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Ich rief endlich Anna an und sagte ihr, Finn sei tot, weil wahrscheinlich irgendein Typ besoffen Auto gefahren sei. Sie hörte zu, sagte dabei nicht viel. Immer, wenn ich eine Pause zwischen den Sätzen machte, murmelte sie etwas, um mir zu zeigen, dass sie zuhörte. Mit lebloser Stimme, die sich an­hörte, als wäre auch etwas in ihr gestorben. Ich fragte mich, ob sie das absichtlich tat oder nicht. Sie war gerade bei der Arbeit, es war bereits früher Nachmittag. Als ich alles gesagt hatte, ließ sie mich kurz am Telefon warten und sagte mir dann, sie könne eine halbe Stunde freimachen, länger nicht. Wir verabredeten uns in einem Café, das gleich neben dem Theater lag. Ich verließ meine Wohnung, es fühlte sich auch nach ein paar Tagen immer noch etwas seltsam an, so ganz ohne Krücken. Es war aber nicht wegen des Beines, dass ich nicht den schnellsten Weg zum Café nahm. Ich woll­­­­­te ihr ein wenig Zeit lassen. Auch wenn es nur ein paar Minuten waren.

Sie nippte an ihrem Eistee, und da war die ganze Zeit dieses Surren der Ventilatoren, die an der Decke hingen und nicht wirklich einen Unterschied mach­­­ten. Ich bildete mir ein, den Geruch des Sham­­poos zu riechen, das von ihrem blonden Haar ausging. Ihre Haut war blass wie die Haut einer Nordeuropäerin. Sie trug eine lockere, weiße Bluse, un­­­ter der ich die dunklen Umrisse ihres BHs erkennen konnte. Ihre Augen waren etwas gerötet. Sie hatte fast alle Spuren der Tränen verwischt, ließ sich nichts anmerken. Sie musste sich hier auf der Toilette neu geschminkt haben.

Die Wände des Cafés waren mit Zeitungen tapeziert. Die Tische waren rund und aus hellem Holz. Es gab keine richtigen Lampen, aber Hunderte Glüh­­birnen, die an langen Kabeln von der Decke hingen. Eine der Glühbirnen schwang durch die Luft wie ein Pendel, weil irgendein Riese gerade dagegengelaufen war. Es war ein typischer Studententreffpunkt und jetzt am Nachmittag rappelvoll. Ich hatte eine Limonade bestellt, die sie als hausge­macht verkauften. Ich hatte Lust auf ein Bier, fand es aber irgendwie unpassend. Die Limo schmeckte nach Wasser und Zucker und dem beißenden Zitronensaft aus diesen gelben Quetschflaschen.

«Ich weiß nicht, was wir jetzt machen sollen», sagte ich. «Ben hat uns angeboten, bei ihm zu pennen, aber ich weiß, dass das für dich nicht infrage kommt. Also hab ich mal ein Hotelzimmer mitten in der Stadt gebucht. Deine Eltern wohnen ja ein gutes Stück außerhalb, aber wenn du willst …»

«Ich werde nicht mitkommen», sagte sie.

Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich sah sie an.

«Es geht nicht», sagte sie und schüttelte den Kopf, ohne meinen Blick zu erwidern. Sie sah auf den kleinen runden Tisch, der zwischen uns war.

«Wieso denn?»

«Ich hab dir das noch nicht erzählt. Übermorgen ist die letzte Runde, wo sie die Kandidaten befragen für die Stelle in Schweden. Morgen muss ich ganz normal arbeiten, das ist nicht das Problem, aber wenn ich die letzte Bewerbungsrunde sausen lasse, war alles für die Katz.»

«Was, noch eine Runde?»

Sie nickte. «Ja, noch eine letzte. Ich weiß das selber erst seit ein paar Tagen. Das war auch so nicht eingeplant.»

Ich sah sie an. «Aber Anna …»

«Was?»

«Es ist nur ein Job.»

«Ja, es ist ein Job. Einer, für den ich monatelang ge­arbeitet hab.»

Sie schüttelte den Kopf, ganz leicht, den Blick wieder auf den Tisch gerichtet.

«Denkst du nicht, dass sich da was machen lässt? Bei einem Todesfall drücken die vielleicht ein Auge zu, können den Termin verschieben oder so.» Ich versuchte zu lächeln.

