Читать книгу Meine Sonne. Meine Mond. Meine Sterne. - Alexa von Heyden - Страница 5

Das Geheimnis

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Wie jeden Morgen hole ich mir im Café nebenan einen Cappuccino zum Mitnehmen mit extra heißer Milch und fahre dann einhändig mit dem Fahrrad zur Arbeit. Die verheulten Augen verstecke ich hinter einer Sonnenbrille, obwohl der Himmel inzwischen bewölkt ist. Wie Magnus würde ich am liebsten einfach abhauen oder sogar ganz vom Erdboden und von dieser Welt verschwinden, aber ich kann ja nicht. Ich muss arbeiten und fahre wie immer die Straße entlang, die den Berg runter ins Stadtzentrum führt. Über Nacht hat sie sich in einen Kirschblütenmeer verwandelt und sieht aus, als würden große rosa Zuckerwatteballen sie säumen. Der Wind fegt durch die Kronen und nimmt ein paar Blütenblätter mit, die wie Konfetti über meinen Kopf hinwegsegeln. Der Frühling macht mich fertig. Alles um mich herum fängt neu an, die Natur blüht und gedeiht und ich? Ich will nicht neu anfangen. Ich stelle mir die Aufgabe, während der restlichen Fahrt einen klaren Kopf zu bekommen, aber ich bin trotzdem voll neben der Spur. Als alle Autos anfahren, rollt mein Fahrrad über eine rote Ampel. Ich versuche zu bremsen, da liegt mein Kaffeebecher schon auf der Straße und ich beinahe auch. Die Milch fließt über den Asphalt. Besser ich schiebe, denke ich, auch wenn ich längst zu spät zur Arbeit und damit auch zu meiner eigenen Präsentation komme. Werde ich allein in dieser Stadt klarkommen?, überlege ich und schaue mich um. Der Verkehr ist ohrenbetäubend, nur ein paar Bäume stehen hier und da und jeder davon ist von Hundekacke umzingelt. Nie sieht man ältere Menschen auf der Straße, dafür sitzt vor jedem Supermarkt ein Bettler oder jemand, der die Straßenzeitung verkauft und einem ein schlechtes Gewissen macht, wenn man mit einer prall gefüllten Tüte rauskommt. Es hat lange gedauert, bis ich mich hier einigermaßen heimisch gefühlt habe und ich hätte mich nicht mit dieser Stadt angefreundet, wenn ich nicht angefangen hätte, mit dem Rad zu fahren und all die versteckten Parks und Uferstellen zu finden. Es ist ein schwarzes Damenrad mit drei Gängen und einem verbeulten Drahtkorb am Lenker, in dem Rotkohl-Fitzel hängen, weil irgendein Assi das Papier von einem Döner in meinen Korb geworfen hat, als ich es vor dem Büro stehen gelassen hatte. An diesem Abend bin ich ausnahmsweise mit dem Taxi nach Hause gefahren, weil ich zu kaputt war, um auch nur einmal in die Pedale zu treten. Früher bin ich mit der U-Bahn zur Arbeit gefahren, aber ich kann die Enge nicht mehr ertragen. Ich stelle mir immer vor, dass der Waggon, in dem ich sitze, entgleist, die Bahn auf die Seite kippt und ich mit all diesen Menschen, ihren Franzbrötchen und Kaffeebechern auf einem Haufen liege und dazwischen ersticke. Allein wegen dieser Vorstellung bleibt mir beim Betreten der Bahn die Luft weg. Außerdem gibt es immer Leute, die einen nerven oder die sogar zu richtigen Hassattacken anstacheln. Zum Beispiel dieser Typ, der jeden Morgen zur selben Zeit fuhr wie ich: Entweder hatte er eine Isotasse dabei, aus der er schlürfend Tee trank, oder er packte ein großes Glas Joghurt aus seiner Tasche, aß ganz genüsslich und kratzte zum Schluss mit einem langen Löffel den letzten Rest aus dem Glas. Dabei schien es ihn überhaupt nicht zu stören, dass die anderen Fahrgäste, also ich, von seinem Löffel-im-Glas-Geklimper Mordgelüste bekamen. Genauso geht es mir mit den Straßenmusikern, wenn sie morgens um acht mit dem Schlachtruf »Musica, Musica, Musica« die Bahn entern und Hit The Road Jack fiedeln. Und immer wieder, an fast jeder Station, steigt ein Bettler ein. Mir ist das morgens zu viel, ich ertrage weder die Gute-Laune-Musik noch die Armut. Also fahre ich Rad. Manchmal sind das die einzigen zwanzig Minuten am Tag, in denen ich das Tageslicht zu Gesicht bekomme. Und das sagt Sunny Schulz, das Mädchen, das in einem Dorf am Waldrand aufgewachsen ist. Bis wir Teenager waren, haben Caro und ich stundenlang im Wald gespielt. Es war, als wollten wir uns vor dem Erwachsenwerden hinter Brombeerbüschen verstecken. Wir haben Buden gebaut, an einer seichten Stelle im Bach Froschleich-Farmen angelegt, uns mit Tonerde die Gesichter bemalt und Indianer gespielt. In unserer Fantasie gehörten wir zum Stamm der Lakota, weil Caro damals Fan von dem Film Der mit dem Wolf tanzt mit Kevin Costner war. Sie hat den Film elf Mal im Kino gesehen, schon beim zweiten Mal kniete sie während der Vorstellung unten auf dem Boden und schlug in einem Buch die Begriffe in Lakota nach, sodass sie bald selbst ein paar Brocken sprechen konnte. Etwa »Was ist los?« oder »Hol mein Pferd!«. Das Problem war nur, dass sie kein Pferd hatte. Also baute Caro sich eins zu Haus. Dazu legte sie eine dünne Schaumstoffmatratze um den Schreibtisch in ihrem Kinderzimmer, zurrte sie mit drei ineinandergeschnallten Gürteln fest, drapierte Mamis alten Fuchspelzmantel – ein Erbstück von ihrer Großmutter – und eine Trense darüber. Fertig war das Pferd. Einen Kopf hatte es nicht. Wenn wir nach Hause kamen, mussten wir uns im Gäste-WC die Füße waschen, dann gab es Fischstäbchen und Kakao. Den Rest des Abends galoppierte Caro auf ihrem »Pferd« gegen die Wand. Wenn Wochenende oder Ferien waren, starteten wir immer schon am Morgen einen Ausflug in den Wald, damit wir genug Zeit für unsere Entdeckungstouren und Spiele hatten. Dieser Wald ist nach wie vor der schönste Ort, den ich auf der Welt kenne. Ein verwunschener Forst mit hohen Tannen und großen Lichtungen, auf denen man, wenn man ganz still ist, nicht nur die Spechte hämmern, sondern auch die Bienen summen hört. Es ist ein Wald mit steilen Hängen und plätschernden Bächen, deren Wasser süß und erfrischend schmeckt. Wir sind bergauf, bergab, durch den Matsch und über Stock und Stein gerannt und ich werde mich immer an den Tag erinnern, an dem uns plötzlich ein Hirsch gegenüberstand. Wir waren schon auf dem Weg nach Hause, die Taschen voll mit Bucheckern, auf den Nasen angeklebte Ahornsamen, als dieses Vieh mit einem riesigen Geweih auf dem Kopf durch schulterhohe Brennnesseln aus dem Unterholz auf den Weg trat, nur zwanzig Meter von uns entfernt stehen blieb und uns mit seinen großen dunklen Augen anschaute. Wie ein Fabelwesen, das uns durch seine Zauberkraft innehalten ließ. Caro und ich hielten uns an den Händen und wagten kaum zu atmen. So hatten wir das letzte Mal zusammen im Flur in Lingen gestanden, an dem Tag, als unser Vater starb. In diesem Moment waren wir wieder vier und fünf Jahre alt. Meine Schwester und ich sprachen es niemals aus, aber wir waren uns beide sicher: dieser Hirsch, das war er. Ich glaube, Caro geht heute immer noch so viel joggen, weil sie hofft, ihn wiederzutreffen. Und wenn es auch niemals geschieht, so weiß sie doch die Stelle, an der wir ihn gesehen haben. Eines Tages liefen wir tiefer als je zuvor in den Wald hinein und fanden zwar nicht den Hirsch, dafür aber einen Weiher mit einer Insel in der Mitte, nicht mehr als ein Fleckchen Erde mit drei Büschen. Am Ufer stand ein alter Baum – eine Buche oder eine Eiche –, dessen Krone wie ein Dach über das Wasser ragte. Irgendjemand hatte es geschafft, ein Seil um den dicksten Ast des Baums zu werfen, und das Ende auf unserer Kinnhöhe um den Stamm gewickelt. Wir suchten ein Stück Holz und knoteten aus dem Seil und dem Holz eine Schaukel, die zwischen dem Ufer und der Insel hin- und herpendelte. Den Rest des Sommers spielten wir nichts anderes als »Schwingen«. Die Schaukel wurde zu einer Attraktion, die auch die älteren Kinder, die schon Zigaretten rauchten und Moped fuhren, aus dem Dorf zu unserem Weiher lockte. Wir setzten uns paarweise auf den Ast, das Seil in der Mitte, und schwangen kreischend hin und her. Der größte Spaß war es, wenn das Holz brach und ein Paar ins Wasser krachte. Natürlich nicht man selbst, sondern die anderen. Denn so ein Tauchgang im Weiher war unheimlich, weil das Wasser vom Laub dunkel und der Grund moderig war, sodass man darin versackte und mit schlammverschmierten Füßen aus dem Wasser stieg, zwischen den Zehen die Gerippe verrotteter Blätter. Unsere Füße wurden in diesem Sommer gar nicht mehr sauber, unsere Haare rochen nach Tümpel und Kinderschweiß. Auf der Insel im Weiher habe ich meine erste Kippe gepafft, heimlich hinter einem Busch. »Nur wer schwingt, darf rauchen«, bestimmten die Großen. Wir ließen die Zigaretten im Kreis rumgehen, denn wir waren Indianer. Ich mochte den Geschmack nicht, aber es gefiel mir, den warmen Rauch einzuatmen und wieder auszupusten. Diese Sommer, dieser Weiher und die tausendundeins Möglichkeiten, einen Tag zu gestalten – ich wünschte, ich könnte jetzt dorthin zurückkehren.

