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Friedensgespräche

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„Der Weltpräsident kommt zu uns?“, rief Frank völlig verblüfft, sein Sessel kippte fast nach hinten weg.

Auch Julia stand mit weit aufgerissenen Augen vor dem Fernsehkasten und verfolgte die Nachrichtensendung auf dem ausländischen Kanal. Friedrich hingegen spielte am anderen Ende des Wohnzimmers mit einigen Bauklötzen, lachte ab und zu laut auf und schien die weltpolitische Brisanz des angekündigten Staatsbesuches ziemlich zu ignorieren.

„Der Weltverbund hat sich entschlossen, dem russischen Diktator Artur Tschistokjow eine Chance zu geben und wird in Zukunft versuchen, auf diplomatischem Wege eine Einigung mit dem neu entstandenen Nationenbund der Rus zu erzielen.

Bei diesem ersten Friedengespräch mit Russland wird es unter anderem um eine zukünftige Neuausrichtung der außenpolitischen Verhältnisse gehen, allerdings werde der Weltpräsident auch die Problematik der Aufrüstung und der Menschenrechtsverletzungen in Russland ansprechen“, verkündete die Nachrichtensprecherin.

„Dieser Hund kommt tatsächlich zu uns! Ich dachte, dein Vater hätte einen Scherz gemacht, als er mir erzählt hat, dass Artur den Kerl empfangen will“, murmelte Kohlhaas in Julias Richtung. Er konnte es einfach nicht fassen.

„Humanität und Pazifismus sind die Grundpfeiler der neuen Weltordnung und es ist wichtig, auch Staaten wie Japan und Russland zurück in den Kreis der friedliebenden Nationen zurückzuführen und Kriege in Zukunft zu verhindern“, erklärte der Weltpräsident bei einer Pressekonferenz in New York.

Frank und Julia rümpften die Nasen; sie betrachten die neue Taktik des Weltverbundes mit berechtigter Skepsis.

„Die planen doch wieder etwas“, flüsterte die Tochter des Außenministers, gebannt auf den Fernsehbildschirm starrend.

„Humanität und Pazifismus! Wie lächerlich!“, zischte Frank und schaltete das Gerät ab.

Die nächsten Stunden dieses aufregenden Tages waren von langen Gesprächen zwischen Julia und ihm geprägt. Auch Alfred kam mit Svetlana zum Abendessen vorbei, um sich ausführlich über die neue Situation auszulassen. Franks bester Freund wirkte ebenfalls verstört und stellte wilde Spekulationen bezüglich des baldigen Besuches des Weltpräsidenten an.

Sie hatten mit vielem gerechnet, aber nicht damit. Dass die Logenbrüder auf einmal vorgaben, den Frieden zu wollen, verwirrte sie zutiefst. Zwei Tage später wurden Frank und Alfred von einem aufgeregten Artur Tschistokjow nach St. Petersburg gerufen, um an den Vorbereitungen für den historischen Staatsbesuch mitzuwirken.

„Die Waräger sollen als meine Ehrengarde Spalier stehen, wenn der Weltpräsident kommt“, ordnete das Oberhaupt des Nationenbundes an. Er machte den Anschein, als würde zumindest ein Teil von ihm doch an ein friedliches Auskommen mit dem Weltverbund glauben.

Frank sagte Tschistokjow hingegen gehörig die Meinung. Er war außer sich, ermahnte ihn, den bisher beschrittenen Weg nicht zu verlassen und keine Zugeständnisse zu machen. Ähnlich verhielt sich auch der japanische Präsident Matsumoto, der seinen russischen Bündnispartner mehrfach zu überzeugen versuchte, das Treffen wieder abzusagen.

„Diese Verbrecher können nur mit dem Schwert niedergerungen werden. Ihre süßen Worte sind nichts als Dolche, die sie uns in den Rücken stoßen wollen!“, erklärte der Japaner, doch der Anführer der Freiheitsbewegung ließ sich nicht beirren. Er war fest entschlossen, den Weltverbund diesmal nicht vor den Kopf zu stoßen.

„Ich lasse mich schon nicht einwickeln“, versuchte Tschistokjow seine Getreuen zu beruhigen, aber Frank, Wilden und viele andere blieben dennoch skeptisch.

„Ich würde den Weltpräsidenten viel lieber über den Haufen schießen, wenn ich ihn schon einmal so nahe vor der Mündung habe!“, entgegnete Kohlhaas Tschistokjow daraufhin.

Doch es half alles nichts. Es dauerte nicht mehr lange, da zeigte das Kalenderblatt den 16. November des Jahres 2042 und der von den Medien weltweit bejubelte Staatsbesuch fand tatsächlich statt.

