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1. Kapitel

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„Der Typ ist jedenfalls kein Opfer eines klassischen Eifersuchtsdramas.“ Mit Spuren erlaubter professioneller Verächtlichkeit in den Mundwinkeln betrachtet Kommissar Sebastian Boll (39) den Toten, dessen Haut ihn an den trüben Glanz grobporiger Schwarten aus der Dorfmetzgerei seiner transsilvanischen Kindheit erinnert.

Im Schimmer wohliger Selbstverliebtheit fährt sich Boll mit gepflegten Händen durch seine goldlockigen Haare – um dann die Einmalhandschuhe überzustreifen. Hier in den Zimmern des Toten, Erzberger Straße 22, Parterre rechts, wohnt jedoch nicht der den Ceausescischen Strategen der Dorfindustrialisierung suspekte träge Duft der Schultheißschen Räucherkammer, der Sattheit – wunderbar kommod – hinter zugezogenen Läden verhieß. Hier wohnte schon lange der üble Gestank offensichtlichen Elends – mageres, saures Dasein – ganz ohne niederträchtiges Zutun der Securitate, ganz ohne jämmerliche Bettelarmut.

Der Tote, der 28jährige Rolf Dobermann, arbeitete einige Jahre im Computerladen „CS“. Vor fünf Monaten, erhielt Dobermann die Kündigung: Überhand nehmender Alkoholkonsum während der Arbeit und daraus resultierende Unzuverlässigkeit. Nach dem Rausschmiss reparierte Dobermann – zusammen mit Kumpel Oli Wesendonk – im Keller der Wohnung, Erzberger Straße 22, Computer. Obwohl – tatsächlich reparierte Wesendonk – und Dobermann stellte seinen geräumigen Keller zur Verfügung und soff zumeist den preiswert Korn und das Discounterpils – oder am Monatsanfang das teure Zeug aus dem Büdchen nebenan. Die anderen Hausbewohner bemerkten ein stetes Kommen und Gehen von Menschen mit Computerteilen, Laptops, Kartons. Da Dobermann zumeist im Bett lag, soff und auf das Klingeln nicht reagierte, schellten etliche Kunden irgendwo im Haus. Zumeist klingelten die Besucher bei Frau Lungenstrass, der Flurnachbarin Dobermanns, verlangten zügigen Einlass und forderten das eine und andere Mal Wegweisung zu Wesendonks Arbeitsraum. Nach knapp drei Wochen beendete Vermieter Weyrauch, der auch im Haus wohnt, das Spektakel.

Fortan zahlte Dobermann keine Miete mehr, verschlief die Tage bei abgedunkelten Fenstern, verleidete in etlichen Nächten seinen Nachbarn die Nachtruhe, indem er gegen Mitternacht seine Musikanlage austestete.

„Er ist ein Nachtmensch“ versuchte seine Mutter das Verhalten zu erklären. Mitgefangen in der Dobermannschen Höhlenwelt war eine bemitleidenswerte Katze, die von seiner Mutter versorgt wurde, als Rolf Dobermann zwischenzeitlich zur Entgiftung in einer Klinik – und wegen nicht bezahlter Mahnbescheide kurzzeitig im Gefängnis saß. Gemeinschaftsaufgaben wie Flurputzen schienen weit außerhalb seines Interesse- und Aktionsradius zu liegen. Seine Mutter, die aus der Nachbarstadt anreiste, putzte dann und wann für ihn den Hausflur. Traf ein Hausbewohner im Treppenhaus zufällig den in eine Gloriole von Bier- und Schnapsdunst eingehüllten Dobermann, so sorgte sich der entsprechende Bewohner, dass sich auf dem Boden in Sekundenschnelle eine wider-liche Pfütze um Dobermann bilden könnte, so rannen die sommerlichen Schweißperlen unaufhörlich an seiner bleichen, speckig glänzenden Haut herab. Beschwerte sich der Hausbewohner bei einer der äußerst seltenen Begegnungen über die nächtliche Musik und andere Zumutungen, versprach der groß und breit gewachsene Dobermann in höflich ausschweifender und verschwurbelter Sprache – alles – um nichts einzuhalten. „Kein Problem, kein Problem – alles easy“ war sein Standardschlusssatz.

