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2. Kapitel - Mittwoch, 6. Dezember

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Das Hochgefühl, in dem er sich befand, schwand, als die Wohnungstür geöffnet wurde. Nur mit Pyjama und Bademantel bekleidet, die Gesichtsfarbe ein ungesundes Grau und die Augen rot umrandet, sah Burkhard aus wie ein Zombie in einem SPA. Und überdies benahm er sich auch so, hob matt die Hand - was wohl so etwas Ähnliches wie ein Gruß darstellen sollte - und schlurfte dann mit hängenden Schultern in sein Wohnzimmer zurück. »Komm rein«, murmelte er, ihm den Rücken zugewandt.

Er schloss die Tür hinter sich und befand, dass er sich seine Euphorie nicht von so einem übernächtigten Computerzombie kaputtmachen lassen sollte.

»Hast du es schon gehört?«, rief er also Burkhards Rücken zu. »Bernd hat ganze Arbeit geleistet. Die Schwachmaten haben sechs Stunden gebraucht, ehe sie die Leute da rausgeholt hatten.«

»Hab´s gehört«, keuchte Burkhard und ließ sich auf seine Couch plumpsen. »Ganze Gruppe Touris einen Nachmittag lang im Turm.«

»Genau«. Er setzte sich Burkhard gegenüber. »Und, was noch besser ist, der Rechner setzte genau auf die Minute aus. Genau nach Plan. Du hast da ganze Arbeit geleistet.«

»Hm«, machte Burkhard. Es sah nicht so aus, als ob er auf seine ganze Arbeit stolz wäre. »Paranoimia und Scoopex haben ja auch mitgeholfen. Und Quartex und ...«

»Ja, ja, schon klar, aber«, er sah Burkhard an, »Ehre, wem Ehre gebührt - die Hauptarbeit hast doch du gemacht. Einfach klasse.«

Burkhard holte tief Luft: »Und die Tankstelle?«

Er sah ihn überrascht an. »Warst du noch nicht da?«

»Nein.«

»Also ich bin da gleich heute morgen hin. Außer Betrieb. Ich tat so, als ob ich tanken wollte, da haben sie mir schon zugerufen, dass es gerade keinen Sprit gibt. Technischer Defekt oder so. Du, das funktioniert tatsächlich. Stick rein - Rechner lahm. Jetzt muss Quartex noch den E-Test durchführen, und wenn der auch klappt, dann können wir sicher sein, dass wir da was ganz Großes erschaffen haben. Den absoluten Überhammer. Den Hammer of the Year, ach was, den Hammer of all years! The final hammer of all years!« Seine Stimme schraubte sich in immer neue Begeisterungshöhen, während Burkhards Mundwinkel damit negativ korrelierten - sie sanken immer weiter nach unten Richtung Antipathie.

»He, was ist denn los?«

»Nix«, bekräftigte Burkhard und stemmte sich hoch. »Ich glaub, mir fehlt einfach nur eine Dusche. Warte mal, ich bin gleich wieder da.«

Er nickte. Eine Dusche konnte Burkhard bestimmt nicht schaden. Er sah so aus, als hätte er sich seit seinem Aufenthalt auf der Ackerebene nicht mehr gewaschen.

Burkhard trottete aus dem Zimmer, wenig später verriet das Geräusch fließenden Wassers, dass er sein Ziel erreicht hatte.

»Wann ist Quartex dran?«, rief er aus der Dusche.

»Sonnabend. Wenn er wieder Dienst hat.«

»Okay. Hoffen wir mal, dass es klar geht.«

»Klar geht das klar.«

Er sah sich um. Es erstaunte ihn immer wieder, wie beinahe spießig Burkhards Wohnzimmer eingerichtet war. Ein Sofa, Fernseher, Stehlampe, Telefonschränkchen, Kommode - es sah aus, als ob er die Möbel seiner Großmutter abgeschwatzt hatte. Nichts deutete darauf hin, dass hier einer der genialsten Computerprogrammierer aller Zeiten wohnte. Aber vielleicht sollte das auch so sein. Wer wusste denn schon, was Burkhard in seinem Schlafzimmer hatte! Er hatte nur einmal einen Blick hineinwerfen können und gesehen, dass der Raum bis oben hin mit Rechnern und Monitoren und was noch alles vollgestopft war - und dann hatte Burkhard ihm auch schon die Tür vor der Nase zugeschlagen und gesagt, wenn er Computer sehen wolle, könne er das auch im Vereinsraum tun. Der im Übrigen Burkhards zweites Wohnzimmer war. Egal, wie oft er in der letzten Zeit dort aufgetaucht war und zu welcher Uhrzeit, Burkhard und mindestens einer von den anderen war immer da gewesen und vor einem Bildschirm gehockt. Mit einer zunehmend begeisterten Miene. Und als sie dann die drei USB-Sticks austeilten, sahen sie aus, als hielten sie Generalvisa für Elysium, Nirvana und Walhalla gleichzeitig in den Händen.