St. Petersburg war von Menschenmassen überlaufen und Hunderte von Polizisten und Volksarmisten sicherten die Zufahrtsrouten zum Präsidentenpalast ab, um dem prominenten Gast die ausreichende Sicherheit zu gewährleisten. Tausende von kleinen Russland- und Drachenkopffähnchen wurden geschwenkt, während sich die Masse am Straßenrand sammelte und in der Hoffnung auf eine friedliche Zukunft in Jubel ausbrach.

General Kohlhaas hätte hingegen würgen können und wurde nicht müde, diese Tatsache jedem seiner Warägergardisten unter die Nase zu reiben. Alf und er standen nun schon eine Stunde lang starr in der ersten Reihe eines Blocks grau uniformierter Elitesoldaten und warteten auf die Ankunft des Besuchers.

Heute hatten sie sich herausgeputzt wie seit Jahren nicht mehr und ihre glatt gebügelten und geschniegelten Uniformen ließen sie adrett und edel erschienen. Sogar die Knöpfe an den extra für Staatsempfänge angefertigten, neuen Soldatenkleidern blitzten und blinkten wie kleine Diamanten.

Gegen 15.00 Uhr näherte sich eine schwarze Limousine dem mit roten Samtteppichen belegten und von Warägertrupps bewachten Platz vor dem St. Petersburger Präsidentenpalast. Schließlich hielt die noble Karosse an und der Weltpräsident entstieg ihr mit galanten Bewegungen. Er strich sich durch seine geglätteten, dunklen Haare, während er den Ehrengardisten zu seiner Rechten ein selbstgerechtes Lächeln schenkte.

„Jetzt einfach die Knarre nehmen und Paff!“, fauchte Kohlhaas still auf Deutsch in sich hinein und versuchte, weiterhin geradeaus zu schauen.

„Wie bitte, Herr General?“, flüsterte sein Nebenmann.

Frank drehte ihm kurz den Kopf zu. „Ich habe nur laut gedacht.“

Seine grünen Augen pulsierten vor Hass und am liebsten wäre er losgesprungen, um den „Menschenfreund“ an Ort und Stelle in Stücke zu hacken. Doch seine Aufgabe war es heute lediglich, gut auszusehen, zu schweigen und zackig zu wirken.

Nachdem der Weltpräsident aus seiner Limousine gestiegen war, begann er sich vor den zahlreichen Kameras und Journalisten zu postieren, um einige kurze Statements abzugeben. Er bekundete seinen Willen zum Weltfrieden erneut und lächelte dabei zufrieden.

Nach einer Weile kam auch Artur Tschistokjow in einer Limousine herangefahren und das schwarze, glänzende Gefährt wurde sofort von einem gewaltigen Pulk von Berichterstattern und Journalisten belagert, so dass eine Weiterfahrt kaum noch möglich war. Heute hatten sich alle versammelt, sowohl die Vertreter der Medien des Nationenbundes, als auch Hunderte von Journalisten aus aller Herren Länder, die pausenlos knipsten, tippten und fragten.

Unter dem ohrenbetäubenden Jubel der Menschenmasse hinter den Absperrungen, die den Platz umgaben, stieg der russische Souverän aus seinem Wagen und schritt langsam auf seinen Gast zu.

„Stillgestanden!“, donnerte eine Stimme hinter dem Trupp Waräger gen Himmel und die edel uniformierten Soldaten standen stramm.

Auch Frank fügte sich murrend dem Befehl, ließ das befremdliche Szenario an sich vorbeiziehen. Jetzt standen Artur Tschistokjow und das Oberhaupt des Weltverbundes voreinander und schenkten sich gegenseitig ein skeptisches Lächeln.

„Willkommen in St. Petersburg!“, sagte Tschistokjow schließlich. Er schüttelte seinem Gast die Hand und verneigte sich höflich.

„Vielen Dank, Herr Tschistokjow! Es ist mir eine Ehre, Sie endlich einmal persönlich kennenlernen zu dürfen!“, erwiderte der Weltpräsident und die beiden Politiker drehten sich leicht zur Seite, um in zahllose Kameras zu grinsen.

Der Weltpräsident und Artur Tschistokjow unterhielten sich nun schon seit über einer Stunde, nachdem sie zuvor den üblichen Smalltalk ausgetauscht hatten. Der Vorsitzende des Weltverbundes bemühte sich, überaus freundlich und zuvorkommend zu erscheinen, um seinen Verhandlungspartner nicht zu beunruhigen. Sein russischer Gastgeber hingegen wirkte heute keineswegs so, als sei er in Höchstform, und überließ ihm zunächst das Reden.

