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Grande Plage von Biarritz Mardi 30 mai, 11:30
ОглавлениеLuc setzte sich auf die weiße Bank, die oberhalb der Strandpromenade in dem kleinen Park stand. Von der Straße aus war die Bank nicht einsehbar, er aber konnte von hier aus gut beobachten. Noch hörte er keine Sirenen, aber sie würden wohl ohnehin erst in der Nähe des Flughafens suchen, wenn Schneider sein Wort hielt.
Die Frühsommersonne wärmte die Luft schon ein wenig, doch der Wind vom Meer war noch kalt, die Gischt der Wellen legte sich wie ein feiner Nebel in die Luft, sodass das Licht überm Strand ganz diffus war, kleine Salzwassertropfen tanzten im Blau des Himmels, es war ein atemberaubender Anblick – Biarritz wie hinter einem Schleier. Rechts, hinterm altehrwürdigen Hôtel du Palais mit seinen roten Mauern, stand der weiße Leuchtturm auf der Landspitze, schroffe Felsen vor tiefblauem Meer.
Die Basken würden selbst Ende Mai niemals baden gehen, deshalb waren es nur ein paar blasse Touristen, die in den Wellen spielten, im Bereich zwischen den beiden blauen Fahnen, die am Strand im Sand steckten. Diese Zone wurde im Sommer von vier muskelbepackten Rettungsschwimmern bewacht, die Rückströmungen in den sogenannten baïnes, den flachen Wasserbecken, waren hier so gefährlich wie nirgendwo sonst an der Küste. Weiter hinten warteten die Surfer auf ihre perfekte Welle – die hohen Brecher krachten mit ohrenbetäubender Gewalt in die Sichelbucht, die Biarritz berühmt gemacht hatte. Einer hatte eben eine grüne Welle weit draußen erwischt, nun ritt er sie parallel zum Strand, immer wieder fuhr er zurück in die Gischt, die Welle schob und schob, bis er sich schließlich mit ausgestreckten Armen ins Wasser warf.
Luc betrachtete gedankenverloren die Felsen, die wie zufällig im Meer lagen, große runde Steine, die der Bucht ihr unverwechselbares Aussehen gaben.
Der Richter würde entscheiden – hatte Schneider das wirklich gesagt? Was passierte hier gerade? Luc spürte den Schweiß auf seiner Stirn, kalten Schweiß. Drohte ihm das wirklich? Ein Prozess. Die Anklagebank. Das Gefängnis. Was würde Anouk zu all dem sagen? Würde sie ihm glauben? Oder ihn verurteilen? Wenn Luc die puren Fakten gehört hätte und es nicht um ihn gegangen wäre, dann würde er vielleicht ähnlich reagiert haben wie Commissaire Schneider. Doch wie kamen diese beschissenen Drogen in seinen Bungalow? Und warum hatte er eine Tochter? Für Luc war es in diesem Moment, als stürzte der sonnige Himmel über seinem Kopf zusammen.
Er nahm das Portemonnaie aus seiner Hosentasche und sah hinein. Gott sei Dank. Er hatte fast zweihundert Euro in bar dabei, er hatte vorgeplant. Die Kreditkarte konnte er nicht mehr benutzen, sie würden ihn darüber aufspüren. Er hätte gern Anouk angerufen – aber was hätte er ihr sagen sollen? Er hätte sie anlügen müssen, denn er hatte keine Erklärungen für all die Vorwürfe – keine einfachen, guten Erklärungen zumindest.
Und sein Handy lag sicher verwahrt in einer Beweistüte im Polizeirevier von Biarritz. Oder steckte in der Jackentasche von Commissaire Schneider, was noch schlimmer wäre.
Er fühlte sich mit einem Mal nicht mehr sicher hier, er stand auf, er hatte das Gefühl, sich nun schnell bewegen zu müssen, erst mal keine öffentlichen Verkehrsmittel, zu gefährlich, er würde laufen, im Laufen würden sie ihn am schwersten kriegen – wer waren sie? Die Guten? Die Bösen? Und zu welcher Kategorie gehörte er? Er wusste es nicht, für einen Moment wusste er es nicht mehr.
