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Ein alter Bekannter

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»Einen wunderschönen guten Morgen.«

Mit diesen Worten stürmte Rautner am Montag in aller Frühe ins Dienstzimmer der Würzburger Mordkommission, das er sich mit seiner Kollegin teilte. Jasmin, die gerade Kaffee aufsetzte, drehte sich überrascht um.

»Du meine Güte, da hat aber jemand gute Laune. Olá, Brasilien lässt grüßen!«, lachte Jasmin. »Ich vermute, du konntest das Wochenende noch retten.«

»Aber hallo, mehr sage ich nicht.« Schmunzelnd machte er ein Zeichen, dass seine Lippen ansonsten verschlossen bleiben würden.

»Es geht vermutlich wieder um die holde Weiblichkeit!«, kommentierte Hauptkommissar Habich die Szene, die er von dem Türrahmen der Verbindungstür zu seinem Zimmer aus verfolgte. »Nichts als Frauen im Kopf! Gibt es bei dir auch noch etwas anderes?«

»Neidhammel«, konterte Rautner, »bloß, weil du dich am Wochenende mit einer Rentnergang auf dem 80. Geburtstag abgeben musstest.«

»Ach«, winkte Habich ab und verschwand im Nachbarzimmer, um weiterem Geplänkel zu entgehen. Es sollte aber nicht lange dauern, da tauchte der Hauptkommissar, mit einer Akte in der Hand, wieder auf. »Wir haben einen neuen Fall.«

»Meinst du die Sache in Iphofen oder einen ›ganz neuen Fall‹?«, hakte Rautner nach.

Habich sah auf den Aktendeckel. »Es geht um Karl Birkner aus Iphofen. Ich habe hier den Bericht der Gerichtsmedizin.«

Rautner nahm seinem Chef die Akte aus der Hand, schlug sie auf und las. Nach wenigen Sätzen hob er den Kopf. Sein Blick ging in Richtung des Hauptkommissars. »Immer diese medizinischen Begriffe, die kein Mensch versteht. Was ist ein Aortenaneurysma?«

»Keine Ahnung«, gestand Habich und griff zum Hörer, »aber das lässt sich ändern.« Er stellte das Telefon auf Lautsprecher und alle drei konnten es klingeln hören. Bevor jemand abhob, legte Habich plötzlich wieder auf und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ich habe ja ganz vergessen, dass Frau Doktor Wollner frei hat. Ich werde es … äh, morgen früh in Erfahrung bringen.« Beinahe hätte sich der Hauptkommissar verplappert, aber er wollte die Sache mit der hübschen Rechtsmedizinerin von sich aus nicht an die große Glocke hängen. Auch wenn immer noch die Gefahr bestand, Wollners Kollegen aus der Gerichtsmedizin könnten das sonntägliche Gespräch verbreiten. Dass Frau Doktor Wollner ihre Mitarbeiter entsprechend geimpft hatte, den Mund zu halten, konnte Habich nicht wissen. Für ihn galt, solange niemand davon wusste, würde es keine Gerüchte und blöden Bemerkungen geben. Selbst seinen beiden engsten Mitarbeitern wollte er die Sache so lange wie möglich verschweigen, hatte Habich entschieden. Noch wusste er selbst nicht, wohin der private Kontakt zu Dorothea Wollner führen würde, und so lange hatte er sich Stillschweigen auferlegt. Sollte sich die »Beziehung« vertiefen, würden die anderen es noch früh genug erfahren, sollte es ein Strohfeuer sein, so brauchte er wenigstens keine Erklärungen abzugeben, wenn keiner was davon wusste.

»Hier ist auch von Hämatomen im Bauch- und Brustbereich die Rede. So wie sich das im Bericht liest, sind das Fremdeinwirkungen durch Tritte oder Schläge.«

»Ja, ja, ich weiß.« Habich überlegte kurz, dann nickte er. »Okay, Jasmin, du recherchierst mal ein bisschen über das Weingut. Du weißt schon, so Allgemeines, Hintergründe und die finanzielle Situation. »Wir«, dabei sah er Rautner an, »werden uns vor Ort noch mal umsehen. Ich will mir selbst ein Bild machen. Chris, du versuchst herauszubekommen, wer alles am Tattag noch im Weingut war. Also, ich meine, außer die, von denen wir schon wissen. Wenn wir eine Namensliste haben, beginnen wir mit den Befragungen. Die Spusi wurde schon gestern Abend von mir angewiesen, sich noch mal am Leichenfundort umzusehen. Die müssten schon im Weingut an der Arbeit sein. Ich habe aber wenig Hoffnung, dass die etwas Verwertbares finden.«

Während die beiden Kommissare das Büro verließen, richtete Jasmin ihr Augenmerk auf den Computerbildschirm. Zuerst durchforstete sie das Internet nach allem, was sie über den »Birknerhof« finden konnte. Neben der eigenen Webseite des Weingutes fand sie in den lokalen Medien Berichte über den »Markttag«, über Auszeichnungen von Weinen und andere meist werbewirksame Aktivitäten rund um die Produkte der Familie Birkner. Auch im gesellschaftlichen Teil der örtlichen Presse traf Jasmin einige Male auf den Name Birkner. Hier half ihr das Archiv des regionalen Zeitungsverlages weiter. Sowohl als Parteimitglied, als Kreisrat und Iphöfer Stadtrat fand der Tote in der Vergangenheit oftmals Erwähnung. Sein Sohn Hermann war nicht nur im eigenen Betrieb in die Fußstapfen des Vaters getreten. Seit Karl Birkner sich vor etlichen Jahren aus allen politischen Ämtern zurückgezogen hatte, war Hermann Birkner als Stadtratskandidat nominiert worden und hatte den Platz des Vaters übernommen. Nur für den Kreistag hatte der Sohn nicht kandidiert. So nach und nach trug Jasmin alle Informationen zusammen und speicherte sie ab, bevor sie sich den Finanzen des kleinen Unternehmens widmete.