„Wie haben Sie es geschafft, Ihre Freiheitsbewegung der Rus buchstäblich aus dem Nichts aufzubauen, Herr Tschistokjow? Bei all dem Widerstand, dem Sie sich entgegenstellen mussten?“, fragte der Logenbruder.

„Nun, ich war der festen Überzeugung, dass man sich gegen Leute wie Sie wehren muss!“, gab Artur Tschistokjow mit einem breiten Lächeln zurück.

„Ach, Herr Tschistokjow, ich hoffe, dass es in Zukunft weniger Reibereien zwischen der Weltregierung und dem Nationenbund geben wird. Wir werden sicherlich keine Freunde werden, aber wir müssen uns auch nicht mehr mit Hass und Feindschaft gegenüberstehen …“, erwiderte der Weltpräsident.

„Dann sorgen Sie doch bitte dafür, dass die ständige Hetze und Verleumdung gegen mein Land und meine Person in den internationalen Medien eingestellt wird“, sagte der abtrünnige Staatschef ernst.

„Darüber können wir sicherlich sprechen, Herr Tschistokjow.“

„Das wäre jedenfalls eine Grundlage für weitere Gespräche, Herr Weltpräsident.“

Artur Tschistokjows Gegenüber musterte diesen mit einem aufgesetzten Lächeln. Er faltete langsam die Hände.

„Gut, darauf kann sich der Weltverbund einlassen …“

„Ich werde ja sehen, ob Sie Wort halten.“

„Ja, natürlich werden Sie das, Herr Tschistokjow. Und ich will ehrlich zu Ihnen sein: Die Weltregierung möchte keinen Krieg mit Russland, da wir andere Probleme haben. Daher wollen wir mit dem Nationenbund verhandeln.“

„Die ODV-Seuche und die Zwangsregistrierungen binden Ihre Kräfte zurzeit sehr, nicht wahr?“, stichelte Tschistokjow nun.

„Die ODV-Epidemie ist nun leider einmal ausgebrochen, was uns alle sehr schockiert, und größere GCF-Kontingente sind notwendig, um für über zwei Milliarden Menschen die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten.“

„Naja, aber die Dezimierung der Erdbevölkerung hat ja auch etwas Gutes, oder nicht?“, bemerkte der russische Souverän.

Kopfschüttelnd winkte der Weltpräsident ab. Dann lächelte er kalt. „Vermeiden Sie doch bitte diese versteckten Anschuldigungen uns gegenüber. Das sind alberne Verschwörungstheorien, Herr Tschistokjow. Gut, ich weiß, Sie glauben, dass wir diese Seuche künstlich erschaffen haben, aber über derart absurde Dinge möchte ich heute nicht mit Ihnen sprechen, denn das gehört nicht zum Thema. Zudem bitte ich Sie, wenn wir schon einmal bei dieser Sache angelangt sind, solche Vorwürfe gegen den Weltverbund auch nicht mehr in den russischen Medien zu verbreiten.“

Artur Tschistokjow nickte. „Wie Sie meinen, dann schrauben wir die gegenseitige Diffamierung zurück. Das wäre mir auch sehr recht.“

Das zweithöchste Mitglied des Rates der Weisen und das offizielle Oberhaupt der Weltregierung schenkte seinem Verhandlungspartner einen Blick von mephistophelischer Fröhlichkeit, um dann zu bemerken: „Ich bewundere Sie, Herr Tschistokjow. Ihre Hartnäckigkeit und Ihre Entschlossenheit stehen der unseren in nichts nach. Wenn ich nicht auf der anderen Seite kämpfen würde, wäre ich vielleicht ihr treuester Anhänger …“

Der russische Staatschef räusperte sich und sagte für einige Sekunden nichts, aber man merkte ihm an, dass er sich geschmeichelt fühlte.

„Ich denke, dass ich auch ohne Sie auskomme!“, erwiderte er dann mit freundlicher Miene.

„Wie wollen wir denn nun weiter vorgehen? Was soll ich dem Weltverbund sagen? Will der Nationenbund der Rus den Frieden oder nicht?“, wollte der Weltpräsident wissen.

„Ja, definitiv. Ich lege keinen Wert mehr auf Krieg, wenn Sie uns nur endlich in Ruhe so leben lassen, wie wir es wünschen“, gab Artur Tschistokjow zurück.

„Wie Sie und Ihre Mitstreiter es wünschen!“, berichtigte ihn sein Gegenüber mit ironischem Unterton. „Ich glaube kaum, dass alle Russen, Ukrainer und Balten mit ihrer Diktatur einverstanden sind.“

„Und ich glaube, dass der Anteil der Russen, die mir freundlich gegenüber stehen, um einiges größer ist, als der Anteil derer, die in den von Ihnen …“

„Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, Herr Tschistokjow!“, unterbrach ihn sein Gast dezent.