Luc stand auf und ging langsam die Promenade entlang. Ein scannender Blick, zu viele Gäste im Grand Café am Fuße des Casinos, deshalb zog er die Schuhe aus und ging hinunter zum Strand. Seine Füße in dem warmen Sand ging er Richtung Süden, dabei beobachtete er unauffällig die Umgebung. Niemand schien auf ihn zu achten.
Oben am Quai das Antlitz der Stadt: der große helle Block des Casinos, rechts darüber begann die Altstadt von Biarritz. Luc querte den Strand, noch war der Turm der Rettungsschwimmer unbesetzt, es war zu früh im Jahr.
Gerade, als er die Hauptstraße erreichte, nahm er die Sirene wahr, eine Sekunde zu spät. Das Polizeiauto raste schon um die Ecke, über den Boulevard Général de Gaulle. Luc versteckte sich schnell hinter dem Eiswagen, der auf dem Platz stand. Als der Wagen außer Sicht war, ging er rasch die steile Anhöhe hinauf, die ihn zur Galeries Lafayette führte, dann rechts zum Bellevue. Von hier konnte er alles überblicken, alle Verfolger sehen, jede Bedrohung. Doch die Stadt schien wieder im touristischen Frühling zu verschwinden, alles wirkte harmlos. Dafür war der Ausblick so phänomenal, dass Luc kurz den Atem anhielt. Die wilden Oleanderbüsche beherrschten die Klippen, dann dahinter der weite Ozean und der feine Wassernebel, hier nun klar erkennbar, weil er tropfenförmig durch die Luft schwebte. Links die weiße Fassade des Kongresscenters, hoch und rund, im Wasser die Felsen, an die die Wellen schlugen, dass die Gischt nur so spritzte. Keine Stadt der Welt, die einen Ausblick hatte wie diesen, von den Mächten der Natur geprägt. Ozean und Stein.
Luc löste sich von dem Anblick und ging langsam und bedächtig durch die alte Stadt. Er wollte wirken wie ein Tourist. Er nahm die in den Stein gehauenen Treppen und kletterte hinunter, bis er an den Klippen ankam, die hinunter zum Meer führten. Er spürte etwas im Rücken. Aber als er sich umdrehte, war da niemand, außer einem älteren Paar, das händchenhaltend über die Promenade ging. Dennoch wurde Luc das Gefühl nicht los, dass ihn jemand im Visier hatte.
Unter ihm befand sich der alte Fischerhafen. Waren es daheim in Arcachon die Austernzüchter, die das Meer bewirtschafteten, waren es hier die kleinen Fischereibetriebe, die meist in Familienbesitz mit ihren Jollen allmorgendlich hinausfuhren, um den Fang des Tages einzuholen. Hier waren das vor allem Wolfsbarsche, Doraden und der Steinbutt. Nun lagen die Fischerboote schon wieder im Hafen, und die Seeleute verkauften ihren Fang in der Markthalle. Es war ein friedliches Bild, wie die Boote jetzt bei Ebbe leicht geneigt im flachen Wasser lagen, ein Bild, das sich wohl seit Jahrhunderten nicht verändert hatte. Luc liebte es.
Er hätte gerne verweilt, doch er musste weiter nach Süden laufen, aus der Stadt hinaus. Am Ende des Boulevard du Maréchal Leclerc begann der Tunnel, der unter den steilen Felswänden hindurch in den alten Teil der Stadt führte. Luc hielt sich weit rechts auf dem schmalen Fußgängerweg, er musste die paar Hundert Meter schnell bewältigen, denn wenn er hier auf ein Polizeiauto traf, war er gefangen. In dem alten Tunnel tropfte es von der Decke herab, es roch modrig. Luc atmete tief durch, als er nach Minuten wieder unter freiem Himmel stand. Dort, rechts, er machte diesen kleinen Umweg zur sagenumwobenen Brücke über den Felsen, weil er immer noch wie einer der anderen Urlauber aussehen wollte – kein schnelles Eilen irgendwohin, das wäre ein Fehler. Er ging die paar Schritte zu der alten Eisenbrücke mit ihren Holzbohlen, die kein Geringerer als Gustave Eiffel erdacht hatte, dem Paris sein Markenzeichen verdankte. Sie führte hinüber auf die schroffen Felsen mitten im Ozean, dann kam ein steinerner Tunnel, auf dem eine weiße Madonnenstatue stand. Luc beugte sich über die Brüstung und sah den Felsen, der von Jahrtausenden Sturm und Wellen geformt worden war – sie hatten ein riesiges Loch hineingearbeitet, sodass auch der Fels selbst eine Brücke war –, und die weiße Brandung, die an das Riff schlug. Ein ganz und gar magischer Ort.
