ich denke oft, das kann nicht sein. Ich bin jung und irgendwie muss ich das doch wegstecken können, aber es geht nicht. Einer ihrer Lieblingssätze lautet: »Karriere macht man nach 18 Uhr«. Dann lacht sie und entblößt dabei ihr Gebiss mit den langen Zahnhälsen. Wenn ich ausnahmsweise mal zeitig nach Hause fahre und nicht wie alle anderen bis neun oder halb zehn an meinem Platz sitze, bombardiert mich Frau Möser den restlichen Abend mit E-Mails. Im Betreff stehen nur Großbuchstaben und jeder Satz endet mit drei Ausrufe- oder Fragezeichen: »SOFORT!!! ZU ERLEDIGEN!!!« oder »WO SIND DIE PRESSECLIPPINGS???« »Shouty capitals« nennt man das auf Englisch. Also bleibe ich wie die Kollegen so lange sitzen, bis Frau Möser Feierabend macht. Dabei passiert meistens den ganzen Abend nichts Weltbewegendes. Es geht nur darum, Präsenz zu zeigen und alle fünf Minuten das Postfach auf E-Mails von Frau Möser oder ihrer Sekretärin Nancy zu checken, während draußen das wahre Leben vorüberzieht. Da gehen die Leute nach der Arbeit einen Wein trinken, in die Sauna, zum Sport, ins Kino oder schälen mit Freunden den ersten oder letzten Spargel des Jahres. Ich frage mich jeden Morgen beim Zähneputzen vor dem Badezimmerspiegel, warum ich mir diesen Stress antue. Ich gehe nicht gerne zur Arbeit, ich hasse es sogar. Aber ich gehe weiter hin, weil ich nicht nur Angst vor Frau Möser, sondern eine noch größere, sehr diffuse Angst vor Verarmung habe. Diese Angst sitzt mir wirklich im Nacken. Ich reiße immer Witze, dass ich als alte Frau Pfandflaschen im Park sammeln werde, um über die Runden zu kommen, aber insgeheim fürchte ich, dass ich schon in naher Zukunft die Leute auf den Picknickdecken anquatschen muss, ob sie das Bier ausgetrunken haben. Mich hat noch nie ein Headhunter angerufen. Ich bin Mitte dreißig und habe das Gefühl, noch nichts Großartiges in meinem Leben geleistet zu haben, außer dass ich ein paar Runden bei dem Trinkspiel Mäxchen gewonnen habe, weil ich von klein auf eine Meisterin im Bluffen und Lügen bin. Aber ich habe bislang weder liebreizende oder hochtalentierte Kinder bekommen, noch eine Entdeckung gemacht, die die Geschichte der Menschheit prägt. Ich bin nicht berühmt, habe keine ausreichende Altersvorsorge, geschweige denn Eigentum oder Aussicht auf eine Erbschaft. Ich habe eigentlich gar nichts.