Die Tür des Aufzugs öffnet sich und reißt mich aus meinen Tagträumen. Ich habe es tatsächlich geschafft, unverletzt ins Büro zukommen, wenn auch ohne Kaffee, und trete in die Kabine, die von oben bis unten verspiegelt ist. Die Beleuchtung ist gnadenlos. Wenn ich allein bin, quetsche ich mir hier heimlich die Mitesser auf der Nase oder dem Kinn aus, weil man sie in dem Licht überhaupt erst sehen kann. An der Wand steht ein Schild, wann der Aufzug gebaut wurde und wie viele Leute er hoch- und runterfahren kann. Er ist so alt wie ich. Oder ich bin so alt wie der Aufzug: 35, beziehungsweise bald 36. Ich drücke auf den runden Knopf mit der Zahl 5. In dieser Etage befindet sich die Agentur, in der ich arbeite. Oben wartet ein langer Flur, ganz am Ende ist der Eingang – eine große lilafarbene Tür mit dem Namen der Agentur in Schnörkelschrift: Purple Consulting by Beatrice M. Ich zweifle jeden Tag daran, dass es korrektes Englisch ist, für mich klingt es eher nach einer Firma für Oma-Pullover mit Tigerdruck und Glitzersteinchen, die über den Teleshopping-Kanal vertrieben werden, aber Lila ist die Lieblingsfarbe von Frau Möser. Sie trägt jeden Tag etwas in der Farbe, sei es ein Jackett oder einen Armreif. Selbst Blumen, Tesafilm und die Schokolinsen in der versilberten Schale am Empfang sind lila. Mir fällt jeden Abend ein Stein vom Herzen, wenn ich aus diesem Gebäude wieder rauskomme, vor der Tür mein Rad abschließe und nach Hause fahren kann.