«Ich bezweifle es, Malte. Die Tour beginnt ja schon in ein paar Tagen, und die suchen nur wen Neues, weil der alte Szenograf kurzfristig abgesprungen ist. Wenn ich da nicht auftauche, kann ich es vergessen.»

«Ich weiß, wie sehr du dich dafür abgerackert hast.»

Sie lächelte traurig. «Ich hab mich die letzten Tage schon darüber gefreut, dass das alles in zwei Tagen vorbei sein würde. Immerhin wäre dieser ganze Stress dann vorüber und ich wüsste, woran ich wäre.» Sie zögerte, sagte dann: «Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt die Kraft hätte, nach Zü­­rich zu fahren, Malte. Dort seine Eltern wiederzusehen, die ich jahrelang fast täglich gesehen habe.»

Ich nickte. Ich bemerkte die hellrote Haut an ihrem Hals, ganz leichte Flecken, die man erst auf den zweiten Blick sah und die immer da waren, wenn sie aufgeregt war, wenn sie etwas durcheinan­derbrachte. Ich sah, wie sie ihr Glas hielt, den Ellbogen auf dem Tisch und den Unterarm ungelenk nach außen abgewinkelt. Den kleinen Finger die ganze Zeit abgespreizt wie die filmischen Abklatsche der englischen Damen beim Tee, sie hielt das Glas immer so, ganz egal welches und ganz automa­tisch, jedes Mal, wenn sie nicht wusste, was sie tun sollte. Jetzt gerade sah ich all diese Dinge, die sonst so unscheinbar waren.

Ich wollte aufstehen. Ich wollte sie nochmals umarmen, ihre Haut berühren. Ihr einen Kuss geben, einen richtigen dieses Mal. Nicht wie vorhin, als ich hereingekommen war und sie bereits an diesem Tisch saß und alles nur aus Gewohnheit war, weiter nichts. Ich sah mich um, es war ein normales Café voller Leute, die einander gegenübersaßen und sich nicht rührten. Sie standen nicht auf und küssten sich nicht und nahmen sich auch nicht in den Arm. Ich blieb sitzen.

«Aber du solltest gehen», sagte sie dann. «Nach Zürich.» Sie sah mich an, versuchte zu lächeln. «Also, wenn du möchtest.»

Ich nickte, wusste nicht, was ich sagen sollte. Dann wieder Stille, wir sahen beide zur Seite. Ich las die Überschrift eines Zeitungsartikels an der Wand: «Werther-Effekt – Selbstmordwelle erschüttert das Land.» Ich schaute genauer hin und sah, dass der Artikel schon einige Jahre alt war.

«Was ist denn?», sagte Anna und kniff die Au­­gen zusammen.

«Nichts», sagte ich. Das Geräusch eines laut aufheulenden Motors drang in das Innere des Cafés. Es hallte lange in meinen Ohren nach. Ein Autounfall, eine Sache weniger Sekunden. Man trinkt ein paar Bier und denkt nicht weiter nach. Es ist dunkel, und es regnet. Ein fehlender Blick, ein defektes Fahrlicht, ein falscher Schritt, der einen umbringt. Und man wird zerquetscht, das Auto überrollt einen und schert sich einen Dreck um den, der un­­ter ihm liegt. Es war zum Lachen, nichts als ein schlechter Witz. Finn hätte wahrscheinlich gelacht, aber ich konnte nicht.

Ich stellte ihn mir vor. Ein lebloser Körper, der auf dem Rücken lag am Straßenrand, die Ellbogen gebrochen, die Arme verdreht. Die Fahrer der Au­­tos, die an ihm vorbeifahren, würden in dem Dunkel nichts bemerken, und Finns Körper würde zunehmend kälter werden. Sie würden das Lenkrad mit einer Hand halten, auf die Straße schauen und an ihr Zuhause denken oder wo sie sonst gerade hinfuhren. Sie würden dem gleichmäßigen Ge­­plärre des Radios lauschen und vielleicht mit dem Kopf dazu nicken. Und der Regen würde auf Finns Körper prasseln.

Anna berührte mich mit ihren Fingern an der Hand, ohne etwas zu sagen. Ich fragte mich, weshalb sie ihre Hand auf meine legte und es nicht um­­­gekehrt war. Dann nahm sie einen Schluck von ihrem Eistee und stellte das Glas auf den Tisch. Ich sah den dunkelroten Abdruck ihres Lippenstifts.

