Читать книгу 1981 - Richard - Alexander Zeram - Страница 5
2. Arzt und Patient
Оглавление»Sie haben also das Bedürfnis, sich über die Probleme des Alltages hinwegzusetzen und flüchten sich daher in eine … eine Art Traumwelt.«
»Nein!«, konterte Richard, und der alte Herr, der ihm gegenüber in einem Sessel saß, hob erstaunt die Brauen.
»Nicht?«, fragte er.
»Nein! – Ich habe nicht das Bedürfnis, mich über die Probleme des Alltages hinwegzusetzen, weil mich der Alltag gar nicht interessiert. Meine Eltern sind reich, und es ist mir somit gegeben einen … nun, einen Spleen auszuleben. Ich kleide mich so, wie es heute niemand mehr tut – und nur wenige sind überhaupt so vertraut mit jener Zeit, in die ich mich gedanklich verstiegen habe. Die Belle Epoque … der Begriff alleine weckt in mir schon Sehnsüchte!«
Dr. Frieser begann, mit dem obersten Knopf seiner Weste zu spielen und überlegte sich dabei, was er hierauf würde sagen müssen.
»Sehen Sie Doktor, ich habe eingewilligt, mich mit Ihnen zu unterhalten. Meine Eltern befürchten, dass ich unglücklich sein könnte und eines Tages nicht mehr fähig sein würde, an die Umwelt Anschluss zu finden. Meine Umwelt aber besteht einzig in Gedanken und Reminiszenzen – wie sollte ich diese je verlieren und nicht mehr erreichen können?«
»Sie haben sich dennoch über den gegenwärtigen Alltag hinweggesetzt, junger Mann!«, erklärte Dr. Frieser. »Irgendwann muss es Ihnen aufgefallen sein, dass Ihre reale Umwelt nicht Ihrer Vorstellung entspricht.«
»Das stimmt!«, warf Richard ein. »Natürlich … als junger Bursche entwickelte ich ein besonderes –und übrigens sehr sensibles– Gespür für Zusammenhänge. Vielleicht liegt es daran, dass ich in diesem Haus aufgewachsen bin und meinen –in seinen Ansichten– wohl sehr altmodischen Großvater sehr geliebt habe. Mag ich dadurch selbst sonderbar geworden sein. Mich hat es jedenfalls nie wirklich geplagt, in dieser unserer Zeit zu leben. Damit muss man sich letzten Endes abfinden, und ich begriff das sehr schnell. Vielmehr wurde es mir leicht gemacht. Lässt es sich in diesem Haus nicht gut vergessen, in welcher Zeit wir leben?«
»Dagegen brauche ich nichts einzuwenden«, bekräftigte der Arzt. »Ich kann mir vorstellen, dass Sie hier die Zeit ganz schnell vergessen. Wären Ihre Eltern ähnlich … veranlagt … ähnlich veranlagt, wie Sie selbst und kleideten sich, wie es der damaligen Mode entsprach, nur weniges würde einen fremden Besucher daran erinnern, dass wir uns dennoch im Jahr 1981 befinden.«
»Eben.« Richard strahlte. »Zu jeder Jahreszeit birgt dieser Besitz seinen besonderen Reiz. Ich bedaure einzig, dass wir keinen Stall, keine Pferde und keine Kutsche haben. Meine Eltern ließen sich bisher noch nicht dazu überreden, mir diesen Wunsch zu erfüllen. Vielleicht erachten Sie unseren Park als zu wenig ausgedehnt, um darin mit einer Kutsche spazieren zu fahren. Ich persönlich wäre damit schon zufriedengestellt.«
»Dann sollten Sie darauf dringen, junger Mann! – Ich kann mich noch gut entsinnen, wie ich an der Seite meines Vaters die erste Fahrt in einer Kutsche gemacht habe. Es muss so um 1910 gewesen sein. Ich war damals noch keine sieben Jahre alt.«
»Sie haben das … selbst erlebt?«
»Aber ja!«
»Dann sind Sie ja schon fast …«
»Ich werde in absehbarer Zeit meinen Achtzigsten feiern. Ganz recht!«
Richard begeisterte sich sofort. »Es muss ein traumhaft schönes Gefühl sein, in einer Kutsche durch den eigenen Grundbesitz zu gleiten.«
»Ja … doch …«, bestätigte Dr. Frieser. »Mich jedenfalls hat es sehr beeindruckt … damals, als kleiner Junge.«
»Mir hilft heute die Vorstellungsgabe. Manchmal gehe ich die Wege entlang und bilde mir ein, in einer Kutsche zu sitzen. Es ist natürlich nicht dasselbe, aber mit ein wenig gutem Willen kommt es nahe an die Wirklichkeit heran.«