An diesem Morgen bin ich, wie so oft, eine der Ersten im Büro. Offiziell bin ich gar nicht zu spät. Ich komme immer eine halbe Stunde früher, damit ich als Morgenmuffel genügend Zeit habe, um in die Gänge zu kommen oder so wie heute in Ruhe eine Präsentation vorzubereiten. Wenn ich in Hektik gerate, laufe ich gegen die Türen oder mir fällt alles runter. Meine Kollegin Moni, mit der ich mir einen Tisch und die meisten Aufgaben teile, ist noch nicht da. Sie wird sofort bemerken, dass ich durchhänge. Obwohl wir fünfmal die Woche acht Stunden oder länger miteinander verbringen, weiß sie nicht viel von mir. Nur dass mein Freund Magnus heißt und wir zusammen wohnen. Persönliche Probleme darf ich mir im Büro nicht anmerken lassen, weil ich einem festen Vertrag hinterherjage, und da bin ich auf Monis Hilfe angewiesen. Dabei war zwischen uns anfangs keine Sympathie, im Gegenteil: Ich war »die Neue« und Moni »die Senior-Beraterin«. Sie behandelte mich von oben herab, grüßte mich morgens nur knapp und guckte genervt, wenn ich mich erkundigte, wie die Durchwahl zum Empfang sei und wo man gut Mittagsessen könne. »Wir essen an unserem Platz, Prinzesschen«, raunte sie. War das schon Mobbing? Fast hätte ich fast angefangen zu heulen. Dann wurden wir auch noch nebeneinander gesetzt, beziehungsweise ich wurde in Monis Büro verpflanzt, das sie zu ihrem Entsetzen nun mit mir teilen musste. Dass sie lesbisch ist, habe ich mir wegen ihrer Aufmachung von Anfang an gedacht: kurze Haare mit blondierten Spitzen, sportliches Jackett mit Applikationen auf der Brust, Boot Cut Jeans und ein dickes braunes Lederarmband, mehrfach um das Handgelenk geschnürt. Sie schminkt sich auch so komisch, irgendwie so gothicmäßig mit schwarzem Kajal um die Augen. Alle halbe Stunde lässt Moni alles stehen und liegen und geht auf den Balkon, um eine von ihren kleinen selbst gedrehten Zigaretten zu rauchen, die knistern, wenn man den Tabak und das Papier anzündet. Auf ihrem Schreibtisch stehen eine Kakteensammlung und Bilderrahmen mit ihrer »Familie«: zwei Perserkatzen namens Paula und Herr Schulze. Moni wurde in Bayern geboren und hat eine ganz andere Art von Humor als ich Rheinländerin. Sie macht Witze, die ich nicht verstehe, und umgekehrt. Dem Anschein nach passt sie gar nicht in diese Agentur, aber Moni ist weit und breit die einzige Frau, die Ahnung von Budget- und Strategieplanung hat. Ich habe mehr Respekt vor ihr als vor meiner Chefin, die Moni nur »die Möser’sche« nennt. Frau Möser ist nicht nur gemein, sondern auch gefährlich, weil sie eine Frau ist, die andere Frauen hasst. Alle und vor allem die, die jünger sind und nicht so ein Gulaschgesicht wie sie haben. Ich wusste gleich, dass ich es irgendwie schaffen musste, mit Moni auszukommen, angesichts dieser Person.

Einmal begegneten wir uns in der Küche, als ich Milch aus dem Kühlschrank holen wollte. Ich stand vor der Kaffeemaschine, wartete, dass der Espresso durch die Maschine tröpfelte und fragte mich, ob es im Laufe meiner Karriere auch nur einen einzigen Tag geben würde, an dem ich gerne zur Arbeit gehen würde, als mein Blick auf eine große Glasflasche mit einem Inhalt, der an Milch mit Blumenkohl erinnerte, fiel. Ich kippte sie hin und her und rümpfte die Nase.

»Bäh, was ist das denn?«, murmelte ich.

»Das ist nicht Bäh, sondern meine Kefirkultur«, fauchte Moni, die plötzlich hinter mir stand.

Ich fuhr herum und stellte die Glasflasche sofort wieder an ihren Platz.

»Kefir! Das ist so was wie Buttermilch, oder? Sieht ja interessant aus …«

»So sieht das aus, wenn man Kefir nicht in einem Plastikbecher im Supermarkt kauft, sondern selbst macht.«

»Wie macht man Kefir selbst?«

»Mit Milch und einem Pilz.«

Ich schaute angewidert, wollte mich aber unbedingt weiter mit Moni unterhalten. Es war das erste Mal, dass wir über etwas Persönliches sprachen. Das erste Mal, nachdem ich schon mehrere Wochen in der Agentur gearbeitet und jeden Tag neben ihr gesessen hatte.

»Kefir soll ja sehr gesund sein«, lobte ich. Und siehe da: Moni, die alte Schreckschraube, guckte das erste Mal freundlich in meine Richtung.

»Es ist super gesund! Es macht fit, schöne Haut und hilft bei der Verdauung. Nicht, dass du das nötig hättest, aber ich gebe dir gerne ein paar Knollen für zu Hause mit. Dann kannst du es auch mal probieren«, rief sie plötzlich euphorisch und fischte aus einer der Schubladen ein kleines Kunststoffsieb. »Warte, ich gieße das hier schnell ab und dann pack ich dir was zum Mitnehmen ein. Du wirst sehen, wie gut das für dich ist!« Sie kippte den Inhalt der Flasche über das Sieb in eine Glasschüssel, darin blieb ein weißes Gezadder hängen, das Moni so vorsichtig abspülte, als könnte es durch die Wucht des Wassers verletzt werden. Ich war mir sicher, dass ich niemals zu Hause einen Pilz züchten würde – Magnus würde die Augen verdrehen oder Kotz- und Würgegeräusche von sich geben –, aber ich wollte Moni nicht daran hindern, endlich nett zu mir zu sein. Ich brauchte in dieser Agentur endlich eine Verbündete. Und warum dann nicht gleich die Senior-Beraterin? Bingo!

»Och, du bist ein bisschen gestresst, nicht wahr?«

»Ach na ja, es geht. Es ist ja immer ein bisschen komisch, wenn man neu ist und niemanden kennt, aber ich komm schon klar …«

»Ich meine nicht dich, Prinzesschen, sondern den Kefir!«, raunte Moni und zeigte auf das glitschige Zeug, das sie in eine Plastiktüte gleiten ließ. Voller Stolz überreichte sie mir den Beutel. »Schön an eine warme Stelle stellen, das mag er gerne.«

Diese blöde Kuh!