„Schon gut, Herr Weltpräsident!“

Jetzt lehnte sich der Logenbruder ein wenig über den Konferenztisch und sah Artur Tschistokjow tief in die Augen. „Wird das neue Russland offen sein für Handelsbeziehungen mit dem Weltverbund?“

Der russische Souverän überlegte kurz. Dann zuckte er mit den Achseln. „Das kann ich an dieser Stelle noch nicht sagen. Wie sollen diese Handelsbeziehungen denn aussehen, Herr Weltpräsident? Bisher haben Sie uns immerhin mit allen Mitteln boykottiert und isoliert.“

„Das könnte sich ändern“, säuselte dieser.

„Und was erwarten Sie von mir? Soll ich Ihre Banken wieder in mein Land lassen? Wollen Sie mir Kredite anbieten? Das können Sie vergessen!“, stellte Artur Tschistokjow klar.

„Nein, aber eine wirtschaftliche Öffnung könnte der gebeutelten Ökonomie Russlands einige Vorteile bringen.“

„Unserer Wirtschaft geht es gut und wir werden, von Japan abgesehen, von keinen anderen Handelspartnern abhängig sein. Aber es bewegt mich, dass Sie sich solche Sorgen um unser Wohlergehen machen, Herr Weltpräsident.“

„Überlegen Sie es sich einfach in Ruhe. Unser Angebot steht. Die Weltregierung will Frieden und offene Handelsbeziehungen, das kann ich Ihnen jedenfalls versichern.“

„Gut, ich werde darüber nachdenken“, versicherte der russische Staatschef.

Sein Gesprächspartner nickte zufrieden und erklärte diese erste Verhandlung für abgeschlossen. Die beiden Politiker beendeten ihre interne Sitzung, verließen den kleinen Konferenzraum im Präsidentenpalast, um sich anschließend den vor der Tür lauernden Schwärmen von Journalisten und Kamerateams zu widmen. Das erste Friedengespräch zwischen Artur Tschistokjow und dem Weltpräsidenten war vorbei. Nun wartete noch eine lange Pressekonferenz auf die beiden Politiker.

„Meilenstein auf dem Weg zum Weltfrieden!“, titelte am nächsten Tag die größte Zeitung Nordamerikas, während die Volkszeitung der Rus das hochbrisante Gespräch in St. Petersburg mit der Schlagzeile „Artur Tschistokjow kämpft für den Frieden!“ kommentierte.

Es folgten unzählige Fernsehberichte und Reportagen auf sämtlichen Kanälen quer durch alle Länder des Erdballs und beide Seiten waren bemüht, sich als die jeweils größten Friedensapostel zu präsentieren.

Es war jedenfalls eine Tatsache, dass Artur Tschistokjow das unerwartete Angebot des Weltverbundes in erster Linie mit seiner eigenen politischen Macht erklärte und verkündete, dass die Logenbrüder Russland inzwischen offenbar fürchteten.

Viele seiner Kabinettsmitglieder sahen das hingegen anders, sprachen von einer „neuen Form der Zersetzungsarbeit“ des Feindes und wurden nicht müde, ihren Anführer vor weiteren Verhandlungen mit der Weltregierung zu warnen. Doch der russische Souverän winkte ab und ließ die Kritik seiner Berater ins Leere laufen. Tschistokjow betonte ihnen gegenüber, dass man keine Chance auf Frieden vertun sollte.

Außenminister Wilden und die anderen Kabinettsmitglieder waren mit ihrem politischen Latein am Ende. Die zum ersten Mal verhältnismäßig positiven Berichte in der internationalen Presse schienen regelrechter Balsam für die Seele des russischen Staatsoberhauptes zu sein. Dieser genoss es offenbar, dass er endlich einmal nicht als „wahnsinniger Diktator“ oder „gefährlicher Kriegshetzer“ beschimpft wurde.

So hielt Artur Tschistokjow nun auch im ganzen Land flammende Reden, in denen er seinen festen Willen zum Frieden beteuerte. Er sprach vom „Ende der Eiszeit“ und spielte damit auf den historischen Kalten Krieg zwischen der Sowjetunion und den USA an.

„Einen solchen Zustand wollen wir nicht noch einmal haben. Jahrzehnte voller Misstrauen und Hass sind das, was unser kriegsbeuteltes Land zurzeit am wenigsten gebrauchen kann“, sagte Tschistokjow vor Tausenden seiner Rus bei einer Rede in Smolensk.

Trotzdem schlug dem einst so revolutionären und radikalen Rebellenführer von Seiten seiner alten Kämpfer nach wie vor großes Unverständnis entgegen. Dass gerade er, der ansonsten immer seine unüberwindliche Feindschaft gegenüber den Logenbrüdern unterstrichen hatte, jetzt auf einmal vom Frieden mit dem Todfeind sprach, wirkte auf viele Rus nicht ganz zu Unrecht befremdlich.