*

Dort wo am Samstag die Verkaufsbuden aufgebaut waren, herrschte nun das normale Alltagstreiben. Die Kundenparkplätze waren zu zwei Dritteln von Fahrzeugen belegt, darunter erkannten die beiden Kommissare auch einen Wagen der Spurensicherung. Im hinteren Teil des Hofes wurde gerade ein Kleintransporter per Hand mit einer größeren Menge von Weinkisten beladen und ein 7,5-Tonner mit offenem Heck wartete scheinbar darauf, entladen zu werden. Rautner stellte den Dienstwagen auf einem der ausgewiesenen Parkplätze ab. Nachdem er seinem Chef den Weg zum Fundort der Leiche beschrieben hatte, begab er sich wegen der Namensliste ins Büro des Weingutes.

Habich schlenderte derweil über den Hof, der einen sauberen und aufgeräumten Eindruck machte. Auch das Anwesen ringsherum befand sich in gutem Zustand, ein Zeichen dafür, dass das Geschäft florierte und somit auch in die Erhaltung der Gebäude investiert werden konnte. Das große Tor der Halle, auf die Rautner gedeutet hatte, war offen und davor stand der Lkw, von dem soeben palettenweise in Folie eingeschweißte leere Weinflaschen entladen wurden. Ein Mann stellte die Ware mit einem Hubwagen am Heck des Lkws ab, ein anderer Mann fuhr die Paletten mit einem gasbetriebenen Stapler in den rückwärtigen Teil des Gebäudes. Keiner der beiden kümmerte sich um den Hauptkommissar. Der blieb kurz stehen, sah beim Entladen zu und warf einen Blick in die Runde. Am anderen Ende der Halle, dort, wo die angelieferten Flaschen abgestellt wurden, erkannte der Hauptkommissar eine größere Abfüllanlage. Vom Tor aus gesehen links, etwa in der Mitte der Halle, stand ein imposantes Teil aus Edelstahl mit einer Trommel. So viel wusste Habich inzwischen von der Weinverarbeitung, dass dies eine Weinpresse war, in die die Trauben nach der Lese wanderten. An der Wand dahinter reihten sich mehrere verschieden große Edelstahltanks auf, in die der gepresste Traubensaft anschließend gepumpt wurde. Etwa auf der Hälfte der rechten Wand erblickte Habich den Treppenabgang, durch das rotweiße Polizeiband gut gekennzeichnet als Weg zum Ort des Geschehens. Daneben, am hinteren Ende der Wand, der alte Aufzug mit der dazugehörigen Fördertechnik auf dem Gehäusedach. Zielstrebig steuerte er auf die Treppe zu, ignorierte die rotweiße Absperrung und stieg darüber. Etwa auf der Hälfte der Stufen trat ihm eine vermummte Person im weißen Overall entgegen. Die erhobene rechte Hand des Vermummten gebot ihm Einhalt. »Betreten verboten, es sind schon genug hier unten herumgetrampelt und haben eventuelle Spuren zerstört«, ertönte die Stimme hinter dem weißen Mundschutz. Habich blieb stehen und sah sich um. Es lagen Schläuche im Gang vor den Tanks herum. Eine Filteranlage und zwei kleine mobile Pumpen standen im Weg. Der Hauptkommissar registrierte das Gesamtbild ebenso wie die Einzelheiten.

»Wieso, ich denke der Tote hat eine Etage weiter unten gelegen?«

»Richtig! Aber vermutlich hat die Sache schon hier oben ihren Anfang genommen und erst dann ist er nach unten gestürzt«, erklärte ihm der Kollege der Spurensicherung. »Wenn, dann sollte es also hier auch schon Spuren geben, was aber ›ganz schwer‹ bis ›gar nicht mehr‹ festzustellen ist. Wer weiß, wer hier inzwischen alles schon durchgelatscht ist.«

»Na ja, versucht euer Glück, weniger als ›nichts‹ könnt ihr nicht finden.«

»Wann hört denn dieses Theater hier auf?«, fragte eine genervte Stimme in Habichs Rücken.

Der Hauptkommissar drehte sich um. Vier Stufen über sich erblickte er einen Mann in Jeans und kariertem Hemd, dessen Alter Habich auf um die Fünfzig schätzte.

»Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Andreas Birkner, ich bin hier der Kellermeister. Was soll dieser Unsinn mit der Annahme, es könnte etwas anderes als ein schreckliches Unglück sein?«

»Herr Birkner, es gibt Anzeichen, die darauf hindeuten, dass es sich bei dem Ableben Ihres Vaters nicht um einen natürlichen Tod handelt«, antwortete Habich ruhig und gelassen.