«Wie geht es Ben und Vanessa?», fragte sie. Sie nannte Nessa aus irgendeinem Grund immer bei ihrem vollen Namen.

«Ich weiß es nicht, den Umständen entsprechend, denke ich. Du weißt, dass ich lange nichts mehr von ihnen gehört habe.»

Sie nahm wieder einen Schluck ihres Eistees, sie trank so langsam.

«Du solltest wirklich gehen, Malte. Sie werden sich freuen. Ich muss ja nicht unbedingt dabei sein. Und du weißt, dass Ben und ich nicht gerade gut miteinander auskommen.»

«Ich weiß, dass du Ben nicht magst», sagte ich. «Ich versteh das auch, ich muss auch nicht ständig mit ihm abhängen, um ehrlich zu sein, aber du tust ihm unrecht. Er ist eigentlich echt in Ordnung», sagte ich und dachte an unsere Zeit zu fünft am Meer, an Finn, der vom Nachhilfeunterricht in der Grundschule sprach und dann nicht mehr weitersprechen konnte. Und wie Nessa ihren Arm um ihn legte und an Bens starren Blick, der alles wusste und der mir dann später etwas erzählt hatte, was so unglaublich war, dass ich mich lange gefragt habe, wie so etwas über Jahre hinweg ungesagt bleiben konnte, sodass sogar Anna es während ihrer ganzen gemeinsamen Zeit mit Finn nie erfuhr, es auch jetzt noch nicht wusste, weil Ben es nur mir erzählt hatte und ich es als stillschweigende Verpflichtung auffasste, es für mich zu behalten.

Und jetzt sah ich Anna an, fragte mich, ob ich ihr von all dem erzählen sollte, jetzt, wo Finn tot war und es niemals selbst würde erzählen können. Doch ich ließ es bleiben, ich wollte ihr in diesem Moment nicht noch mehr zumuten. Und ich glaubte nicht, dass das jetzt noch etwas ändern würde.

Sie riss mich aus meinen Gedanken. «Ich weiß einfach nicht, was Finn und Vanessa an ihm finden. Er ist wie ein nerviges Kind, das einfach drauflosspricht, ganz ohne Filter. Er hat sich nicht unter Kontrolle, manchmal, da hat man das Gefühl, er dreht jeden Moment durch. Weißt du, was ich meine?»

Sie traf es ziemlich gut, dachte ich. «Du übertreibst», sagte ich aber.

«Na ja, ist ja okay. Zum Glück müssen wir uns nicht alle heiraten», sagte sie und lächelte.

Ich nickte.

«Was ist mit Osteuropa?», fragte ich dann.

«Ich kann es dir nicht sagen, Malte. Gib mir et­­was Zeit, dann können wir das planen.» Ihre Stimme wurde weicher. «Wir werden fahren, versprochen.»

Sie lächelte, und ich versuchte, mir die Reise vorzustellen. Ich sagte mir selbst, dass ich mich nicht so anstellen sollte. Ob früher oder später, was spielte das für eine Rolle? Ich stellte mir vor, wie ich am Steuer saß und mit ihr durch die Nacht fuhr. Leere Autobahnen und leise Stimmen aus dem Radio, die wir nicht verstanden, aber denen wir trotzdem gerne zuhörten, bis ihr Rhythmus in unsere Gedanken überging. Wir würden immer wieder anhalten, um uns dampfenden Kaffee zu besorgen, damit wir noch ein wenig wach blieben, die Nacht nutzten und den Tag für neue Orte hatten. Ich dachte an unbekannte Städte, an goldene Zwiebeltürme, an Geigenmusik in steinernen Kellern.

Anna lächelte mich an. «Ich seh dir gerne zu, wenn du in Gedanken versinkst. Ich wünschte, ich könnte das auch.» Dann sah sie auf ihre Uhr. «Es ist schon spät.»

«Du kannst ruhig gehen, ich bezahl das schon», sagte ich.

«Danke», sagte sie und gab mir einen Kuss. Ich leg­­­te meine Hände um ihre Wangen und zog sie nochmals zu mir hin, wir küssten uns nochmals.

«Ich bin spätestens um halb sieben fertig. Vielleicht lassen sie mich heute ja etwas früher gehen, wer weiß.»

