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Als ich am nächsten Tag aufwachte, war Anna weg. Die Wohnung leer, abgedunkelt, friedlich und still. Nur die Luft war wahnsinnig trocken, ich spürte ein Brennen in den Augen. Ich setzte mich auf. In ein paar Stunden fuhr mein Zug, ich musste noch die Tasche aus meiner Wohnung holen. Mit der Zahnbürste im Mund kochte ich einen Kaffee. Annas Sandwich von gestern Abend lag immer noch angebissen auf dem Küchentisch.

Auf dem Weg zu meiner Wohnung erinnerte ich mich, dass ich von Finn geträumt hatte. Und von Ben und Nessa, die ich heute wiedersehen würde.

Wir waren auf einer Feier in Hamburg, auf dieser Studentenparty, wo wir an einem der letzten ge­­­meinsamen Abende im Schanzenviertel wirklich gewesen waren und irgendein Typ durchdrehte und mit der Faust eine Scheibe einschlug.

Ich stand mit Ben in einer Ecke des Raums, ein Glas in der Hand. Dann drehte ich mich zu Ben um und dieser, der kräftig, fast Furcht einflößend breit gebaut war, sah auf einmal zerbrechlich aus und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Er wirkte abgemagert und blass, trug ein weißes T-Shirt, und ich bemerkte erst nach einiger Zeit, dass es blutverschmiert war. Das Blut lief aus seiner Nase. Ben sprach mit mir, und ich schaute auf seinen Mund, der sich bewegte. Aber ich verstand ihn nicht, sah bloß das Blut, das sich weiter ausbreitete. Ich sah das Rot auf dem weißen Stoff, die Farben der Schweiz. Ben wischte das Blut nicht weg, er redete einfach weiter und alles lief ihm übers Kinn. Ich fragte mich, ob er verrückt geworden sei, und starrte einfach weiter auf sein T-Shirt. Er redete immer noch und ich verstand kein Wort und wusste auch nicht, weshalb ich ihm noch zuzuhören versuchte. Dann war er verschwunden, und ich saß plötzlich mit Nessa auf einer Couch, sie sah gelangweilt aus, und Techno-Musik plärrte aus den Boxen. Der ganze Raum schnaufte, schwitzte. Mein Glas war leer und ich dachte, dass ich betrunken war. Nessa trug einen Kapuzenpullover mit einem Bild von Bob Marley. Sie hatte eine kurze Hose an und eines ihrer Beine lag ausgestreckt auf meinem Schoß. Auf ihrem Oberschenkel das Tattoo einer Rose mit langem Stiel. Ich fragte mich, wie spät es war, und spürte ihr Bein, das sich irgendwie leicht und warm anfühlte, und mir war, als sei ich gelähmt.

Dann stand ich inmitten der feiernden Leute. Finn stand auf neben mir und sah gut gelaunt aus, bewegte sich dabei zum Takt der Musik, und seine dunklen Locken wippten hin und her. Er hielt eine Flasche Schnaps in der Hand und bedeutete mir da­­mit mitzukommen. Wir kamen in einen Gang, wo er auf eine der Türen zusteuerte. Das Zimmer war leer und sah aus wie eine Art Büro mit Schreibtisch und Buchregal, auf dem Boden lag ein kit­schi­ger Orientteppich, dunkelrot, lila, golden. Finn be­­trat den Raum, setzte sich auf diesen Teppich und stellte die Flasche sorgfältig neben sich hin. Er sah aus wie eine Figur aus einem Märchen, unecht.

«Du bist der verdammte Aladin», sagte ich.

Er grinste.

«Wo stecken die anderen?», fragte ich.

«Ist doch egal, was die anderen machen», sagte er.

Ich setzte mich zu ihm auf den Teppich, während er in seiner Hosentasche herumkramte. Nach einer Weile schien er gefunden zu haben, was er suchte. Er lächelte mich an, und zwischen seinen Lippen konnte ich die Pille erkennen, er sah aus wie ein Kind mit einem Bonbon im Mund. Dann hörte ich ein knackendes Geräusch, er schluckte und hielt mir die andere Hälfte hin. Wir spülten mit einem Schluck aus der Flasche nach, es war Gin, und Finn ließ sich mit dem Rücken auf den Teppich fallen. Ich tat es ihm gleich, und wir lagen nebeneinander da, ich konnte die Borsten des Teppichs spüren, sie waren wie winzig kleine Nadeln unter meinem Rücken, ich dachte an Fakire und wie sie tagelang auf diesen Nagelbrettern lagen. Finn drehte sich zu mir hin, kam näher, dann spürte ich seine Lippen auf meinen. Ich konnte den beißenden Geruch des Alkohols riechen, ich dachte an den Chemieunterricht in der Schule und dass der chemische Ausdruck für Alkohol Ether oder so ähnlich lautete, ein seltsames Wort, und ich dachte, so muss der Tod riechen. Dann spürte ich Finns Hand auf meiner Haut, wahnsinnig warm, seinen Atem an meinem Ohr, am Hals, ich fragte mich, was ich mit meinen eigenen Händen tun sollte. Wir fielen in diesen seltsamen Zustand, eine Art angenehme Betäubung zusammen mit dem Gefühl, dass du dich ausbreitest, über deinen Körper hinaus, dass du innerlich explodierst, lautlos, getragen vom weichen Teppich unter uns.