Jetzt allerdings kam ihm Burkhard wie jemand vor, der bereits da gewesen und dort nichts von dem Erhofften gefunden hatte, weshalb er deprimiert zurückgekehrt war. Und eigentlich schien er ganz schön lange zu duschen.

»Alles klar?«, rief er in Richtung Bad.

»Ja. Jaja, moment, ich ziehe mich nur eben an.«

»Okay.«

Wenigstens etwas. Ein Burkhard im Bademantel war nun nicht unbedingt eine Augenweide. Man musste schon wirklich erstens eine Frau und zweitens eine sein, die auf den Fetter-Teddybären-Typ stand, um Burkhard ansatzweise attraktiv finden zu können.

Kurz darauf tauchte Burkhard im Türrahmen auf, dieses Mal in Jeans und einem roten Rollkragenpulli, der aber erstaunlich gut zu seinem rotbraunen Vollbart passte.

»Ich hab nachgedacht«, verkündete er, legte den einen USB-Stick, den sie gestern in der Tankstelle benutzt hatten, auf den flachen Couchtisch und setzte sich. Einige Sekunden vergingen, in dem er nur das silberne Ding da auf der eichenholzfarbenen Tischoberfläche betrachtete.

»Und worüber?«

»Wenn Quartex auch Erfolg hat ...«

»Was er haben wird!«

»... dann wissen wir, dass dieses Ding wirklich so funktioniert, wie wir uns das vorgestellt haben.«

»Ist das nicht toll?« Er lächelte, in der Hoffnung, Burkhard mit seiner Begeisterung anzustecken. Diese ganze Stimmung gefiel ihm überhaupt nicht. Diese Blümchentapeten gefielen ihm nicht. Dieser hellgrüne Stoffbezug gefiel ihm nicht. Und Burkhard gefiel ihm erst recht nicht, er hatte zwar die Kleidung gewechselt, aber es war noch immer derselbe Mensch, der da drinsteckte. Und dieselbe, seltsame Melancholie, die wiederum in diesem Menschen steckte.

Burkhard sah auf und blickte ihn aus seinen braunen Teddybär-Augen an: »Die Tankstelle ist komplett zu?«

»Allerdings.«

»Hast du eine Ahnung, was das kostet?«

»Wie?« Er beugte sich vor. »Was soll wieviel kosten?«

»Der Verdienstausfall, oder wie man das nennt.«

»Junge - ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Ist doch deren Schuld, wenn die mit Windows arbeiten.«

»Und die Menschen im Fahrstuhl? Was meinst du, wieviele noch stecken bleiben werden, wenn wir loslegen?«

»Selber schuld, wer Linux nutzt.«

»Und Quartex - jaja, sag nichts«, wehrte Burkhard ab, »ich weiß schon!«

»Yepp. Haben es nicht besser verdient, vor allem die nicht!«

Burkhard richtete sich auf: »Ich hab letzte Nacht die ganze Zeit wach gelegen.«

Sah man dir an, dachte er.

»Und ich hab einen Entschluss gefasst. Das ist mir zu heiß. Ich steige aus.«

»Was?«, rief er und sprang auf. »Das ist nicht dein Ernst!«

»Ich meine das todernst. Das wird zu groß. Hast du mal das alles bis ins letzte Glied durchdacht?«

»Und ob ich das habe«, blaffte er los. »Haben wir alle. Du auch. Du vor allem, Du hast doch gesagt, dass es möglich wäre.«

Burkhard senkte den Kopf: »Ja, möglich. Aber ich hätte nicht damit gerechnet, dass es wirklich funktioniert ...«

Er spürte, wie Zorn in ihm aufstieg. Zorn auf diesen Knödel, der da auf der Couch hockte und ´Armer Tropf´ spielte, wo doch eben dieser arme Tropf mit der ganzen Sache angefangen hatte. Er hatte doch die Idee gehabt, und er hatte die anderen damit angefixt, und nun wollte eben dieser Kerl einfach so den Schwanz einziehen? Nein. Nicht mit ihm!