Mit Anfang zwanzig war ich bereit, alles zu geben. Ich glaubte, dass mir alle Türen offenstünden. Um Erfahrungen zu sammeln, habe ich fleißig ein Praktikum nach dem nächsten absolviert, danach das Zeugnis in einer Klarsichtfolie in meinen Zeugnisordner abgeheftet und den Ordner ins Regal gestellt. Aber trotz meines guten Uni-Abschlusses und eines Packens Zeugnisse habe ich bisher nirgendwo eine Festanstellung bekommen und die Anzahl der Türen, vor denen ich vorstellig werden kann, lässt sich inzwischen an einer Hand abzählen. In der Agentur von Beatrice Möser arbeite ich seit ein paar Monaten als freie Projektassistentin mit der Aussicht auf einen Jahresvertrag. Der winkt mir aber nur dann, wenn ich »richtig Gas gebe«. Jeden Montag fühle ich mich wie ein Stück Mäusespeck, das aufgespießt an einem Stöckchen über einen flammenden Grill gehalten wird. Wenn ich verbrenne, macht das nichts, denn neben dem Feuer steht eine Schüssel mit frischem Mäusespeck. Alice Schwarzer würde sich an den Kopf fassen, aber ich hätte mir tatsächlich vorstellen können, eine Mutter und Hausfrau zu sein, die Wäsche wäscht, kocht und ihre Kinder zur Schule, zum Hockeytraining und zum Blockflötenunterricht fährt. Nur hat Magnus das irgendwie nie angeboten. Und darum konnte meine Angst vor dem Jobverlust so groß werden, dass ich mittlerweile alles danach richte: wann ich anfange zu arbeiten, wann ich aufhöre, was ich denke, ob ich schlafen kann oder nicht. Dabei will ich doch ganz anders leben. Ich möchte morgens gerne aufstehen und einen Beruf haben, bei dem ich glänzen kann und der mich nicht so stresst, dass ich am Abend den Menschen anschreie, den ich am meisten liebe. Das Verrückte ist: Ich weiß, dass das nicht gut ist. Schon lange. Jetzt ist mein Freund weg und ich sitze hier allein und jammere immer noch.

Die Sonne auf meinem Gesicht wird immer wärmer, es tut gut und trotzdem verlässt mich der Mut. Wie soll ich innerhalb von ein paar Wochen eine neue Bude finden, umziehen und es täglich ins Büro schaffen? Zumindest habe ich vom Umzug letztes Jahr noch alle Unterlagen, die man für eine neue Wohnung braucht: Kontoauszüge, Lebenslauf und eine Schufa-Auskunft, die bestätigt, dass man keinen Flat-Screen-Fernseher im Versandhandel bestellt und nicht bezahlt hat. Ich schwanke zwischen Zorn und Verzweiflung. Warum haut Magnus einfach ab, statt mit mir zusammen zu versuchen, einen Weg aus dieser Krise zu finden? Es nützt nichts, er ist weg. Ich muss mir etwas einfallen lassen und darf nicht wie sonst darauf hoffen, dass sich die Dinge von allein regeln. Ich lasse mich nochmal kurz auf die Couch fallen – ein riesiges Ding, das wir uns zum Einzug geleistet haben –, klappe meinen Laptop auf, tippe mit neuen Tränen in den Augen ein paar Daten ein und abonniere einen Newsletter für Wohnungsangebote. Dann rufe ich, wie ferngesteuert, mein Facebook-Profil auf. Ich mache das inzwischen ganz automatisch, wenn ich am Rechner sitze, wahrscheinlich circa zehn bis dreißig Mal am Tag. Vielleicht finde ich ja über Freunde eine kleine Wohnung oder ein Zimmer, das ich übergangsweise mieten kann? Wie formuliere ich am schlauesten meine Suche? Ich will ja nicht gleich öffentlich verkünden, dass wir im Moment eine Pause machen. Es geht keinen was an und außerdem denke ich nicht, dass diese Trennung endgültig ist. Als mein Profil aufpoppt, sehe ich, dass Magnus mir zuvorgekommen ist. Er muss noch im Taxi seinen Beziehungsstatus geändert haben. Wir sind nicht mehr zusammen, nicht mal mehr »Freunde«. Davor waren unsere Namen mit einem roten Herz verbunden. Hat der nichts Besseres zu tun, als es gleich aller Welt mitzuteilen, dass wir getrennt sind? Diesen Magnus kenne ich überhaupt nicht! Mein Nachrichtenfach zeigt neue Nachrichten an. »Nein! Echt jetzt?