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Mardi – Dienstag Jäger oder Gejagter? Commissariat de Police, Biarritz Mardi 30 mai, 9:30

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Luc legte den Kopf in den Nacken und übte sich darin, seine Atmung zu kontrollieren. Einatmen, ausatmen, immer wieder, dann den gleichen Vorgang wiederholen, die einzelnen Atemzüge verlängern, genau wie die Pause dazwischen. An nichts denken. An gar nichts.

Er schaffte es höchstens vier Sekunden, dann sprang seine Gedankenmaschine wieder an. Verdammt. Er schloss die Augen, weil er es nicht mehr ertrug, hier zu sein. In diesem Raum, der all den Räumen so sehr glich, in denen er schon Vernehmungen durchgeführt hatte.

Eine karge, fensterlose Zelle, in der sich nur ein schlichter Resopaltisch und zwei Stühle befanden. Die eigentlich obligatorische Spiegelwand fehlte hier. Dafür hing in der Mitte des Raumes eine kleine Kamera an der Decke. Sie beobachteten ihn, da war Luc sicher. Er bemühte sich wieder um Konzentration. Versuchte, die Gelassenheit, die ihn sonst auszeichnete, herbeizuzaubern. Aber das hier war anders. Ganz anders.

Sie waren wortlos mit ihm durch die Stadt gefahren, hatten sich immer wieder Blicke zugeworfen, die irgendwo zwischen wissend und finster lagen. Sie hatten das Blaulicht angeschaltet, sodass sie durch die kleinen Gassen rasen konnten, vorbei an der Markthalle, durch die Einkaufsstraße, dann waren sie kurz vor dem Casino nach rechts abgebogen. Das Commissariat war ein schlichter Zweckbau, ein weißes Ungetüm aus den Siebzigern. Sie hatten vor der Tür gehalten, dann hatten sie ihn in eine kleine Zelle im Untergeschoss geführt. Er hatte sich auf die Pritsche gelegt, irgendwann kamen sie mit Baguette und Tee. Er hatte nichts angerührt. Nach einer schlaflosen Nacht, in der fahles Licht durch das Souterrainfenster gefallen war, hatten sie ihn in diesen Raum gebracht. Es gab keine Uhr an der Wand, deswegen konnte er nur schätzen, wie lange schon. Zwei Stunden, mindestens. Möglicherweise drei. Weil es hier kein Tageslicht gab, wusste er nicht, wie spät es war. Vielleicht war gerade die schönste Stunde für das Petit Déjeuner. Merkwürdig, dass ihm jetzt dieser Gedanke kam. Ein Frühstück in Biarritz. Mit wem sonst als mit Anouk. Wo sie wohl war? Wie es ihr ging?

Vor zweieinhalb Tagen hatte er sie zuletzt gesehen. Es kam ihm vor wie zweieinhalb Jahre.

Gerade, als er sich ihr Gesicht vorstellte, öffnete sich die Tür zum Verhörraum. Es war keiner der beiden Polizisten. Ein anderer Mann trat ein und schloss die Tür hinter sich. Er trug eine Lederjacke und dunkle Jeans. Klein und drahtig war er, vielleicht Mitte, Ende vierzig. Er hatte hellblondes Haar, nein, es war fast weiß, und nun erst nahm Luc auch seine Augen wahr: blau und stechend, glasklar, wie bei einem Husky.

Der Mann sprach kein Wort zur Begrüßung, er ging schnurstracks auf den unbesetzten Stuhl zu und setzte sich darauf, ohne ein Geräusch zu machen. Dann betrachtete er Luc lange und stumm. Erst nach einer Minute sprach er, und seine Stimme war anders, als der Commissaire es erwartet hatte. Sie war hell. Hell und freundlich.

»Ich bin Commissaire Schneider, Chef der Police nationale im Département Pyrénées-Atlantique. Bonjour, Commissaire Verlain.«

Luc wusste, dass er den Namen des Mannes schon einmal gehört hatte – erst kürzlich hatte er mit jemandem über den raschen Aufstieg dieses Mannes gesprochen. Ein beinahe kometenhafter Aufstieg, der einen anderen die Karriere gekostet hatte.