Er beugte sich über den Tisch, packte Burkhard am Kragen und zog ihn an sich heran, bis sich ihre Nasenspitzen fast berührten: »Jetzt pass mal gut auf«, zischte er. »Quartex wird am Sonnabend den letzten Test machen. Das kannst du nicht verhindern, denn den Stick hat er schon. Und danach werden wir uns alle wieder treffen und feierlich unser Werk vollenden. Verstanden? Oder muss ich wirklich das Wort ´sonst´ aussprechen?«

Burkhard schaute ihn an und schwieg.

Er glaubte schon, gleich ein geflüstertes ´ja´ zu hören oder ein zaghaftes Nicken, mit dem der Fettklops seine Kapitulation eingestehen würde - doch dann wurde ihm klar, dass der Augenblick eine Sekunde zu lange dauerte, dass Burkhards Blick eine Spur zu störrisch war - und dass Burkhard selber kräftiger war, als er das gedacht hatte.

Der Programmierer sprang auf, stieß ihn frontal gegen die Brust - der Schlag war so gewaltig, dass er ins Taumeln geriet und sich an der Kommode festhalten musste.

Fassungslos sah er Burkhard an - der soeben vom weinerlichen Häufchen Elend zu einem entschlossenen Stier mutierte.

»Du hast recht. Quartexs Experiment kann ich nicht verhindern. Aber alles andere schon«.

Zu spät erkannte er, dass Burkhards Blick wieder zu dem USB-Stick ging, der noch immer zwischen ihnen lag. Mit einem Aufschrei langte er zu dem kleinen Stück Plastik hin, doch Burkhard war schneller - ein Handgriff, und er fischte ihm den Stick vor der Nase weg. Triumphierend hielt er ihn hoch: »Den kriegst du nicht.«

»Und ob ich den kriege«, fauchte er und stürzte sich auf seinen Gegner.

*

»Sole!«

Soledad drehte sich um. Es war Melanie, die ihr hinterhergerufen hatte. Aufgeregt winkend kam sie näher.

»Ich wusste gar nicht, dass du heute frei hast. Also komplett frei«, sagte sie und deutete neben Soledad, wo ausnahmsweise kein kleines Mädchen nebenherlief.

»Frau Esterogg passt auf sie auf«, erklärte Soledad und hob ihren Korb hoch. »Ich will nur schnell was einkaufen. Zum Backen.«

»Oh, das ist gut. Ich meine, das ist gut, dann hast du ja einen Moment Zeit. Ich muss dir unbedingt etwas erzählen«, sprudelte es aus Melanie hervor. »Ich hab mich jetzt bei diesem Online-Portal angemeldet. Und das ist voll toll, ich habe schon zweitausendfünfhundert Hits.«

Soledad hatte keine Ahnung, von welchem Portal ihre Freundin da sprach, aber bei Melanie konnte es sich eigentlich nur um so etwas handeln wie grosseliebefinden.de, maennerfuersleben.com oder maerchenpartner.net. Seit sie Melanie kannte, war diese immer auf der Suche nach Mister Perfect gewesen, und eigentlich hatte sie jeden ihrer Freunde auch vor Soledad als solchen bezeichnet, bis sich dann herausstellte, dass der jeweilige Typ dann doch nicht so ganz perfekt gewesen war. Woraufhin Melanie mit schöner Regelmäßigkeit beschloss, künftig einen ganz anderen Personenkreis anzuvisieren. Ihr letzter Freund war ein Portugiese gewesen, der ausgesehen hatte wie Iker Casillas und sogar wie Iker Casillas Torwart war, allerdings beim MTV Flautenwerder-Meersinbrook oder wie der Verein geheißen hatte. Melanie fand Fußball doof und portugiesisch war auch nicht gerade ihre Stärke. Deswegen war sie nun auf der Suche nach einem eher nordischem Typ, der bitte nicht so sportlich sein und mehr Zeit mit ihr als auf dem Spielfeld verbringen sollte. Und den wollte sie nun im Internet finden, denn da würden die inneren Werte entscheiden und nicht der erste, rein optische Eindruck. Na, wenn sie das glaubte.