Nach diesen Berichten der Hausbewohner war es verständlich, dass Rolf Dobermann nicht als heißer Anwärter für einen Beliebtheitspreis gelten konnte – aber Verärgerung eines Nachbarn als Motiv für einen Mord? Dazu professionell mit Schusswaffe und Schalldämpfer!

Kommissar Boll erinnert sich, dass erst vor kurzem in Freiburg ein 70jähriger Mann einen 29jährigen Flurnachbarn in einem lautstarken Treppenhausstreit erschoss. Der junge Flurnachbar hatte monatelang nachts laute Musik gehört – nie auf die Beschwerden seiner Nachbarn Rücksicht genommen, sondern diese wüst beschimpft, wenn sie nachts an seiner Türe schellten und ihre Nachtruhe einforderten. Hier im Haus hatte jedoch in der betreffenden Tatzeit – auch in den Tagen und Nächten zuvor – niemand Streit oder Lärm gehört. Auch Dobermanns berüchtigte Musikanlage war in den letzten vier Nächten stumm geblieben. Zur Tatzeit waren laut eigenen Aussagen die Mieterin Frau Lungenstraß und der Mieter Paul Keller im Haus anwesend. Rolf Dobermanns direkte Flurnachbarin, Frau Lungenstraß, eine 65jährige zwar unterschwellig verbittert wirkende Witwe, konnte sich Boll beileibe nicht als schallgedämpfte Ceska zückende Rächerin der verletzten Hausordnung vorstellen, auch wenn sie natürlich nicht gut auf Dobermann zu sprechen war.

Als Dobermann vor einem Jahr in die Wohnung einzog, sollte er das Rasenmähen auf der kleinen Fläche hinter dem Haus übernehmen. Doch schon beim ersten Mähen sah Frau Lungenstraß durchs Küchenfenster, dass der vierschrötige Dobermann mit drei, vier Versuchen den Elektromäher in ungelenken Bewegungen eines Frankensteindarstellers durch das mittlerweile hohe Gras drückte, nur kurzwegige archaische Rasenmuster produzierte, während zwischen den Gänseblümchen das Elektrokabel auf die Chance einer Sezession lauerte. Und schon verließ Dobermann als schweißtriefender Hiob eilig und unvermittelt diese Wirkungsstätte seiner sommerlich anstrengenden elektrisch angetriebenen Kurzzeitarbeitsanarchie – um diese – auf Geheiß des Vermieters Weyrauch – nie mehr zu betreten.