Frank und Alfred waren inzwischen wieder nach Minsk zurückgekehrt. Auch sie waren keineswegs von Artur Tschistokjows neuem Weg angetan und wandten ihre Aufmerksamkeit Wichtigerem zu. Frank verbrachte seine Zeit mit Julia und Friedrich, die sich schon riesig auf das Weihnachtsfest freuten. Für Anfang Dezember planten sie noch eine kleine Rundreise durch Weißrussland und wollten sich ein paar ruhige Tage in Brest gönnen.

„Soll doch Artur erst mal machen, was er will“, meinte Bäumer zum Abschied zu den beiden. Und sicherlich war ein dauerhafter Frieden für sie alle auch nicht die schlechteste Option, wie sich Frank selbst eingestehen musste.

Julia atmete die kühle, frische Luft tief ein, während sie von den Zinnen einer alten Burg auf die Stadt Brest hinabblickte. Heute schien die Sonne noch einmal mit aller Kraft durch den ansonsten wolkenverhangenen Dezemberhimmel.

„Papa, was ist das für ein Ding?“, wollte Friedrich wissen. Er zupfte Frank an der Hose.

„Meinst du dieses Gebäude?“

„Ja! Wie heißt das?“

„Das ist eine Burg, Friedrich! Dieses ganze Ding nennt man eine Burg!“

„Burg?“

„Ja, da haben früher Ritter gelebt …“

Der Kleine runzelte die Stirn: „Ritter? Was sind denn das?“ „Das sind in der alten Zeit Soldaten gewesen“, erläuterte Frank, seinem Sohn zulächelnd.

„So wie du, Papa?“

Julia grinste und wandte ihren Kopf Kohlhaas zu. „Papa, der edle Ritter …“

„Ja, so ähnlich. Aber die Ritter hatten Rüstungen und Schwerter – keine Sturmgewehre.“

„Sturmgewehre?“, Friedrich kratzte sich am Kopf.

„Nun erzähle dem Jungen doch nicht dieses militärhistorische Zeug, Frank!“, stöhnte Julia und ging zu einem kleinen Würstchenstand am Ende des Platzes.

„Das ist jetzt etwas schwierig zu erklären, Friedrich …“

„Sind das so Soldaten, wie du sie hast, Papa?“

„Meinst du meine Orks aus Zinn?“, fragte Frank.

„Ja, solche Monster. Die haben auch Schwerter und so.“

„Aber die Ritter waren nicht grün“, scherzte Kohlhaas. „Komm ich zeige dir, wie ein Ritter aussah.“

Vater und Sohn gingen ein wenig durch die alte Burg und kamen schließlich zu einem Gemälde, das einen Ritter darstellte. Friedrich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

„So sahen die Ritter aus. Sie hatten eiserne Rüstungen und Helme“, bemerkte Frank.

„Oooh, ich wäre auch gerne so ein Ritter. Die sehen toll aus, Papa!“

Kohlhaas schmunzelte. „Kannst du denn überhaupt kämpfen, du kleiner Winzling?“

Friedrich antwortete auf diese Frage mit einem lauten Gejohle und versuchte, seinem Vater einen Tritt zu verpassen. Lässig wich Frank dem kleinen Beinchen aus. Er fing seinen Sohn auf, bevor dieser nach vorne über purzelte.

„Klar! Ich kann auch kämpfen, Papa!“, quiekte Friedrich und krallte sich am Hosenbein seines Vaters fest.

„Arrgh!“, rief er dann. Frank hob den Jungen hoch.

Inzwischen hatten sich einige Besucher der Burg umgedreht und warfen den beiden verstörte Blicke zu. Friedrich lachte und johlte immer lauter, bis sich Julia hinter ihnen räusperte. Die hübsche Frau schüttelte den Kopf.

„Musst du dem Kleinen denn immer diesen Mist beibringen und so wild mit ihm herumtollen?“, rügte sie Frank.

„Wir haben doch nur ein wenig gespielt“, verteidigte sich dieser kleinlaut.

„Ich frage mich manchmal, wer von euch beiden vier Jahre alt ist“, sagte Julia. Sie nahm Friedrich an die Hand.

„Papa wollte mir zeigen, wie die Ritter kämpfen, Mama!“, versuchte der Kleine seiner Mutter zu verdeutlichen, doch diese winkte ab.

„Jetzt ist Schluss mit diesem Unsinn und gekämpft wird heute gar nicht mehr. Iss jetzt erst einmal deine Wurst, Friedrich.“

Wenige Minuten später waren die drei wieder in den Burghof gegangen; der Junge mampfte laut schmatzend vor sich hin.