Auf einmal drang die tosende Musik zu uns in den Raum mit der Wucht einer Druckwelle. Ich löste mich ruckartig von Finn und wandte mich um. Die Tür fiel sofort wieder ins Schloss. Ich drehte mich auf den Rücken, starrte an die Decke über uns und dachte an den Eindringling, der die Tür geöffnet hatte und ich fragte mich, was gerade eben passiert war, und dass Anna und die anderen sich schon lange fragen mussten, wo wir steckten, und dann fragte ich Finn, ob er gesehen hatte, wer das eben gewesen war, er sagte Nein, als sei es ihm scheißegal, und ich starrte weiter an die Decke, bis sich das Bild vor meinen Augen auflöste und alles verschwand außer dem plötzlichen Gefühl, dass ich das alles schon einmal erlebt hatte, und ich wachte auf.

Auf dem Weg zum Bahnhof waren nur wenige Menschen auf der Straße. Die Hitze donnerte auf einen herab, aber sie kam auch von unten, stieg auf vom Asphalt. Vor mir der Nacken eines Mannes, der zwischen Hemdkragen und dunklem Haar aufblitzte. Verbrannt und glänzend in der Sonne, wie frische rote Farbe.

An einer Litfaßsäule riss ein Typ irgendein Plakat herunter. Er erwischte immer nur einen Streifen des Papiers. Aber er machte weiter damit. Ich blieb stehen, das Plakat war nicht mehr zu erkennen. Er drehte sich um, starrte mich an.

«Was glotzte so?»

«Was reißt du da runter?»

«Irgend so’n Plakat.»

«Ach was.»

«Biste’n Bulle oder was?»

«Ja», sagte ich und grinste ihn an. Aus irgendeinem Grund wollte ich wissen, wieso er hier war und Plakate herunterriss.

Er verstand wohl nach ein paar Sekunden, dass ich nicht einfach weitergehen würde.

«Irgendein Film oder so. Ne nackte Olle ans Kreuz genagelt. Gottlose Scheiße», sagte er.

«Hast du ihn gesehen?», fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte.

«Ne», sagte er. «Hab ich nich.»

Ich trat näher, er grinste jetzt auch. Er hielt den einen Streifen wieder an das Plakat, damit ich er­­ken­­nen konnte, was darauf abgebildet war. Er gab sich sogar Mühe, platzierte den Fetzen sorgfältig an der richtigen Stelle. Es war ein bekanntes Theaterstück, eins dieser Art, wie sie gerade überall ge­­spielt wurden und deren Vorlagen aus alten Texten be­­standen von Autoren, die in den Irrenanstalten da­­für krepiert sind. In jedem der Stücke frisst ir­­gend­einer auf der Bühne Scheiße, und du kannst darauf wetten, dass es mindestens eine Szene gibt, wo sich irgendwer vor dem Publikum einen runterholt und dabei ordentlich Blickkontakt mit den Zuschauern hält. Aus irgendeinem Grund fuhren alle gerade total auf diese Stücke ab. Und dieser Typ stand hier in der Hitze und riss das Plakat herunter, als würde das irgendwas verändern.

«Ich mach das nicht wegen der Kirche, die ist mir schnuppe», sagte der Typ plötzlich. «Die Kinderficker können mir gestohlen bleiben, weißt du.» Er fuchtelte mit dem Papierfetzen herum und erinnerte mich an meinen verrückten Nachbar, der gestern mit den Briefen vor meiner Nase herumgewedelt hatte. Ich schätzte sein Alter auf etwa fünfzig, war mir aber nicht sicher.

«Aber das hier, das hier geht nicht. Das können ja auch alle Kinder sehen, die hier vorbeilaufen, verstehste?»

Ich nickte. Mir fiel auf, dass ich die Plakate an den Litfaßsäulen normalerweise nicht einmal be­­merkte. Ich wäre auch hier daran vorbeigelaufen, wenn er nicht gewesen wäre.

All das hier

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