Bevor die Räumungslage des Vermieters griff, das Amtsgericht benötigte 6 lange Monate, bevor es sich überhaupt dieser kostspieligen Maßnahme widmen konnte, war Rolf Dobermann schon aus dem Leben ausgezogen – und als emphatischen Gruß an die Nachwelt und den überlebenden Vermieter – hatte er die 60 qm der Wohnung als Kultstätte mannigfaltiger Verwandlungs – und Gärungsprozesse hinterlassen – bevor er letztendlich sich selbst der totalen Verwesung anheim geben durfte. Anzumerken ist, dass ihm dieser letzte Akt der vollkommenen Verrottung vorenthalten bleibt, da ihn die Mutter nach der Liegezeit im Kühlfach kurzerhand verbrennen lässt. Außerhalb etlicher vitaler Kleinstlebewesen aus dem Insektenreich, emsig wuchernder Pilze, übermütiger Sporen, unermüdlicher Bakterien – ist einzig überlebende Kreatur in Dobermanns Wohnung – mutmaßliche Zeugin des Verbrechens – die im tiefsten Kern verstörte Katze, die, sobald jemand die Wohnung betritt, in blinder Panik versucht – sich an den Küchenvorhängen hochkratzend – in eine dort oben nicht vorhandene Herrenlosigkeit zu flüchten. Der Versuch scheitert, da die bemitleidenswerte Katze mitsamt des nur nachlässig befestigten, jetzt in ihren Krallen verhakten Stores, auf dem Küchentisch landet. Da das irrsinnige Tier es nicht sofort schafft, seine Krallen aus der fettigen Übergardine zu reißen, taumelt es wie ein ungesteuertes, gefährliches, in Textil verpacktes, ansonsten nur aus B-Filmen bekanntes Monster durch die Küche, um dann, von der Gardine befreit – doch der Panik noch tiefer verfallen – gegen das mit eigenem Kot verschmierte Küchenfenster zu springen. Während weiterhin die ureigenen Urindämpfe aus Teppichen und Polstern dampfen, erfasst das Tier die Unmöglichkeit seines Tuns, sitzt nun vollkommen erschöpft, zitternd, mit riesigen Angstaugen unter dem Bett – und lässt sich erst von den professionellen Fängern des Tierheims aus der Wohnung schaffen. Weyrauch steht mit Tirolerhut inmitten des Kriegsgebiets. Seine Arthrose Knie schwächeln, sein Herz schlägt angestrengt, dumpf, schmerzhaft. Gallertartiges Blut schießt tobsüchtig in seinen mürben Schädel. Trotz jäh aufsteigender Furcht umzufallen, einfach so umzufallen, schreckt er davor zurück, sich irgendwo in diesen Pfuhl fauligen Elends hinzuhocken, in diese Deponie verschorfter Ausscheidungen, verschlackten Auswurfs zu sinken. Im Übrigen war es unzulässig sich niederzulassen. Jetzt, da die Katze eingefangen und aus der Wohnung geholt war, wird die Wohnungstüre wieder versiegelt. Zeitig bevor die amtliche Sperrung vollzogen ist, scheinen sich die festen Bestandteile in Weyrauchs Körper aufzulösen, sich zu verflüssigen, als amorph liquide Masse durch den Spalt der Dobermannschen Wohnungstüre davonzugleiten. Weyrauch betastet seinen Körper, der doch noch als dröhnend schmerzhafte Hülle schweißfeucht anwesend ist. Der Überfall durch dieses ihm schon bekannte unberechenbare Scheusal hatte pures Entsetzen, Todesangst ausgelöst. Weyrauch schleppt seinen Körper aus der Dobermannschen Wohnung, schleicht, sich am Geländer hochangelnd, die Treppe hinauf, schließt die Türe zu seiner Wohnung in der ersten Etage auf, rettet sich schweratmend auf ein Ledersofa. Er wirkt jetzt gebrechlich, fast ein wenig greisenhaft, mit weißen, unschlüssigen Händen. Automatisch setzt Weyrauch seinen braunen Tirolerhut mit dreifacher Hutschnur ab, dessen Hasenhaarfilz auch schon bessere Tage gesehen hatte, tastet nach der in Armweite entfernten Kommode, greift von einem Bakalitmodellkopf mit jugendlichen Gesichtszügen eine Schwarzhaarperücke aus ersichtlich billig synthetischem Material, drahtig steif, mit akkurat gezogenem Seitenscheitel. Er legt die Perücke auf seinen nackten Schädel – wie der Richter sein Barett, der judge sein Rosshaar – um sich immerhin ein klein wenig vollständig zu fühlen. „Wenn Sie kein Geld für einen Prozess haben, dann verkaufen Sie doch Ihr Haus!“ keift die Richterin ohne Barett, da das Urteil ja noch aussteht. Weyrauch fährt roboterhaft mit der rechten Hand in die Schublade unterhalb des jugendlichen Modellkopfs und fingert die Wehrmachtspistole seines Vaters, eine Walther P 38. heraus; legt sie wie eine Beschwichtigungs- oder Heilungsreliquie auf sein mörderisch pochendes Herz. Weyrauch schaut in den Spiegel. Der wesenhafte Schnäuzer fehlt. Ansonsten wirkt er wie ein überalterter abgetakelter Hitlerdarsteller auf Tingeltour über entlegene Grenzdörfer Transnistriens. Er sieht seinen alten Kumpel Hüpperling die Erzberger Straße hinunterhüpfen, auf einem Bein – Artistenniveau – ohne Gehhilfe, ohne Prothese – nur dann und wann Halt an Ampeln, Verkehrsschildern, Trafokästen, Hauswänden suchend. Hüpperling, der Eisenfresser, der Verwegene, Unverwüstliche – Weyrauch vorsichtig, nicht so leichtsinnig beim Durchstromern der Trümmergrundstücke. Der unerschrockene Hüpperling konnte nicht helfen. Seine ihm zugestandene Liegezeit auf dem Südfriedhof hatte er längst überschritten.