„If will auf mal ein Riffer werfen“, sagte Friedrich mit vollen Backen und schmiegte sich an seine Mama.

„Aber zuerst musst du mal deine Wurst essen, klar?“, erwiderte Julia, dem Knirps den Kopf tätschelnd.

So widmete sich der kleine Sohn erst einmal dieser Aufgabe und stellte seine Ritterkarriere hinten an.

Die 12 Mitglieder des Rates der Weisen hatten sich heute in einem Chicagoer Hotel getroffen und waren gespannt, was der Weltpräsident bezüglich des jüngsten Treffens mit Artur Tschistokjow zu berichten hatte. Dieser wirkte zuversichtlich und strahlte eine gewisse Genugtuung aus. Um ihn herum hatten sich die anderen Mitglieder des obersten Gremiums der weltweiten Logenorganisation auf ihren Stühlen niedergelassen; neben dem Weltpräsidenten saß der Vorsitzende des Rates der 13.

Der ergraute, zutiefst verschlagen wirkende Mann stand auf und verzog seine leicht wulstigen Lippen zu einem kurzen Lächeln.

„Unser Bruder wird uns nun von seinem Treffen mit Artur Tschistokjow berichten.“

„Danke, Meister!“, sagte der Weltpräsident leise, um dann mit seinen Ausführungen zu beginnen.

„Es war schön in St. Petersburg, das vorweg. Dieser Tschistokjow ist ein hoffnungsloser Idealist. So wirkt er jedenfalls auf mich. Sicherlich ist er auch ein Fanatiker gegenüber denen, die sich ihm offen als Feinde in den Weg stellen, aber sobald man auf ihn versöhnlich einwirkt, wird er immer ruhiger und freundlicher.“

„Was ist er für ein Mensch? Welche Aura hat er?“, redete ein Großbankier dazwischen.

„Jetzt bitte keine Zwischenfragen! Darauf komme ich später zurück“, fuhr ihn der Weltpräsident an. Er erzählte seinen Brüdern in allen Einzelheiten von dem ersten Friedensgespräch; diese lauschten gespannt, wirkten erstaunt. Was die Führungsköpfe des Geheimbundes, die obersten 12 Auserwählten und Weisen, jetzt hörten, stimme sie, wenn sie diesen Gemütszustand überhaupt kannten, fröhlich.

Der russische Staatschef hatte offenbar charakterliche Eigenschaften, die ihn gegenüber denen, die keinen Charakter besaßen, verwundbar machten. Warum sollte man Artur Tschistokjow weiter mit offenem Hass begegnen, wenn man als „Freund“ viel leichter in sein Haus gelangen und ihn erdrosseln konnte, gab der Weltpräsident zu verstehen. So hatten es die Vorgänger der hier versammelten Großmeister in den alten Zeiten, noch bevor die Organisation die Weltherrschaft erlangt hatte, häufig gehandhabt. Sie waren nun einmal die Meister der Lüge und Verdrehung, denn diese Waffen waren oft viel gefährlicher und wirksamer als die größten Armeen.

„Tschistokjow hat tatsächlich gesagt, dass er über Handelsbeziehungen mit uns nachdenkt“, höhnte der Weltpräsident und bösartiges Gelächter schallte ihm aus allen Richtungen entgegen.

„Sicherlich versucht auch er nur zu bluffen, Bruder!“, gab einer der Anwesenden zu bedenken, doch der Vorsitzende des Rates entgegnete ihm, dass sich der russische Staatschef damit in ein Gebiet begeben würde, in dem ihn der sichere Untergang erwartete.

„Ja, natürlich hat er mir beim ersten Treffen nicht sofort aus der Hand gefressen und mir zu vermitteln versucht, dass auch er noch Trümpfe in der Hand hat, aber das war beinahe kindisch. Ich habe diesen Mann, seine Blicke und Gesten studiert, während er mir gutgläubig und naiv von seinen Friedenshoffnungen erzählte. Tschistokjow glaubt tief im Inneren tatsächlich daran und das wird der Schlüssel sein, um ihn zu vernichten.“

„Wenn das so ist …“, murmelte ein Ratsmitglied dazwischen.

„Ich bin mir fast sicher, dass es so ist. Artur Tschistokjow ist im Grunde eine direkte und ehrliche Haut. Er konnte mir nicht viel vormachen und ich denke, dass der Rat der Weisen auf einem guten Weg ist, wenn er diesen Mann weiter umgarnt, so dass er gar nicht bemerkt, wie wir die Auslöschung seines Nationenbundes vorbereiten und unbeirrt weiter vorantreiben!“, erläuterte der Weltpräsident mit einem selbstgefälligen Lächeln.