« oder »Mensch Sunny, tut mir leid« muss ich da lesen. »Suche eine Ein- bis Zweizimmerwohnung in den üblichen Bezirken. Gerne zur Untermiete. Bitte melden«, schreibe ich wütend in meine Statuszeile, und ändere sie sofort wieder um ein Detail: »Für eine Freundin: Suche eine Ein- bis Zweizimmerwohnung in den üblichen Bezirken. Gerne zur Untermiete. Bitte melden.« Meine Hände zittern. Es dauert keine Minute, da steht schon der erste Kommentar von meiner Freundin Sophie unter meinem Gesuch: »??????????« Ich klappe sofort den Rechner zu. Was soll ich auf zehn Fragezeichen antworten? Zehn Ausrufezeichen? Facebook nervt. Ich verplempere so viel Zeit auf dieser dusseligen Seite, um mir Fotos von irgendwelchen Leuten anzuschauen, von denen mich auf der Straße keiner grüßt. Und Sophie könnte mich auch anrufen. Im selben Moment klingelt mein Telefon. Natürlich ist es ist Sophie, aber ich lasse es klingeln, denn ich muss jetzt wirklich ins Büro. Meine Chefin und der Kunde warten und bei der Präsentation darf mir keiner anmerken, dass mir gerade mein Leben um die Ohren fliegt. Wenn ich jetzt wieder anfange zu heulen, kriege ich mich nicht mehr ein. Magnus hat sich über meine Pflichterfüllung immer aufgeregt. Der Job sei Mist, ich solle mich da nicht so reinsteigern und mir endlich etwas Neues suchen. Er hat mir immer Mut gemacht, dass ich doch viel mehr auf der Pfanne hätte, als Gästelisten abzuhaken. Ich solle zumindest einmal auf den Tisch hauen und sagen: »So nicht!« Aber ich bin unfähig, mich gegen Frau Möser zu wehren, die mich wegen meiner rötlichen Haare »Möhre« nennt. Aber was soll’s: Ich brauche wie jeder Mensch einen Job und denke immer an das, was Mami mir und meiner Schwester Caro jahrelang eingebläut hat: »Ihr müsst finanziell unabhängig sein. Macht euch niemals von einem Mann abhängig. Geht arbeiten.« Das Ergebnis ist, dass ich heute dauernd an meinen Kontostand denke und nicht schlafen kann, wenn ich im Minus bin. Noch dazu bin ich selbst daran schuld, dass ich dauernd pleite bin, weil ich so viele Klamotten kaufe. Aber wenn der DHL-Mann nicht klingelt und ich keine Pakete mit in Seidenpapier gewickelten Sommerkleidern oder weißen Blusen bekomme, habe ich das Gefühl, dass gar nichts in meinem Leben passiert.

Ich gehe ins Badezimmer, um mir das verweinte Gesicht zu waschen und mich schnell zu schminken. Eigentlich müsste ich duschen, aber es bleibt keine Zeit mehr. Ich könnte Nancy anrufen und sagen, dass ich nicht kommen kann. Ende der Durchsage. Das habe ich mich bislang nur ein einziges Mal getraut, damals als Magnus nicht nach Hause kam. Ansonsten bin ich jeden Morgen ins Büro gedackelt, auch wenn ich die Nacht davor wieder mit ihm gestritten hatte und anschließend schluchzend auf dem Badewannenrand die Inhaltsstoffe jedes Shampoos studierte, bis mir der Hintern wehtat. Statt zur Arbeit zu gehen, könnte ich mit einem Taxi zum Flughafen fahren, mit den Fäusten gegen die Glasscheibe vor dem Abflugbereich trommeln und hoffen, Magnus mit diesem