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Ein Gedankenexperiment

Die erste Sozialkundestunde, die mir als Vierzehnjährigem in der neunten Klasse gegeben wurde, begann mit einem Gedankenexperiment:

»Stellt euch vor«, sagte der Lehrer, »eure Klasse macht einen Ausflug mit dem Schiff auf dem Meer. Plötzlich sinkt euer Kahn und ihr rettet euch gerade so auf eine nahe gelegene einsame Insel.«

Jugendliche in diesem Alter sind voller Wanderlust und Tatendrang. Uns fiel es also daher nicht schwer, uns an den Strand eines warmen Eilandes in die Südsee zu versetzen. Doch der Lehrer schien unsere Gedanken lesen zu können: »Sicher denkt ihr jetzt daran, euch an der aromatischen Milch der Kokosnuss zu laben und es euch gut gehen zu lassen.« Alle nickten. »Schön und gut: Aber wer von euch kann auf eine Palme klettern und Kokosnüsse regnen lassen? Wer kann sie fangen, öffnen, und wer wird, schließlich, ihren kostbaren Saft – vergesst nicht, ihr seid umgeben von salzigem Meer und habt noch kein Süßwasser gefunden – verteilen?« Kurzum: Unser Lehrer Herr Grießhammer wollte wissen, wer von uns, wie man im jugendlichen Jargon unserer Zeit sagte, zum »Bestimmer« auf dem Eiland werden würde.

Die Situation, die wir uns vorstellen sollten, würde sich jedoch als deutlich komplizierter erweisen, als wir zuerst gedacht hatten: Unser Anlanden auf der einsamen Insel markiert den Beginn eines neuen Gemeinwesens. Ob Rettung kommen wird, ist ungewiss. Von daher ist es besser, nicht jenen unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft ins Auge zu fassen, sondern im Hier und Jetzt eine Ordnung zu etablieren, um uns allen das Zusammenleben in diesem, wie es die politischen Philosophen nennen, »Naturzustand«, zu ermöglichen und uns unsere Leben zu sichern. »Naturzustand« ist hier ein anderer Begriff für ein Chaos, das es zu überwinden gilt. Dabei ist es keineswegs ausgemacht, welchen Weg eine junge Gemeinschaft wie die unsere auf der Insel einschlagen wird: Werden wir darüber abstimmen, wer der oder die Bestimmer werden sollen? Oder reißt sich einer von uns eine wichtige Ressource auf der Insel unter den Nagel und sichert sich so, mit ein paar treu ergebenen Vasallen, die Herrschaft über den Rest, die ein Leben in Abhängigkeit führen müssen?

Der Weg aus dem Chaos wird von denen bestimmt werden, die den anderen eine realistische, packende Vision des neuen Lebens unserer Gemeinschaft zeichnen können. Dabei wird es vor allem darum gehen, wer Sicherheit für Leib und Leben etwa gegen äußere Feinde oder die Unbilden der Natur gewährleisten kann. Es wird um Besitz-, Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen gehen: Gehören die frei wachsenden Kokosnüsse der Gemeinschaft? Schlafen wir alle gemeinsam in einem großen Saal oder errichten wir einzelne Hütten auf dafür zugeteilten (von wem, für welchen Zeitraum oder welche Dauer?) Parzellen? Unabhängig davon, für was wir uns entscheiden, ist doch klar, dass jeder Ausgang aus dem Naturzustand dem Wunsch folgt, uns zusammenzuschließen, um gemeinsam das zu tun, was ein Einzelner nicht zu tun in der Lage wäre.

In einer ersten Zusammenkunft auf dem künftigen Marktplatz unserer kleinen Inselsiedlung werden meine Mitschüler für sich in Anspruch nehmen, ihre Meinung zu äußern. Indem sie das tun, betreten sie den politischen Raum, die Polis, wie es im antiken Griechenland, dem Mutterland der Demokratie, genannt wurde. Unsere kleine Zivilisation ist zu Beginn am ehesten mit diesem griechischen ›Stadtstaat‹ (so lautet eine der Übersetzungen von polis) vergleichbar. Für diese öffentliche Rede, den Austausch von Argumenten, den Streit, über den man zu einer tragfähigen Übereinkunft kommen kann, werden Normen etabliert, die darüber entscheiden, wer wann wie lange und in welcher Form öffentlich sprechen darf. In der antiken Polis wurde beispielsweise Frauen diese Form der Beteiligung verwehrt, an der Öffentlichkeit teilzuhaben – ein Makel, der bis ins 20. Jahrhundert hinein das Ideal der öffentlichen Teilhabe aller am Gemeinwesen unterlaufen sollte: Gleichberechtigung ist und bleibt eine Aufgabe. Bei uns auf der Insel würden selbstverständlich die Mädchen und die Jungen gleiches Rederecht eingeräumt bekommen. Sollen darüber hinaus andere Kriterien eine Rolle spielen, etwa, ob jemand aus der Stadt, in der unser Gymnasium lag, oder nur aus einem der kleinen Vororte stammt? Sollte gar Religion entscheidend sein?

Gehen wir einmal idealtypisch davon aus, dass diese Unterschiede keine Rolle spielen würden: In diesem Falle müssten wir unserer Gemeinschaft, damit unsere Neugründung eine Zukunft beschieden sein würde, eine Erzählung geben, ein Narrativ, wie es in der Sozialwissenschaft genannt wird, also eine Geschichte, die unserem Zusammenleben einen Sinn geben kann. Wir würden uns fragen:

Warum sind wir hier gestrandet? Sind wir Ausgestoßene aus der Welt, die wir kannten, aufgrund eines Vergehens, das wir begangen haben? Oder sind wir gar Auserwählte, dazu bestimmt, diese Insel zu kultivieren und unserer neuen, kleinen Nation dadurch Ruhm und Ehre zuteilwerden zu lassen?

Es würde kein Weg daran vorbeiführen, dass wir uns in dieser Form irgendwie zu unserer Gemeinschaft verhalten.

Nach 45 Minuten endete unsere Zeit auf dieser Insel, der Gong entließ uns zurück in die wirkliche Welt, deren eigentliche Ordnung wir nun, so war zu hoffen, etwas besser zu verstehen beginnen sollten.

Demokratie. 100 Seiten

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