»Deswegen hab ich geschrieben, Waschbrettbäuche könnten mir gestohlen bleiben.«

»Och. Ich hätte schon mal ... also ...«

»Ach ja?« Melanie legte den Kopf leicht schief. »Und sonst?«

Soledad zog die Schultern hoch. »Groß? Schlank? Athletisch? Sowas.«

»Und vom Typ her mediterran, was?«

»Ach Unsinn. Da hätte ich auch in Spanien bleiben können, da laufen genug davon rum. Nein, eher so was mitteleuropäisches ...«

»Dir ist aber schon klar, dass du gerade nur Äußerlichkeiten nennst, oder?«

»Logo, das soll ja auch nicht für immer sein, sondern nur mal ...«, Soledad brach ab, als sie sah, wie Melanies Grinsen immer breiter wurde.

»Schau an, schau an. Ist da jemand unterzuckert?«

»Ist da wer ... was?«

»Unterzuckert. Lust auf Naschwerk. Vernaschen. Verstehst du?«

»Ich mein ja nur«. Soledad verzog die Mundwinkel.

»Hey«, Melanie stieß sie spielerisch an. »Vor mir musst du dich doch nicht schämen. Ist doch normal, dass man manchmal einfach nur Appetit auf Fast Food hat. Was glaubst du, weshalb ich immer eine Packung Tiefkühlpommes im Kühlschrank habe?«

»Und mit Tiefkühlpommes meinst du ...«

»In dem Fall nur Tiefkühlpommes. Aber eigentlich ist es ja dasselbe. Frauen haben eben auch Bedürfnisse.«

»Nach Tiefkühlpommes.«

»Ich ja, du hast anscheinend gerade andere.«

Soledas beschloss, das Thema zu wechseln, bevor sich Melanies Grinsen noch völlig in ihr Gesicht einbrannte. »Wolltest du nicht eigentlich von dir erzählen?«

»Ach ja.« Dann erzählte sie Soledad ihre Wunschvorstellungen und wollte ihre Meinung dazu hören.

»Er kann also ruhig ein paar Pfunde mehr auf den Rippen haben?«, vergewisserte sich Soledad.

»Klar doch. Ich will nicht schon wieder einen Sportler.«

»Ah ja«. Soledad grinste.

»Was?«

»Nichts, gar nichts.« Sie konnte Melanie ja schlecht darauf hinweisen, dass ihre zierliche Figur nicht so unbedingt zu einem Brocken von einem Kerl passen würde. Zumindest nicht in jeder Lage. Verdammt noch mal, schalt sie sich dann selber, du kannst anscheinend echt nur noch an das eine denken. Reiß dich mal am Riemen. Du hälst hier vor einem Cafe ein Schwätzchen mit deiner Freundin. Sonst nichts.

»Hört sich gut an«, sagte sie also.

Melanie legte den Kopf schief und funkelte sie aus ihren himmelblauen Augen an. »Ich glaub dir nicht. Du wolltest was ganz anderes sagen.«

»Wollte ich nicht.«

»Wolltest du doch, und das finde ich jetzt raus.«

Soledad hob den Korb hoch. »Ich muss dann auch so langsam ...«

»Nö no. Das könnte dir so passen. Ich will jetzt wissen, was du meinst. Und für einen Kaffee hast du sicher noch Zeit.«

Ehe Soledad antworten konnte, hatte Melanie schon auf dem Absatz kehrt gemacht, mit einem Schwung, der ihre langen blonden Haare fliegen ließ, und eilte auf den Verkaufsstand zu. Soledad stellte ihren Korb ab. Wenn Melanie sich was in den Kopf gesetzt hatte, dann passierte das auch, egal, was es war, und jetzt wollte sie mit ihr unbedingt einen Coffee-to-go trinken. Andererseits, bei dem Wetter würde ihr eine kleine Aufwärmung vermutlich gut tun. Und lange dauern konnte es ja auch nicht. Soledad sah auf ihre Armbanduhr. Doch, fünf Minuten würden wohl noch drin sein.

»Also.« Melanie kam zurück, in jeder Hand einen Becher voll heißer und dampfender brauner Brühe, eben das, was man hierzulande unter Kaffee verstand. »Ich glaube, ich weiß genau ...«

Melanie starrte an ihr vorbei, so dass Soledad sich umdehte, um zu sehen, was hinter ihr los war. Empörte Rufe drangen an ihr Ohr, bevor sie bemerkte, dass die Leute nach recht und links sprangen. Erst dann erkannte sie, warum. Ein dicker Mann rannte alles aus dem Weg räumend auf sie zu.

»Hee«-, »Unverschämtheit«- und »Geht´s noch«-Rufe begleiteten ihn. »Schulldigung«, keuchte der Koloss und lief genau auf Melanie zu, die offensichtlich fasziniert die Dampflok anstarrte, die da auf sie zuschnaufte.

