Читать книгу Neander-Tales - Alexander Siewers - Страница 5
3. Kapitel
ОглавлениеMarita Dobermann versucht sich auf „Wer wird Millionär“ zu konzentrieren. Sie ist alleine in ihrer Wohnung. Ihr jetziger Lebenspartner kommt erst in acht Wochen – und dann nur für 20 Tage – nach Deutschland. Er arbeitet für ein Brückenkonsortium in Vietnam. Auch zur Beerdigung von Rolf Dobermann konnte er nicht anreisen und seine Lebensgefährtin trösten. Ihr Ehemann war vor zehn Jahren an plötzlichem Herzversagen gestorben. Alkohol war sein täglich Brot – Flachmänner in Manteltaschen, Handschuhfächern, Schreibtischschubladen, Aktentaschen – seine treuesten Gefährten. „Die Sucht muss ja erblich sein“, murmelt Marita Dobermann – und empfindet bei dem Gedanken ein klein wenig Tröstung. Und heute? Sie hatte lange mit Vietnam telefoniert. Sie seufzt. Ein energisches Sommergewitter patscht gegen die Fensterscheiben. Hatte sie schon zu viel Bordeaux getrunken, als sie das Gesicht Besenbinders mit der markant fleischigen Nase und tatsächlich regennassen Haaren hinter dem Wasserfilm des Fensterglases entdeckt? „Ich kümmere mich auf gar keinen Fall um die Katze und die beschissene Wohnung“, nuschelt sie, während sie trotzig zum Fenster blickt. „Und auch die Klamotten, die Papiere, die Miete, soll das doch machen, wer will. Ich pack da gar nichts mehr an. Da kann mich keiner zu zwingen.“
Mit unsicheren Händen umgreift sie die Rotweinflasche, schüttet das Glas voll und trinkt in hastigen Zügen. „Was ist nur passiert, mein Junge?“ klagt Marita Dobermann leise, während sie unverwandt zum Fenster blickt. „Habe ich einen großen Fehler gemacht? Bin ich schuld? Ja, ich habe wirklich zu viel getrunken.“ Sie zieht noch nicht einmal die Vorhänge zu, obwohl Besenbinders Augen kalt, gebrochen – eben wie die eines wirklich Toten glotzen.
„Komm, lass gut sein, Giftzwerg!“ Marita Dobermann versucht vom Sofa aufzustehen, schwankt, lässt sich zurückfallen. Die Erinnerung treibt keinen Ekel vor sich her, stattdessen eine Art klinisch distanzierte Verständnislosigkeit: Der fischig unsaubere Schwanz, der glitschig unappetitliche Körper mit einzelnen schwarzen Affenhaaren, abstoßenden Körperausdünstungen, die unmissverständlich signalisierten, dass ihre innerste Natur diese Kopulation nicht eingeplant, geschweige denn gewünscht oder gefordert hatte. Die kralligen Nägel, die sich schmerzhaft in ihre Haut bohrten, der gallige Atem, der stoßweise aus seinem Inneren fuhr, dieses lächerliche Zoogeschrei, als er sich klebrig in ihr entlud. Sie hatte die unendlich langen Minuten auf seine hässlichen, spitzen Zähne starren müssen, die er auf absurd scheußliche Art bleckte, als sei er in ihrem Schoß wie in einer Folterkammer gefangen.