«Ich will dich noch sehen, bevor ich fahre. Ich komme so gegen sieben bei dir vorbei, okay?»

«Du fährst also», sagte sie, als sie schon einige Schritte in Richtung Tür gegangen war. Es hatte nicht wie eine Frage geklungen.

In meiner Wohnung öffnete ich das Fenster. Der Geruch von Holzkohle und Fleisch. Ich merkte, dass ich Hunger hatte und den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Ich öffnete den Kühlschrank, aber er war fast leer. Da war noch irgendein Jo­­­ghurt­­­drink, den Anna mal mitgebracht hatte. Ich goss mir ein Glas ein und nahm einen Schluck. Er schmeckte sauer, ich spuckte ihn aus, schleuderte das Glas auf die Spüle und erschrak gleich darüber. Ich starrte eine Weile auf die Glassplitter. Dann sah ich rüber zur Tür. Ich war mir sicher, dass mein Nachbar es gehört haben musste. Ich ging wieder zum Fens­ter, versuchte, ein wenig herunterzukommen. Ich stützte mich auf dem Fensterbrett ab, atmete langsam durch. Ich sah draußen mehrere Fahrräder vorbeifahren. Eine der Fahrradklingeln schepperte leicht, ein Kind lachte. Ich dachte an Bens Anruf.

Ich setzte mich aufs Bett und schaute mir auf Netflix eine Serie über Hochsicherheitsgefängnisse in den USA an. Das Hungergefühl war verflogen. Ein Typ mit tätowiertem Gesicht starrte mich an, er saß wegen Mordes. Schon fünfzehn Jahre lang. Er schaute in die Kamera, seine Augen waren groß und dunkel wie Pferdeaugen. Er sprach sehr langsam und leise, und er sagte, dass er nichts mehr fürchte als den Tag, an dem er freikommen würde und an dem alles auf einen Schlag zerbräche, was er sich die ganzen Jahre im Knast über aufgebaut hatte. Ich dachte eine Weile darüber nach. Dann vibrierte mein Handy. Ich merkte gleich, dass sie be­­­trunken war. Es war ihre Stimme, sie klang seltsam aufgekratzt, fast fröhlich, was mich wunderte.

«Es ist lange her», sagte ich.

«Wann kommst du morgen an?»

«Um sieben.»

«Schön. Ich freu mich schon.»

«Wie geht es dir?»

«Ich weiß es nicht. Irgendwie fühl ich mich jetzt gerade das erste Mal besser, also seit letzter Nacht. Ich weiß auch nicht, weshalb ich angerufen habe. Es war eine dumme Idee, ich wollte einfach mit dir reden.»

«Das macht nichts. Ich versteh das.» Ich klappte den Laptop zu und legte mich aufs Bett. Ich merkte, dass ich lächelte.

«Ben war vorhin hier. Er kommt auch später nochmals vorbei.»

«Du solltest ihm sagen, dass er sich verpissen und dir nicht so auf die Pelle rücken soll.»

Sie kicherte. Ich hatte diesen hellen Klang völlig vergessen.

«Werde ich, Malte.» Sie klang aufrichtig fröhlich, was mich verwunderte. «Ich werde es genau so sagen. Verpiss dich und rück mir nicht auf die Pelle, Alter!»

Auch ich musste lachen.

«Er vergöttert dich.»

«Du spinnst ja», sagte sie. Sie hatte Schluckauf. Ich hatte Lust, mit ihr einen zu heben, ein kaltes Bier.

«Mir ist vorhin was aufgefallen», sagte sie. «Wir waren noch nie wirklich zu zweit alleine, oder?»

«Nein, ich glaube nicht», sagte ich und dachte, dass mir das nie aufgefallen war.

«Hast du dich verändert?», fragte sie.

«Ich weiß nicht. Das ist eine seltsame Frage.»

«Ich muss dir was zeigen, wenn du da bist.»

«Was denn?»

«Du wirst schon sehen. Du darfst dich auf eine gute Aussicht freuen, aber mehr verrate ich nicht.»

Ich versuchte mir Zürich vorzustellen, dachte an hohe Berge und fragte mich auf einmal, ob das mit dem Schnee im Sommer wirklich stimmte. Einen Moment lang wollte ich Nessa danach fragen, aber ich ließ es bleiben, die Frage kam mir bescheuert vor.

«Ich glaub, ich hab mich nicht verändert», sagte ich dann.