Woher sollte Weyrauch das Geld nehmen für die Sanierung der verkommenen Dobermannschen Wohnung? Und die Forderung des Amtsgerichts lag auf dem Tisch: die schon entstandenen Kosten der Räumungsklage. Der Gerichtsvollzieher wetzte das Messer am Schleifstein. Eine weitere Hypothek konnte er nicht stemmen, musste die alte Schuld mühsam abbezahlen. Keine Bank würde ihm nur einen Pfifferling geben. Es sei denn, sie wären scharf darauf, sein Haus in die Zwangsversteigerung zu schicken. Und die zwei zerschlagenen Lampen im Treppenhause – niemand hatte etwas bemerkt – und das undichte Dach.

Bolls Kollegen hatten mittlerweile Alibis und mögliche Motive von Dobermanns Kumpeln überprüft. Zur Tatzeit, Freitag zwischen 17 und 19 Uhr – verfügten alle bekannten Freunde und ehemaligen Arbeitskollegen, insbesondere Wesendonk, über Alibis, wenn auch einige Zeugen als etwas fragwürdig eingeschätzt wurden. Der Kommissar sitzt in seinem Büro. Er betrachtet seine Fingernägel, resümiert: Dobermanns Kumpel – Computerfreaks wie er, aber nach jetzigen Erkenntnissen keine Hacker, Politaktivisten oder in irgendwelche mafiösen Strukturen eingebunden. Ansonsten: Kiffer mit roten Augen, träge Hartz IV Jünglinge, einige Kleinkriminelle, notorische Schwarzfahrer und An- und Verkaufstrickser bei E-Bay – eben diese Sorte. Streitfutter wohl gerade ergiebig genug eine wortlastige Zwei Minuten Kneipenschlägerei anzuzetteln – trödelige Racheglut würde ausreichen, einen schuftigen Kumpel fürs Erschleichen von Sozialleistungen oder Schwarzarbeit zu verpfeifen. Boll konnte hier kein Motiv für den Mord erkennen. Die Kunden von Wesendonk und Dobermanns kurzzeitigem Reparaturunternehmen im Keller der Erzberger Straße wollte man möglichst schnell ausfindig machen. Wesendonk gab zu, dass sie schwarzgearbeitet hatten – und deshalb würde er die Namen der Kunden nicht kennen – oder er hätte „die Namen leider vergessen, oder so ähnlich.“

Boll überlegt einen Antrag bei der Staatsanwaltschaft zu stellen, um per Gerichtsbeschluss Wesendonks Computer zu beschlagnahmen. Vielleicht kam er so an die Namen der Kunden. Und ein Antrag auf Telefonüberwachung? Da hatte er wohl keine Chance. Und der Umweg über die Steuerbehörde? Na ja. Erst mal wird jetzt der beschlagnahmte Computer des Toten von Spezialisten gecheckt – vielleicht warten ja noch ein paar Überraschungen. Bisher spricht nichts dafür, dass professionell mit Hehlerware gehandelt wurde. Mal abwarten.