Gott sei Dank wollte er nicht küssen. Und dieser ganze Mist ohne Kondom! Und die Pille war nicht ihr Ding. Sie hatte diesen, sie nannte es „Vorgang“, wie ein Paket fest verschnürt, in den hintersten Winkel ihrer Seelenkatakomben gequetscht – und mit keiner Menschenseele, mit keiner – auch nicht mit ihrer eigenen – hatte sie in all der Zeit über den „Vorgang“ gesprochen. Eigentlich war gar nichts passiert. Eine Dummheit. Schwamm drüber. In ihrem Sommersprossengesicht spreizen sich blutrote Drachenkopf-Muster. Ihre Kellerleiche, von Sauerstoffmolekülen gedrängt, beginnt launisch gärend zu stinken. War damals vor 28 Jahren – so – ihr Sohn gezeugt worden? Sie war gerade frisch verheiratet gewesen – Augen zu und durch war die Parole. Besenbinder ging ihr all die Jahre danach aus dem Weg. Und zwischen Marita Dobermann und Besenbinders Frau galt ein unausgesprochenes Schweigegebot in dieser Angelegenheit. Besenbinder hatte sie damals – ein einziges Mal auf Geschäftsreise mitgenommen. Sie sollte ein neuerworbenes Ferienhaus grundreinigen, während er im nahen Paris Geschäfte zu erledigen hatte. Grundreinigung in Frankreich – was für ein selten dämlicher Vorwand. Ihr frisch angetrauter Mann schwieg zu diesem Arbeitsausflug, zog ein mürrisches Gesicht, studierte die Kontoauszüge mit hohen Minuszahlen und köpfte eine weitere Bierflasche. Aber Marita Dobermann träumt von einem hübschen kleinen Ferienhaus mit fröhlichen Übergardinen und Korbstühlen auf der Terrasse, vielleicht sogar einem Swimmingpool. Sie würde resedafarbene Kacheln reinigen und bestimmt in ein tolles Restaurant eingeladen werden, mit „Chez ...“ und sowas – Garcons mit stattlich blütenweißen Servietten, die straff an schwarz ausstaffierten Unterarmen haken – vielleicht einen Hauch Montmartre erschnuppern. Sie erreichen die von Besenbinder neu erworbene Ferm de Plenoche über einen holprigen Feldweg. Das Landgut: grausteinerne Gebäude mit Schindeldächern – von Trutzmauern eingefasst – errichtet auf Ufersäumen ertragreicher Äcker zu Sümpfen schwarzer Mistelwälder. Nur je in westliche und östliche Himmelsrichtung wird das grobsteinerne Mauerwerk von eisernen Toren geschartet, deren Doppelflügel mit geschmiedeten Dornen gespickt sind. Einzig das kleine Chateau de Plenoche aus den Zeiten Ludwig XVI. und sein Park mit Blauzedern, Säuleneiben, unfrisiertem Buchsbaum, Rundtürmen im Mauerwerk, grenzt an die Nordseite der Ferm, teilt einsam abwehrende Lage. Der ehemalige Besitzer von Ferm und Chateau, Chevalier de Plenoche, ein alter wunderlicher Junggeselle, letzter eindeutiger Nachfahre des mit ihm aussterbenden, einst üppigen Geschlechts – die berüchtigten Amouren seines Vorfahren mit der Herzogin von Orleans, einer Cousine Ludwig XIV., und anderen Damen der Gesellschaft lieferte in glorreichen Zeiten deftiges Futter für Ranküne und Literatur – eben dieser Nachfahre hatte vor kurzem das Landgut – widerwillig der Not gehorchend – dem Deutschen verkauft, hasserfüllt und voller Verachtung in Gemüt und Gesten dem Käufer gegenüber. Auch das Schlösschen war mittlerweile vom wohlhabenden Advokat Petáin aus Paris als Landsitz erworben worden. Der alte Plenoche besitzt nur noch lebenslanges Wohnrecht in zwei Dienstbotenkammern der Mansarde. Nach Ankunft der Deutschen verbringt der alte Plenoche seine Zeit damit, die verhassten Okkupanten aus seinem Mansardenfenster heraus mit dem Feldstecher zu verfolgen und seinen Hass mit den Früchten der Belauerung zu füttern. Am Abend – nach etlichen Gläsern zu viel – schreit er aus seinem Dienstbotenzimmer triumphierend in Richtung Ferm: „Straßburg ist unser – für immer!“ Der alte Mann beugt sich gefährlich weit aus dem Fenster. „Ich hab euch armseligen Hungerleidern 1945 in Landau den Marsch geblasen!“ Plenoche schwankt ins Zimmer zurück, torkelt nach wenigen Minuten wieder ans Fenster – johlt, jetzt auf Deutsch: „Herrenmenschen, Herrenmenschen!“, verschwindet blechern lachend in der Wohnung, taucht wiederum am Fenster auf, kreischt auf Französisch: „Rasier die Schlampe!“ Und mit sich überschlagender Stimme wiederum auf Deutsch: „Herrenmenschen, Herrenmenschen!“ und in feinem aber schrill toniertem Aristokratenfranzösich: „Meine tapfere Vorhut, meine kleinen marokkanischen Mohren, die habens euch gegeben! Ha, meine Sektion!“ Unter hysterischen Lachsalven wankt er ins Zimmer.