Dann bemerkte er im Augenwinkel eine Person. Offenbar schien er selbst dem Mann mit der Schirmmütze schon vor einigen Sekunden aufgefallen zu sein, denn der griff gerade nach seinem Funkgerät, Luc fest im Blick. Der Commissaire scannte die uniformierte Gestalt. Keine Waffe am Gürtel. Police municipale, die städtische Polizei. Ein Glück. Luc entschied sich in Sekundenbruchteilen: Er rannte los. Ohne zurückzusehen.
Auf einmal schrillte eine Pfeife hinter ihm.
»Halt, Polizei!«, rief der Polizist, und Luc hörte seine Schritte auf dem Pflaster. »Ich habe den Flüchtigen entdeckt«, gab der Polizist per Funk weiter, »am Aquarium, ich brauche hier Verstärkung, beeilt euch.« Der Commissaire hörte die Antwort: »Vorsicht, er könnte bewaffnet sein.«
Luc hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, wie sie darauf kamen – er hatte keine Waffe, sie hatten sie ihm abgenommen, warum also gaben sie ihn als eine Gefahr aus? Was war hier los?
Er beschleunigte. Doch er lief nicht stadtauswärts, er kannte die Gegend, dort war nur die steile Bergstraße, die auf der einen Seite von Villen wie der alten Villa Belza begrenzt war, eine echte Landmarke für die Stadt Biarritz, mit ihren Türmchen, die sie wie ein Geisterschloss wirken ließen. Auf der anderen Seite waren die steil abfallenden Klippen, die herabführten zum Plage de la Côte des Basques. Er hatte keine Chance, egal, ob sie ihn zu Fuß, auf dem Fahrrad oder mit dem Auto verfolgten. Es blieb ihm nur eine Möglichkeit, und die ergriff er: Er wetzte auf den Tunnel zu, das einzige Nadelöhr. Wenn er hier schnell war, dann könnte es gelingen. Er hörte immer noch die Schritte des Polizisten hinter sich, doch die Rufe »Bleiben Sie stehen, Polizei!« blieben immer weiter hinter ihm zurück. Luc hatte viel trainiert in den letzten Wochen, vielleicht zahlte sich das jetzt aus. Schon sah er das Licht am Ende des Tunnels, dann rannte er hinaus und nahm hinter den blühenden Hortensienbüschen die Treppe zu seiner Rechten, das alte Geländer aus verzierten Steinen, die Stufen führten ihn hinauf in die verwinkelte Altstadt.
Er drehte sich um, sah den Abhang und dahinter das Meer, hellblau und glänzend. Der junge Polizist war eben erst am Fuß der Treppe angelangt.
Die Passanten drehten sich nach ihm um, als er an ihnen vorbeirannte, er spürte ihre verwirrten und ärgerlichen Blicke im Rücken. Es war noch zu leer hier, zu viel freie Fläche, er war das perfekte Ziel, dachte er, als er an der alten Kirche Notre Dame du Rocher vorbeiflog, die langen Schatten der grauen Mauern fielen auf ihn, er drehte sich um, der junge Mann schien näherzukommen. Aus der Ferne hörte er Sirenen, die sich rasch näherten. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Die Nacht in einer Zelle … Er durfte nicht nachlassen …
Er wandte sich nach rechts in die Rue Gambetta, auf einmal waren hier viel mehr Menschen, fein gewandete ältere Flaneure, die Arme mit Tüten behangen, dazu eine Gruppe junger Leute, die Surfbretter unter die Arme geklemmt hatten.
Noch zweihundert Meter. Er rannte nicht mehr auf dem Trottoir, weil dort einfach zu viel los war, sondern nahm die Straße, hinter ihm hupte ein Wagen, er drehte sich um, kein Polizeiauto, Gott sei Dank, aber sie kamen näher, keine Frage. Dort, vielleicht hundert Meter hinter ihm, wippte die Schirmmütze des Polizisten auf und ab, er rannte wie der Teufel.