Einbruchsspuren fehlen. Dobermann hatte wohl nicht mit dem Angriff gerechnet, sich nicht gewehrt. Es mangelt an Anhaltspunkten, dass etwas gestohlen wurde. Nur eine Sache: Dobermanns Handy ist nicht aufzufinden, weder in der Wohnung, in Mülleimern, im Keller oder sonst wo im Garten. Welche Rückschlüsse muss Boll aus diesem Umstand ziehen? Der Täter hatte mit seinem späteren Opfer telefoniert. Da zurzeit die Vorratsdatenspeicherung außer Kraft gesetzt ist, können die Ermittler auch nicht beim Telefonanbieter nachfragen. Auch das Antelefonieren von Dobermanns Handy zeigt keinen Erfolg. Das Handy wie sein ehemaliger Besitzer wohl gleichfalls „tot“, ruht vielleicht zerstückelt auf dem Grund des Rheins. Und da auch ein angemeldeter Festnetzanschluss in der Wohnung fehlt, wurde jetzt das gründliche Durchchecken des Computers umso wichtiger. Ein eher jämmerlicher Charakter, alkoholabhängig, verwahrlost zu nennen, lebensuntüchtig – so charakterisiert Boll den Toten zu diesem Zeitpunkt.

Wie ist es zu bewerten, dass der Mörder so einfach in die Wohnung gekommen ist, obwohl es bekannt ist, dass Dobermann so gut wie gar nicht die Türe öffnet? Hat er doch die Türe geöffnet? Wenn ja, warum? Der Besucher hat sich per Handy angemeldet – und der Besucher war Dobermann so wichtig, dass er die Türe geöffnet hat. Oder besaß der Besucher einen Schlüssel? Die Mutter, der Vermieter Weyrauch und Wesendonk besitzen offiziell einen Schlüssel. Kam der Besucher mit einem nachgemachten Schlüssel in die Wohnung? Boll grübelt.

Rolf Dobermanns ehemalige Freundin, Anita Radschläger, hatte ihn vor genau 6 Monaten verlassen, war nach Norwegen ausgewandert und arbeitete als Kindergärtnerin in Elverum, einer Kleinstadt, nicht weit von Oslo entfernt. „Ich habe kein Perspektive mehr gesehen ... so ein wuchernder spinnerter Egotrip ... nach außen wie son’ abgerichteter grob konstruierter aber freundlicher Roboter geredet ... als ob er alles im Griff hätte ... hat alles versprochen ... aber die Realität war Dünnpfiff ... und ne wirklich hohle Birne mit der Zeit ... der Alkohol ... er wurde mehr und mehr wie son’ ausgehöhlter Riesenkürbis ... ich hab’s versucht ... er hat immer ja, ja, ja gesagt ... aber nichts ... und ehrlich gesagt ... das Körperliche ... ich steh auch nicht so auf superadrett, meine Küche sieht auch manchmal aus ... aber ... ich hab mich am Schluss ... ja, ich habe angefangen mich zu ekeln ... nein ich habe mich total geekelt ... ja, ich bin wohl mehr oder weniger getürmt ... nur weg ... weit genug weg ... ich wollte ihm ja helfen ... er ist ... er war ... kein schlechter Kerl ... aber dieser Körpergeruch, der Schweiß. Länger als 10 Minuten konnte ich ihn nicht mehr in meine Nähe ertragen. Ehrlich, wenn er mir nur noch einmal auf die Pelle gerückt wäre, so richtig, sie verstehen, ich hatte kotzen müssen. Er war aber nie aggressiv mir gegenüber, nie! Und als ich ihn kennengelernt habe, was das ein richtiger guter Typ, hatte was in der Birne. Wir haben öfters telefoniert ... zum letzten Mal am Tag vor diesem Datum ... hat immer gebettelt, ich solle zurückkommen ... ich glaube, er hat wirklich gelitten ... und dann noch den Job verloren ... er wollte keine Therapie ... beim letzten Telefonat ... nein, er war wie immer in letzter Zeit ... hat nichts erzählt, was auf den Mord hinweisen könnte ... oder? Ja doch, er war noch abgedrehter als sonst, mein ich jedenfalls ... hat erzählt dass er so gut wie alles wieder im Griff hat ... Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, wer ihn erschossen haben sollte. Und warum?