Einsatz davon zu überzeugen, nicht in den Flieger zu steigen. Auch wenn er gerade diese Aktion bei Facebook gebracht hat. Na und? Dann ändert er seinen Status halt wieder und alle Freunde klicken auf »Gefällt mir«. Was macht Sunny Schulz? Deckt ihre Augenringe ab, pudert die Nase und flicht sich einen Zopf, damit niemandem auffällt, dass die Haare nicht gewaschen sind. Sie reichen mir bis zur Schulter und ich habe einen Wirbel und deshalb einen Schwungscheitel, sodass ich dauernd die Haare von Seite zu Seite werfe. Wenn sie so fettig sind wie heute, geht das allerdings nicht. Als wenn das jemanden interessieren würde! Eher fällt auf, dass ich nicht so stark geschminkt bin wie sonst. Auf Wimperntusche und mein Markenzeichen, den Lidstrich, verzichte ich heute. Dabei ist er für mich das, was der dunkelblaue Anzug für Magnus ist. Er trägt Dreiteiler, entweder dunkelblau oder hellgrau, aber ohne Krawatte. Das hat er sich aus einer seiner Lieblingsserien abgeguckt, in der es um einen Typ geht, der angeblich ein Medium und Hypnotiseur ist und die Polizeibehörden als Berater unterstützt. Im Urlaub trägt Magnus dagegen nur Shorts, läuft barfuß und hat statt Wachs eine Salzkruste in den Haaren. Es ist so, als gäbe es zwei Versionen von diesem Mann: den echten Magnus und den Business-Magnus. Von mir gibt es neben der normalen Sunny auch eine Büro-Version, eben die mit Lidstrich. Man kann sagen, dass es eine Art Kriegsbemalung ist, denn erst so wird aus Sunny Helena Schulz. Üblicherweise ziehe ich einen schmalen Strich, ganz nah am Wimpernrand entlang. Je wichtiger der Termin, desto dicker gerät der Balken, vor allem, wenn Frau Möser dabei ist. Oberhalb des äußeren Augenwinkels ziehe ich den Strich einen Wink nach oben, das sieht hübscher aus, wenn man die Wimpern anschließend tuscht. Aber heute sind meine Augenlider zu geschwollen, um darauf zu malen. Ein Tupfer Rouge auf den Wangen hilft schon mal ein bisschen gegen die Blässe. Ich grinse, wie man es machen soll, damit die Farbe auf dem höchsten Punkt der Wangen landet, und fahre mit dem Pinsel über mein Gesicht. Wie ich da so gekünstelt lachend vor dem Spiegel stehe, verliere ich die Fassung und fange doch wieder an zu heulen. Wie soll ich diesen Tag, die nächsten Wochen und den Rest meines Lebens überstehen? Ich fühle mich, als hätte mich ein Laster überfahren. Erst im Vorwärts- und dann noch mal ganz langsam im Rückwärtsgang.

Am liebsten würde ich meine Mutter anrufen und fragen, ob sie mich krankschreibt. Aber Mami ist jetzt in Rente und andauernd auf Reisen. Gerade ist sie mit ihren »Mädels« in Südafrika. Von ihrem Freund Hajo hat sie sich getrennt. Der Grund ist simpel: Er hat kein Geld und sie will auf ihre alten Tage die Welt sehen. Mami leidet unter »Mal d’Afrique« und ist also ein Afrika-Junkie so wie andere Leute in dem Alter jeden Tag Golf spielen oder sich vornehmen, trotz nachlassender Seh- und Geschmacksnerven die Sterneküche zu erobern. Mittlerweile verbringt sie den ganzen Winter in irgendwelchen Busch-Camps und wenn sie zurück in Deutschland ist, erzählt sie immer wieder ihre Reisegeschichten. Von kleinen Vögeln, die geniale Nester konstruieren, in die keine Schlangen kriechen können, oder wie gefährlich Nilpferde sein können, wenn man sich zwischen sie und das Wasser stellt. »Mami, das hast du schon drei Mal erzählt«, sage ich immer und sie sagt dann: »Na und, dann erzähl ich es dir noch mal!