»Hmm … ja! – Sie sind ein sehr fantasievoller Mensch.«
»Kommen Sie, docteur – gehen wir nach oben. Ich möchte Ihnen zeigen, wie ich mich eingerichtet habe.«
»Und zeigen Sie mir auch, was Ihre Eltern als Ihre Hobbys bezeichnen. Ihre Bücher, Ihre Musikstudien … Sie schreiben auch, nehme ich an?«
»Wie viele jungen Männer damals. Ausklingende Romantik! – Ich bin wohl ein echtes Kind dieser Zeit.«
Beide lachten über diesen versteckten Scherz. Sie erhoben sich und verließen das Wohnzimmer. Oben in den beiden Räumen, die Richard bewohnte, erwartete den Arzt eine wunderbare Atmosphäre. Die nachmittägliche Sonne beschien das edle Mobiliar und all die ungezählten Ziergegenstände, die sich Richard im Laufe der Jahre angeschafft oder geschenkt bekommen hatte. Figürchen, Gebilde, Bücherstützen … wohin man auch sah, fiel eine überwältigende Fülle an ausgesuchtem Zierrat auf. Der Schreibtisch wirkte imposant mit seinen geschwungenen Beinen, seiner schweren Tischplatte und den darauf verstreuten Bögen Papier, Notizzetteln und aufgeschlagenen Büchern. Eine Reihe verschiedener Schreibfedern gab es in einem auf Richards Wunsch angefertigten Federhalter, mehrere Tintenfässchen aus Kristallglas, Fließpapierwalzen, Federmesserchen und ähnliche Gebrauchsgegenstände, die heute kein Mensch mehr verwendete – ja, die teilweise vielleicht einzig nur noch in Museen zu bestaunen waren.
»Es sieht so aus, als seien Sie sehr beschäftigt«, bemerkte Dr. Frieser, als er auf einem hohen Lehnstuhl Platz genommen hatte. Richard bot ihm einen jungen Portwein an und öffnete eben zwei Türchen des wuchtigen Wandschrankes.
»Bin ich auch. Gestern habe ich einige Schriften Leopold Auers studiert, und heute möchte ich mir neben einer frühen Kritik zu Hauptmanns ›Die Weber‹ eine originale Ausgabe der herrlichen mährischen Volkstänze von Janá?ek vornehmen. Dort drüben steht ein Reiseclavier … Liszt hat ein ähnliches Instrument besessen. Ich persönlich gehe nie auf Reisen, denn mir behagt weder die Fahrt in einem Zugabteil noch der Flug in diesen Riesenmaschinen, die zu besteigen man heutzutage gezwungen ist, will man etwa nach Übersee reisen. Aber das Instrument ist allerliebst. Ein gewöhnliches Hausklavier könnte es natürlich nicht ersetzen. Drüben im Schlafzimmer steht allerdings ein Clavichord und das bevorzuge ich. Unten der Steinway hat viel für sich … man kommt nicht drum herum. Aber hier oben bin ich in meiner Welt. Alles hat hier seinen Sinn und Zweck. Die Fotografien an den Wänden, die Plakate … dort … vom Zimmerefeu umrankt … das ist ein echter Mucha. Hübsch … nicht wahr? Wirkt, als wären Kunstwerk und Pflanze füreinander bestimmt! – Die Reproduktionen, die man heute überall angeboten bekommt, geben nur einen schwachen Abglanz dieser Meisterwerke wieder.«
»Hmm … und ich muss sagen, dass es sehr gemütlich ist bei Ihnen!«
* * *
Zwei Wochen nachdem Johannes und Elise den Entschluss gefasst hatten, ihrem Sohn ›zu helfen‹, war Dr. Frieser zum ersten Mal ins Haus gekommen. Davor schon hatte er einige Unterredungen mit den Eltern des zukünftigen Patienten geführt und sich ein Bild zusammengesetzt. Nun kam er regelmäßig – zweimal pro Woche – dienstags und freitags. Wie es aussah, näherten sich der greise Gelehrte und der junge Träumer rasch sehr freundschaftlich an. Stundenlang unterhielten sie sich, und wenn Richard einmal in Fahrt gekommen war, dann setzte er sich manchmal an eines der Tasteninstrumente im Haus und spielte dem Arzt einige seiner liebsten Stücke vor. Nach und nach entflammte Dr. Frieser für seinen Patienten, und als ihn die Eltern nach seinem wohl fünfzehnten oder sechzehnten Besuch einmal fragten, wie es denn voranginge, da sah er sie unverständig an.