Ich war an dem Freitag hier in Elverum, klar. Gibt’s denn Fingerabdrücke? Spuren? Seine Kumpels sind Luschen, Versager, Abzocker, gehirnvernebelte Kiffer, aber bestimmt keine Mörder. Und mit Wesendonk, auch son’ Abstauber vor dem Herrn, son’ freundlicher Leuteverarscher, mit dem hat er doch im Keller Computer repariert. Aber in der letzten Zeit hat Rolf doch gar nichts mehr auf die Reihe bekommen – und der Wesendonk hat sich in dem Keller richtig eingenistet, mit Matratze und so – war ja ne billiger Sommerbaustelle. Ich hab damals mit der alten Lungenstrass telefoniert, die hat mir erzählt, dass der Wesendonk wohl das Waschbecken in Waschkeller als nächtliches Pissoir benutzt, weil plötzlich da immer alles nach Pisse und Zigarettenrauch stank. Die war ganz schön wütend. Aber dann hat der Vermieter, so’ne Schnarchnase mit Tirolerhut, den Wesendonk ja doch vor die Tür gesetzt. Ach so – irgendwie war der Rolf auf Wesendonk doch total sauer – auf einmal – wollte mir aber nichts genaues erzählen – irgendwas mit Bestellungen und Rechnungen auf Rolfs Namen. Ich will den Wesendonk ja nicht in die Pfanne hauen, aber Rolf hat mal gesagt so ‘was wie „ihr kennt den alle nicht richtig, ihr lasst euch von der freundlichen Fassade blenden“... fragt sich nur, warum er sich mit dem Wesendonk immer noch abgegeben hat ... Ich meine, der Rolf war doch irgendwie in der totalen Sackgasse – und dann bin ich auch noch abgehauen ...

... ehrlich gesagt ... er hat nur noch genervt ... ich denke er war depressiv ... oder manisch-depressiv oder so ‘was ähnliches ... so hin und her ... und immer träger und unbeweglicher ... hat sich nichts sagen lassen ... immer sein „Ja, ja alles easy, kein Problem“... ich hab ja auch keine Ahnung wie sich der Alkohol auf son’ Wesen auswirkt ... das ging ja so ganz langsam los mit dem Sprit ... erst war das ganz o.k., ich hab gern mitgepichelt, wir haben viel Spaß gehabt ... aber dann, ich weiß nicht ... irgendwann hing der an der Flasche wie son’ Baby ... und alles hat sich verändert ... erst war ich wütend, weil er immer benebelt war ... dann habe ich mehr so Mitleid gehabt ... jedenfalls konnte ich ihm nicht richtig helfen ... na ja, war denn auch schon lange keine richtige Beziehung mehr ... unter einer richtigen Beziehung stell ich mir was anderes vor ... aber er hat ja auch so’ne Alkoholtherapie mal abgebrochen ... hat alles nichts gebracht... vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber so richtig tief traurig bin ich nicht... aber Pistole, Schalldämpfer ... da passt was gar nicht zusammen ... zur Beerdigung fahre ich jetzt nicht extra nach Deutschland.“ So die Zusammenfassung von Anita Radschlägers Aussagen bei der norwegischen Polizei und in einer Videoschaltung mit Boll.

Boll betrachtet Anita Radschlägers Foto: unscheinbares, bleichhäutiges Gesicht, tiefschwarz gefärbte lange Haare, Nickelbrille vor blass-grau ausdruckslosen Augen. Boll nuschelt in sein Aufnahmegerät: „Anita Radschlägers Alibi scheint wasserdicht. Sie war am Tattag nachweislich in Norwegen, von 9 – 17 Uhr gearbeitet, von 19 bis 24 Uhr auf der Geburtstagsparty einer Kollegin. Und welches Motiv hätte sie gehabt? Und ein Mord in ihrem Auftrag? Dummes Zeug.“ Boll schüttelt den Kopf. „Die war einfach nur froh, dass sie weit, weit weg war von dem Typ. Die war kuriert.“

Boll resümiert weiter: „Bisher kein hilfreiches Spurenbild. Die Waffe ohne Fingerabdrücke. Die DNA-Geschichte läuft. Selbstmord ausgeschlossen. Oder gab es einer Helfer? Blödsinn! Die Waffe: Ceska Modell 83, Kaliber 7,65 mit Schalldämpfer lag sonderbarerweise wie in inszenierter Verachtung – im fauligen Küchenmüll eines offenen Abfalleimers.

