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I. D I E E R F I N D U N G D E R M O R A L

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NICHTS SPRICHT GEGEN MORAL. Sie macht das Leben angenehmer, leichter, weniger gefährlich und berechenbarer. Es beruhigt einfach enorm, wenn man nicht bei jeder Gelegenheit damit rechnen muss, von irgendeinem Zeitgenossen eins über den Schädel gezogen zu bekommen. Moral ist also überaus nützlich.

Natürlich haben auch Tiere feste Regeln des Miteinanders. Allerdings befolgen sie diese instinktiv. Sie haben, soweit wir das wissen, nicht die Möglichkeit, anders zu handeln. Es gibt keine unkonventionellen Tiere. Sie handeln wie sie handeln, und ihre Fähigkeit zu lernen, ist ebenso begrenzt wie ihre Möglichkeit, ungewöhnliche Situationen vorherzusehen und sich auf sie einzustellen. Kurz: Tiere sind unfrei.

Anders der Mensch. Zwar handeln auch Menschen instinktiv und nach fest eingeschriebenen Programmen, wie jeder bestätigen wird, der einmal versucht hat, sich gesund zu ernähren oder eine Diät zu machen. Doch allein die Tatsache, dass wir in der Lage sind, normative Ziele zu verfolgen, die unseren Instinkten widersprechen – also etwa auf Burger, Schokoriegel und Pommes Frites zu verzichten –, zeigt, dass Menschen in der Lage sind, sich Regeln zu setzen, die ihrer Natur entgegenstehen. Diese Form der Selbstbeschränkung nennt man Kultur. Kurz: Kultur ist Triebunterdrückung. Das wusste auch schon Freud.1

Doch der Mensch ist schwach und seine Instinkte stärker als gedacht, insbesondere wenn es um Selbstbehauptung geht, um Nahrung und um Sex. Also hat er sich Regelwerke geschaffen, deren Unbedingtheit weit über die anderer kultureller Regeln hinausgeht. Diese exklusiven Regelwerke nennen wir Moral.

Moral hat also eine doppelte Aufgabe: Sie hilft uns, mit unserer Freiheit umzugehen und zugleich unsere Triebe zu kanalisieren. Deshalb hat jede Kultur solche exklusiven moralischen Regeln. Und es ist alles andere als ein Zufall, dass solche moralischen Regeln zumeist jene Bereiche betreffen, in denen unsere biologischen Instinkte besonders ausgeprägt sind: Sex, Nahrung und Gewaltanwendung.

Also kennen alle menschlichen Kulturen Speisevorschriften, eine mehr oder minder restriktive Sexualmoral und klare Regeln für die Ausübung von Gewalt – entsprechende soziale Sanktionen inklusive. Solche moralischen Regelwerke sind natürlich kein Selbstzweck, und vom Himmel gefallen sind sie auch nicht. Ihr Sinn und Ziel ist es, dem Menschen dort unhinterfragbare Handlungsregeln an die Hand zu geben, wo seine reduzierten Instinkte versagen. Moral ist evolutionsbiologischer Instinktersatz und Freiheitskompensation.

Der Vorteil solcher nicht instinktgebundener Sozialregeln liegt auf der Hand: Sie machen den Menschen anpassungsfähig. Anders als ein Tier, kann der Mensch sich in den unterschiedlichsten Lebensräumen zurechtfinden. Menschen siedeln im Polarmeer und in den großen Wüsten, an der See und im Hochgebirge, im Dschungel und in der Steppe. Sie sind in der Lage, in kleinen Clans durch die Savanne zu streifen und in hoch technologisierten Millionenstädten zu wohnen. All das wäre mit einer rigiden Instinktausstattung allein nicht zu bewerkstelligen. Um sein Verhalten solch unterschiedlichen Lebenswelten anzupassen, braucht der Homo Sapiens ein Regelwerk, das sich geschmeidig den jeweiligen Umständen anpasst und gegebenenfalls umgeschrieben werden kann, wenn sich die Umweltbedingungen ändern.

Das zwangsläufige Ergebnis: So unterschiedlich die Lebensbedingungen der Menschen sind, so sehr unterscheiden sich ihre Moralvorstellungen. Was in einer postindustriellen Millionenstadt sinnvoll sein kann, etwa serielle Monogamie, würde in einem Nomadenstamm zu einer sozialen Katastrophe führen. Daher gilt: Was in der einen Kultur erlaubt ist, ist in der anderen verboten. Was die eine Kultur gutheißt, ist in einer anderen eine Todsünde. Moral gibt es nur im Plural.

Doch moralische Konflikte entstehen zunächst nicht zwischen verschiedenen Kulturen, sondern vor allem innerhalb einer Moralgemeinschaft: Denn zum Phänomen Moral gehört, dass man sich gegen sie entscheiden kann. Wo Moral ist, ist Unmoral nicht weit. Gerade weil Moral unsere Handlungsoptionen vervielfachen soll, haben wir die Möglichkeit, uns gegen sie zu entscheiden.

Auf den ersten Blick erscheint das paradox. Ist es aber nicht. Wären moralische Regeln ähnlich unveränderbar wie Instinkte, bräuchten wir sie nicht. Moral ist dafür da, um hinterfragt zu werden. Sonst wäre sie überflüssig.