« Wenn sie nicht unterwegs ist, ist meine Mutter nun wieder jeden Abend allein und ich frage mich, ob das gerecht ist, nachdem das mit meinem Vater passiert ist. Aber meine Mutter sieht ihren Single-Status relaxed. »Schatz, nach deinem Vater gab es sowieso nie wieder einen richtigen Mann für mich. Wer sollte da auch kommen, nach diesem Kerl? Es ist okay, ich habe mein Leben gelebt, ich habe euch. Das reicht mir.« Nach dieser Ansage bin ich in Tränen ausgebrochen. Mami macht einfach ihr Ding, was ich gut finde. Wenn sie mich in Berlin besucht, habe ich meistens keine Zeit, weil ich auch am Wochenende arbeiten muss oder von der Woche gestresst bin. Hinterher entschuldige ich mich hundert Mal, aber wenn meine Mutter da ist, überall ihre Kosmetik-Täschchen, Senftütchen und Schokoladentäfelchen aus dem Flugzeug hinlegt oder fragt, wie weit das Restaurant von unserer Wohnung weg ist und ob ich das bestellte Taxi wirklich bestellt habe, platzt mir die Hutschnur und ich fauche sie an: »Mami, echt jetzt. Es nervt!« Also kommt sie nicht mehr so gerne zu Besuch. Im Nachhinein tut mir das immer fürchterlich leid und ich fahre nachts aus dem Schlaf hoch und denke, ich muss sie sofort anrufen und alles zurücknehmen, was ich jemals Böses zu ihr gesagt habe. Ich habe so eine Angst, dass Mami stirbt. Sollte dieser Fall jemals eintreten – obwohl ich meiner Mutter verboten habe zu sterben! – weiß Caro über alles Bescheid: wo das Testament liegt, die Bankunterlagen, wie und wo Mami beerdigt werden will. Ich stelle mir vor, wie wir zu ihrer Beerdigung müssen, und verbiete mir im selben Augenblick solche Gedanken wieder, weil ich Sorge habe, dass sie dadurch wahr werden können. Wenn Mami stirbt, ist sie vielleicht ganz allein und wenn ich die Nachricht erfahre, bin ich auch ganz allein. Umso glücklicher bin ich, dass meine Mutter mit über siebzig noch so fit ist und mir immer treu SMS schreibt. »Namibia ist ein Traum! In der Wüste hört man nur den Wind. Liebe dich. Mami«, »Komm nach Hause, ich mach dir ein Brot mit Tomaten und Liebstöckel aus dem Garten!« oder, wenn sie mit ihren Freunden Wissensspiele spielt, ganz kryptisch: »Google bitte mal Aleppo-Beule! Und welcher Hauptbestandteil ist in Absinth?« Für meine Geschwister und mich ist sie eine Art lebende Telefonvermittlung, die alle darüber auf dem Laufenden hält, was die anderen machen. Meine kleine Schwester, die jetzt immerhin auch schon Anfang dreißig ist, arbeitet genauso viel wie ich und ich sehe sie und meine Brüder nicht so oft, wie ich gerne würde. Immer ist irgendein Event, ein Dinner oder eine Messe, weshalb ich nicht zu den Geburtstagen, Taufen oder Einschulungen meiner Nichten und Neffen kommen kann. Als ich sie das erste Mal sah, waren sie Babys, das nächste Mal kamen sie schon selbst an die Schokolade auf dem Tisch ran und wieder beim nächsten Mal hatte der Älteste Pickel im Gesicht. Früher war es irgendwie anders, eine Familie zu sein. Ich bekomme nie was mit. Aber Caro geht es genauso, sie arbeitet mit viel Leidenschaft als Krankenschwester in der Notaufnahme eines Krankenhauses. Sie kommt nach unserem Vater, der auch Arzt war. Anderen Leuten zu helfen, war immer ihr Wunsch. Ich beneide sie darum, dass sie einen Job hat, der sinnvoll ist. Wenn sie abends nach Hause geht, weiß sie, dass sie ein Leben gerettet hat – oder zumindest einen Fuß eingegipst.

