Читать книгу Im Leben der Geschichte vom Dasein - Alexandra Caragata - Страница 5
Die Vergangenheit, ein schwindender Traum
ОглавлениеDer Himmel über Drenkesians präsentierte sich mit milden Tagesfarben, Wolken von glasscherbenklarer Helligkeit, stechende Sonne, die verdunkelte Augen blendete. Ein schöner Sommermorgen. Perfekter Start in den Tag. So eine abgenutzte Redewendung, billionenfach kopiert, gebrandmarkt, überall nur nicht in mir, zum Glück…. Selbstbetrügerische Überlegenheit…Der perfekte Start in den Tag, tra la la, und schon steht das Wochenende vor der Tür, tra la la, die Arbeitskollegin schien köstlichen Gefallen daran zu finden, sie summte ein abgenutztes Lied mit schlechter Tonlage, vollkommen im Einklang mit ihrer lächerlichen Selbstinszenierung und schnell senkte Glathener Kyrias den Kopf, denn er anerkannte sie wieder, seine Umwelt, er anerkannte sie als Aversion, als verwünschte Wirklichkeit der physisch-organischen Lächerlichkeit, einzig der zum Boden gesenkte Blick mochte ihn davor bewahren. Vor weiteren Erniedrigungen.
Die summende Arbeitskollegin fixierte nun ihren Blick auf ihn, suchte offenbar nach Vorwürfen, nach einem neuen Opfer, das sie ärgern konnte – sie hatte das Opfer schnell gefunden, der neue Arbeitskollege.
„Ähm Herr Ky-Rias.“
„Glathener Kyrias, verehrte Kollegin, freut mich in ihre Bekanntschaft zu treten.“
„Aber warum denn, warum bin ich eine verehrte Kollegin für Sie, na so was, Sie schauen mich doch gar nicht an, schauen immerfort zum Boden. Und deswegen soll ich in Ihren Augen die verehrte Kollegin sein, ähm…Na so was. Der perfekte Start, tralla, tralla …“
Die summende Arbeitskollegin fixierte ihren Blick auf Glathener, so schien es ihm zumindest, denn er sah sie nicht an, sondern erspürte ihre Anwesenheit mit den Körpersinnen.
Der Tür ganz nah, nur noch den Dienstschlüssel hereinstecken. So schnell wird eine neue Prüfung des Alltags überstanden sein. Die Flucht in die Einsamkeit, eine geliebte Wunde, die gerne gelitten wird. Verneigung vor dem öden Arbeitsalltag, Verneigung vor dem vermittelten Wissen, Verneigung vor der Einsamkeit, Glatheners geliebter Wunde.
Angekommen im Dienstbüro, fand Glathener die Stille, einzig die tuschelnden Stimmen der neuen Arbeitskollegen hinter der Tür lieferten das Beweismittel dafür, dass es sie noch gab, die Gesellschaft und ihre Urteile. Und Glathener hatte ein vornehmliches Bewusstsein dafür zu wissen, wie gesellschaftliche Urteile ausfielen: 96,45% schlecht, 03,55% gut.
Gesellschaftliche Urteile? Ja, die Urteile einer Gesellschaft, einer Kultur unter vielen anderen Kulturen und ihren Mysterien. In einer Gesellschaft unter vielen anderen begann sein Leben, es setzte sich fort, schlug eine Laufbahn an und wartete auf den Tod, bis der Tod eintrat. Und die Urteile dieser Gesellschaft von Drenkesians, der Gesellschaft, wo er lebte, fielen zu 96,45% schlecht und zu 03,55% gut aus.
Es war eine Gesellschaft der direkten Erniedrigungen, der direkten Kritik, des direkten Lobes, des direkten Lästerns, der direkten Ehrlichkeit, auch wenn sie weh tat. Eine erfolgssüchtige Gesellschaft des individualistischen Wettbewerbs, eine Gesellschaft, die nach einem Grundsatz lebte, lebt und leben wird: direkte Kritik, direkte Erniedrigungen, direkte Vorwürfe, kränkende Kommentare, all´ das ist das gesellschaftliche Rezept zum individuellen Erfolg, zur Selbstverbesserung . Und diese Tatsache, dieser gesellschaftliche Leitfaden erschöpfte, ermattete, quälte und plagte den Geist und den Körper.
Bei jeder Bewegung, die er in dieser menschlichen Gesellschaft ausführte oder sich zumindest den Versuch gestattete, diese Bewegung, diesen Plan auszuführen, bei jedem Bissen, den er in den Mund nahm, kroch die Angstnarbe in ihn herauf. Glathener litt den Kampf mit der Angst aus – hoffentlich kein neues Seelenleid, dieses Mal, so seine allgegenwärtige Hoffnung. Denn in den häufigsten Fällen wurde jeder Plan, jede Idee, jede Bewegung, die von Glatheners Person stammt, als Vorwurf modelliert.