Derweil erhob sich der Vorsitzende des Rates und sah über die Köpfe der ihm untergeordneten Weisen hinweg. Dann räusperte er sich, gab seinem Stellvertreter per Handzeichen die Anweisung zu schweigen.

„Vielen Dank, Bruder! Wir sind auf dem richtigen Weg, wenn wir bei Tschistokjow die Friedenstaktik anwenden. Ich glaube auch, wir kommen damit wesentlich weiter, als wenn wir ihm durch unser Verhalten das Feindbild liefern, das er erwartet. Ich befehle hiermit, die Friedensverhandlungen fortzusetzen.“

Einige Minuten später war die Zusammenkunft beendet und die Ratsmitglieder verließen das Chicagoer Hotel in der festen Überzeugung, dass Artur Tschistokjow ihren Verdrehungskünsten und Schmeicheleien auf Dauer hoffnungslos unterlegen sein würde.

Der Rest des Jahres 2042 verlief ruhig und ohne Zwischenfälle. Die Hetze gegen den Nationenbund der Rus hatte inzwischen stark nachgelassen und auch der Anführer der Rus wies die Medien in seinem Herrschaftsbereich an, hauptsächlich über innenpolitische Themen zu berichten. Und davon gab es mehr als genug, denn der russische Souverän nutzte die Entspannungsphase, um den Aufbau seines Landes unbeirrt voran zu treiben.

Mittlerweile hatte sich die Industrie weiter erholt und die Arbeitslosigkeit war in noch größerem Maße zurückgegangen. Im verschneiten Januar des folgenden Jahres lud die Freiheitsbewegung ihre Anhänger zu einer großen Veranstaltung nach Kiew ein und Artur Tschistokjow unterstrich bei seiner bejubelten Rede einmal mehr den Erfolg seiner Innenpolitik.

Einen Monat später trafen sich das Staatsoberhaupt des Nationenbundes der Rus und der Weltpräsident erneut. Diesmal kam der mächtigste Mann des Weltverbundes nach Minsk, wo er mit einer großen Parade begrüßt wurde. Artur Tschistokjow und er ließen nun die Öffentlichkeit direkt an ihrem Gespräch teilhaben und Hunderte von Fernsehkameras übertrugen das Spektakel live.

Erneut bekräftigten beide Staatsmänner ihren Willen zum Frieden und kündigten sogar einen Nichtangriffspakt für die nahe Zukunft an. Wenig später reiste der Weltpräsident weiter nach Japan und traf sich dort mit Haruto Matsumoto, um auch das Verhältnis zu Japan zu entspannen. Zwar hatte der japanische Staatschef im Vorfeld große Bedenken geäußert, als der Weltverbund ihm Verhandlungen angeboten hatte, doch war es Artur Tschistokjow gelungen, seinen Verbündeten zu überzeugen, das Angebot nicht auszuschlagen.

So wurde Tokio am 24. März 2043 ebenfalls zum Ort eines weltpolitisch höchst bedeutsamen Treffens zwischen den beiden verfeindeten Politikern. Sowohl das russische Volk als auch die überwiegende Masse der Japaner, begrüßten die Friedensverhandlungen in der Hoffnung, dass ihre Heimatländer in Zukunft von kriegerischen Auseinandersetzungen verschont würden.

Wilden hatte es inzwischen aufgegeben, seinen Freund Artur Tschistokjow zu überzeugen, die Verhandlungen mit den Logenbrüdern einzustellen, denn dieser bestand felsenfest auf deren Fortführung.

Als der Anführer der Freiheitsbewegung dem Weltverbund schließlich sogar zusicherte, dass der Nationenbund demnächst wieder die Einfuhr von Waren aus den Verwaltungssektoren Europa-Mitte und Amerika-Nord zulassen würde, gerieten der Außenminister und er ernsthaft aneinander. Ähnlich erging es Tschistokjow auch mit vielen anderen seiner alten Mitkämpfer, die ihm offenen Verrat an den Grundprinzipien der Revolution vorwarfen und ihn lauthals kritisierten.

Die von der Weltregierung kontrollierten Länder importierten allerdings im Zuge des Handelsabkommens nun auch wieder in Russland erzeugte Waren und man konnte den Eindruck gewinnen, dass die Geldinteressen der beiden verfeindeten Blöcke die ideologischen Gegensätze in Windeseile überwunden hatten.

Bereits Mitte des Jahres 2043 war ein Zustand erreicht worden, den man zumindest oberflächlich als friedliche Koexistenz der gegnerischen Mächte bezeichnen konnte. Trotzdem verhielten sich beide Seiten aber nach wie vor misstrauisch und ihre Freundlichkeit bei den diplomatischen Verhandlungen wirkte weiterhin aufgesetzt.