Auch Soledad war zu perplex, um irgendetwas zu tun, und dann war es auch zu spät. Er rempelte sie beide einfach aus dem Weg, die beiden Becher flogen davon und verschütteten den Kaffee über die Betonplatten. Melanie stürzte in eine Parklücke, während Soledad gegen die Hauswand geschubst wurde. Sie drehte sich um sich selber und ihre herumschwingende Hand bekam gerade noch die Schulter des Rüpels zu fassen.

»Hey, du Penner«, schrie sie. Der Mann beendete tatsächlich seinen Amoklauf und fuhr herum. Soledad sah in ein erschrockenes panisches Teddybärengesicht.

»Entschuldigung, tut mir leid«, stieß er hervor und sah sie aus großen braunen Kulleraugen an.

»Entschuldigung für´n Arsch«, knurrte Soledad. »Hilf ihr lieber hoch«, fügte sie hinzu und warf dem Teddybären einen Blick zu, der ausgereicht hätte, ein Nashorn zu töten. Sie wankte, selbst noch benommen, hinüber zu Melanie und ging neben ihr in die Hocke. »Alles okay?«

»Ja, ich denke schon.« Ihre Freundin setzte sich auf und betrachtete ihre Hände. »Hatte ich nicht zwei Becher gehalten?«

»Die sind irgendwo da auf die Straße geflogen«.

Soledad deutete auf die Fahrbahn, wo einer der Becher unter dem Reifen eines vorbeifahrenden Lasters gerade sein Ende fand.

»Es tut mir leid, tut mir leid, wirklich, tut mir leid«, plapperte Teddy, als sei er eine Schallplatte, die einen Sprung hatte, und reichte Melanie die Hand. Sie ergriff sie und zog sich daran hoch. Etwas wacklig kam sie wieder auf die Beine und balancierte auf ihren Absätzen. »D ... danke«, stotterte sie.

»Es tut mir wirklich leid«. Der Kerl blickte sich um. »Kann ich das vielleicht wieder gutmachen? Eine Einladung zum Kaffee vielleicht?« Er schaute abwechselnd von Melanie zu Soledad.

»Warum eigentlich nicht?« Melanie sah Soledad an. »Oder, Sole?«

»Von mir aus«, stimmte sie zu. Teddybär strahlte und hielt ihnen die Tür auf.

*

Dass Burkhard in die beiden Frauen hineinrannte, brachte ihn wieder zur Besinnung. Immer und immer wieder hatten sie allen gepredigt, sie dürften ja keine Aufmerksamkeit erregen - und was machte er hier gerade? Hetzte diesem Kerl hinterher, als sei der ein Ladendieb und er der Kaufhausdetektiv oder sowas. Und was wäre gewesen, wenn er ihn erwischt hätte? Hier, in aller Öffentlichkeit, und jetzt, am hellichten Tage, hätte er ihm den Stick kaum abnehmen können. Er rieb sich sein schmerzendes Handgelenk, wo ihn in der Wohnung der entscheidende Schlag getroffen hatte. Verdammt! Fast wäre es ihm gelungen, diesem Fettklops die passende Lektion zu erteilen - und ihm das Teil abzunehmen, aber dann hatte Burkhard diesen Zufallstreffer gelandet. Einen Moment nur hatte er nicht aufgepasst, und schon war diese Qualle mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit die Treppe hinuntergestürmt und auf und davon.

Und jetzt musste er zusehen, wie dieser Verräter mit den beiden Tussen in dieses Cafe ging, als ob rein gar nichts und der Tag ein wunderschöner Sonntag wäre.

Vor Wut knirschte er mit den Zähnen. Das würde Burkhard büßen. Er konnte ja schließlich nicht ewig in dieser Bude hocken bleiben. Irgendwann würde die Ratte aus ihrem Loch kommen müssen. Vorsichtig würde sie nach links und rechts äugen, einen Schritt weiter hinaus wagen, noch einmal in alle Richtungen sehen und dann weggehen. In der sicheren Gewissheit, der Verfolger habe aufgegeben.