Am nächsten Tag lässt er sich vom Ehepaar Brederen, Hofpächterfamilie in der fünften Generation, die durch die Hintertüre ihres Pächterhauses direkt in den Park des Chateaus gelangen, alle Einzelheiten über die widerlichen Boches zutragen. Madame und Monsieur Brederen – er im Blaumann, sie im geblümten Kittel – empfangen die Deutschen recht zahnlos lächelnd. Am Resopaltisch der Pächterküche trinken Besenbinder und Dobermann Kaffee, essen Karamellpudding, der so süß ist, dass Marita Dobermann befürchtet, ihre Zähne gleich ihren Gastgebern zu verlieren, umgehend, an Ort und Stelle. Dann schließt Madame Brederen die Türe eines ehemaligen Landarbeiterhäuschens auf. Marita Dobermann erinnert sich präzise, als blicke sie auf eine gestochen scharfe Schwarz-Weiß-Fotografie: ein französisches Riesenbett mit nagelneuer Luxusmatratze bildet die feudale Insel inmitten der Schäbigkeit karger Landarbeitermöbel aus dem Fundus des frühen 20. Jahrhunderts. Ein seit langen Jahren unbenutzter offener Kamin, ein vergessener, am rostigen Nagel baumelnder Rasierspiegel. Hier ist sie dem reichen Mann zu Willen. Nichts war mit Korbstühlen, resedagrünen Kacheln, Swimmingpool, Montmartre, „Chez ...“ In den Resten der Nacht lauscht sie mit klopfendem Herzen den kehligen Lauten tierischer Insassen, die den verwaisten Abzug des offenen Kamins als Heimstatt erobert haben und den bedrohlich animalischen Sound zu den Ereignissen liefern. In Marita Dobermanns Bangigkeit spuken Dohlen, die sich mit panischen Flügelschlägen durchs Zimmer stürzen, vielleicht tückisch zügellose Kaminbewohner, die sich an ihrem Halsblut berauschen wollen. Sie schlüpft wieder in ihr mit Schulterpolstern und Pailletten gewappnetes Kleid. Sie hat es mit sehr viel Mühe selbst genäht. Das Vorbild ihres Kleides hat Krystle Carrington getragen in dieser einen Folge von „Denver Clan“ – als Krystle in dem weißen Sportwagen so schön ausgesehen hatte.
Marita Dobermann schleicht hinaus zum Hofklo. Auf der Holzbank des Aborts hockt sie in ihrem verrutschten Krystle-Carrington-Kleid, pafft eine Zigarette. Die Innereien ihres Unterleibs brennen. Sie verflucht sich. Und doch fühlt sie sich in diesem primitiven Verschlag mit unheimlicher Tiefe für einige Minuten geborgen – bis eine widerlich rastlose Schmeißfliege, die auf alle erdenklichen Arten in sie eindringen will – und ein mysteriöses Rascheln – sie zurück ins Haus zu den schon vertrauten Lauten und Anmaßungen treibt. Doch auch hier erträgt sie nur kurze Zeit die tierischen Stimmen aus dem Kamin und das röchelnde Schnarchen Besenbinders. In der Spüle ertastet Sie das Küchenmesser. Es packt sie Versuchung, Besenbinder das Messer in den Hals zu stoßen oder – sich selbst die Arme aufzuritzen – nur um diese Terrorspannung aus ihrem Körper herauszujagen. Marita Dobermann spürt den angenehm vertrauten Holzgriff des Messers. Sie legt es zurück in die steinerne Spüle. Wieder flieht Marita Dobermann hinaus auf den Hof. In der hellhörigen Nacht winseln mistelgeplagte Baumwipfel. Es scheint ihr das Rauschen einer entfernten Autobahn. In der Mondhelle kniet sie sich in den Winkel zwischen Hofmauer und Abort. Sie rupft Falsche Kamille, Franzosenkraut und Brennnessel aus der Erde. Das brennende Nesselgift stört sie nicht. Ihre Augen sind rotverweint. Das Unkraut ist eliminiert. Sie geht zum nicht abgeschlossenem Kofferraum des Autos, kramt Süßigkeiten heraus und eine Klobürste, die hier an diesem Ort vollkommen überflüssig ist. Mit den Süßigkeiten und der Klobürste hockt sie sich wieder auf den Holzsitz des Abortes. Sie kaut den Mäusespeck, der sie ein wenig beruhigt. Mutter hatte demonstrativ weggeschaut und geschwiegen – als sie herhalten musste für den besoffenen Vater. Und wenn sie sich in diesem winzigen trostlosen Häuschen, einer Ziegelbaracke ähnlicher, jeden Abend die Bettstatt auf der Wohnzimmercouch aufbauen musste, obwohl der betrunkene Vater noch im Sessel geiIte, und wenn sie sich im Badezimmerchen verbarrikadierte, obwohl niemand im Haus anwesend war – und es ihr zur Gewohnheit wurde, die Klobürste anzuschreien und zu beschimpfen, voller Hass und Verzweiflung in der ewig gleichen tiefwütigen Hassmelodie in einem sich steigernden Stakkato: „Du Drecksau, du elende Drecksau hau ab! Hau ab, du Drecksau! Rasier dich lieber!“
Die Nachbarn hatten sich längst an dieses Schreiritual gewöhnt, registrierten es müde, mitleidig achselzuckend. Das Hassritual endete in versöhnlicher Vereinigung mit der Klobürste. Marita Dobermann konnte jetzt wenige Stunden im Bett neben Besenbinder schlafen. Und fotografisch genau erinnert sie sich an den Morgen: Besenbinder schläft. Marita Dobermann springt aus dem Bett, brüht sich im mitgebrachten Kännchen auf der Kochplatte einen Espresso. Es ist sehr früh, sehr still. Da kein Vieh zu versorgen ist, vermutet sie, dass die Pächter noch schlafen.