»Bonjour, Commissaire Schneider. Es freut mich, dass wir uns endlich einmal kennenlernen. Auch wenn die Umstände … nun ja, etwas merkwürdig sind. Aber jetzt wird sich ja hoffentlich alles aufklären.«

Luc versuchte, seine Stimme zu kontrollieren. Doch immer wieder brach sie, was ihn ins Schwitzen brachte. So fühlte es sich also an auf der anderen Seite. Wenn die Gewissheiten verschwunden waren – er hätte nicht gedacht, dass er sich so nackt fühlen würde.

»Ich hoffe sehr, dass sich alles aufklärt, Monsieur Verlain. Es liegt natürlich an Ihrer Mitarbeit, dass dem so ist, wenn ich das hinzufügen darf.«

Nein, freundlich war sie nicht, diese Stimme, korrigierte sich Luc, sie war kontrolliert und sponn sich um einen wie ein Netz.

»Ich denke, ich verstehe nicht recht«, sagte Luc. »Welche Mitarbeit meinen Sie? Ich fahre in meinem privaten Pkw durch Biarritz und werde auf einmal von zwei Ihrer Kollegen verhaftet – unter Angabe von Haftgründen, die völlig … absurd sind. Und nun sitze ich hier seit Stunden und kann nicht telefonieren, geschweige denn mit jemandem sprechen, und Sie erzählen mir etwas von Mithilfe. Was soll das, Commissaire? Lassen Sie mich doch wenigstens in Bordeaux anrufen, dann lässt sich alles klären.«

Commissaire Schneider hob abwehrend die Hände, dabei lächelte er freundlich, als täte ihm das alles wahnsinnig leid.

»Ich würde gerne, aber Sie kennen ja die Vorgehensweise bei derlei Dingen: Ich darf Sie nicht telefonieren lassen, sonst könnten Sie Absprachen treffen, die Ihrer Entlastung dienen – und das würde mir der Staatsanwalt um die Ohren hauen. Deshalb spielen wir einfach nach den Regeln, die Sie ja bis vor wenigen Tagen auch glänzend beherrscht haben, nach dem, was man so hört.«

Luc fuhr aus seinem Stuhl hoch, er schnellte auf die Füße und lehnte sich über den Tisch: »Was erzählen Sie denn da für einen Mist, Mann?«

Doch Commissaire Schneider ließ sich davon nicht beeindrucken, er hielt Lucs Blick stand, seine Augen aber hatten sich zu Schlitzen geformt, aus denen Verachtung sprach.

»Setzen Sie sich wieder, Monsieur Verlain. Vielleicht kann ich Ihnen helfen, wenn Sie doch alles vergessen zu haben scheinen, weshalb Sie hier sind, in unserer kleinen, aber feinen Erziehungsanstalt für vom Weg abgekommene Schäfchen. Also, die Vorwürfe, die auf Ihrem Haftbefehl stehen, lauten wie folgt: Besitz von Betäubungsmitteln in handelsüblichen Mengen, Verdacht auf Handel und Schmuggel von Betäubungsmitteln, Entführung und schließlich und endlich eine schwere Körperverletzung mit Todesfolge. Deshalb sind Sie hier, Commissaire. Vorwürfe, bei denen ich mich frage, wie es sein kann, dass Sie mit Ihrem privaten Pkw durch Biarritz gondeln, obwohl Sie doch eigentlich einen Fall zu lösen haben, da oben in Bordeaux, der arme Lucien, Sie erinnern sich?«

Luc sah ihn finster an.

»Sie wissen es so gut wie ich«, fuhr Schneider fort, »bei dieser Latte von Haftgründen ist es doch sehr unwahrscheinlich, dass gar nichts davon wahr ist – und es ist zudem sehr unwahrscheinlich, dass irgendein Staatsanwalt Ihnen da raushilft, nur weil Sie Polizist sind. Nein, nein, das sieht gar nicht gut aus, ich denke, wir werden nun eine ganze Weile miteinander zu tun haben. Es sei denn, Sie sagen mir, wie es zu all dem kommen konnte. Sie waren doch ein so geachteter Kollege.«

Luc stützte sich auf dem Tisch ab, dann ließ er sich in seinen Stuhl fallen, ganz still, ganz matt, er musste sich setzen, um nicht umzufallen. Sein Gesicht fühlte sich heiß an, gleichzeitig war ihm schwindelig. Dieses komische Karussell in seinem Kopf sollte aufhören, sich zu drehen, verdammt noch mal. Was erzählte der Mann da? Drogenhandel, Entführung, Körperverletzung mit … Todesfolge? Luc hob den Kopf wieder und sah in die hellblauen Augen, die ihn anblickten, gänzlich unverwandt und mit einem ruhigen Ausdruck – lag da etwa ein leichtes Lächeln auf den Zügen dieses Commissaire?