»Nenn mich bitte nicht ›Prinzesschen‹! Auch wenn du meine Vorgesetzte bist, hast du nicht das Recht, so mit mir zu reden«, sagte ich leise, aber hörbar.

Moni riss die Augen auf, aber dann sah ich ein Lächeln über ihr Gesicht huschen.

»Du darfst das doch nicht ernst nehmen! Ich meine es doch nicht böse, ois isi …« Ich fühlte mich nicht ernst genommen, dabei hatte es so viel Mut gekostet, mich gegen das »Prinzesschen« zu wehren. »Hier, dein Kefir! Der Aufwand ist mir zu groß. Ich geh lieber in den Supermarkt und kaufe einen im Plastikbecher.« Ich hielt ihr die Tüte hin und wollte gerade mit meiner Kaffeetasse zu meinem Schreibtisch abdampfen, als Moni nachsetzte:

»Aha, so eine bist du also: Du willst viel, aber investierst wenig.« Woher will sie wissen, was ich will? Ich drehte mich mit der Kefirpilztüte in den Hand auf dem Absatz um und lief kopflos in Richtung Toiletten. In der Kabine setzte ich mich auf den Klodeckel, schlug die Beine übereinander und ärgerte mich, dass mir in dieser Situation kein schlagfertiger Spruch eingefallen war. Die Sache gab mir zu denken. Wie meinte Moni das, von wegen »Viel wollen, aber wenig investieren?« Der Kefir glibberte vor meinen Füßen auf dem Boden. Ich nahm ihn in meiner Handtasche mit nach Hause, gab ihn am Abend in ein Glas mit H-Milch und deckte den neuen Mitbewohner mit einem Küchentuch zu. Magnus kam an diesem Abend, wie so oft, spät nach Hause. Ich lag schon im Bett und versuchte einzuschlafen, als ich hörte, wie er in der Küche mit einem Messer hantierte, um vor dem Schlafengehen noch ein Brot zu verdrücken. Als könnte ich durch Wände sehen, merke ich, wie er das Glas entdeckte, hörte, wie er daran schnüffelte und dann ins Schlafzimmer gelaufen kam. Ich lag im Dunkeln auf der Seite, mit dem Rücken zur Tür und musste mir das Lachen verkneifen.

»Sunny, du bist wach – oder? Was ist das komische Zeug, das da in der Küche steht und so rumstinkt?«

»Kefir.«

»Das ist ja ekelhaft«, wobei er das erste »e« in die Länge zog. »Züchtest du bald auch Sprossen?«

»Es ist gesund, macht schöne Haut und hilft bei der Verdauung, was Leuten wie mir, die lange und viel im Büro hocken, nicht schaden kann«, sagte ich. »Außerdem hoffe ich, dass der Kefir mir hilft, eine neue Freundin zu finden.«

»Diese Moni? Ich dachte, die sei ätzend?«, fragte Magnus. Ich richtetet mich auf und knipste das Licht auf meinem Nachtisch an.

»Sie hat gesagt, ich würde viel wollen, aber wenig investieren. Findest du, sie hat Recht?«

»In welchem Zusammenhang hat sie das denn gesagt?«, fragte Magnus im Türrahmen lehnend, während er mit großen Bissen das Brot runterschlang.

»Als ich gesagt habe, dass es mir zu kompliziert ist, Kefir selbst zu machen, und dass ich lieber in den Supermarkt gehe und mir einen Becher kaufe. Dabei mag ich gar keinen Kefir, aber ich glaube, sie meinte das auch allgemeiner, nicht nur auf den Kefir bezogen. Sie meinte das ganze Leben.«

Magnus überlegte und antwortete mampfend:

»Ich glaube, ich weiß, was sie meint.«

Am nächsten Morgen marschierte ich mit einem neuen Selbstbewusstsein ins Büro, denn ich hoffte doch, trotz oder gerade wegen des kleinen Wortgefechts, eine neue Freundin gefunden zu haben. Ich wünschte Moni mit kräftiger Stimme einen »Guten Morgen« und machte mich daran, mit gespielter Konzentration meine E-Mails zu lesen. Einfach so aus dem Blauen heraus, als wir beide an unseren Computern saßen, sagte sie:

»Hast du den Kefir gemacht?«

»Jawoll.«

»Wie ich es dir gesagt habe?«

»Wie du es gesagt hast«, wobei das gelogen war, denn ich hatte ja H-Milch und keine Bio-Milch verwendet.

»Und?«

»Lecker!« Das war nicht gelogen, das Zeug war trinkbar, auch wenn es gekühlt besser schmeckt als fensterbrettwarm, aber warmer Joghurt schmeckt ja auch nicht.

»Deine Haut sieht auch schon besser aus, nicht mehr so unruhig«, lobte Moni.

»Fängst du jetzt an, dem Prinzesschen Komplimente zu machen?«, schnalzte ich und schlug innerlich mit mir selbst ein, total stolz auf diesen kessen Spruch. »Mein Freund fand den Kefir allerdings ekelhaft.«

»Um es klar zu stellen: Ich stehe nicht auf dich.«

Es war als würde eine Plattennadel quietschend aus der Rille springen. Ich fühlte mich ertappt, denn ich hatte ehrlich schon mal darüber nachgedacht, ob Moni auf mich abfahren könnte. Ich hatte Magnus sogar davon erzählt und er hatte sich fast totgelacht, weil er meinte, dass ich doch dann gute Chancen hätte, mich in der Agentur hochzuschlafen.

»Und warum nicht?« Ich weiß nicht woher, aber auf einmal war meine alte Schlagfertigkeit wieder da.

»Du bist nicht mein Typ.«

»Und wer ist dein Typ?«, fragte ich, hielt ihrem strengen Blick stand und zog dabei die linke Augenbraue hoch. Stille. Dann musste Moni schallend lachen und ich auch. Sie hat mir die Frage nie beantwortet, aber seit diesem Tag sind wir ein Team. Ein ganz großartiges sogar. Wir haben noch nie außerhalb des Büros und der Mittagspause etwas zusammen unternommen, aber sie hält mir bei den Präsentationen den Rücken frei, indem sie mir Torten-Diagramme bastelt, bei denen die Chefin tatsächlich dann doch manchmal zufrieden nickt. Ich dagegen texte Moni hübsche Formulierungen, wenn ihre Strategiepläne allzu fad wirken. Es gibt Kunden, die sich ausdrücklich uns als Zweiergespann wünschen. So auch Oh So Lovely. Dass ich allerdings seit einiger Zeit nicht mehr hundertprozentig bei der Sache bin, weil mich der Dauerzoff mit Magnus belastet, hat Moni natürlich mitbekommen. Sie fragt mich jeden Morgen, ob alles okay sei, obwohl ich versuche, mir den Kummer nicht anmerken zu lassen. Heute wird es mir nicht gelingen. Moni kommt also rein, reißt den Gurt ihrer Messenger-Tasche über den Kopf und pfeffert das Ding auf ihren Tisch. Ich sitze mit Sonnenbrille neben ihr, bewege mich nicht und schaue nach draußen.