»Und was soll es sonst gewesen sein?«

»Vermutlich ein Tod mit Gewalteinwirkung von außen.«

Betroffen schwieg Birkner einen Moment. »Trotzdem muss es hier weitergehen«, entgegnete er kurz darauf leicht gereizt, »die Weine interessiert es nicht, was passiert ist. Wir können deswegen unsere Arbeit nicht einfach ruhen lassen und die jungen Weine, die hier lagern, sich selbst überlassen. Das wäre unser Ruin.«

»Die Kollegen beeilen sich.« Habich drehte sich zu einem der vermummten Männer um. »Könnt ihr heute Abend fertig sein?«

»Wenn man uns in Ruhe arbeiten lässt, denke ich schon«, tönte es von unten herauf.

»So lange müssen Sie sich leider gedulden.« Der Hauptkommissar hob mit einer Geste des Bedauerns die Schultern und stieg die Treppe empor. Dadurch nötigte er Birkner, ebenfalls den Rückzug anzutreten.

»Wer könnte etwas gegen Ihren Vater gehabt haben?«

»Spontan fällt mir da jetzt niemand ein.«

»Wie war Ihr Vater … so als Mensch, meine ich?«

Etwas zögernd und nachdenklich meinte Birkner: »Er war schon unbequem und schwierig.«

Während des Gesprächs durchquerten sie die Halle, erreichten den Hof und liefen auf das Hauptgebäude zu.

»Erzählen Sie mir mehr über Ihren Vater. Warum war er unbequem und schwierig?«

»Na ja, geschäftlich war er ein strenger Chef und harter Verhandlungspartner. Genauso war auch sein politisches Auftreten. Er war Jahrzehnte aktiv in der Partei und hat sowohl bei den eigenen Parteifreunden als auch gegenüber den politischen Gegnern unverblümt seine Meinung geäußert. Ähnlich war auch sein Verhalten im Stadtrat, dem er über dreißig Jahre angehörte. Aber ihm deswegen etwas anzutun wäre für mich unbegreiflich. Zumal er sich schon jahrelang aus allen Ämtern zurückgezogen hat.«

»Was heißt das genau?«

»Nun, die Leitung des Weingutes hat er an seinem siebzigsten Geburtstag an Hermann übergeben und genauso lange ist er auch politisch nicht mehr aktiv. Weder in der Partei noch im Stadtrat.«

»Wie alt war Ihr Vater?«

»Er wäre im Januar neunundsiebzig geworden.«

»Welches Verhältnis hatten ›Sie‹ zu Ihrem Vater?«

Wieder dauerte es einen kleinen Augenblick, bis die Antwort kam. »Wie ich schon sagte, er war streng, aber nicht unmenschlich. Es war schwierig, ihn zufriedenzustellen, aber der Erfolg gab ihm Recht.«

Irgendwie wirkte die Antwort auf den Kommissar ausweichend, doch gab er sich vorerst damit zufrieden.

»Wo waren Sie am Freitagabend so zwischen 19 und 20 Uhr?«

»Glauben Sie etwa, ich … ich … hätte etwas mit dem Tod meines Vaters zu tun?«

»Reine Routine.« Habich zuckte die Schultern. »Wir fragen jeden, der zur fraglichen Zeit in der Nähe war.«

»Ist das … die … die Zeit … wo mein Vater … wo es passierte?«

»Ja, laut unserer Gerichtsmedizinerin.«

Der Gefragte ließ sich mit der Antwort Zeit und überlegte. »Hmm! Zu dem Zeitpunkt war ich irgendwo hier im Weingut.« Dann schien es ihm wieder einzufallen. »Genau, ich war mit einem unserer Angestellten in der Lagerhalle und habe mit ihm schon Arbeiten für diese Woche besprochen, habe noch ein bisschen aufgeräumt und dann bin ich hinauf in meine Wohnung.«

»Ich bräuchte den Namen Ihres Angestellten.«

»Der Mann heißt Hubert Fichtner.«

»Können Sie sich erinnern, ob noch Besucher oder Weinkunden auf Ihrem Anwesen waren?«

»Ich achte da kaum noch darauf, weil wir fast täglich Weininteressenten hierhaben.« Birkner nickte. »Doch! Ich glaube, es standen noch Autos auf den Besucherparkplätzen.«

»Aufgefallen ist Ihnen aber niemand? Oder haben Sie jemand im hinteren Bereich des Hofes gesehen, der da nicht hingehört?« Andreas Birkner verneinte die Frage. »Kann jemand Ihre Angaben bestätigen? … Ich meine, nachdem Sie sich von Fichtner getrennt haben?«

»Äh …, nein, meine Frau war noch unten in der Probierstube und im Verkaufsraum. Ich denke mal, sie hat letzte Vorbereitungen für den Markttag getroffen. Also war ich alleine in der Wohnung.«

Inzwischen hatten die beiden das Haupthaus erreicht und gingen hinein. Andreas Birkner betrat das Büro, wo sie auf Hermann Birkner, den Chef des Weingutes, trafen. Hauptkommissar Habich stellte sich vor und gab dem kräftigen Mann hinter dem Schreibtisch die Hand.