Etwas in seinem Kopf begann zu arbeiten wie eine Selbsterhaltungsmaschinerie: Im Lauf eines Verhörs war es die Aufgabe des Polizisten, für eine Dramaturgie zu sorgen, Stimmungswechsel einzubauen, öfter einen anderen Ton anzuschlagen. Luc entschied, dass das auch für die andere Seite gelten konnte. Er zwang sich, ruhig zu atmen, und sagte leise und verbindlich:

»O.k., Commissaire Schneider, wir beide wissen, dass das nicht sein kann. Gut, vielleicht zweifeln Sie wirklich an mir, aber dann werde ich eben Zeit brauchen, um Sie vom Gegenteil zu überzeugen.« Er machte eine Pause und betrachtete sein weiterhin regloses Gegenüber.

»Lassen Sie es uns zusammen durchgehen, ja?«, fuhr er fort. »Es gibt sicher eine gute Erklärung, auch wenn ich mir momentan nicht vorstellen kann, wie die aussehen soll – ganz einfach, weil ich schlicht nicht weiß, was überhaupt passiert ist. Aber das werden Sie mir sicher sagen können.«

»Sie sind klug, Monsieur Verlain, das ist mir schon klar. Ihre kooperative Art – das könnte einen anderen Beamten sicher täuschen. Aber nicht mich. Dennoch: Ich gehe es gern mit Ihnen durch. Also, von vorne: Wir haben eine größere Menge Kokain gefunden – in Ihrem Bungalow in Carcans-Plage. Es geht um anderthalb Kilo, sagen die Männer von der Spurensicherung. Das Zeug war gut versteckt, unter der Spüle. Es stammt, na, raten Sie mal: von einem der Strände im Aquitaine, es steckt in derselben Folie wie die anderen Funde. Für Sie wäre es eine Leichtigkeit gewesen, da ranzukommen.«

»Sie haben meinen Bungalow durchsucht?«, fragte Luc ungläubig. »Auf wessen Geheiß hin? Weshalb hatten Sie diesen Verdacht?«

»Ganz ruhig, Monsieur Verlain, das erkläre ich Ihnen gleich. Derzeit durchsuchen wir Ihr Büro in Bordeaux. Wollen doch mal schauen, ob wir da nicht auch noch was finden. Der schlimmste Tatvorwurf: Sie sind verdächtig, einen jungen Mann in Nanterre niedergestochen und anschließend verschleppt zu haben, sodass er später an seinen Verletzungen starb.«

»Ich soll was?«, schrie Luc, doch die Nennung des Ortes ließ ihn Schlimmes ahnen.

»Sie wissen, wer der junge Mann war, oder? Ich sehe es Ihnen an.« Schneider hatte Witterung aufgenommen, er war ein scharfer Beobachter.

»Ich habe keine Ahnung, was ihm zugestoßen ist«, antwortete Luc knapp, »aber Sie meinen sicher Karim Abdoulahi.«

»Richtig. Den Mann, der bei Ihrer letzten Ermittlung Ihre Freundin, Anouk Filipetti, von einer Treppe gestoßen hat.«

»Und ich habe mich also an ihm gerächt?«

Schneider zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht wollten Sie ihn nur erschrecken – und dann ist es etwas ausgeartet, schiefgegangen, wie man so sagt. Die enge Abfolge der Ereignisse lässt jedenfalls darauf schließen, dass bei Ihnen etwas ausgehakt hat, Monsieur Verlain. Das gibt es, das wissen Sie doch. Wir Polizisten sind auch nur Menschen. Bei allem, was wir jeden Tag erleben …«

»Sie haben noch etwas von einer Entführung gesagt …«

»Genau. Und deshalb werde ich Sie nun in erster Linie befragen, denn ich möchte, dass Sie mir sagen, wo die Frau ist, die Sie entführt haben.«

»Ich habe niemanden entführt …«

Schneiders Ausdruck hatte sich verändert, er beugte sich vor, als wollte er seinem Verdächtigen auf den Leib rücken, er schien auf der Hut zu sein, Luc verstand nicht, warum.