»Vorangehen? – Was soll denn vorangehen? – Ich ergründe die Tiefe der Psyche Ihres Sohnes. Wie soll ich denn nach ein paar Wochen schon ein Urteil wagen? Was glauben Sie? – Die Psyche eines Menschen soll bereits nach ein paar ›Sitzungen‹ zu durchleuchten sein? – Ha, da hätte ich leichtes Spiel mit meinen Patienten. Und … Ihr Sohn ist ein sehr komplexer und zudem auch komplizierter Geist. Er sieht die Dinge viel zu klar, als dass man ihn ohne Bedenken für versponnen erklären könnte – geschweige denn für … verrückt! – Oh, er ist ein heller Kopf und einzig seine Vorliebe für diese längst vergangene Zeit lässt ihn sonderbar erscheinen. Er lebt nicht wirklich unter uns … oh nein! – Er lebt weitab … hundert Jahre zurück … neunzig … achtzig Jahre zurück … er lebt um die Jahrhundertwende … mitten unter uns – in einer anderen Zeit! – Er sieht uns nicht, weil er uns nicht sehen kann! Wir sind ja alle noch gar nicht existent … im Jahre 1895 etwa. Und ich will jetzt herausfinden, warum genau er denn diese gewaltige Schranke niedersinken hat lassen, die uns von ihm trennt. Sowie ich das weiß, werde ich vielleicht auch die Schranke wieder hinaufstemmen können. Und dann wird er zwischen jener Zeit und unserer hin und her pendeln. Er wird die Vorteile beider Epochen gegeneinander ausspielten und gegeneinander abwiegen – um zu einem neuen Lebensstil zu finden.«
Vielleicht glaubten die Ecksteins, dass Dr. Frieser selbst ein klein wenig versponnen war, ein ganz klein wenig nur, natürlich … aber sie konnten ihm nicht vorhalten, ihren lieben Sohn mit seinen Nachforschungen und Durchleuchtungen der Psyche etwa verstört und beirrt zu haben. Keineswegs! – Richard war kaum je zuvor ausgeglichener und fröhlicher gewesen als gerade während dieser ersten Wochen seiner Bekanntschaft mit diesem gelehrten Mann.
* * *
Bereits im Vorjahr hatte Richard eine umfangreiche Arbeit begonnen, die ihn jetzt –Anfang März– jeden Tag über mehrere Stunden hinweg beschäftigte.
Er versuchte München so zu rekonstruieren, wie es um die Jahrhundertwende gewesen sein musste. Dazu hielt er sich viel in der Staatsbibliothek auf, durchstöberte die verschiedenen Leihbibliotheken, Privatsammlungen, die man ihm freundlicherweise –auch dank seines Vaters und Dr. Friesers Fürsprache– erschloss und natürlich auch die ansehnliche Sammlung der Ecksteins selbst. Er verschaffte sich originale Tondokumente der damaligen Zeit, durchforstete Archive nach vergessenen Manuskripten und platzierte die ersten Steine eines gewaltigen Mosaikes. Als zentraler Punkt erstand das Ecksteinsche Anwesen im Stadtteil Nymphenburg, von dem aus er systematisch voranstreben wollte … sozusagen als Teil 1 seiner Arbeit.