»Ich habe Ihrem Kollegen eine Liste der Anwesenden gemacht, die letzten Freitag hier waren … Also ich meine, alle, die mir namentlich bekannt sind. Von den Weinkunden und Fremden, die bei uns am Freitag auf dem Hof waren, habe ich keine Namen. Ich habe nachgeschaut. Stammkunden, die bei uns einkaufen und die wir in der Kartei haben, waren nicht dabei.«

»Gut«, nickte Habich, »hat Kommissar Rautner schon mit Ihnen gesprochen?«

»Nein, aber ich hätte Ihrem Kollegen sowieso nichts sagen können. Ich war bis etwa Mitternacht hier mit Büroarbeiten beschäftigt.«

»Kann das jemand bezeugen?«

Der Chef des Weingutes brauste auf: »Wollen Sie damit andeuten, dass ich etwas mit dem Tod meines Vaters zu tun habe?«

»Hören Sie, Herr Birkner, wir werden jedem diese Frage stellen, mit dem wir sprechen müssen. Ich habe es Ihrem Bruder auch schon erklärt. Es gehört nun mal zu unserer Arbeit.«

Birkner schnaufte erregt und ließ sich auf den Bürosessel sinken, der unter dem Gewicht ein protestierendes Ächzen von sich gab. »Meine Frau ist irgendwann hereingekommen. Sie hat nur gesagt, dass sie jetzt mit allem fertig sei und in die Wohnung ginge. Ich habe ihr daraufhin zu verstehen gegeben, dass es bei mir noch dauert. Sorry, aber ich habe leider nicht auf die Uhr geschaut, wann das war. Fragen Sie meine Frau, vielleicht weiß die es.«

»Okay, werde ich machen. Wann haben Sie Ihren Vater zuletzt gesehen?«

Hermann überlegte. »Nachmittags haben wir alle zusammen Kaffee getrunken, da war er dabei. Dann habe ich nicht mehr auf ihn geachtet. Er hat sich hier auf dem Gelände frei bewegt und seine Nase noch in viele Angelegenheiten gesteckt. Konnte es nicht lassen, immer noch den Chef zu spielen.« Die letzten beiden Sätze klangen ein wenig vorwurfsvoll.

»Also gut, wo finde ich Ihre Frau?«

»Keine Ahnung.« Hermann Birkner schüttelte den Kopf. »Vermutlich irgendwo auf dem Anwesen … im Haus … in unserer Wohnung … im Verkaufsladen.« Er hob in einer hilflosen Geste die Hände in die Höhe. »Ich kann es Ihnen nicht sagen.«

»Dann werde ich mich ein bisschen umschauen«, entschied Habich und drehte sich Richtung Tür, um gleich wieder kehrtzumachen. »Wo sich mein Kollege befindet, wissen Sie dann wohl auch nicht?«

»Richtig! Er wollte glaube ich, zuerst mit den Angestellten sprechen, mehr weiß ich nicht.«

Habich hob dankend die Hand und schickte sich an, das Büro zu verlassen, als er noch hörte, wie der ältere Birkner zu dem jüngeren Bruder sagte: »Wenn du mal Zeit hast, müssen wir uns unterhalten. Ich muss dir etwas anvertrauen.«

Der Hauptkommissar hielt kurz inne und hörte die Antwort: »Jederzeit, sag mir nur, wann und wo.« Durch das Klingeln des Telefons wurde das Gespräch unterbrochen und Habich entfernte sich. Ihm ging der kurze Wortwechsel nicht aus dem Sinn. Hatte es etwas mit ihrem Fall zu tun oder war es harmlos und für die Ermittlungen uninteressant? Liebend gern hätte er mehr darüber erfahren, was Hermann Birkner seinem Bruder hatte sagen wollen. Sollte er noch mal zurückgehen und versuchen zu lauschen? Vielleicht würden die beiden Brüder nach dem Telefonat ihr Gespräch wieder aufnehmen. Die Entscheidung wurde Habich abgenommen, als der jüngere der Birkner-Brüder in diesem Moment das Büro verließ und zum Treppenaufgang ging, der in seine Wohnung führte. Habich ließ ihn gewähren und steuerte den Verkaufsraum an. Er wollte gerade die Tür öffnen, als ihm Rautner entgegentrat.

»Wie weit bist du?«, fragte er ihn und deutete auf die Liste in Rautners Hand.

»Ich habe bisher nur mit den beiden Ehefrauen von Hermann und Andreas Birkner reden können. Die zwei Mitarbeiter, die auf meinem Zettel stehen, sind schon in der Mittagspause«, sagte er mit einem Blick auf das Papier in seiner Hand und auf die Uhr. »Stefan Birkner, der Sohn des Chefs, ist heute außer Haus und dessen Frau Diana befindet sich noch an ihrer Arbeitsstelle. Sie ist Arzthelferin bei einem hier ansässigen Allgemeinmediziner. Ihre Mittagspause beginnt später und geht bis zum frühen Nachmittag, danach ist sie wieder bis abends im Einsatz.«