Aber er würde nicht aufgeben. Er würde hier hinter der Eiche stehen bleiben, er würde das Cafe keinen Moment aus den Augen lassen, und wenn Judas das Lokal verließ, würde er sich an seine Fersen heften. So lange konnte es schließlich nicht dauern. Als ob Burkhard zwei Frauen gleichzeitig an sich fesseln könnte! Lächerlich. Er würde einen Kaffee mit ihnen trinken und dann zwei Stück Torte innerhalb von fünf Minuten verschlingen - das einzige Kunststück übrigens, mit dem der Schweinepriester andere Leute zu beeindrucken vermochte - und schließlich würden sich die drei nach einem nochmaligen »Tut mir wirklich leid« wieder trennen. Die große Schwarzhaarige würde dann vermutlich in den Supermarkt gehen - der Korb deutete darauf hin. Die kleine Blonde würde vielleicht ... egal, und Burkhard würde wohl wieder nach Hause gehen. Er sah auf die Uhr. Eine halbe Stunde war vergangen, eigentlich eine ganze Menge Zeit für ... da!

Da kamen sie!

Sie verabschiedeten sich.

Die Schwarze nach links, die Blonde nach rechts. Und Burkhard machte sich daran, die Straße zu überqueren. Richtung Park. Der um diese Uhrzeit und vor allem bei diesem Wetter nicht sehr belebt sein würde ...

Burkhard sah sich noch einmal um und ging dann den Sandweg entlang, eigentlich direkt an ihm vorbei, aber natürlich ohne ihn zu bemerken.

Er wartete, bis Burkhard die erste Kurve erreicht und hinter einer Hecke immergrüner Rhododendren verschwunden war.

Er trat hinter dem mächtigen Stamm hervor und ging Burkhard nach. Ganz in Ruhe, denn jetzt hatte er Zeit. Mit dem gemächlichen Tempo würde der Verräter nicht sehr weit kommen. Grimmig lächelnd wog er den alten Eichenknüppel, den er vom Boden aufgelesen hatte, in der Hand. Das Holz war schon ziemlich mürbe, es musste bei dem Sturm von vor drei Tagen abgebrochen sein, aber es war ziemlich dick. Logisch würde es beim ersten Schlag zerbrechen. Aber mehr als einen Schlag würde er auch nicht brauchen ...

*

Es gab Momente, in denen Leon sich durchaus fragte, ob es eine gute Idee gewesen war, nach seiner Scheidung wieder in sein Elternhaus zu ziehen.

Einer dieser Momente war das Frühstück.

Leon saß da, an der einen Stirnseite des etwas zu lang geratenen Esstisches und war tunlichst darauf bedacht, die blitzblankblütenweiße Tischdecke nicht mit Marmelade zu bekleckern oder mit Brötchenkrümeln vollzukrümeln, während seine Mutter ihm gegenber saß, mit abgespreitzem kleinem Finger an einer blumenverzierten Kaffeetasse aus hochedlem Porzellan nippte und ihn fortwährend musterte. Sein Vater, der zwischen ihnen an der Längsseite seinen Platz gefunden hatte, studierte derweil den Wirtschaftsteil seiner Tageszeitung. Beim Essen lesen, das war etwas, was Carola überhaupt nicht leiden konnte - und es hatte Jahre gebraucht, ehe sein Vater sein Zeitungsprivilieg hatte durchsetzen können. Aber immerhin hatte er es geschafft. Leon fand das auch ganz praktisch und wünschte sich, er könnte auch etwas lesen, aber seine Aufgabe war es, seinen Vater zu ersetzen und Konversation zu machen.

»Was hast du heute vor?« Carolas Stimme waren die hochgezogenen Augenbrauen förmlich anzuhören. Sie zog die Augenbrauen immer hoch, wenn sie etwas wissen wollte, vermutlich dachte sie, es wirke vornehm.

»Ich muss ein paar Pressemitteilungen schreiben. Violent Angel ist so gut wie fertig, und das muss natürlich beworben werden«. Leon griff nach einem Sesambrötchen, hielt dann aber in der Bewegung inne. Er hatte nicht mehr viel Hunger, und das Brötchen würde krümeln wie sonstwas. Carola hasste Krümel. Sesam- und Mohnbrötchen waren für sie bloß zum Dekorieren gut.

Carola stellte ihre Kaffeetasse ab: »Violent Angel«, wiederholte sie, wobei sie das »Angel« aussprach wie »Ehnschel«. Sie hielt einen Augenblick inne. »Und worum geht es da?«

»Du bist ein gefallener Engel und versuchst, wieder in den Himmel aufgenommen zu werden. Naja, das Übliche eben, freie Welt, viele Quests, etcetera.«

Carola seufzte. »Ich wünschte, du würdest einmal etwas Richtiges machen! Als du angefangen hast, dich für Computer zu interessieren, war das ja noch gut und schön; wir dachten ja, du würdest mal was Richtiges damit machen. Und nun bringst du diese Spiele auf den Markt. Das ist doch nichts.«

»Er verdient damit aber ziemlich gut«, brummte sein Vater, ohne den Blick zu heben.