»Alles klar, Frau Schulz?« Seitdem sie mich nicht mehr Prinzesschen nennen darf, sagt Sie »Frau Schulz« oder einfach nur »Schulz« zu mir.

»Ois isi, Monilein. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«

»Du sagst ois isi? Verarsch mich nicht. Los, rück raus mit der Sprache!«

Ich habe einen Kloß im Hals, der immer größer wird und mich kein Wort herausbringen lässt.

»Ist er besoffen nach Hause gekommen? Habt ihr über Geld gestritten? Wer welche Rechnung bezahlt hat? Den lauten Fernseher? Das butterverschmierte Messer in der Küche? Oder hat er sich vor anderen Leuten im Ton vergriffen? Los, spuck’s aus! In ein paar Minuten müssen wir die Präsi rocken!«

Tränen schießen mir in die Augen, der Wasserstand wird so hoch, dass mein Blick verschwimmt. Ich presse die Lippen aufeinander. Moni kommt auf meine Seite des Tisches, lehnt sich mit dem Po an die Kante und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Woher weißt du denn all sowas?«

»Darüber streiten alle Paare, egal ob Frauen oder Männer.«

»Jetzt rück mir nicht so auf die Pelle«, krächze ich, immer noch dabei, die Tränen runterzuschlucken und greife nach dem lilafarbenem Tacker, um etwas in der Hand zu haben, das von mir ablenkt.

»Was ist mit dir und Magnus?«, fragt Moni, diesmal etwas einfühlsamer, weil sie ahnt, dass bei uns vielleicht mehr als nur der Haussegen schiefhängt. Die Träne kippt aus meinem Auge und läuft unter der Sonnenbrille die Wange hinunter, bis zum Kinn, wo sie hängen bleibt und ich sie mit der Handkante wegwische. Gut, dass es noch so früh ist und noch nicht viele Leute im Büro sind, außer Nancy, die frisch aus den Flitterwochen und braun gebrannt am Empfang sitzt und zum Glück nichts von meinem Kummer mitbekommt, sonst wüsste gleich jeder, dass ich heute Morgen vor der Präsentation geheult habe.

Moni überlegt.

»Ist er weg?«, fragt sie schließlich und legt mir die Hand auf die Schulter.

Ein großer Schluchzer meinerseits.

»Heute Morgen.«

»Wohin?«

»Surfen.«

»Warum?«

»Weil er das immer macht, wenn ihm die Decke auf den Kopf fällt.«

»Nein, warum er weg ist.«

»Ich weiß es nicht.«

»Wie, du weißt es nicht? Aber du weinst doch!«

»Er ist abgehauen!«

»Warum?«

»Er will Zeit für sich …«

»Wegen einer anderen?«

»Ich habe keine Ahnung!«

»Hast du einen anderen?«

»Was ich? Spinnst du? Seit zwölf Jahren bin ich treu wie Gold!«

»Aber irgendwas muss doch zwischen euch passiert sein?!«

»Eher nicht, das Übliche. Aber wenn man es alles aufzählen würde, dann wäre es doch eine ganze Menge «, heule ich.

»Und wie soll es weitergehen?«

»Gar nicht. Das ist ja das Schlimme. Magnus ist weg und ich soll ausziehen!

»Wie bitte?« Moni verdreht die Augen, so nach dem Motto »Typisch Mann«.

»Ja, er ist in den Urlaub abgerauscht und wenn er wiederkommt, soll ich eine eigene Wohnung gefunden haben«, bringe ich hervor.

Moni stößt ein abfälliges Lachen aus, das wie das Kreischen der Möwen am Meer klingt.

»Wie sollst du das denn bitteschön schaffen: eine eigene Wohnung? In so kurzer Zeit?! Neben diesem Job?! Das ist ein Witz!«

»Er meint es ernst. Du hättest ihn mal sehen sollen. Eiskalt ist er ins Taxi gestiegen und abgefahren«, jammere ich.

»Und so was lässt du dir gefallen? Ich dachte, ihr seid schon ewig zusammen und Magnus ist deine große Liebe. Und solltet ihr nicht mal so langsam ein Baby machen?«

»Ja, das ist er und ein Baby wünsche ich mir auch, aber …«

»Was, aber …?«

»Dafür müsste man erst mal Sex haben.«

Moni reißt ein Blatt von der Rolle Küchenkrepp ab, die die Putzfrau auf unserem Tisch vergessen haben muss, und reicht es mir. Ich schnäuze mir laut die Nase. Nancy schaut erst empört, dann interessiert vom Empfang aus zu uns rüber. Sie wittert, dass in diesem Büro mal wieder Tränen fließen.

»Sieht aus, als könntest du ein großes Ohr und eine saugfähige Schulter gebrauchen«, sagt Moni und streichelt meinen Arm.

Noch ein großer Schluchzer. Ich lege das Taschentuch auf dem Tisch an, nehme wieder den Tacker in die Hand und drücke ihn zusammen, eine zerquetsche Heftklammer fällt in meinen Schoß.

Moni nimmt mir den Tacker aus der Hand.

»Schaffst du es, die Präsentation durchzuhalten?«

»Denke schon …«

»Danach machen wir heute draußen Mittagspause. Wir holen uns Sushi und du erzählst mir in Ruhe, was los ist.«

»Frau Möser flippt aus, wenn wir nicht an unserem Platz essen!«, antworte ich.