Alte Stadtkarten, Fotografien, Lithografien, Drucke, Stiche … was immer ihm brauchbar erschien, wurde eingehend untersucht. Man sah ihn im Einwohnermeldeamt, er besuchte Historiker von Rang und korrespondierte mit anderen, die zu erreichen er die Stadt verlassen hätte müssen. Und über jeden Schritt, jeden Erfolg und jede Niederlage berichtete er Dr. Frieser, wenn dieser an Dienstagen und Freitagen zu ihm kam, um sich mit ihm zu unterhalten. Der Arzt befürwortete diese Studien und steigerte sich offenbar selbst in diese zum Leben erweckte Vergangenheit hinein. Aus den anfänglich auf etwa je eine Doppelstunde beschränkten Terminen wurden sehr schnell ausgedehnte Gesprächsrunden.
Zum Glück war München keine Stadt, in der die Vergangenheit nicht gewürdigt wurde. So fand Richard etliche Manuskripte und auch eine respektable Anzahl von im Druck erschienenen Büchern vor, die ihm seine Recherchen ungemein erleichterten. Akribisch ordnete er für sich das Stadtbild von einst, und wäre nicht eine Überfülle an –ihm höchst wichtigen und bedeutsamen– Details gewesen, er hätte die Vorarbeit zu seinem Werk ziemlich rasch abschließen können. Aber es ging ihm um einen umfassenderen Überblick und in diesem um … Perfektion.
In der letzten Märzwoche störte ihn seine Mutter einmal bei der Zusammenstellung einiger Fotos, die schließlich das komplette Bild eines Häuserzuges von 1896 darstellen sollten.
»Richard … da sind junge Leute, die zu Dir wollen.«
»Zu mir?«, staunte der Vergangenheitsforscher.
»Ein Herr Josef und noch ein anderer Mann – auch eine junge Dame ist dabei.«
»Mutter … sag ihnen, dass ich weggegangen bin. Ich habe jetzt keine Zeit. Was wollen sie schon von mir? Seit einer Woche war ich nicht mehr in der Universität. Josef hat mit mir zusammen Vorlesungen besucht und mich recht oft gehänselt. Was sollte ich ihn empfangen wollen? – Und die anderen beiden werden nicht besser sein.«
»Aber Richard … ich kann sie doch nicht einfach von der Türe weisen. Das sind doch Kameraden von Dir!«, zeterte Elise los.
»Doch! Kannst Du! – Das heißt … Du brauchst ja nicht. Von mir aus lädst Du sie zum Kaffee ein. Ich werde jedenfalls weiterarbeiten und wünsche nicht gestört zu werden. Sowie Du gehst, schließe ich das Zimmer ab. Denke nur nicht, dass ich mich geändert habe, nur weil Dr. Frieser vielleicht erklärt, dass ich keineswegs verrückt bin oder so. Das interessiert mich ebenso wenig wie diese Leute dort unten.«
Dieser Vorfall ereignete sich an einem Samstag. Am darauf folgenden Dienstag überfielen die besorgten Eltern den eintreffenden Arzt mit Fragen, aus denen Ihre Bestürzung und Besorgnis sprach.
»Aber es besteht kein Grund zur Aufregung, meine Herrschaften!«, konterte der Arzt. »Ihr Sohn hat jetzt eine erfüllende Beschäftigung gefunden. Er ist wie ein Wissenschaftler. Erstaunlich übrigens, dass er nie Historiker hat werden wollen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass einem Text von ihm, vielleicht sogar einer Doktorarbeit –vor allem in Fachkreisen– ein großer Erfolg beschieden wäre.«
Und damit begab sich Dr. Frieser nach oben zu seinem Patienten und ließ sich an die gute alte Zeit erinnern … die er ›leider Gottes gar nicht mehr so richtig miterlebt‹ hatte – wie er Richard einmal bedauernd erklärte.