Ich wartete, aber sie sagte nichts. Dann begriff ich, dass sie weinte. Ich hörte es ganz deutlich.

«Es tut mir sehr leid. Das alles», sagte ich.

Sie brauchte eine Weile, bis sie etwas sagte.

«Nein, mir tut es leid. Es ist einfach so über mich gekommen, ich sollte mich etwas mehr zusammenreißen.»

«Du musst dich nicht entschuldigen. Es ist gut, es muss sich befreiend anfühlen.»

«Nein, das tut es nicht», sagte sie und klang ganz anders als vorhin, als sei sie auf einmal nüchtern.

«Ich werde jetzt wohl besser gehen», sagte sie dann. «Wir sehen uns dann morgen, ja?»

«Warte, Vanessa …»

«Hm? Seit wann nennst du mich denn Vanessa?», fragte sie. Ich war selbst überrascht, der Name war mir einfach rausgerutscht.

«Ich weiß auch nicht», sagte ich. «Gönn dir et­­was Ruhe, okay?»

«Ja.»

«Wir sehen uns morgen. Ich freu mich.»

Ich schloss meine Wohnungstür ab und ging die Treppe hinunter. Vor den Briefkästen des Wohnblocks blieb ich stehen. Mein Namensschild war wirklich weg. Vielleicht hatte es dieser Typ eigenhändig runtergerissen, einfach, um wieder einen Grund zu haben, sich in was hineinzusteigern. Ich suchte den Zettel auf dem Boden, fand ihn aber nicht. Dann sah ich schwarze Aschekreise auf dem Briefkasten meines Nachbarn. Jemand hatte wohl seine Zigarette darauf ausgedrückt, bevor er sie im Mülleimer daneben entsorgt hatte. Ich grinste und dachte, es gibt doch einen Gott.

In Annas Wohnung war es noch stickiger als in meiner eigenen. Es gab zwei Fenster, sie standen bei­­de gekippt. Ich öffnete sie ganz. Auf dem Boden lag ein schwarzer Rollkoffer. Er war offen, ich konnte einige ihrer Blusen erkennen und eins ihrer Sommerkleider, das darin lag. Anna war gerade mit dem Duschen fertig geworden, als ich ankam, und jetzt war sie im Bad.

Ich war schon eine Weile nicht mehr hier gewesen, da ich wegen des Beins zu Hause festsaß.

Mir fiel sofort eine kahle Stelle in ihrem Schlafzimmer auf, wo früher das Theaterplakat des «Dorian Gray» gehangen hatte. Ich wollte sie fragen, ob ich es haben könnte, wenn sie es selbst nicht mehr wollte. Sie kam aus dem Badezimmer, und ihr blondes Haar war nass und ganz dunkel, als sie zu mir trat und mich küsste. Sie trug ein blaues Sommerkleid aus dünnem Stoff. Es fühlte sich wie Krepppapier in meinen Händen an. Dann ging sie in die Küche und fragte mich, ob ich schon gegessen hätte, es sei noch Brot da, und ich sagte ihr, ich hätte auf dem Weg was gehabt. Sie machte sich ein Sandwich und sprach von einer Arbeitskollegin, die ihr auf die Nerven ging. Ich hörte eine Weile zu, bis mein Blick wieder auf den Koffer fiel, der auf dem Boden lag.

«Wann sagen sie dir nochmal Bescheid?», fragte ich und deutete auf ihn. Ich merkte, wie mir warm wurde, wie sich etwas in mir ausbreitete und wie sich alles anspannte. Sie legte ihr Sandwich auf den Küchentisch.

«Hast du die Zusage schon bekommen?», fragte ich. «Wieso sagst du mir das nicht? Wieso verheimlichst du mir solche Dinge immer?» Ich trat nah an sie heran.

Sie schüttelte den Kopf. «Dieser Koffer gehört mir nicht. Mein Bruder hat ihn mir vorgestern vorbeigebracht. Ich wollte nur sehen, was ich alles hineinkriegen würde.»

Ich sagte nichts. Dann berührte ich ihren Arm.

«Es tut mir leid», sagte ich. «Lass uns das vergessen. Bitte. In ein paar Tagen bist du vielleicht schon in Schweden.»

Sie sagte nichts.