»Wir machen heute wie jeder normale Mensch eine Stunde Mittagspause. Und zwar draußen. Host mi

Die Präsentation rauscht an mir vorbei, ohne dass ich wirklich anwesend wäre. Moni übernimmt das Reden, ich muss immer nur auf den Knopf drücken, damit die nächste Powerpoint-Seite auf der Wand aufleuchtet, und wiederhole Kernaussagen wie »Für Social-Media-Känale gilt: Listen and respond«. Frau Möser funkelt mich mit ihren an diesem Tag lila geschminkten Augen an, als könnte sie riechen, dass etwas nicht stimmt, aber »der Kunde« – immerhin ein extra aus München eingeflogenes fünfköpfiges Team – scheint von unseren Ideen und Vorschlägen überzeugt und verabschiedet sich zufrieden. Beim anschließenden Mittagessen in einem der besten Restaurants der Stadt dürfen Moni und ich nicht teilnehmen – und sind heilfroh. So können wir unbemerkt nach draußen schleichen. Wir stehen schweigend im Fahrstuhl und gehen immer noch schweigend die Straße bis zur Ecke runter. Beim Japaner bestelle ich Lachs-Sashimi und Avocado-Maki. Moni wählt ein vegetarisches Menü, sie ist nämlich nicht nur Kefir-Beauftragte, sondern auch Tierschützerin. Wir lassen uns das Essen einpacken und gehen ein paar Schritte, bis wir am Ufer der Spree ankommen, wo unter einer Pergola, umrankt von dem ersten Blauregen in diesem Jahr, eine freie Bank auf uns wartet. Wir setzen uns, packen das Sushi aus und fangen an, die Reisrollen zu stäbeln. Nach zwei Rollen bin ich satt und lege das Plastikgeschirr samt Holzstäbchen neben mir ab.

»Kann ich deine Sojasoße haben?«, fragt Moni und greift schon nach dem kleinen Plastik-Fisch mit dem roten Deckel auf dem Maul. Als sie sich so über mich rüber lehnt, fragt sie ganz nebenbei:

»Wann habt ihr das letzte Mal miteinander geschlafen?« Als würde sie fragen: »Isst du den Ingwer auch nicht mehr?«

Ich schaue sie entgeistert an. Aber die Frage ist berechtigt, immerhin habe ich die Sexflaute selbst vorhin angedeutet.

»Hmm, ich glaube, letzten Monat? Im Februar. Es war nicht mehr so kalt …«

»Im Februar. Es war nicht mehr so kalt. Hört sich an, als wenn du dich nicht mal daran erinnern könntest.«

Ich werde rot. Moni ist so unverschämt!

»Kann sein, dass es noch länger her ist, ich weiß es nicht genau. Ich führe ja kein Buch darüber oder ritze Kerben in meinen Bettpfosten.«

»Du weißt es also nicht genau? War es denn dieses oder letztes Jahr im Februar? Oder vielleicht im Jahr davor?«

»Ah, ich weiß, was das wird. Jetzt halt mir hier nicht so einen Vortrag, dass Sex mit Männern niemals gut sein kann, weil sie den Körper einer Frau nicht verstehen und immer nur auf ihre eigene Befriedigung aus sind. Echt, das ist so bescheuert und war ganz bestimmt nicht der Grund dafür, dass Magnus heute gefahren ist!«

»Jetzt hab dich nicht so. Das ist doch eine ganz einfache Frage: Wann bist du das letzte Mal über deinen Freund hergefallen oder er über dich?«

»Warum fragst du Sachen, die dich nichts angehen?«, motze ich. Ich schüttele den Kopf und rutsche mit meinem Hintern auf der Bank hin und her. Meine Kollegin ist nicht zufrieden mit meinen Antworten. Aber in ihrem Mund steckt eine dicke Rolle Futomaki mit Ei und Roter Bete, sie kann gerade nicht sprechen. Also fange ich an, mich zu rechtfertigen.

»Du weißt doch, wie es in einer langen Beziehung ist, oder? Wir arbeiten beide viel und dann ist Magnus oft nicht zu Hause oder Frau Möser schreibt abends noch eine E-Mail und fragt nach irgendwelchen Zahlen …«, stammele ich.

Moni grunzt und hat endlich ihren Bissen so klein gekaut, dass sie ihn runterschlucken kann: »Gerade weil ich weiß, wie es in einer langen Beziehung ist, frage ich dich. Frauen brauchen Abenteuer. Also, ich schätze: zwei Jahre nicht mehr.«

»Zwei Jahre nicht mehr was

»Zwei Jahre habt du und Magnus nicht mehr gepoppt.«

Ich starre Moni entgeistert an und überlege angestrengt, wann mich Magnus wirklich das letzte Mal angefasst hat. Am Busen, am Po. Und wann ich ihn das letzte Mal angefasst habe. Nicht nur Küsschen, sondern »Komm, lass uns Sex haben!« Ich kann mich nicht mehr erinnern. Moni merkt, dass ich innerlich zusammenfalle, stellt ihre Sushibox zur Seite und rückt an mich heran. Ich streiche mir mit zitternden Fingern eine Haarsträhne hinters Ohr und versuche, einen Witz zu reißen, der diese Situation auflösen könnte:

»Machst du mich jetzt doch an? Du hast doch gesagt, dass Frauen Abenteuer brauchen …«

Moni sitzt neben mir und schaut auf ihre Hände. Meine Augen füllen sich wieder mit Tränen.

»Ich kann mich nicht erinnern, weil es so lange her ist.«

»Dafür musst du dich nicht schämen«, sagt eine Sandmännchen-Stimme neben mir.

»Doch, ich schäme mich fürchterlich. Ich liebe diesen Mann, aber ich kann nicht mit ihm schlafen. Das ist doch nicht normal, ich weiß nicht, was mit mir los ist?!«

»Moment, Moment – wieso mit dir?«

»Ich bin immer so müde!«

Moni fängt laut an zu lachen. Es steckt mich an. Ich lache und heule gleichzeitig.

Endlich ist es raus.