Glathener fühlte sich beobachtet, obwohl man ihm versicherte, niemand beobachte ihn bei der Sitzung, ha, ha, Glathener fühlte sich gekränkt, offenbar lästerten einige Sitzungsmitglieder – unkontrolliert, direkt und unbeherrscht – über andere, Glathener nahm sie wahr, obwohl er damit kämpfte, sie nicht wahrnehmen zu wollen, lediglich seine Lärmempfindlichkeit band ihn an das gesellschaftliche Dasein, an den lauten Trubel der direkt-unkontrollierten Worte. Ob die verehrten Kollegen ihre fieberhaften Nebengespräche ein wenig leiser stimmen möchten, schließlich befände man sich hier in einer öffentlichen Arbeitssitzung, so die Bitte Glatheners. Sie führen wichtige Gespräche. Gespräche über den Sinn des Arbeitslebens, ha, ha, und noch etwas: intelligent seien die Arbeitskräfte in dem Fall, wenn beste Konzentration und Gedankenklarheit trotz der Lärmfaktoren und störender Nebengeräusche eingehalten werden kann, ha, ha, Sie gehören jedenfalls nicht zu dieser Sorte, Glathener, ha, ha, so pflegte der Betriebsratsvorsitzende unerwünschte Mitarbeiter abzufertigen, vor überheblichem Selbstbewusstsein glänzend wie ein König, jeder Kommentar am richtigen Platz der Selbstgefälligkeitskrone.
Und jeder Augenblick – angenehm, unangenehm, schicksalsbelassen, zufälligkeitsbestimmt oder absichtlich verursacht – jeder Augenblick vergeht. Auch eine Sitzung wie diese vergeht, eine erste Sitzung bei der neuen Arbeitsstelle. Es handelt sich hierbei um die sechste Arbeitsstelle in wechselhafter Folge innerhalb von zwei Jahren. Die Vergänglichkeit der eigenen Vergangenheit in diesem gestorbenen Augenblick der ersten Sitzung bei der sechsten Arbeitsstelle, ein Augenblick, der Glathener noch immer quälte und gedanklich auffraß.
Rollläden herunterziehen, Bürozimmer möglichst abdunkeln, denn das Sonnenlicht bahnte die Gedanken auf unerwünschte Weise an den pfeifenden Lärm der Hauptstraße und ihrer Zivilisation, die da draußen herrschte, ihr Verkehr. Eine neue Überwindung durchlebt, die Vergänglichkeit einer ersten Arbeitssitzung bei der sechsten Arbeitsstelle… wechselnde Zeiten, wechselnde Zeiten, im menschlichen Geist.
Kein Sonnenlicht drang mehr ins Arbeitszimmer, der Computer fuhr hoch, förderte künstliche Lichtstrahlen in verkümmerte Augen hinein, ein fabelhaftes Bildschirmlicht... Die Zeiten, sie wechselten und wechseln und werden wechseln. Nichts bleibt in gleichem Zustand, sondern dem täglichem Wandel überlassen. Keine Ansicht bleibt dieselbe. Und dieser Wandel war und ist und wird die größte Unsicherheitsfalle bleiben. Von der Vergangenheit bis zur Gegenwart, von der Gegenwart bis zur Zukunft und wieder zurück zum Anfang der Ausweglosigkeit. Möge die Seele in mir zur Ruhe kommen, möge sie eine eigene, einheitliche Zeit finden, so Glatheners Wunsch. Möge diese einheitliche Zeit einem zeitlichen Stillstand gleich kommen… Die Seelenruhe der Entschleunigung…
Die Entschleunigung der Jahre, Monate, Tage, Stunden, Minuten, Sekunden, Millisekunden. Momente des Stillstands. Zeitlicher Verlust. Entschleunigung. Stehenbleiben, innehalten, wahrnehmen, die Zeit einatmen und ausatmen. Im Wandelkreis schwebeleicht rasend, von Veränderung zur Veränderung. Gedankenlos-Sein. Nichts mehr befürchten. Die Langsamkeit neu erlernen. Dem wuchernden Hass ganz ferne. Leben, Leben, im Flimmer des statischen Weltbildes, ohne Erneuerung, ohne Wandel, ohne Fortschritt. Schwerelos die Gesellschaft und ihre Langeweile ertragen, mit ihren Veränderungen rasend, ohne sie zu verinnerlichen. Nur ihren wandelnden Zug beobachten, von der Ferne, als ein fremder Teil, der vorgibt geschäftig mitzurasen, zum Schein der eigenen Existenz.
Glathener beobachtete den Bildschirm der Erneuerung, die verkünstelten Wörter, die in rasender Reihenfolge hintereinander aufblitzten. Und er beobachtete natürlich auch die guten gesellschaftlichen Urteile, die morgen etwas ganz anders darbieten werden als heute.
Zeit ist Geld, das ist eine wohlbekannte Weisheit des Materialismus. Zeit ist Geld, keine Fehler, immerzu schnell, fehlerlos sein, der Gesellschaft treu dienen, dem Fortschritt der Vermarktung, der Schnelllebigkeit, dem Wachstum. Heute, ein standardmäßiges Produkt auf dem Markt. Morgen, ein neues Produkt auf dem Markt. Übermorgen, eine Innovation für die Zukunft. In drei Tagen, die ersten Käufer. In fünf Tagen, die kommerzielle Vermarktung. In sieben Tagen dann, das nächste neue Produkt.