«Ich hatte eigentlich was ganz anderes vor», sagte ich. «Ich wollte mich bei dir bedanken. Die letzten Monate, die vielen Abende bei mir daheim. Das ist nicht selbstverständlich, ich weiß das. Das ge­­bro­­­chene Bein hat mir echt nichts mehr ausgemacht dank dir.»

Jetzt kam sie zu mir und lächelte mich an.

«Ich hab das gern gemacht.»

«Ich glaub, ich brech mir auch noch das andere Bein.»

«Du bist so ein Idiot.» Sie lachte.

Anna fragte, ob ich mit ihr ein Bier teilen wolle, und ich sagte Ja. Wir setzten uns auf ihr Bett, tranken aus derselben Dose, und sie erzählte wieder von ihrer Arbeit. Irgendwann beugte ich mich vor und küsste ihren Hals. Sie seufzte. Es war ein Laut, der alles andere verstummen ließ, den Straßenlärm, der durch das offene Fenster drang, das Surren des Kühlschranks aus der Küche. Ihre Haut war warm und weich wie Samt. Ich sah die Schweißperlen auf ihrem Hals, der ganz leicht zu zittern schien, sodass sie tanzten auf ihrer blassen Haut. Ich küss­te die weiche Stelle hinter Annas Ohr, roch ihr Parfüm, den Duft ferner Orte, der sich mit dem Geruch von frischem Schweiß mischte. Ich fühlte mich zu­­frie­den, geborgen. Ich sah das Muttermal über ihrem Bauchnabel, berührte es mit meinen Lippen, fühlte die Wärme, spürte, wie sie dabei ganz leicht zusammenzuckte, und ich versuchte, mir das alles einzuprägen, diesen Geruch zu speichern. Ihr Blick wanderte über mein Gesicht, blieb an meinen Lippen hängen. Sie sah mir lange nicht in die Augen. Ich suchte ihren Blick, aber sie erwiderte ihn nicht, starrte immer noch auf meinen Mund. Der Raum um uns herum versank in diesem schummrigen Abendlicht, ein künstliches Licht, das durch die Vorhänge drang und alle Farben dämpfte.

Wieder dieses Geräusch.

Wir sahen beide hin. Mein Handy lag auf dem Nachttisch neben ihrem Bett. Dieses blauweiße Licht. Kurz schoss es mir durch den Kopf, es sei Finn, der mir schrieb. Wir hielten einen Moment inne, aber ließen das Handy liegen. Wir küssten uns wieder, und das Licht erlosch nach einigen Sekunden. Aber ich wusste, dass wir noch beide daran dachten.

Die warme Luft staute sich unter der niedrigen Decke. Wir lagen noch eine Weile auf dem Bett, das Laken klebte an unseren Rücken. Anna hatte ihren Kopf auf meine Brust gelegt, ich spürte ihr Haar auf meiner Haut, hörte unseren schweren Atem. Ich hatte Lust auf einen Spaziergang, auf die Nachtluft, den kühlen Wind.

Ich setzte mich auf und griff nach dem Handy. Es war keine Nachricht, es war eine Eilmeldung irgendeiner App. Mehrere Verletzte bei Anschlag in Stockholmer Altstadt. Motive unklar. Regierung er­­­höht Sicherheitsstufe. Ich dachte daran, dass Anna in einigen Tagen vielleicht schon in Schweden sein würde, und drehte mich nach ihr um. Sie lag auf ihrer Seite, das Leintuch verdeckte ihre Brüste, ihre Beine lagen frei. Ihre Augen waren halb geschlossen, sie war kurz davor einzuschlafen. Ich ließ mich wieder auf das Bett sinken und legte meinen Arm um sie, und sie drückte sich an mich. Ihr Nacken strahlte Wärme aus wie ein kleiner Heizkörper. Ich ließ meine Hand über ihre Hüften gleiten und küss­te ihren Nacken. Und ich horchte, konnte ihren Atem hören, regelmäßig, ruhig. Ich sagte ihr nochmals, dass es mir leid tat. Sie antwortete nicht. Sie war eingeschlafen.

Ich sagte mir selbst, dass ich einen Wecker stellen sollte, aber dann vergaß ich den Wecker und den nächsten Tag und all das, was mir bevorstand. Ich dachte an die glänzenden Schweißperlen auf Annas Hals, an dicke Briefumschläge, an blau ge­­färbten Schnee.

All das hier

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