»Das meine ich doch nicht«, Carola starrte zu ihm hinüber. »Du hast auch dein Leben lang die Brauerei geleitet und warst damit zufrieden und dein Sohn hätte dich eigentlich am Computer entlasten sollen. Mit Anwendungsprogrammen«. Das letzte Wort sprach Carola immer so aus, als ob sie es auswendig gelernt hatte, ohne zu wissen, was es eigentlich bedeutete.

»Na und, jetzt macht der Junge eben Computerspiele.« Sein Vater blätterte um. »Das ist doch nicht schlecht.«

»Bier werden die Leute immer trinken«, befand Carola spitz.

»Na ist doch gut. Dann spielen sie Leons Computerspiele und trinken dazu das Bier seines Vaters. Schöner Synergieeffekt.« Sein Vater sah kurz auf, zwinkerte Leon zu und vertiefte sich wieder in sein Blatt.

Leon lächelte in sich hinein. Ach, was war das für ein Drama gewesen, als er verkündet hatte, er wolle lieber Informatik studieren statt BWL. Was man denn damit anfangen solle, und was er sich denn dabei dächte, und wieso er denn nicht einfach das tun könne, was man ihm auftrüge? Dabei war Carola nur deshalb dagegen gewesen, weil sie selber keine Ahnung von Informatik hatte. Von BWL eigentlich auch nicht, aber da bildetete sie sich immerhin ein, sich auszukennen. Richtig schlimm wurde es, als Leon dann einfach mal so ein kleines Spiel programmiert hatte. Eines von diesen Casual Games, das zu seiner eigenen Überraschung ein echter Hit wurde. Von da bis hin zur Gründung der LS-Games UG - haftungsbeschränkt, und zwar deshalb, weil Carola ihm die fünfundzwanzigtausend Euro zur Gründung einer GmbH nicht vorstrecken wollte - war es dann nur noch ein kleiner Schritt gewesen, und seitdem war er auf Kurs. Ein paar Spiele und eine gescheiterte Ehe später hatte er nun fünfzehn Mitarbeiter unter sich, war sein eigener Boss und sein Unternehmen auf dem besten Wege dazu, sich als Unterhaltungssoftwarehersteller zu etablieren. Tja, aber was war das schon gegen den Titel »Brauereibesitzer«? Und leider hatte er ja auch nicht immer alles richtig gemacht, wie Carola nicht müde wurde zu betonen.

»Jetzt seid ihr wieder lustig«, meinte sie. »Aber ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es gar nicht so lustig war.«

Leon seufzte. »Fang doch bitte nicht wieder damit an.«

»Ich sage ja nur«, Carola nahm die Kaffeetasse wieder zu Hand, »um ein Haar hätte die kleine, und ich scheue mich nicht, das Wort auszusprechen, die kleine Schlampe sich vollends ins gemachte Nest gesetzt.«

»So klein ist sie gar nicht«, brummte Peter.

»Wie bitte?«

»So klein ist sie gar nicht. Sie ist fast genauso groß wie unser Sohn.«

»Das spielt doch nun überhaupt keine Rolle. Du weißt genau, wie ich das meine«, zischte Carola. Dann sah sie wieder zu Leon. »Sei nur froh, dass ...«

»Bin ich, bin ich«, unterbrach Leon sie, nahm einen tiefen Schluck aus seiner Tasse und sah demonstrativ auf seine Rolex. »Oha«, entfuhr es ihm. Er tupfte sich den Mund mit der Stoffserviette ab. »Es tut mir leid, aber ich muss dann auch mal los.«

»Du darfst dich erheben«, sagte Carola, ungeachtet der Tatsache, dass Leon bereits aufgestanden war. Er nickte kurz, wünschte einen schönen Tag und machte sich auf den Weg zu seinem Golf. Den RX-8 hatte ja, wie auch immer es dazu gekommen war, seine Exfrau behalten dürfen. Wieso eigentlich?, überlegte Leon. Wieso darf die Frau, wenn man sich auseinandergelebt hat, den Wagen behalten? Manchmal war das Leben schon ganz schön ungerecht.