»Wo ist Cecilia Brückner?«

»Ich verstehe nicht …«

»Herrgott, Monsieur Verlain, nun hören Sie doch auf. Seit vorgestern ist die junge Frau aus Bordeaux verschwunden, Ihre alte Flamme. Die Mitbewohnerin in der WG hat die Polizei alarmiert – und die Kollegen von der Police municipale haben uns informiert, weil das Dossier gegen Sie hier im Baskenland läuft. Cecilia, die Surflehrerin aus Carcans. Die Frau, mit der Sie etwas hatten, während Sie schon mit Anouk Filipetti zusammen waren. War Sie Ihnen gefährlich geworden? Hat sie gedroht, die Affäre auffliegen zu lassen? Sie auffliegen zu lassen? Wo ist Mademoiselle Brückner?«

»Ja, hören Sie mal, ich entführe doch nicht eine junge Frau, nur weil wir mal etwas hatten. Das ist doch wohl ein Witz? Ich habe keine Ahnung, wo Cecilia ist. Gibt es denn gar keine Spur?«

»Es gibt einen Verdächtigen, Verlain, und der sitzt mir gegenüber. Sagen Sie mir, wo sie ist – wir haben keine Spur von ihr, und das beunruhigt uns sehr. Wir wollen nicht …«

»Was?«

Schneider lehnte sich wieder im Stuhl zurück, er schien sich zur Ruhe zu zwingen. Es war ein Nervenkrieg zwischen den beiden, der gerade erst begonnen hatte.

»Sie kooperieren überhaupt nicht, richtig?«

Eine kurze Pause, Schneider atmete tief durch.

»Wissen Sie, Commissaire, ich habe im Verlauf meiner Karriere, die ein wenig kürzer ist als Ihre, aber nicht minder kometenhaft, wenn ich das sagen darf, jedenfalls habe ich schon mehrfach Kollegen gegenübergesessen, die vom rechten Weg abgekommen waren. Drüben in Besançon saß ich zweien gegenüber – und auch, bevor ich den Posten hier angenommen habe, das war ein Kollege, den Sie sogar kennen. Immer ist bei den Männern eines gleich, egal, ob sie korrupt sind und es nur wegen des Geldes tun oder ob da noch viel mehr schiefgegangen ist, wie das in Ihrem Fall zu sein scheint, wenn noch Rachsucht dazukommt. Immer glauben Typen wie Sie, dass sie auf der richtigen Seite stehen, auch wenn sie nur noch eines sind: kriminelle Polizisten.«

»Sie …«

Luc sprang wieder auf, diesmal hob er den Tisch an und warf ihn zur Seite, er war leicht, als wäre er aus Pappe, und er landete mit einem verheerenden Knall auf der Platte, die vier Füße in die Luft gestreckt. Luc stürzte sich auf Commissaire Schneider, der sich nicht wehrte. Er konnte ihn einfach packen, seine Lederjacke greifen, und ihn mit dem ganzen Gewicht seines Körpers an die Wand drücken. Ihre Gesichter waren ganz nah.

»Sagen Sie das noch einmal, los …«

»Du weißt, dass das jetzt keine gute Idee war, Verlain …«, antwortete der Commissaire ohne einen Ausdruck von Angst.

Augenblicklich ging die Tür auf, und die beiden Polizisten in Uniform traten ein, einer von ihnen hatte wieder die Waffe gezogen.

»Zurück, kommen Sie weg von dem Commissaire, Monsieur!«, rief der Breitschultrige und zielte.

»Danke für die schöne Vorstellung«, flüsterte Schneider leise.

Luc sah ihn an, dann ließ er Schneider los, nicht ohne ihm noch mal einen Schubs gegen die Wand zu geben. Nun war es wirklich ein süffisantes Lächeln, das dessen Züge umspielte, ein erschrockenes zwar, aber ein Lächeln.

»Schon gut«, sagte Luc.

»Hinsetzen«, sagte der Polizist mit der Glatze. Luc setzte sich.

»Handschellen?«, fragte der andere Uniformierte und blickte seinen Chef an.

»Ich denke, es wird besser sein«, antwortete Schneider.

Luc hob die Hände, es klickte, und er legte seine gefesselten Hände auf den Tisch.

»Danke, Männer«, sagte Schneider, und die beiden Polizisten verschwanden.