Für das Überleben der Menschheit und ihre Anpassungsfähigkeit an neue Lebensbedingungen bedarf es also des Sünders, zumindest des Nonkonformisten. Ohne Unmoral wäre die Menschheit längst ausgestorben. Denn die permanente Neigung des Menschen, es mit der Moral nicht so genau zu nehmen, zu heucheln oder auch mal Fünfe gerade sei zu lassen, ist im Einzelfall vielleicht nicht schön, sorgt aber dafür, dass moralische Normen einer dauernden Revision unterzogen werden: Ist es wirklich sinnvoll, keinen Sex vor der Ehe zu haben? Bedarf es tatsächlich eines strengen Ehrenkodexes, der Familien zu Rachehandlungen verpflichtet? Welche Eigentumsansprüche sind gerechtfertigt und welche nicht?

Erst das Brechen der Moral sorgt dafür, dass moralische Regeln permanent nachjustiert werden.

Allerdings darf es die Moralgemeinschaft den Nonkonformisten nicht zu leicht machen. Eine Moral, die jederzeit über Bord geschmissen werden kann und auf Verfehlungen mit übergroßer Nachsicht reagiert, erfüllt ihren Zweck genauso wenig wie moralische Orthodoxie. Das macht Moral mitunter so anstrengend und führt dazu, dass sich zu jeder Zeit und in jeder Kultur Traditionalisten und Modernisierer, Spießer und Hallodris gegenüberstehen. Je vielschichtiger eine Gesellschaft ist, desto größer ist die Kluft zwischen den verschiedenen Lagern. Und desto mehr Lager gibt es.

Doch nicht nur aufgrund innerer und äußerer Veränderungen einer Gemeinschaft sind deren Moralvorstellungen permanenten Spannungen ausgesetzt. Auch dort, wo zwei unterschiedliche Kulturen aufeinanderprallen, kommt es naturgemäß zu Konflikten. Denn das oberste Gebot jeder Moral lautet: Du sollst keine andere Moral haben neben mir.

Moralen sind nicht pluralistisch und nicht tolerant. Das wäre widersinnig. Moralen sind autoritär. Sonst erfüllen sie nicht ihre Funktion. Deshalb unterliegen sie einer bipolaren Logik: wahr oder falsch, erlaubt oder verboten. Dazwischen gibt es wenig. Moralische Laissez-faire ist nicht der Standard, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Krisen. Freundlicher ausgedrückt: von Veränderungen. Nur in Gesellschaften, die sich der permanenten Veränderung und dem auf Dauer gestellten Fortschritt verschrieben haben, wird moralische Toleranz selbst zur Moral. Doch dazu später.

Der Kontakt mit anderen Kulturen konfrontiert Moralsysteme mit ihrer eigenen Relativität, also mit etwas, was sie nicht akzeptieren können. Das liegt in ihrem Selbstverständnis. Eine Moral, die andere moralische Haltungen neben sich akzeptiert, nimmt sich selbst nicht ernst.

Die Konsequenz: Der Kontakt mit fremden Moralkulturen macht aus einer Ansammlung regionaler moralischer Vorlieben einen Moralkorpus mit überregionalem Anspruch. Denn das Richtige ist schlechthin richtig, und seine Richtigkeit kann nicht am nächsten Gebirgszug enden oder am anderen Seeufer.

Diese expansive Logik der Moral führt zu Spannungen. Deshalb wären Moralordnungen, eben weil rigide und autoritär, für die Organisation eines kulturübergreifenden Zusammenlebens untauglich, wenn sie der alleinige Maßstab im sozialen Umgang wären. Daher gilt: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Anders formuliert: Die Durchsetzung eigener Moralvorstellungen besitzt nicht immer erste Priorität.

Eben weil Moralvorstellungen expansiv sind und latent intolerant, bedürfen sie eines Korrektivs. Das mächtigste Korrektiv, das einer all zu orthodoxen Moralanwendung entgegensteht, sind wirtschaftliche Interessen. Menschen möchten nicht nur ein moralisch wertvolles Leben führen, sondern auch eines ohne Entbehrungen, wirtschaftlich abgesichert, ohne Not, in bescheidenem oder besser noch weniger bescheidenem Wohlstand. Der Wunsch nach dem guten Leben macht moralisch flexibel und kompromissbereit.

Also sieht man über moralische Divergenzen mit anderen Gruppen hinweg, wenn dies Frieden, Handel und Wohlstand verspricht. Der fremde Kaufmann mag ungewohnte, abstoßende Sitten haben, aber solange er mir meine Produkte abkauft und ich damit in Wohlstand lebe, toleriere ich das.

Das ist der einfache Grund dafür, dass Ökonomie und das Streben nach Wohlstand bei Moralisten aller Art tief verpönt ist. Denn der Markt sorgt für kulturellen Austausch und neigt dazu, wirtschaftliche Interessen höher zu bewerten als moralische Vorschriften. Das macht ihn bei Moralaposteln verdächtig.

Der Gegenwurf zum freien Markt ist der enthaltsame, sittenstrenge Asket, der den Verlockungen der zivilisierten Welt widersteht und die Gesellschaft zur Umkehr aufruft.

Natürlich kehrt niemand um, denn das macht keinen Spaß. Aber immerhin ist der puritanische Moralwächter eine permanente Erinnerung daran, wie man eigentlich leben sollte. Das genügt, um ein schlechtes Gewissen zu bekommen. In Gestalt der Selbstanklage wird Moral so auch für die lebbar, die keine Heiligen sind.

Hypermoral

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