*

Ein letzter Blick - nein, sie waren die beiden einzigen Spaziergänger an diesem Vormittag, und die Stelle war wie gemacht für sein Vorhaben. Der Weg führte in einigen Kurven zwischen mehreren jahrzehntealten Koniferen hindurch, und Burkhard schien sich absolut sicher zu sein, ihn abgeschüttelt zu haben. Erst im allerletzten Moment blieb er plötzlich stehen und drehte sich um, aber da war der Schlag eh nicht mehr aufzuhalten gewesen, der schwere Eichenknüppel krachte gegen Burkhards Schädel, und der massige Mann ging wie ein nasser Sack zu Boden.

Er lächelte grimmig und warf den Knüppel weg. Dann packte er seinen nun mehr ehemaligen Kollegen und Verbündeten an den Füßen und zog ihn ins Unterholz. Es war gar nicht so einfach, diesen Fleischberg durch das Gestrüpp zu ziehen, Äste und Zweige schnellten hervor und zerkratzten ihm das Gesicht, aber endlich hatten sie eine kleine, uneinsehbare Lichtung erreicht. Er ließ Burkhard einfach fallen und betrachtete ihn kurz. »Das hättest du eben nicht machen dürfen«, flüsterte er. Dann machte er sich ans Werk. Durchsuchte den Bewusstlosen, fasste in jede Hosentasche, und je mehr Taschen er durchforstete, desto unruhiger wurde er. Fieberhaft zog er Burkhard schließlich die Hose ganz aus, krempelte das Innere nach außen, schüttelte und wedelte das Kleidungsstück hin und her, aber der Fetzen wollte den Stick verdammt nochmal nicht ausspucken. Schließlich knüllte er die Jeans zusammen und warf sie weg. Wo zum Kuckuck hatte der Kerl den USB-Stick hingesteckt? Hatte sein Pulli irgendeine innere Tasche oder was? Er ging hinter Burkhard in die Knie, hob dessen Oberkörper an und versuchte, so gut es ging, dem Regungslosen den Rollkragenpullover auszuziehen. Es war kein leichtes Unterfangen, allein Burkhards Unterarme hatten den Durchmesser von PET-Cola-Flaschen, und der ganze Kerl war vermaledeit schwer. Aber schließlich schaffte er es mit Ach und Krach, den Pulli zu ergattern. Zog ihn in die Länge. Drehte ihn von innen nach außen und wieder zurück. Nichts. Keine Tasche. Kein Geheimversteck. Nichts.

Er atmete tief durch. Der Anblick des regungslosen Burkard in Feinripp-Unterhemd und Unterhose mit Eingriff war nicht sehr appetitlich, und mit seiner blassen Haut auf dem dunkelgrünen Moos wirkte er zudem wie eine Wasserleiche zwischen Seerosenblättern. Unschlüssig stand er da und versuchte, sich den Ablauf des bisherigen Vormittages ins Gedächtnis zu rufen. Den Streit in Burkhards Wohnung. Wie Burkhard den Stick ergriffen hatte und davongelaufen war. Wie er ihm hinterherrannte. Und wie Burkhard dann die beiden Frauen umgerannt hatte ...

Ja. Genau das war es. Das musste es sein. Er ballte die Fäuste und gab dem Körper zu seinen Füßen einen Tritt in die Seite. »Du Arsch« presste er hervor und trat noch einmal zu. »Du verdammter, blöder Arsch«. Er verspürte den Impuls, Burkhard noch einen Tritt zu geben und holte bereits aus - dann hielt er inne. Dieser Idiot hier war keine Gefahr mehr, also brachte es nichts, weitere Energie auf ihn zu verschwenden. Er war nur noch insofern ein Problem, als dass er hier wegmusste. Aber das konnte man lösen. Er zog sein Handy hervor und tippte Paranoimias Nummer.

»Ackerlight hier«, wisperte er. »Schnapp dir Skid Row und komm in den Park. Du weißt schon ... ja, der ist hier. Darum ja. Aber total malade. Ihr müßt ihn abholen ... sofort. Ja, gut.«

Er beendete das Gespräch und nickte leicht. Das wäre erledigt. Um diesen Sack da - und nun trat er doch nocheinmal zu und rammte Burkhard seine Schuhspitze in die Seite - würden sich seine Leute kümmern. Sie hatten ihn eh nie gemocht. Und er selber würde sich nun auf die Jagd nach dem Stick begeben müssen. Immerhin wusste er, wo er mit der Suche anfangen müßte. Er drehte den Kopf in die Richtung, in der dieses Cafe liegen musste. Es war zwar nur ein kleiner Anhaltspunkt, aber wenigstens ein Anfang ...

VirOS 4.1

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