Im Chateau jedoch öffnet sich ein Mansardenfenster und der Chevalier verfolgt das Tun der Hassenswerten mit seinem Feldstecher. Er beobachtet die rothaarige junge Frau im Bademantel, die mit dampfendem Morgentrank in einer Hand zu dem massiven mit Eisenspitzen gespickten Osttor geht, wohl um die morgendliche Freiheit hinter Eisentor und Steinmauern zu besichtigen. Mit einem Arm kann sie das schwere Tor kaum aufdrücken und späht durch den Spalt auf ein abgeerntetes Maisfeld: Eine wimmelnde Rattenarmee – eine schockierend unübersehbare Masse – alles scheint irgendwie chaotisch und doch wohlorganisiert – transportiert die von Erntemaschinen in reichem Maße vergessenen Maiskolben vom Feld in die Vorratslager des Winters.
Mit Hilfe des Fernstechers ist der Adelige in der Lage, den Abscheu in den Gesichtszügen der schönen, jungen Frau detailgenau zu studieren. Er weidet sich am Anblick der Verstörung – um wie nach einer gelungenen Inszenierung begeistert Beifall zu klatschen. Dann kräht der Alte die erste Zeile der Marseillaise, trompetet ein heiseres Lachen und kreischt: „Ich bin der hochwohlgeborene Chevalier de Plenoche. Der Wohlfahrtsausschuss will meinen Kopf auf der Guillotine sehen!“ Kichernd schließt er das Fenster. Marita Dobermann schaut entgeistert über das niedrige Dach des Pächterhäuschens hinweg zu dem polternden Alten im Mansardenfenster des Chateaus. Aber es ist zu weit entfernt. Sie kann die durch das Fernglas starrende Person dort oben im Schlossfenster nicht präzise erkennen, hört Wortfetzen, Klatschen, ein böses Lachen. In der akustischen Gemengelage meint sie den Beginn der Marseillaise zu identifizieren. Marita Dobermann stolpert, verteilt den restlichen Espresso über ihren Frotteemantel. Sie schleicht sich leise in das Landarbeiterhäuschen. Besenbinder schläft immer noch tief und fest, sein rasselndes Schnarchen hat sich in abstoßendes Zirpen verwandelt. Marita Dobermann entdeckt im Wandschrank ein Paket mit uraltem französischem Waschpulver. Sie greift sich die Plastikwanne, füllt das verblichene, beinahe steinharte Waschpulver herein. Da es kein fließendes Wasser im Haus gibt, trägt sie den Kunststoffbottich hinaus auf den Hof und lässt ihn aus dem dortigen Kran halb voll Wasser laufen. Währenddessen schaut sie zum Schloss, ob sich der Verrückte dort wieder zeigen würde. Aber es bleibt ruhig und die Mansardenfenster sind geschlossen. Der Plastikbottich ist jetzt schwer, und so zieht sie diesen mühevoll in den riesig leeren, ehemaligen Kuhstall – vorsichtig, dass die Lauge nicht überschwappt. Sie entkleidet sich. Sie setzt sich in das Laugenwasser. Der Bottich ist klein. Ihre Beine baumeln über den Rand. Die Füße erreichen fast den Kuhstallboden. Sie spreizt ihre Beine, sodass möglichst viel der eiskalten Seifenlauge in sie eindringen kann. Sie schließt die Augen, beißt die Zähne zusammen, spürt, wie diese bitterkalte wunderbare Drachenbluttaufe ihre Poren versiegelt, jegliches widerlich Eingedrungene beizt. Und wenn diese dumme Sache auch schon vor etlichen Stunden passiert war: dies hier würde alles ungeschehen machen. Alles auf Anfang! Ihr törichter Wunsch war ihr Gewissheit! Tatsächlich kleben Flocken des uralten Pulvers, im eiseskalten Wasser nicht gänzlich aufgelöst, wie borkig graue Lindenblätter auf ihrer Haut.
Doch auch in diesen Minuten tiefster Intimität in der weiten Tierhalle ist Marita Dobermann nicht alleine.