Читать книгу Im Leben der Geschichte vom Dasein - Alexandra Caragata - Страница 4

Die Papierwelt

Оглавление

Der Wortzähler konnte sich seiner Ankunft nicht mehr entsinnen. Die Zeit hatte einen Stillstand erlitten. Er war angereist – so schien es ihm – in die Welt der Wörter. Den Blick nach unten gerichtet, die Schritte von den Gedanken geleitet, so betrat er die Welt jenseits der Sinne.

Sie hieß ihm willkommen, die Welt der papiernen Wörter. Überall wo der Wortzähler sie mit dem verzweifelt- liebenden Blick der Schrift durchforstete, fand er seine Leidenschaft wieder. Die Wörter. Eine lieblichpapiernzartduftende Welt der Sprache. Ganze Landschaften, Wiesen, Bäume, umhüllt in die streichelsanftgeschmeidigen Blätter der Schrift. Ein beschrifteter Himmel. Sterne, die nach Buchstaben glänzten. Flüsse aus Tinte. Beschriftete Baumäste, die sich lesbar darboten. Die ganze Welt war eine Geschichte aus Papier. Eine Geschichte, die überall in der Natur stattfand. Er konnte diese Schönheit bereits von der Ferne durchschauen, ohne wirklich in sie eingedrungen zu sein.

Nach einer Weile des regungslosen Anblicks fasste der Wortzähler seinen geistigen Mut zusammen. Ihm blieben keine Verluste mehr übrig, die physische Wirklichkeit war eine ferne Vergangenheit, und obwohl der Abschied frisch war, schien es für den Wortzähler, nie einen Abschied gegeben zu haben. Die Papierwelt bahnte ihn in ihren Duft – je mehr er in sie eintauchte – und alle Vergänglichkeit, alles Leid wurde vergessen. Die physische Lebensgeschichte wurde wegradiert, mit weißer Blendungsfarbe überstrichen, allein der Lebenssinn blieb ihm ein unsterbliches Denkmal seines Selbst. Der Sinn offenbarte sich in dieser Welt der Wörter, die ihre beschriftete Pforte für den Seelenverwandten öffnete, eine Welt, die sich aus Schriftstücken nährte. Sein Lebenssinn. Viele Buchstaben, Wörter, Sätze, Geschichten erwarteten ihn dort – sie warteten darauf von ihm gezählt zu werden, hafteten überall in der Natur herum, einem vegetierenden Eigenleben gleich. Sein Blick sprach ihm die Freude vorzeitig zu, denn die geistigen Augen erreichten die Landschaften aus Sprache, von fernher. Der Wortzähler beschritt den Boden seines Geistes, langsam, bedächtigen Schrittes. Er ging durch die geöffnete Pforte, trat in die Leidenschaft ein.

Angekommen in der Papierwelt, folgte der Wortzähler fortan seiner inneren Stimme; ihm wurden gedankliche Laute vernehmbar, die forderten: sein Blick möge sich auf den frisch gewonnenen Leib richten. Und die Augen erfassten einen Leib aus weißem Papier. Ein Leib, der raschelte und seinen Geist umhüllte, ein Leib, der mit einer Geschichte beschriftet ward, seine eigene Lebensgeschichte. Die Gedanken wurden schmerzhaft bei dieser Erkenntnis. Hatte er noch ein Gesicht, Beine, Arme, eine Identität? Nein, es sei lediglich die Form hiervon übrig, das Urgesicht, die Urform eines menschlichen Körperbaus; der innere Zusammenhalt dieses menschenähnlichen Formgebildes seien jedoch nicht die Organe, sondern papierbestückte Geschichten. Dem Wortzähler gelang es nicht, die eigenen Gedanken zu verstehen, sie zeugten von Verwirrung, ja es war ihm, als wenn seine Gedanken eine Fremdherrschaft im eigenen Selbst übernahmen. Er hörte auf, sich mit der Frage nach der gedanklichen Fremdherrschaft zu belästigen, zu verlockend standen ihm die zahlreichen Wörter, Geschichten vor dem inneren Auge; ihm wurde nur lediglich gewahr, dass die Seele sich seinen Gedanken entfremdete, eigene Wege ging, auf eine hinterlistige Art. Doch wenn nicht die Gedanken das eigene Selbst waren – wer war er dann?