Der Tote lag, angezogen mit T-Shirt und Jeans, quer im engen Korridor, den Kopf im Schlafzimmer, die bloßen Füße in der Küche. Er lag dort wie etwas Störendes, über das man stolpern musste. Dobermann war an einem Kopfschuss gestorben, wie bei einer professionell ausgeführten Hinrichtung, einem Auftragsmord. Die Waffe stammt wohl aus alten rumänischen Armeebeständen. Die vermutete Tatzeit wurde bestätigt: Freitag zwischen 17 und 19 Uhr. Die Mutter hat ihn Samstagmorgen gegen 9 Uhr aufgefunden.“

Kommissar Boll, beeindruckt von den formvollendeten Gazellenbeinen Marita Dobermanns, erhebt sich von seinem Drehstuhl, als die Mutter des Toten in seinem Büro erscheint, in einem hellen, wahrscheinlich sehr preiswerten Sommerkleid, das jedoch perfekt ihre mädchenhafte Figur umschmeichelt. In dem müden Gesichtszügen, Krähenfüßen, nicht mehr ganz straffen Wangen, der erschlaffenden Halspartie, im nur noch leidlich festen Fleisch der Oberarme, in der verrunzelten Haut des Dekolletés offenbart sich für Boll die Vergänglichkeit einer Belle de Jour. Und in Bolls nicht zu unterdrückender romantischer Phantasie treffen sich im Paris der 1960er Jahre blutjunge Filmgeschöpfe zu einem Sekundenstelldichein. Marita Dobermanns fraulich elegante Grazie wirkt unbestreitbar auf Boll, auch wenn mit Runzeln und Krähenfüßen der Magnetismus despektierlich schwächelte, so die Sicht des Kommissars. Gleichzeitig gewahrt er eine den Zumutungen des Lebens gegenüber in Resignation, vielleicht in Demut ergebene Frau, die sich mit einigen Putzstellen die kleine Witwenrente aufbessert. Die roten Haare hatte sie ihrem Sohn vererbt, aber versäumt, ihm auch nur ein einziges Gen ihrer aparten Erscheinung zu schenken – sinniert Boll.

Auch einen Tag nach der trostlosen Beisetzung ihres Sohnes putzt Marita Dobermann die Besenbindersche Wohnung – wie schon seit 30 Jahren – Montags, Mittwochs, Freitags. Es ist sozusagen eine Lebensstellung. Besenbinders hatten seit den späten 1940er Jahren aus dem Architekturbüro des Alten und dem kleinen Bauunternehmen des Sohnes Arthur bis heute ein ertragreiches Unternehmen, stattliche Vermögenswerte aufgebaut, zu denen eine Autovermietung, Autowaschstraßen und der Besitz etlicher 50er Jahre Straßenzüge in der nahen Landeshauptstadt zählen. Das jetzt alte Ehepaar Arthur und Elise Besenbinder – beide fast 80jährig – trotz immensen Wohlstands einem bürgerlich-kleinbürgerlichen Lebensstil scheinbar treu geblieben, mit Rauhaardackel, koreanischem Kleinwagen, Jagdhütte in der Eifel. Die zwei Alten leben in einer Etagenwohnung, auf deren riesigen Balkon die Geranien in jedem wiederkehrenden Sommer üppig wuchern – inmitten einer biedermännisch gepflegten Vorortgegend.