»Gut, weiter im Text.«

»Was spielen Sie hier, Commissaire? Was ist das für eine Verschwörung?«

»Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen.«

»Sie wissen doch, dass ich niemanden umgebracht habe. Sie wissen es.«

»Wo waren Sie denn in der Nacht vom 6. auf den 7. Mai?«

»Das ist doch über drei Wochen her. Warum sollte ich das noch wissen?«

»Überlegen Sie.«

»Ist am 6. Mai jemand ermordet worden?«

»Durch Ihre Hand, wie es scheint.«

»Das ist doch …«

»Genauer gesagt ist er am 6. Mai schwer verletzt und dann verschleppt worden. Gestorben ist er einige Tage später. Und dann hat man ihn noch zwei Wochen liegen lassen, irgendwo versteckt, bis er dort abgelegt wurde, wo wir seine Leiche gefunden haben.«

»Wo?«

»Das wissen Sie, Monsieur Verlain. Es ist Ihre Tat. Ihr Wahnsinn – ein Racheakt, der aus dem Ruder gelaufen ist.« Schneiders Stimme war laut und schneidend.

»Ich habe absolut nichts damit zu tun, das wissen Sie doch, Commissaire, ich stehe auf der richtigen Seite …«

Schneider hob abwehrend die Hände.

»Ich habe darüber nicht zu befinden. Das tut der Richter. Ich suche nur das Motiv. Das habe ich ja schon gefunden. Rachsucht. Sagte ich eben schon. Und das mit den Beweisen, nun, Sie kennen ja das Zauberwort: DNS.«

»Was meinen Sie damit?«

Schneider sah sich um, als befürchtete er, es wäre noch jemand im Raum, dessen Ohren das Folgende nichts anging.

»Ich darf es ja eigentlich nicht sagen – ermittlungstaktische Gründe, Sie verstehen –, aber ich will mal nicht so sein: Wir haben Ihre DNS am Tatort gefunden und am Körper von Karim Abdoulahi. In einer Hochhaussiedlung von Nanterre. Dass die DNS eindeutig und zweifelsfrei von Ihnen stammt, muss ich ja nicht erklären, oder? Wir haben in der Datenbank nach einer DNS gesucht und waren reichlich überrascht, als wir nicht in der Verbrecherdatei fündig wurden, sondern in der Datei, in der alle Polizisten des Landes gespeichert sind.«

Auf einmal wurde Luc ganz ruhig, als hätte sich in seinem Kopf ein Schalter umgelegt. Er konnte kein Wort von dem glauben, was Commissaire Schneider sagte, und doch begann etwas in ihm zu arbeiten, es war, als erklänge eine leise Hintergrundmusik.

»Wollen Sie etwas zu diesem Sachverhalt sagen, Monsieur Verlain? Sie wissen doch, ein Geständnis erleichtert den Täter immer. Und es wirkt sich auch vor dem Richter gut aus. In Ihrem Fall gibt es doch auch mildernde Umstände. Der Mann, der Ihre schwangere Freundin niederschlägt – auf den können Sie doch wirklich Groll empfinden. Das bringt sicher fünf bis zehn Jahre weniger.«

In diesem Moment klingelte in der Tasche des Commissaire ein Telefon. Das Klingeln kam Luc bekannt vor. Schneider griff danach und zeigte ein triumphierendes Lächeln.

»Na, wer sagt’s denn. Wenn man vom Teufel spricht.«

Er hielt das Handy in die Höhe, zeigte Luc das Display. Es war sein Telefon. Und auf dem Display stand groß: Anouk.

»Sie hat schon ein paarmal versucht, Sie zu erreichen, Monsieur Verlain. Aber nun wollen wir doch mal hören …«

Schneider sah zu Luc, hob den Finger an den Mund, um ihm zu bedeuten, dass er schweigen sollte, drückte den grünen Button und ein weiteres Feld, das den Lautsprecher einschaltete, dann hielt er sich das Handy ans Ohr.

»Oui, Police nationale in Biarritz, Commissaire Schneider.«

»Bonjour, mein Name ist Commissaire Anouk Filipetti … Oh, großer Gott, sagen Sie, ich suche Luc Verlain, er ist seit zwei Tagen verschwunden, ist ihm etwas passiert, wieso haben Sie sein Telefon?«

In Lucs Bauch krampfte sich etwas zusammen, groß und schwer wie ein Stein.

»Oh, Mademoiselle Filipetti, freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen. Man hört Großes von Ihnen.«

Anouk schien die Worte einzuordnen, sie antwortete nicht, doch Luc hörte sie schwer atmen.