Ungeachtet dieser belastenden Fragestellungen entschied sich der Wortzähler, seine Lieblingsbeschäftigungsinnenwelt weiter zu verfolgen, und zu entdecken. Der Blick erfreute sich an den vielen Schriftzügen der Wolken, des Himmels, der Natur. Da trat ihm ein Wesen entgegen, es besaß die menschlich-anatomische Urform, aber eine Haut aus weißem Papier, durchzogen von unzähligen reihenförmig gegliederten Schriftzügen, sodass der wortzählende Geist des Neuankömmlings augenblicklich verstummte. Das Wesen stellte sich ihm als der gnädige Gelehrte vor. Der Wortzähler erwiderte nicht den Gruß, gedankenverloren schien er einem frischen, noch nie dagewesenen Kummer verfallen zu sein.

„Warum Sie nicht antworten?“, wollte der gnädige Gelehrte wissen.

Immer noch keine Antwort.

„Sie scheinen wohl den Blick steinfest auf meine schöne Schrifthaut gerichtet zu haben, Herr Wortzähler? Nun kennen Sie denn auch den Sinn hinter all´ diesen Schriftzügen, die meine Haut bedecken?“

Der Wortzähler kämpfte mit dem Missgeschick seiner Gedanken. „Nein, verehrter Gelehrte der Gnade, ich kenne nur meine Unfähigkeit, Ihre Schriftzüge zusammenzuzählen.“

Der gnädige Gelehrte stoß ein schadenfrohes Lachen aus. „Die Schriftzüge auf meiner Haut beherbergen eine Geschichte, meine eigene Geschichte. Ich bin urgekleidet im eigenen Lebensverlauf. Heben Sie den Blick vom Boden, betrachten Sie die neue Umgebung, fühlen Sie sich so frei, Herr Wortzähler!“

Und der Wortzähler hob seinen schamvollen Blick vom Boden – zum ersten Mal besah er die anderen umliegenden Wesen der Bäume, Pflanzen, Tiere, des Himmels und der Wolken. Alle Wesen, die er sah, trugen einen Schriftzug aus un-un-unzähligen Buchstaben und Wörtern, deren Sinn und Anzahl der leidenschaftliche Wortzähler nicht erfassen konnte.

„Alle Wesen in unserer Papierwelt tragen ihre eigene Geschichte am Leib. Die unendlich lang scheinenden Schriftzüge auf der Hautoberfläche dieser Wesen, das ist ihr Lebensverlauf, ihre Geschichte.“

Die Wörter des gnädigen Gelehrten verstummten nach dieser Aussage, er entfernte sich rasch, ohne ein Wort des Abschieds. Der Wortzähler nahm sein Verschwinden nicht wahr, zu beschäftigt waren seine Blicke damit, den Himmel zu analysieren. Er suchte nach Sonne, nach Sternen und fand sie nicht – er fand nur den Himmel oder zumindest das, was wie ein Himmel aussah, eine Nachahmung des Himmels vielleicht, eine länglich-blassfarben-beschriftete Papierwand dort oben; da drängte sich ihm die Frage auf, warum es sie hier nicht gebe, die Sonne, den Himmel, die Nacht und den Tag. Der Himmel zeugte nur von einer papiernen Blässe der Schriftzeichen, nichts weiter. Und der Wortzähler drehte sich bei dieser Erkenntnis um, seine Blicke begaben sich auf die Suche nach dem gnädigen Gelehrten, er hatte eine Frage, einen ersten Mangel entdeckt – erst da wurde ihm bewusst, dass der Gelehrte längst verschwunden war. Da stoß der Wortzähler seine Frage in die papierraschelnde Luft hinaus; warum es sie hier nicht gebe, die naturbelassenen Beweismittel dafür, dass die Zeit, seine Zeit vergeht, das wolle er wissen, so die ausgebrüllte Aufforderung.

Ein Geräusch wurde ihm kurz danach vernehmbar, sein Gemüt verlangsamte sich, der Wortzähler wartete auf weitere Geräusche, verfolgte sie mit den Ohren. Vergeblich. Nur Stille. Da wurde sich der Wortzähler dem Schmerz der Hilfslosigkeit bewusst – das Geräusch entstammte seiner eigenen Stimme, es war der Schall davon. Und je länger sich der zeitliche Faden ausbreitete, umso größer wurde die Wunde Einsamkeit . Der Wortzähler besann sich allmählich nicht mehr auf seine Begabung, das Wortzählen. Ihm blieben die Fragen übrig, unzählige, langausdehnte Fragen, ohne Antworten. Warum es diese Welt gab? War sie ein Erzeugnis seiner eigenen Fantasie oder eine parallele Wirklichkeit? Wie lautete der Sinn dieser Welt aus Papier? Warum gab es hier keine Himmelsgestirne? War er, der Wortzähler, tot? Oder hielt er sich in einer anderen Wirklichkeit auf? Vielleicht in einer Wirklichkeit der spielenden Worte? Ruhelosigkeit. Fieberhafte Fragen. Selbstgespräche mit der Stille. Erfreulich-beängstigend. Keine Gegenreaktionen, keine Gegenwehr. Vollkommenster Zuhörerkreis. Die Stille unterbrach nicht, vergab keine Antworten.