»Und was sagen die Frauen?«

»Sie hatten beide bei einer Weinprobe in ihrer Probierstube zu tun. Eine Gruppe bestehend aus fünfzehn Frauen und Männern wollte Weine verkosten. Cornelia Birkner hat sich um den Ausschank gekümmert und Waltraud Birkner die Erklärungen zum Wein beigetragen und Fragen beantwortet. Das Ganze begann gegen 18 Uhr und dauerte fast zwei Stunden. Danach haben sie noch die Bestellungen der Kunden fertig gemacht und alles für den nächsten Tag hergerichtet. Keine der beiden hat, laut ihren Aussagen, für längere Zeit die Veranstaltung verlassen. Wenn alles so stimmt, haben die Frauen für den Tatzeitraum ein Alibi.«

»Na, dann sollten wir auch eine kleine Mittagspause einlegen. Ein Kaffee wäre jetzt recht«, meinte Theo. »Wenn mich nicht alles täuscht, gibt es ganz in der Nähe eine Bäckerei mit Café«, erinnerte sich der Hauptkommissar und strebte zum Ausgang.

Aus dem Tor heraus, schlug Habich zielstrebig eine bestimmte Richtung ein. Rautner folgte ihm durch die Stöhrsgasse und vorbei am neu renovierten Benefizium, bis sie schließlich vor ihrem Ziel, dem »Franzenbäck« standen. Drinnen roch es herrlich nach frischen Backwaren. Zudem war nicht nur an der Dekoration und den Lichterketten deutlich zu sehen, dass es mit großen Schritten auf Weihnachten zuging, auch die im Verkaufsraum ausgestellten Christstollen, Plätzchen und Lebkuchen steuerten ihren Teil dazu bei. Im Café fanden sie ohne Schwierigkeiten einen Platz. Rautner bestellte sich einen kleinen Mittagssnack, Habich gelüstete es mehr nach etwas Süßem. Beide bestellten dazu einen großen Pott Kaffee. Nachdem die Bedienung ihre Wünsche aufgenommen hatte, setzte Theo Habich seinen Kollegen über die Unterhaltung mit den beiden Birkner-Brüdern ins Bild.

»Was hältst du bisher von unserem neuen Fall?«, erkundigte sich der junge Kommissar, während sie auf ihr Essen warteten.

»Sag du es mir, du hast doch am Samstag schon einen ersten Eindruck bekommen und bist mir voraus«, entgegnete Habich.

»Wenn diese Sache mit den Druckstellen an den Oberarmen des Toten nicht wären, würde ich es immer noch für einen Unfall halten. Bisher gibt es keinen erkennbaren Grund für eine Gewaltanwendung.«

»Na ja, der alte Birkner war vermutlich nicht immer ein angenehmer Zeitgenosse. Das gaben mir seine beiden Söhne auf ihre Art und Weise zu verstehen.«

»Von der Sorte Mensch gibt es genug, da müsste die Mordrate bedeutend höher sein«, gab Rautner zu bedenken.

»Auch wieder wahr«, brummte Habich und nippte an seinem Heißgetränk, das soeben vor ihnen abgestellt worden war. »Okay, wir haben noch nicht alle befragt und wenn dabei nichts herauskommt, dann müssen wir wie immer tiefer graben, um den Grund für seinen Tod zu finden.«

»Also, die beiden Frauen können wir mit größter Wahrscheinlichkeit ausschließen … «

»Dagegen sind die Ehemänner noch nicht aus dem Schneider«, überlegte Habich. »Mit diesem Fichtner, der bei Andreas Birkner gewesen sein soll, haben wir noch nicht gesprochen und Hermann Birkner war alleine im Büro. Seine Frau ist nach ihrer eigenen Aussage erst gegen 21 Uhr bei ihm gewesen.«

»Aber warum sollte einer der Männer seinen eigenen Vater umbringen? Die Nachfolge war doch schon lange geregelt und ich vermute mal, alles andere auch.«

Schulterzuckend antwortete Habich: »Es muss ja nicht absichtlich geschehen sein. Wenn sich der alte Birkner immer noch eingemischt hat, wer weiß, um was es ging. Vielleicht ein Streit, eine kleine Auseinandersetzung, ein Wortgefecht, eine Handgreiflichkeit, im Eifer oder in Wut, ein Griff an die Arme, ein Schubserer und zack, ist es passiert.« Der Hauptkommissar lehnte sich zurück und beobachtete, wie ihre Essensbestellung aufgetragen wurde. Mit Appetit machte er sich über das süße Teilchen her. Kauend murmelte er: »Es könnte natürlich auch ganz andere Gründe haben.«

»Sehr geistreich«, grinste Rautner, »bei der Fußball-Talksendung im Fernsehen hättest du jetzt dafür ein paar Euro ins Phrasenschwein werfen müssen.«

Habich wischte sich mit der Serviette den Mund ab und wollte gerade etwas entgegnen, als er durch die Türglocke abgelenkt wurde. Seine Aufmerksamkeit galt dem neuen Gast, der das Café betrat. Ein betagter weißhaariger, aber noch sehr vital wirkender Mann setzte sich an den leeren Tisch nebenan. Habich musterte den Neuankömmling, da er ihm bekannt vorkam. Erst nachdem der Fremde Platz genommen hatte, schien dieser die beiden Kommissare zu bemerken. Sein Blick kreuzte sich mit dem des Hauptkommissars.