»Mami wo bist? Ruf bitte mal an. Mir geht’s nicht so gut«, schreibe ich in die SMS. Das klingt so harmlos, aber soll ich schreiben »Magnus hat Schluss gemacht, ich suche eine neue Wohnung«? und meine Mutter unnötig in Alarmbereitschaft versetzen? Sie sitzt irgendwo unter einem Jacaranda-Baum und kann mir eh nicht helfen. Aber ich fühle mich gerade echt allein. Also tippe ich die Nachricht doch noch mal um: »Hallo Mami, bitte ruf mich mal zurück …« An den vielen Pünktchen wird sie merken, dass etwas nicht stimmt, und sich bestimmt bald bei mir melden. Ich gehe ins Schlafzimmer, fische den BH von der Türklinke, wo ich ihn abends immer hinhänge, ziehe mein Pyjamatop aus und schließe den BH in meinem Rücken. Dann hole ich eine frisch gereinigte Bluse aus dem Schrank, reiße den Reinigungszettel ab, schließe Knopf für Knopf. Okay, das wär schon mal geschafft. Meine Röhrenjeans hängt auf dem Kleiderständer hinter der Tür. Ich setze mich aufs Bett, um erst den linken und dann den rechten Fuß hineinzustecken, die Hose bis zu den Knien hochzufummeln und dann mit einem kräftigen Ruck über meine Oberschenkel zu reißen. Magnus hat sich immer lustig gemacht über meine Anziehtechnik: Ich solle mich lieber auf eine Leiter stellen und von da in die Hose springen, das ginge vielleicht leichter. Der Mann hat noch nie von der Erfindung der Strechtfaser gehört. Ich vermisse ihn und seine Sprüche jetzt schon. Das Bett ist noch nicht gemacht, die Decke liegt zerwühlt auf der Matratze, daneben das T-Shirt, in dem Magnus geschlafen hat. Wohl eine Art Abschiedsgruß. Ich lasse mich in das T-Shirt fallen und schließe die Augen. Es riecht überall nach ihm und ich bereue, dass ich heute Nacht nicht neben ihm geschlafen habe, aber ich konnte die Vorstellung nicht aushalten, dass dies wirklich unsere letzte Nacht sein soll. Darum bin ich mit meiner Decke auf die Couch gezogen – natürlich in der Hoffnung, dass er hinterherkommt und sich zu mir legt. Ich lege das Stück Stoff auf mein Gesicht, inhaliere den Duft und schluchze. Ganz leise nehme ich das Signal für eine neue SMS wahr. Ich springe vom Bett auf und krame in meiner Tasche, die auf der schmalen Konsole liegt, auf der wir unsere Schlüssel und Kleingeld abwerfen. Das Telefon rutscht immer nach ganz unten zwischen Portemonnaie, Kalender und Kosmetiktäschchen. Magnus wollte mir ausrechnen, wie viel meiner Lebenszeit ich damit vergeude, mein Handy oder den Hausschlüssel zu suchen und in Panik zu verfallen, weil ich glaube, beides verloren zu haben oder Opfer eines Taschendiebes geworden zu sein. Ich schmeiße die Tasche auf den Boden, knie mich hin und hole alles raus, was drin ist. Aufgeweichte Kaugummis für einen frischen Atem und weiße Zähne, eine zusammenklappbare Haarbürste, Taschentücher von der Apotheke, bei der ich jeden Tag etwas anderes kaufe, Kopfschmerztabletten, Tropfen für trockene Augen oder Pillen gegen Verstopfung, weil ich nie in Ruhe auf Klo gehen kann, ein USB-Stick im Form einer Erdbeere aus Gummi. Das Telefon liegt auf dem Grund der Tasche, das Display leuchtet noch. Meine Nase läuft, mein Blick ist verschwommen, aber ich sehe, dass die Nachricht von Magnus stammt. »Steige jetzt in den Flieger. Melde mich, wenn ich angekommen bin. Hoffe, du bist okay und hast mein T-Shirt gefunden. Halt die Ohren steif.« Ich denke an seine langen Wimpern, seine Hände und seine Füße. Die krummen Knie, die ich besonders geliebt habe. Die ich immer noch liebe. Man hört ja nicht einfach auf, jemanden zu lieben, nur weil der nicht mehr mit einem zusammen sein will.

Meine Sonne. Meine Mond. Meine Sterne.

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