Der restliche Tag in der Agentur geht einigermaßen schnell vorüber. Frau Möser kehrt nicht mehr ins Büro zurück und Moni schickte mich um Punkt sechs in den Feierabend. Ich gurke mit dem Rad in Richtung Heimat, freue mich darauf, mich endlich in meinem Nest zu verkriechen, aber als ich vor der Tür stehe, kommt mir das ganze Haus fremd vor. Ich ziehe mich aus, lege meine Sachen über den Stuhl neben dem Bett – meinen BH hänge ich wie immer an die Türklinke – und lege mich ins Bett. Ohne Magnus fühlt es sich nicht mehr wie zu Hause an. Es wird die erste Nacht ohne ihn sein. Schlafen kann ich sowieso nicht, ich warte auf ein Lebenszeichen von ihm und frage mich, wie es so weit kommen konnte, dass ich hier liege, während er ans andere Ende der Welt fliegt, um möglichst weit weg von mir zu sein. Ist der fehlende Sex der Grund für unser Dilemma? Hat Magnus doch eine Affäre und ich Schaf habe es nicht gemerkt, weil ich immer viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt war? Als wir uns kennenlernten, haben wir jeden Tag miteinander geschlafen. Egal wo, es konnte nicht verrückt, schnell oder hart genug sein. Einmal trieben wir es im Flur, oben die Mützen auf dem Kopf, Pullover und Winterjacken noch an, die Ärsche nackt, die Hosen bis zu den Schuhen runtergelassen. Dann zogen wir in eine gemeinsame Wohnung, teilten die Telefon- und Stromrechnung, ich putzte das Klo und meckerte über seine Haare, die überall auf dem Boden und im Waschbecken lagen, er schleppte die schweren Einkäufe hoch und meckerte, dass ich die Wasserflaschendeckel nicht richtig zuschraubte und die Spülmaschine nicht ordentlich einräumte. Der Alltag ersetzte die Verliebtheit. Bald hatten wir nur noch ab und zu Sex, waren dafür aber innig vertraut. Irgendwann schliefen wir nur noch an unserem Jahrestag miteinander und irgendwann hörte es ganz auf. Ich fand mich damit ab, weil es dafür andere Sachen gab, die schön waren. Unser Zuhause war unsere Welt, mit eigenen Ritualen und einer eigenen Sprache. Am Morgen streichelte Magnus als Erstes nach dem Aufstehen meine Füße, ich machte ihm abends seine geliebten Schnittchen, Käse- und Wurstbrote, die ich in mundgerechte Happen schnitt und mit Paprikawürfelchen und Lauchzwiebelringen dekorierte. Magnus nannte mich meistens nicht Sunny, sondern Hase. Von diesem Kosenamen gab es vielfache Ableitungen: Hasi, Häschen, Hasimaus. Wir schufen Wortschöpfungen in Babysprache, die nur wir beide verstanden. Wir sangen Fantasielieder und boten einander dazu ein Tänzchen dar, als hieße unser Lieblingsspiel »Wer von uns beiden spinnt am meisten?« Wenn es abends nicht zu spät war, wickelten wir uns in Decken ein – er lag oben auf dem Sofa, ich unten auf dem Boden – und schauten Fernsehserien, nach denen wir süchtig waren. Ins Kino zu gehen lohnte sich für uns gar nicht mehr, weil wir mindestens vierstündige Glotzmarathone machten. Ich habe meine Dreißiger vor dem Fernseher verbracht und fand es okay. Die Hauptsache für mich war immer, dass Magnus und ich zusammen sind. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass mir körperliche Nähe fehlt. Bis heute.

Meine Mutter behauptet, Sex sei so wichtig wie trinken und essen. Männer denken angeblich im Durchschnitt 34-mal pro Tag an Sex. Frauen 19-mal. Ich denke an Schuhe, Kleider und Wein. Aber an Sex? Nö. Ich liege allein im Bett, schiebe meine Hände unter mein Top und streichele meine Brüste. Die Haut ist warm, ich spüre meinen Herzschlag und wie die Brustwarzen hart werden. Ich war nie so ein Mädchen, dass gerne ihre Brüste zeigt, weil ich keine dauerharten Nippel, sondern eher so große weiche Brustwarzen habe. Ich finde trotzdem, dass ich mich gut anfühle, meine Haut ist geschmeidig und alles, was darunter liegt, fest. Warum hat Magnus das nicht mehr angemacht? Okay, ich habe keinen Bock, mir alle zwei Tage die Haare an den Beinen zu rasieren, geschweige denn die Poritze waxen zu lassen. Meine Hände wandern runter zu meinem Bauch, wo die Haut noch weicher ist. Ich schiebe meine rechte Hand in meine Unterhose, wo sie über meinem Schambein liegen bleibt. Was ist bloß los mit mir? Ich bin ein totaler Sexmuffel geworden und habe noch nicht mal Lust, es mir selbst zu machen. Alles was ich will, ist jetzt in diesem Moment, dass mich jemand festhält. Mir fällt das Gebet ein, das mein Vater und ich immer zusammen aufgesagt haben, als er noch lebte. Es hing über meinem Kinderbett auf einer kleiner Tafel an der Wand: »Gott, der du heut mich bewachst, beschütze mich auch diese Nacht. Du sorgst für alle, groß und klein, drum schlaf ich ohne Sorgen ein.« Ich habe immer noch den Zusatz »Bitte lieber Gott, beschütze meine Familie und lass alles gut werden« hinterher geschoben. In meiner kindlichen Vorstellung spannte ich damit eine Art Schutzschild um die ganze Welt, unter dem meiner Familie nichts passieren konnte, aber nur, wenn ich es jeden Abend wieder aktivierte. Ich nehme meine Hände aus meiner Hose, falte sie ganz fest über meiner Brust zusammen und spreche mein Gebet. Den einen Satz wiederhole ich wieder und wieder, denn ich bete für Magnus und mich: »Bitte, lass alles gut werden.«

Am nächsten Morgen sitze ich wie jeden Tag pünktlich vor meinem Rechner im Büro, ein dicker schwarzer Lidstrich hängt über meinen rotgeweinten Augen. Wenn es hochkommt, habe ich zwei Stunden geschlafen. Ich habe die Nacht damit verbracht, abwechselnd auf mein Handy zu schauen und meine E-Mails auf dem Laptop abzurufen, aber es kam keine Nachricht von Magnus. Wo ist er jetzt? Ist er schon angekommen? Geht es ihm gut? Ich checke sein Facebook-Profil. Da er nicht nur unseren Beziehungsstatus geändert, sondern mich auch noch als Freundin entfernt hat, sehe ich nur noch sein Foto und eine alte Statusmeldung aus der Zeit der letzten Fußballweltmeisterschaft. Da waren wir mit unseren Freunden fast jeden Tag in der kleinen Kneipe gegenüber vom Spielplatz mit der silbernen Rutsche zum Fußballgucken und erlebten einen Bilderbuchsommer mit vielen Toren und noch mehr Schnäpsen. Wir schworen uns, von nun an alle vier Jahre dieses Ereignis miteinander zu begehen. Meine Augen werden wieder feucht. Ich muss mir nicht nur eine neue Wohnung, sondern auch ein neues Leben suchen.