Ein leichtes Schmunzeln spielte um die Lippen des Mannes, während er Habich zunickte. »Hallo Herr Hauptkommissar, kennen Sie mich noch?«

Sekundenlang herrschte Stille. Gerade wollte der Mann am Nachbartisch seine Stimme erheben, als Habich abwehrend die Hand hob. »Nein, sagen Sie nichts! Herr … Herr Boskov?«

»Nein, Proskov … Horst Proskov.«

»Genau, jetzt weiß ich es wieder! Damals bei dem Fall vor etlichen Jahren sind wir uns im ›Achterle‹ begegnet.« Habichs Erinnerung war wieder vollständig da. Es war in der soeben namentlich genannten Iphöfer Weinstube gewesen, wo er mit Geschäftsleuten zusammengetroffen war, in deren Runde sich der Weißhaarige befunden hatte. »Sie waren Lehrer, wenn ich mich recht besinne.«

»Beides genau richtig!«, nickte Proskov lächelnd. »Und jetzt treffen wir uns wieder bei Ihrem nächsten Fall.« Der Satz klang mehr wie eine Frage.

»Ahh, es hat sich schon herumgesprochen.«

»Natürlich! Dahingehend ist Iphofen ein Dorf.«

»Na ja, wir sind uns noch nicht ganz sicher, ob es ein Fall für uns ist. Dazu sind unsere Ermittlungen noch nicht weit genug fortgeschritten.«

»Also könnte es auch ein … ein Unglück sein?« Proskov hatte nach dem richtigen Wort gesucht.

»Hmm!«, war Habichs einziger Kommentar dazu, dann kam seine Gegenfrage: »Kannten Sie Karl Birkner gut?«

»Das will ich meinen«, stimmte der ehemalige Lehrer zu. »Er war zwar eineinhalb Jahre älter als ich, aber wir kannten uns schon in jungen Jahren und waren Freunde, wenn man das so bezeichnen darf.«

»Möchten Sie sich nicht zu uns setzen?«, lud der Hauptkommissar den Mann ein. Gerne nahm der ehemalige Lehrer die Einladung an in der Hoffnung auf ein interessantes Gespräch oder Neuigkeiten. Als Proskov seinen Sitzplatz gewechselt hatte, bemerkte Habich: »Ich würde gerne mehr über den alten Birkner erfahren.«

»Was wollen Sie wissen?«

»Ihre Einschätzung von Wesen und Charakter Karl Birkners zum Beispiel. Vielleicht etwas aus seinem Leben. Ich möchte den Mann kennenlernen, mir ein Bild von ihm machen«, deutete der Hauptkommissar an. »Wie hat er sich seinen Mitmenschen gegenüber verhalten? Solche Dinge interessieren uns.«

Ohne dass der Ex-Lehrer eine Bestellung aufgegeben hatte, brachte die Bedienung einen Tee und eine Butterbrezel für ihn. So wie es aussah, war er Stammgast und man wusste, was er trank und aß. Mit Sorgfalt und Bedacht schüttete er Zucker in sein Getränk und rührte andächtig darin herum. Weder Habich noch Rautner störten Proskov, der seine Gedanken zu sammeln schien.