Doch dann war Luc da, wo er sein wollte. Würde sein Vorsprung reichen? Die automatische Tür schwang auf, er rannte in die erste Halle, machte aber gleich darauf einen Schlenker und nahm die Seitentür wieder hinaus, an der Wand entlang und dann in die zweite Halle, die mit dem markanten Geruch. Er bremste ab, zwang sich zu einem gelassenen Schritt und ruhigerem Atem. Er wählte den rechten Gang, dort war am meisten los, es war bald Mittagszeit, ideal, um in der riesigen Markthalle unterzutauchen. Zu dieser Stunde kauften die Hausfrauen den Poisson du jour für den Abend, während die Touristen für einen feinen Imbiss aus Austern und Crevetten an der Theke des lokalen Austernzüchters anstanden.
Er war lange nicht mehr hier gewesen, sicher mehr als ein Jahrzehnt nicht, doch die Markthalle hatte sich überhaupt nicht verändert. Mit ihren roten Streben unter der weißen Decke und den rot-weiß-grünen Flaggen überall war sie wie eine Landmarke für das Baskenland. Sein Blick wanderte zu dem Eingang, durch den er gekommen war, doch noch war niemand hier. Sie würden hoffentlich zuerst die Markthalle nebenan absuchen, dort gab es Blumen, Obst, Gemüse und Fleisch. Und acht Ein- und Ausgänge. Genau wie hier, in der Fischhalle.
Luc tat so, als wäre er ein Tourist, ging langsam an den breiten Tischen vorbei, die unter ihrer Last aus Eis und frischen Fischen beinahe zusammenbrachen. Er stand eine Weile da und bemühte sich, möglichst versunken zu wirken, versunken in den Anblick der Jakobsmuscheln, die zwischen Perlmutt und einem dunklen Rot changierten, den dicken Langusten, den Seezungen, die übereinanderlagen und deren Augen so klar in den Raum zu blicken schienen – beste Ware, am Morgen frisch am Hafen angelandet. Vor allem aber prüfte Luc mit möglichst beiläufigen Blicken die Lage an den Türen.
Wieder ging er einen Stand weiter, eine ältere Dame mit Einkaufstasche feilschte mit einer Fischverkäuferin in blutbeschmierter Schürze um den fairen Preis für chipirons, die winzigen Calamaretti, die sich so gut auf der Plancha machten.
»Und, Monsieur …? Der Wolfsbarsch ist der Hammer, gerade frisch reingekommen.«
Luc erschrak fast, er hatte den Fischer nicht kommen sehen, der nun neben ihm stand, in den Händen einen Fisch, der mit seinen glänzenden Schuppen wirklich sehr fein aussah.
»Merci, Monsieur«, antwortete Luc, »aber ich bin nur auf der Durchreise, ich habe derzeit nicht wirklich Zeit zum Kochen und …«
Er sah den Polizisten, bevor der ihn erblickte, er kam eben zu der Tür herein, die der zweiten Markthalle am nächsten war. Luc drehte sich um und sah von weiter hinten eine andere Uniformierte eintreten, die sich den linken Gang vornahm.
»Schönen Tag, Monsieur.«
Luc löste sich, der junge Polizist steuerte nun den rechten Gang an, doch er kam nicht gut voran, weil eine Gruppe deutscher Touristen den Weg versperrte, sie bestellten gerade recht umständlich Austern und Weißwein, und das verschaffte Luc die entscheidenden fünf Sekunden. Er ging betont langsam zur Mitte der Halle, warf einen kurzen Blick zum Haupteingang, dann einen Blick zurück, sie hatten ihn immer noch nicht entdeckt, und schon schlüpfte er durch die automatische Schiebetür und sah den blauen Himmel über sich. Die beiden Polizeiwagen standen mit eingeschaltetem Blaulicht auf der Rue Gambetta und blockierten den Weg, doch es saß niemand darin. Die Beamten waren in der Markthalle. Luc beschleunigte seinen Schritt. Er war entkommen.
Doch das Gefühl der Freiheit wollte sich nicht einstellen.
Was – verdammt – war hier los?