»Hören Sie, Madame, keine Sorge, Sie sollten sich nicht aufregen, ich habe gehört, Sie sind in anderen Umständen.«

»Sagen Sie mir, wo Commissaire Luc Verlain ist. Ich suche ihn seit Tagen.«

»Oh ja, Mademoiselle, wir haben ihn auch gesucht. Aber nun haben wir ihn gefunden, und er ist wohlauf. Gesundheitlich, meine ich. Wir mussten ihn allerdings festnehmen, wegen diverser Vorwürfe. Er sitzt in Biarritz in Untersuchungshaft.«

»Was? Wieso denn das?«

Ihre Stimme war schrill, so schrill, wie Luc sie noch nie gehört hatte. Seine Anouk.

»Ich komme sofort.«

»Das sollten Sie lieber nicht, Mademoiselle«, sagte Schneider schnell. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Sie können hier nichts tun. Wir durchsuchen in diesem Moment das Büro Ihres Freundes im Commissariat von Bordeaux. Danach werden wir zu Ihnen kommen und Sie befragen. Halten Sie sich daheim zu unserer Verfügung.«

»Ich werde jetzt losfahren und nach Biarritz kommen«, gab sie zurück, ihre Stimme nun eiskalt.

»Sie bleiben, wo Sie sind, Mademoiselle. Das ist ein Befehl. Sollten Sie sich auf den Weg machen, müssen wir Sie ebenso festnehmen. Und mir steht nicht der Sinn danach, eine Gefängnisgeburt durchführen zu müssen.«

Luc wollte ihm gerne an die Gurgel gehen, aber mahnte sich zur Ruhe. Später. Später.

»Wie geht es Luc?«, fragte Anouk.

»Es geht ihm gut«, sagte Schneider. »Gedulden Sie sich. Weitere Neuigkeiten später. Einen guten Tag.«

Bevor er auflegen konnte, hustete Luc auf einmal deutlich vernehmbar, allerdings in einem tiefen Ton, einem Stakkato, das von weit unten aus seiner Kehle kam, so hörte es sich zumindest an. Schneider betrachtete den Commissaire misstrauisch, dann beendete er schnell das Gespräch. Kopfschüttelnd setzte er sich wieder an den Tisch.

»Also, Monsieur Verlain, Ihre Liebste hat recht. Sie waren zwei Tage verschwunden. Wo waren Sie?«

Luc schwieg.

»Reden Sie, Mann.«

Doch Luc schüttelte langsam den Kopf.

»Wohin wollten Sie gerade?«

Wieder sagte Luc kein Wort, er blinzelte nicht mal.

»Ist das Gespräch für Sie beendet?«

Luc nickte.

»Für welchen Anwalt haben Sie sich denn entschieden? Sie werden sich ja hier in Biarritz nicht gut auskennen, soll ich Ihnen einen empfehlen?«

Luc antwortete wieder nicht.

»Gut. Hier bleiben wir ohnehin nicht, also reden wir im Commissariat von Bayonne weiter. Hoch mit Ihnen. Wir fahren.«

Luc stand auf und folgte Schneider zur Tür, was gar nicht so leicht war, weil es sich mit den gefesselten Händen schlecht lief. Sie gingen die Treppe rauf, und Schneider schaute in eine offene Bürotür. Luc erkannte die beiden uniformierten Beamten.

»Ich nehme ihn mit. In Ordnung? Wir sehen uns dann später.«

Der Kleine zog eine Augenbraue hoch und sah verächtlich zu Luc.

»Wollen Sie wirklich allein fahren, Chef? Sollen wir nicht lieber mitkommen?«

»Das passt schon, na, hört mal, ich bin doch keine Memme.«

Sie lachten, alle drei, es wirkte wie eine Farce. Luc wurde wütend, ließ sich aber nichts anmerken. Er folgte Schneider zu dessen Wagen, der vor dem Commissariat geparkt war, eine schwarze Limousine, ein neues deutsches Modell, ein Auto, das sich im Hôtel de Police von Bordeaux niemand bestellt hätte, nicht einmal Commissaire général Preud’homme – und der hatte dreißig Dienstjahre mehr auf dem Buckel als dieser Schnösel.