In diesem Moment stampft Frau Möser über den Flur und schießt wie ein Hund, der den Briefträger ins Bein beißen will, mit gesenktem Kopf und gefletschten Zähnen auf unseren Schreibtisch zu. Reflexartig wische ich eine Träne aus meinem Gesicht.

»Sie! Die Möhre! Auf ein Wort in mein Büro. Jetzt!«, schnauzt sie aus zehn Metern Entfernung und zielt mit dem Finger auf mich. Moni zieht ihren linken Mundwinkel übertrieben nach links und gibt einen leisen »Irks«-Laut von sich. Was habe ich jetzt schon wieder verbrochen? Ich versuche doch alles, damit man mir meinen Kummer nicht anmerkt. Ich versuche trotz allem, einen guten Job zu machen. Ich erhebe mich von meinem Drehstuhl und gehe auf Zehenspitzen hinter ihr her. Frau Möser führt mich in ihr Büro und schließt die Glastür. Ich fühle mich wie früher, wenn man zum Schuldirektor gerufen wurde, weil man die Tafelkreide oder das Klassenbuch versteckt hatte. Frau Möser lässt sich wehleidig in ihren Stuhl fallen und bietet mir mit einer großzügigen Geste den kleinen Hocker vor ihrem Tisch an. Man muss immer warten, bis sie einem diesen Melkschemel anbietet, sonst fragt sie, ob man wahnsinnig sei. Manchmal muss man auch die ganze Zeit stehen, während sie ihren Frust ablässt. Ich bleibe ganz vorne auf der Kante sitzen und versuche, mich auf meine Körpersprache zu konzentrieren, so wie ich es beim Karriere-Coaching in der Uni gelernt habe: Rücken gerade, groß machen und versuchen, dem Blick des Gegenübers standzuhalten.

»Liebe Frau Schulte …« Frau Möser sagt erst meinen Namen extra falsch und legt dann eine Kunstpause ein, die mir signalisiert: Das wird ein Anschiss, bei dem generelle Fähigkeiten des Mitarbeiters kritisiert und infrage gestellt werden, wobei das Gespräch mit einer Verwarnung endet.

»Ich habe einen Anruf von der Chefetage bei Oh so lovely bekommen. Da war man gar nicht happy mit ihrer Performance gestern …« Wieder eine Kunstpause. Sie wartet darauf, dass ich die Fassung verliere.

Meine Lippen fangen an zu zittern und ich presse sie zusammen, als würde ich Lippenstift verteilen. Ich schaue an Frau Möser vorbei und konzentriere mich auf die jungen Bäume vor dem Fenster, deren grünen Wipfel der Wind durchschüttelt.

»Was ist bloß los mit Ihnen? Bei Ihrem Vorstellungsgespräch damals wirkten sie so aufgeräumt. Da habe ich geglaubt, dass Sie vielleicht wirklich das Zeug dazu hätten, einen festen Vertrag bei mir zu bekommen.« Auf einmal ist ihre Stimme ganz sanft. Aber das macht mir noch mehr Angst, als wenn sie brüllt. Sie legt den Kopf zu Seite und faltet ihre feisten Hände. Die French Manicure kann nicht davon ablenken, dass ihre Finger an geschälte Weißwürste erinnern. Soll ich ihr gestehen, dass ich gerade den schlimmsten Liebeskummer meines Lebens habe? Dass in meinen Augen nichts mehr Sinn hat, am allerwenigsten dieser Job? Dass ich innerhalb der nächsten Tage von zu Hause ausziehen muss und sie mich gefälligst in Ruhe lassen soll?

»Ich habe eine Grippe verschleppt, ein paar Vitamine und ich bin wieder fit«, lüge ich und hüstele ein paarmal in meine Faust.

Frau Möser scheint von meiner Antwort enttäuscht und schaut mich skeptisch an. Dann schnalzt sie mit der Zunge, steht von ihrem Stuhl auf und stellt sich neben mich.

»Na, dann hoffen wir mal, dass die Vitamine schnell ihre Wirkung entfalten. Der Flurfunk hat Sie ja sicher auch schon erreicht: Es wird demnächst ein paar personelle Veränderungen in der Agentur geben, die auch Sie betreffen könnten. Solange nichts entschieden ist, gilt: maximale Flexibilität!«

»Alles klar, maximale Flexibilität. Kein Problem«, wiederhole ich die neue Parole wie in Trance.

Beatrice Möser verschränkt die Arme vor der Brust und funkelt mich an. »Sie können gehen!«

Ich erhebe mich von dem Melkschemel und als ich durch die Tür auf den Flur schlüpfe, ruft sie mir noch hinterher:

»Der Lidstrich steht Ihnen nicht, das lässt Sie noch müder aussehen. Hübscher wären rote Lippen!«

Ihr Beautytipp schallt durch die Agentur. »Das hat die Möser’sche jetzt gerade nicht gesagt, oder?«, knurrt Moni.

Ich erzähle ihr im Flüsterton von meinem Gespräch bei der Chefin. »Warum lässt du dir solche Ansagen gefallen? Gegen mein ›Prinzesschen‹ hast du dich doch auch gewehrt.«

Meine Kehle schnürt sich zu.

»Was soll ich denn machen? Sie ist hier der Boss und sie hasst mich. Klar, du hättest ihr natürlich Paroli geboten, wenn sie dir gesagt hätte, dass du wie ein Müllhaufen aussiehst!«, zische ich.

Moni schüttelt den Kopf. »Nee, Schulz. Bei mir würde sie sich das gar nicht trauen.«

»Weißt du was über ›personelle Veränderungen‹?«

»Ja, ich habe deswegen bald einen Termin bei ihr. Sie meinte, wir sollten reden, weil sie mir gerne einen Vorschlag machen würde. Keine Ahnung, was sie vorhat.«

Meine Sonne. Meine Mond. Meine Sterne.

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