Auch war es keineswegs so, dass die konkurrierenden Mächte den Aufbau ihrer militärischen Kräfte sonderlich einschränkten. Im Geheimen arbeiteten Tschistokjows Wissenschaftler unter Anleitung von Prof. Hammer an neuen Waffen und fortschrittlichen Rüstungen für Infanteristen, während der Weltverbund dazu überging, zusätzliche Verbände für seine Global Control Force auszuheben. Allerdings hatte auch Frank, der sich gegenüber Artur Tschistokjow inzwischen mit allzu scharfer Kritik zurückhielt, in den letzten Monaten den Eindruck gewonnen, dass dieser mehr denn je Gefahr lief, vom revolutionären Weg der Freiheitsbewegung ab zu kommen.

Vor einigen Tagen war Frank vom Oberkommando der Volksarmee der Rus nach St. Petersburg gerufen worden, um einigen „Formalkram“, wie er es bezeichnete, zu erledigen. Die Warägergarde sollte in Zukunft deutlich vergrößert werden und das ohnehin schon harte Ausbildungssystem für neue Rekruten war noch einmal deutlich verschärft worden.

Im Zuge dieser organisatorischen Umstellung hatte General Kohlhaas von der militärischen Leitung einige zusätzliche Aufgabenfelder übertragen bekommen, sollte es noch einmal zu einem Krieg kommen. Doch dafür sprach in dieser Zeit nichts. Somit war die ganze Sache für Frank lediglich eine formale Angelegenheit.

Ansonsten hatten Julia und er ihre Ruhe vor solchen Dingen und ließen es sich gut gehen. Frank trainierte jetzt wieder täglich, widmete sich dem Sport. Er joggte mit seinem Freund Alf durch die weiten Wälder rund um Ivas und versuchte, sich durch eine Umstellung der Ernährung fit zu halten. Die regelmäßige körperliche Betätigung tat ihm gut, sie wirkte sich auch positiv auf seinen Geist aus.

Depressive Verstimmungen oder schlechte Träume waren in letzter Zeit recht selten geworden und Frank wäre auch kein Grund eingefallen, warum dieser Seelenzustand, den er in den letzten Jahren zu genüge kennen gelernt hatte, noch einmal wiederkehren sollte. Julia hatte sich hingegen wieder in ihr Studium vertieft und pendelte zwischen Ivas und Minsk, wobei sie Frank und Friedrich fast immer begleiteten. Sie hatte bereits ihre Zwischenprüfung abgelegt und unterrichtete ansonsten nach wie vor in der kleinen Schule des ehemaligen Rebellendorfes, wenn es die Zeit zuließ.

Besondere Freude hatten Frank und sie am kleinen Friedrich, der mit jedem verstreichenden Tag ein wenig mehr zu einem wissbegierigen und stets munteren Racker heranwuchs. Friedrich studierte seine Kinderbücher, die ihm Frank und Julia aus Minsk mitgebracht hatten, mit großem Eifer und konnte allmählich immer besser lesen.

„Er ist ein sehr helles Köpfchen“, sagte Wilden voller Stolz, wenn Friedrich seine neuesten Geistesblitze zum Besten gab. Und er hatte Recht.

Die Lernfähigkeit des kleinen Jungen war in der Tat verblüffend und seine Eltern freuten sich schon, wenn Friedrich endlich die Schule besuchen durfte. Ständig fragte sie der kleine Junge, wann es endlich so weit wäre, dass er richtig lesen lernen konnte. Doch der wissensdurstige Knirps musste sich noch ein wenig gedulden.

„Eines Tages wird er ein führender Mann in der Freiheitsbewegung werden“, prophezeite Wilden immer wieder, ständig betonend, dass man den Jungen so früh wie möglich in Artur Tschistokjows Jugendorganisation einbinden müsse. Die Begeisterung seiner Tochter hielt sich diesbezüglich hingegen in Grenzen.

„Er soll nicht so enden wie Frank. Ein Held in unserer Familie reicht vollkommen aus“, erwiderte sie ihrem Vater dann und begann oft einen Disput mit ihm.

So vergingen die Tage trotz gelegentlicher Meinungsverschiedenheiten in sorgloser Ruhe und besonders Frank genoss es, einmal keinen seiner Soldaten um sich zu haben. Auch seinem Hobby, dem Battle-Hammer-Spielen, ging er jetzt wieder intensiv nach und verbrachte mit HOK viele aufregende und entspannende Stunden. So konnte es bleiben, dachte sich Kohlhaas. Doch er wusste auch, dass man ihn im Ernstfall nicht nach seiner Meinung fragen würde.

Beutewelt VI. Friedensdämmerung

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