Für Marita Dobermann ist die Beerdigung Arthur Besenbinders die zweite innerhalb einer Woche. Nach der Freigabe der Leiche – sie hatte ihren Sohn im Krematorium verbrennen lassen und die Asche der Erde zurückgegeben – steht sie nun als „treue Perle“ am Sarg ihres langjährigen Arbeitgebers in eine der hinteren Reihen der schlichten Kapelle des Südfriedhofs. Am offenen Grab spricht Florian Nachtigall, 18jähriger Enkel, Abschiedsworte an den Großvater. Er steht blond und hell in Strahlen später Morgensonne. „Ein Siegfried“ seufzt Marita Dobermann bewundernd. Florian Nachtigalls Muttersprache ist von einem ausgeprägt britischen Akzent durchzogen. Besenbinders Enkel hatte seine Schulzeit im schottischen Gordonstoun verbracht – ein Internat, dass ein deutscher Reformpädagoge 1934 gegründet hatte, und in dem viele Mitglieder der britischen Königsfamilie erzogen wurden. Florian Nachtigall absolviert die Beerdigung seines Großvaters Arthur Besenbinder und fliegt umgehend nach New York, um ein Praktikum in der Anwaltskanzlei Perkins, Rott & Huenfeld zu beginnen.

Arthur Besenbinder war seit seiner frühesten Jugend ein leidenschaftlicher Jäger gewesen. Sein heimisches Jagdrevier begann am Zaun des erwähnten Südfriedhofs, weitet sich in Heide und Auenwälder und wird im Osten von der A3 begrenzt. Seine Tochter, Gudrun Nachtigall, fand ihn unweit des Zaunes zum Südfriedhof unter einer Nachkriegseiche. Das angeschossene Türkentäubchen, das wohl noch eine gewisse Zeit überlebt hatte, und die Schrotflinte lagen neben ihm – wie frühzeitige Grabbeigaben. Man ließ verlauten, es sei ein Herzanfall gewesen.

In den Besenbinderschen Betriebsabläufen ändert sich durch den Tod des Seniorchefs nichts Gravierendes. Schon seit einigen Jahren war Gudrun Nachtigall, Besenbinders einziges Kind als eingetragene Kauffrau Inhaberin des Unternehmens. Der Betrieb ist glänzend organisiert, Gudrun Nachtigall befreit von alltäglichen Leitungsaufgaben. Sie übt Kontrolle aus, trifft die gewichtigen Firmenentscheidungen. Da sich das Unternehmen vorwiegend auf die Verwaltung des in den Wirtschaftswunderjahren geschaffenen Besitzes beschränkt – und auch Gudrun Nachtigall auf Expansion keinen Wert legt – sind außergewöhnliche Entscheidungsanforderungen für sie überschaubar. So lebt Gudrun Nachtigall, verheiratet mit einem angesehenen Biochemiker im entfernten Kiel. Alle vier Wochen reist sie an, um in der Besenbinderschen Firma nach dem Rechten zu sehen. Erst viel später sollte ans Tageslicht kommen, dass sich hinter der scheinbar glänzenden Fassade, hinter wunderbar zuverlässigen Mitarbeitern eine gleichfalls gut funktionierende Schattenwelt mit fingierten Handwerkerrechnungen, getürkten Mietkonten und anderen fein installierten betrügerischen Aktionen verbirgt.

Marita Dobermann behält die Putzstelle bei der Witwe Besenbinder bei. Die Witwe hat den Führerschein abgegeben, so fährt sie die alte Frau zu Arztterminen, zur Fußpflege. Zusätzlich übernimmt Marita Dobermann jetzt erste kleine pflegerische Hilfestellungen. Sie kaufen gemeinsam frisches Gemüse auf dem Wochenmarkt. Frau Besenbinder liebt üppig deutsche Hausmannskost zu kochen. Ihr Favorit: Mangold.

Die Putzstelle verwandelt sich in eine Betreuungsstelle – die Frauen verbringen viele Stunden des Tages zusammen. Alle vier Wochen schaut die Tochter Gudrun kurz bei ihrer Mutter vorbei.

Neander-Tales

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