Schneider ließ Luc zu seinem Erstaunen vorne auf dem Beifahrersitz einsteigen, dann nahm er am Lenkrad Platz, ließ den Motor an und lenkte den Wagen auf die Hauptstraße. Allerdings nahm er nicht den Weg in Richtung der Nationalstraße, die nach Bayonne führte, sondern fuhr die kleine Straße gen Norden, in der das Casino stand, vor dem sich direkt der Hauptstrand erstreckte. Commissaire Schneider setzte seinen Blinker und hielt hinter dem Casino auf dem Seitenstreifen, er schaltete die Warnblinkanlage ein und machte den Motor aus. Dann wandte er sich langsam zum Beifahrersitz, sein Atem ging schwer, als ränge er mit sich. Doch dann sagte er leise – und Luc würde lange über diese Worte nachdenken, so sehr sollten sie sich ihm einprägen:

»Wir haben ja ein schönes Schauspiel abgeliefert, da drinnen. Na gut, Sie wussten nicht, dass Sie etwas spielen sollten. Aber ich war hervorragend. Hören Sie, das hier ist noch lange nicht vorbei. Wir werden Sie wegen all der Sachen drankriegen, da habe ich keinen Zweifel. Aber es gibt etwas, das jetzt wichtiger ist als die Justiz.«

Er brach ab, und auf seinem Gesicht lag wieder dieses Lächeln, das Luc gerne mit einem Schlag daraus getilgt hätte.

»Ich verstehe nicht ein Wort von dem, was Sie sagen«, sagte er.

»Das kann ich nur schwer glauben. Aber gut. Ich werde auch dieses Spiel mitspielen. Sie wollten mir nicht sagen, wo Sie gerade hinwollten, als meine Männer Sie aufgegriffen haben. Ich habe keine Ahnung, warum Sie es verheimlicht haben. Nun denn, ich weiß es ohnehin. Sie wollten nach San Sebastián. Und mein Interesse ist es, dass Sie auch dort hingelangen. Sagen wir, es ist mir ein inneres Anliegen. Deshalb werde ich jetzt etwas tun – und ich erwarte, dass Sie sich noch einmal wie ein vernünftiger Mann verhalten. Wenn Sie mich angreifen, werde ich Sie erschießen. Ohne mit der Wimper zu zucken. Das werden Sie aber nicht, nicht wahr Commissaire? Weil Sie ja ein Ziel haben. Weil Sie ganz dringend etwas herausfinden müssen. Jemanden finden müssen, wie ich höre. Also …«

Er beugte sich herüber und schloss Luc, der immer noch stumm neben ihm saß, die Handschellen auf.

»… Sie werden jetzt aussteigen. Sie haben fünfzehn Minuten, um zu verschwinden. Danach werde ich Alarm schlagen. Ich werde aber sagen, dass Sie auf Höhe des Flughafens von Biarritz aus dem Auto gesprungen seien. Damit haben Sie ein wenig Zeit, um sich auf den Weg zu machen. Ich wünsche Ihnen … tja, was eigentlich? Nun, vielleicht wünsche ich Ihnen am besten eine gute Reise, wohin Ihr Weg Sie auch führen wird, Commissaire. Und nun gehen Sie.«

»Mein Handy?«, fragte Luc heiser.

»Das ist bei mir gut aufgehoben. Aber hier, Ihr Portemonnaie. Ohne Carte d’identité natürlich. Wir wollen ja nicht, dass Sie verschwinden können.«

Luc spürte, dass es sinnlos wäre, weitere Fragen zu stellen. Das alles war ohnehin komplett absurd. Also rieb er sich die schmerzenden Hände, dann öffnete er die Tür und stieg langsam aus. Er ging in den kleinen Park, in dem auch das historische Karussell stand. Er drehte sich noch einmal zu dem Wagen um. Schneider saß da und sah ihm nach. Nein, das stimmte nicht. Schneider hielt beide Hände hoch und zeigte ihm etwas. Luc kniff die Augen zusammen. Der Commissaire zeigte irgendetwas an. Er hielt fünf Finger der einen Hand hoch und zwei der anderen. Dann grinste er, Luc hörte, wie Schneider den Motor anließ, die Limousine machte einen schnellen Satz nach vorne, dann war sie hinter der nächsten Ecke verschwunden.

Was hatte er ihm sagen wollen? Fünf. Zwei. Sieben. Es ergab sieben. Und nun? Was sollte er damit? Luc sah auf die leere Straße, dann riss er sich los und lief zum Strand hinüber, durchatmen, nur durchatmen.

Baskische Tragödie

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