»Wie man unschwer an meinem Namen erkennen kann, stammen meine Eltern nicht von hier, wir kommen aus Ostpreußen«, holte der Ex-Lehrer bei seinem Bericht etwas weiter aus. Habich ließ ihn gewähren und hörte zu. »Auch ich wurde noch dort geboren und im Alter von vier Jahren kam ich mit meinen Eltern hierher nach Iphofen. Schon in der Grundschule hatte ich den ersten Kontakt mit Karl. Zuerst fiel er mir in den Pausen auf dem Schulhof als Wortführer auf. Sich aufzuspielen und anderen Anweisungen zu geben, hat man ihm scheinbar in die Wiege gelegt. Er war zwar nicht der Klügste in der Schule, aber an Ehrgeiz hat es ihm nie gemangelt. Mit dieser Einstellung schaffte er vermutlich auch den Sprung aufs Gymnasium. Obwohl später ›böse Zungen‹ behaupteten, dass auch sein Vater dabei die Finger im Spiel gehabt hatte. Dazu muss man wissen, die Birkners spielten schon sehr lange eine gewisse einflussreiche Rolle in unserem Städtchen. Noch näher lernte ich Karl durch den Sportverein kennen. Wir haben zusammen Fußball gespielt … Na ja, ›zusammen‹ ist jetzt übertrieben. Zuerst spielte er eine Altersklasse über mir und ich traf ihn hauptsächlich im Training oder wenn ich zufällig mal bei einem der Spiele zuschaute, bei denen er mitspielte. Erst als ich die Jugendmannschaft verließ, war ich mit ihm in einer Mannschaft. Er war sportlich gesehen ein ›harter Kerl‹ und konnte nicht gut verlieren. Diese Eigenschaft ist im erhalten geblieben. Mir hat er mal in jungen Jahren eine Freundin ausgespannt, da war unser Verhältnis eine Zeitlang gespalten. Das Mädel hat es aber weder bei mir noch bei ihm lange ausgehalten, da ist sie schon wieder zu einem anderen gewechselt. Somit mussten wir beide erkennen, dass es für uns nicht die Richtige war, und plötzlich hatten wir wieder mehr Kontakt.« Seine Erzählung ging nur stockend voran. Zwischendurch biss er immer wieder in seine Brezel, kaute genüsslich und schlürfte an seinem heißen Tee. »Eins möchte ich auf jeden Fall anmerken«, sagte der Ex-Lehrer plötzlich mit Nachdruck und hob dabei den Zeigefinger. »Karl konnte ein schwieriger Fall sein, außerdem war er immer auf seinen Vorteil bedacht, aber soweit ich ihn kenne, hat er nie mit unfairen Mitteln gekämpft.« Wieder entstand eine kleine Denkpause. »Dadurch, dass Karl im Gymnasium eine Klasse wiederholen musste, war er für die letzten drei Jahre in der Schule schließlich mein Klassenkamerad. In dieser Zeit entstand die bis dahin intensivste Verbindung zwischen uns beiden, da ich ihm quasi Nachhilfe gegeben habe. Warum Karl unbedingt das Abitur machen sollte, habe ich bis heute nicht verstanden, schließlich stand von vornherein fest, dass er mal das elterliche Weingut übernehmen würde. Dazu brauchte man damals keine höhere Bildung und erst recht nicht die Notwendigkeit zu studieren. Nun gut, ich habe ihn mit durch’s Abi geschleift. Seit dieser Zeit waren wir gute Freunde. Wir haben viel Blödsinn miteinander getrieben. Eben was Jungen in dem Alter so tun.« Der alte Proskov schwelgte kurz in Erinnerungen und lachte, dann wurde er wieder ernst. »Komischerweise trat sein Intellekt erst lange nach der Schule so richtig zu Tage. Auf einmal machte er sich über Dinge Gedanken, die ihn vorher nie interessiert hatten. Er zeigte plötzlich überaus großes Interesse am eigenen Betrieb, früher hatte sich seine Begeisterung für die Arbeit rund um den Wein in Grenzen gehalten. Genauso wie er begann, sich politisch zu engagieren. Eines Tages – Jahre später, nachdem wir Schulzeit und Jugend hinter uns gelassen hatten und erwachsen geworden waren – kandidierte er dann für den Stadtrat und bekam doch tatsächlich genug Stimmen. Ich wollte es erst gar nicht glauben. Schließlich war er immer noch ein bisschen rebellisch und vorlaut, aber genau das schien ihm geholfen zu haben. Eine Wahlperiode später wurde er sogar in den Kreistag gewählt. Wir haben über die Jahrzehnte so manche kommunalpolitische Diskussion geführt und dabei auch manchen Schoppen getrunken«, konnte sich der ehemalige Lehrer an das Vergangene erinnern.

»Was hat Birkner eigentlich direkt nach der Schule gemacht?«

Etwas nachdenklich kratzte sich Proskov am Kopf. »Da muss ich gestehen, bin ich mir nicht mehr hundertprozentig sicher, was Karl genau alles gemacht hat. Es war die Zeit, wo ich an der Pädagogischen Hochschule in Würzburg zu studieren begann, um Lehrer zu werden. In den Jahren haben wir uns etwas seltener gesehen und wenn, dann haben wir wenig über Arbeit und Studium gesprochen. Wenn ich das noch richtig nachvollziehen kann, hat Karl zuerst eine kaufmännische Lehre in Würzburg absolviert und ist dann zum Juliusspital, um den Weinbau zu lernen oder so ähnlich. Danach ist er in den väterlichen Betrieb gewechselt.«

»Standen Sie auch in der letzten Zeit noch miteinander in Verbindung?«

»Ja, ja, wir haben erst letztens wieder zusammengesessen. Mal habe ich ihn besucht, mal er mich oder wir waren gemeinsam auf einen Schoppen im ›Achterle‹.«

»Gab es irgendwelche außergewöhnlichen Ereignisse, wo er sich unbeliebt gemacht hat oder sich Feinde geschaffen haben könnte?«, unterbrach Habich den Ex-Lehrer. Proskov sah ihn etwas verständnislos an. »Ich meine, hatte er mal mit jemandem so richtig Ärger?«

»Äh, also … « Der alte Lehrer kam ins Stottern. »Sie meinen so, dass derjenige ihm etwas hätte antun wollen?«, erkundigte sich Proskov etwas nervös.

»Genau, an so etwas in der Art hatte ich gedacht.«

Energisch schüttelte Proskov den Kopf und meinte: »Und wenn, warum dann jetzt, wo er sich schon jahrelang von allem zurückgezogen hatte?«

Der Hauptkommissar erinnerte sich an die Aussage des Sohnes Andreas Birkner, der eine ähnliche Feststellung gemacht hatte. In Gedanken versunken schüttelte Habich den Kopf. »Es muss ja nichts mit geschäftlichen Dingen oder der Politik zu tun haben, sondern möglicherweise mit dem privaten Bereich.«

Jetzt war es an dem alten Proskov, energisch sein weißhaariges Haupt zu schütteln. »Das kann ich mir nicht vorstellen … Also ich wüsste nichts davon … Karl hat nie so etwas erzählt.« Dann wurde er plötzlich zögerlich. »Obwohl … obwohl ich sagen muss, er war … jetzt wo Sie mich darauf ansprechen … hmm, er war die letzte Zeit schon ein bisschen anders … wie soll ich sagen«, überlegte er, »vielleicht etwas nachdenklich und in sich gekehrt, so als wenn ihm etwas auf der Seele liege. Geäußert hat er sich dazu auf jeden Fall nicht. Letztendlich habe ich es dann doch seinem Alter zugeschrieben. Im Alter verändert sich der Mensch oder zumindest seine Einstellungen, manche von uns werden dann wunderlich, eigenartig … oder wer weiß, was sonst noch«, mutmaßte der alte Mann und brach schließlich seine philosophischen Gedanken ab.