Krampfhaft suchte der Wortzähler weiter, suchte nach dem Sinn des Lebens, suchte nach Antworten für unerklärliche Fragen, gab sich dem Gedankenfluss hin. Orientierungslos, ziellos, verschmäht, angekommen in den vollkommenen reaktionsträgen Frieden. Hier durfte der Wortzähler seine Leidenschaft ausleben: die Wörter und ihre Zahlen.

Ein süßlich-welker Duft berührte die Nasenwurzel, der Wortzähler folgte mit den Schritten in die Richtung des Geruchs. Seine Sinne hatten ihn nicht getäuscht, dem Anschein nach schienen Pflanzen, gediehene Pflanzen den Duft erzeugt zu haben. Seine Augen fingen unkrautähnliche Pflanzen ein, Landschaften überwuchernd wie Efeu – launische Vegetation im Humus eines kleinen Waldes, von herrlichem Grün umwoben. Die Schritte raschelten über das herrliche laubgrüne Papier der Mutter Natur , und als er raschelte wurde sich der Wortzähler den Geräuschen bewusst, seinen eigenen Geräuschen. Er nahm sich anerkennend wahr, erkannte seine Existenz an den Schritten, denn er war diese Schritte, die verloren durch das Papier stapften, Spuren, die im Irgendwo vom Nirgendwo übrigblieben, in der Papierwelt, seiner eigenen Zeit, umgeben von bunten Landschaften aus papiernen Schriftzügen, Papierdüften, Papierfarben und den Geschichten aller Wesen, die diese Landschaften bevölkerten und bevölkern. Die Lebensgeschichten, die sich als Schriftstücke überall verankerten und verankern. Die eigene Zeit, der schönste Fund im Leben, denn alle erdenklichen Zeiten – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – waren, sind und werden in ihr verankert sein, in der eigenen Zeit. Bei diesem Gedanken flimmerte ein kleiner Funken Lebensgeschichte, eine kleine verdunkelte Fenstertür, die immer näher rückte, vor dem Auge, den kein Blick erfassen kann.

Die eigene Vergangenheit tauchte als blasser Erinnerungsfleck auf, eine Plage des Gelebt-Worden-Seins: es war das, was hinter ihm lag. Schnell setzten die Gedanken auf Abwehr gegen die Qualen des Gelebt-Worden-Seins. In der Hülle eines Körpers. Die Selbstinszenierung für die Umwelt. Körpersprache, Äußerlichkeiten. Eine menschliche Vorstellung der besonders alltäglichen Art, Selbstexposition, nach außen bestimmte Lebenspräsentation. So schwimmen die Gedanken im Fluss der Vergangenheit des gesellschaftskonformen Gelebt-Worden-Seins, letzte Erinnerungsflecken tauchen auf.

Die Vergangenheit, ein schwindender Traum, der immerfort heller aufleuchtete, ein schwindender Traum, der sich zu einem Bild vereinigte und zur rasenden Wirklichkeit wurde und die Gedanken entblößte. Gesetzeskonformität, Regeln, Überwachung, Todesangst. Ja, es gab Ansatzstellen in dieser ehemals durchlebten Wirklichkeit… Ansatzstellen, wo die eigene Freiheit endete, weil die Freiheit des Stärkeren anfing… Es gab Ansatzstellen in dieser Wirklichkeit, wo nur Anpassung und Selbstbetrug zählten. Die Anpassung an die Anpassung der anderen Existenzen, weil die anderen Existenzen, die Gesellschaft diese Anpassung so verlangte, und nicht das Selbst, das wahre individuelle Ich… Deshalb wird die Evolutionstheorie immer und überall ihren Bestand finden... Denn überall, wo die physische Materie existiert, überleben nur die Bestangepassten … Darwins Grundsatz gilt überhaupt für alles Leben, das physisch, organisch, materiell ist. Der Fluch des menschlichen Verlassen-Seins, des Nicht-Dazugehören-Könnens, der inneren Kälte in kalter Realität, dieser Fluch fand einen Namen. Durch Darwins Hand. Es ist die Evolution und ihre herzliche natürliche Auslese. Der natürlichste Schrecken im Leben. Und an dieser Stelle setzt der Erinnerungsfleck des Wortzählers an das, was einmal war, an die wechselnden Zeiten der Vergangenheit.

Im Leben der Geschichte vom Dasein

Подняться наверх