»Er hat sich also auch nicht über Ungewöhnliches ausgelassen oder über außergewöhnliche Vorkommnisse in der letzten Zeit erzählt?«, vergewisserte sich Habich noch einmal, aber als Antwort kam nur ein Kopfschütteln von dem alten Proskov. Der unruhige Blick, der zusammengepresste Mund und das nervöse Zucken der Mundwinkel schien sowohl dem Hauptkommissar als auch seinem Kollegen Rautner entgangen zu sein.

Mit dem Ex-Lehrer kam er nicht weiter, der wusste nichts und konnte ihnen nicht weiterhelfen, entschied Habich nach den letzten Worten. Er winkte der Bedienung und gab ihr ein Zeichen, dass er zahlen wollte. »Herr Proskov, ich danke Ihnen für Ihre Informationen, aber wir müssen wieder los.« Nur eine Minute später standen die beiden Kommissare auf und verabschiedeten sich.

Draußen vor der Tür bemerkte Habich zu Rautner: »Proskovs Erzählung war ja ganz interessant, aber für unseren Fall nicht sehr aufschlussreich.«

»Er wirkte auf mich ein bisschen verwirrt und nervös. Ich glaube, eine sichere Informationsquelle sieht anders aus«, bemerkte Rautner etwas abfällig. »Ich finde es auch komisch, dass die Andeutungen seiner Söhne irgendwie anders klingen, als Proskov uns den alten Birkner geschildert hat.«

»Weißt du, es gibt Menschen mit zwei Gesichtern. Bei den einen präsentieren sie sich freundlich und gesellig, bei anderen unausstehlich. Egal«, winkte der Hauptkommissar ab, »einen ersten kleinen Einblick haben wir auf jeden Fall bekommen.«

Feiner Sprühregen befeuchtete das Kopfsteinpflaster und ein unangenehm kühler Wind pfiff durch die Gassen, als die beiden Kommissare sich auf den Weg zurück zum Weingut machten. Sie schlugen den Jackenkragen hoch und zogen den Kopf ein, mehr Schutz vor dem Wetter hatten sie nicht zur Verfügung.

Rautner suchte als Erstes Stefan Birkners Frau auf. Er traf die Arzthelferin in der Küche an, wo sie zugange war, um Vorbereitungen für das spätere Abendessen zu treffen.

Auf Rautners Frage nach ihrem Alibi antwortete Diana Birkner prompt: »Da muss ich nicht lange überlegen. Zu dieser Zeit hat meine Mutter meinen Sohn gebracht. Sie holt ihn nachmittags vom Kindergarten ab und er bleibt danach bei meinen Eltern, bis mein Hausputz erledigt ist. So praktizieren wir das immer freitags, soweit das möglich ist. Mutter ist erst kurz vor der Tagesschau wieder gegangen. Zwischenzeitlich habe ich noch fast eine halbe Stunde mit meiner Freundin telefoniert. In der Zeit hat meine Mutter hier in der Wohnung weiter auf Benjamin aufgepasst.«

Schnell war dem Kriminalbeamten klar, dass er Diana Birkner von der Liste der Verdächtigen streichen konnte, falls ihre Aussage stimmte. Natürlich würde er sich erst noch die Bestätigung der beiden genannten Zeuginnen einholen müssen. Weiter kam der Kommissar mit seinen Befragungen an diesem Tag nicht. Andreas, der jüngere der Birkner-Brüder, teilte ihm mit, dass Fichtner auf dringender Auslieferungstour sei und erst heute Abend spät zurückerwartet würde. Die zweite Angestellte auf Rautners Liste, Jessica Issing, habe sich wegen eines privaten Termins heute Nachmittag frei genommen, erfuhr er von der Frau des Weingutchefs.

Hauptkommissar Habich hatte sich in der Zwischenzeit am Tatort bei den Kollegen der KTU über eventuell vorliegende Ergebnisse erkundigt, erhielt aber nur ein bedauerndes Kopfschütteln. Auf dem Rückweg traf er seinen Kollegen Rautner, der stinksauer daherkam.

»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, erkundigte sich Habich.

»Ich habe das Gefühl, wir werden hier nicht ernst genommen«, polterte Rautner los. »Man hält es nicht für nötig, uns rechtzeitig zu sagen, dass die Leute, die wir befragen wollen, heute Nachmittag gar nicht anwesend sind.«

»Nicht schön, aber auch nicht zu ändern«, beruhigte der Hauptkommissar seinen Kollegen. »Dann fahren wir jetzt zurück ins Büro und sehen mal, was Jasmin inzwischen über die Familie und das Weingut zusammengetragen hat.«

Unheilvolle Vergangenheit

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