„Wachen Sie jetzt endlich auf, Glathener! Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Öffnen Sie die Augen! Jetzt.“
Die Stimme des Vorgesetzten besaß den gewöhnlichen Klang der Hetze und Selbstbestimmung.
„Ich sehe Sie mit offenen Augen an, höre Sie und vernehme die Zeit, die schneller zu sein scheint als der Mensch“, erwiderte Glathener und setzte hierbei die übliche angespannte Zuhörermiene auf.
Er sah den Vorgesetzten an, beobachtete seine hektisch umherwandelnden Augenlieder, die das Bürozimmer überflogen, ohne jedoch den Blick auf einen festen Beobachtungspunkt zu senken, und sich darin zu verlieren, denn das würde doch nur Zeit kosten.
Wutgeräusche machten sich hörbar. Ein Papierstapel knallte auf den Schreibtisch. Glathener konnte noch immer nicht seinen Blick von den Augen des Vorgesetzten lösen. Diese Augen verkörperten – so abbildgetreu, so realitätsgefangen – die Beschleunigung, die Schnelligkeitssucht. Diese Augen lieferten sich ein Wettkampfrennen mit der Zeit, wollten sie doch so gerne ein vergebliches Rennen gegen die Zeit bewältigen, schneller als die Zeit sein.
Das knallende Geräusch wiederholte sich, diesmal mit lauterer Stärke. Dann sah Glathener endlich zum Schreibtisch hin. Die Hände des Vorgesetzten wüteten hysterisch mit einem Papierstapel, der zwischen dem Schreibtisch und seinen mit zeitlichem Wettbewerbshass genährten Händen umherflog.
„Warum wüten Sie so mit den Papierstücken herum, Sie zerstören doch die Mühseligkeit der Schrift, bitte, hören Sie damit auf!“
Bei dieser Aussage fühlte Glathener wieder die unangenehme Begleitung eines bekannten Gefühls – es war seine eigene Unsicherheit und die Falle, die ihn in diese Unsicherheit hineinbeförderte.
„Diese Papierstücke hier stehen für die armselige Drecksarbeit, die Sie in unserem Unternehmen geleistet haben, Ihre letzte Chance auf eine Art der Wiedergutmachung oder was auch immer Sie darunter verstehen mögen, hmm, es handelt sich um ein Projekt für unser neues Wortzählungsprogramm mit vorinstallierter Funktion für zehn internationale Sprachen. Sie haben die Aufgabe, dieses vollendete Projekt zu dokumentieren, und ja, diese ausgeleierten Papierflugstücke hier, das sind die speziell für Sie abgefertigten Kopien von unseren Projektergebnissen. Engbefristete Abgabefrist, Glathener. Ich brauche die Dokumentation bis morgen Nachmittag. Mindestens 10 Seiten im Umfang, gewöhnliches Unternehmensformat, keine weiteren Aussagen.“
„Aber?“
„Kein Kommentar, sagte ich doch. Das ist Ihre letzte Chance auf eine Wiedergutmachung, Sie Dreckskerl, Sie, ahh, mir fehlen die Worte, Ihre Unverschämtheit zu beschreiben. Und die Zeit, meine Arbeitszeit, Lebenszeit, ach, zehn Minuten, zehn wertvolle Minuten von meiner Arbeitszeit sind bei dem sinnlosen Versuch verflossen, Ihnen die Unmöglichkeit Ihres Daseins zu verdeutlichen, vergeblich, zehn Minuten, Glathener. Der Wecker meiner Armbanduhr hat fünfmal gepiept, eigentlich hatte ich nur zwei Minuten für dieses Gespräch eingeplant, Sie langsamer Nichtstuer!“
„Seit wann tragen Sie eine Armbanduhr mit Wecker-Funktion? Das ist mir neu.“
Ein lautes Türknallen, die Antwort. Nun begriff Glathener seine ausweglose Lage. Er verließ das Arbeitsbüro. Für immer. Seine sechste Kündigung innerhalb von nur zwei Jahren war schon so gut wie vorgezeichnet. Es brauchten keine weiteren unnötigen Worte mehr zu fließen, keine Worte der Reue, keine Worte des Existenzverlustes und des Abschieds, keine sinnlosen Worte mehr, die die wertvolle Arbeitszeit in der fortschrittlichen Beschleunigungszeit doch nur verschwenden würden, anstatt sie für den innovativen Fortschritt zu nutzen. Glathener verließ das Gebäude der kurzlebig-sechsten Arbeitsstelle. Ein Abschied ohne Worte. Als wäre er nie dagewesen, kein wirklicher Teil des Arbeitspuzzles.
Glathener trat auf die belebte Straße der Möglichkeiten, stolperte gegen belustigt- lästernde Menschen, so viele in der Anzahl, dass sie einem geschäftigen Ameisenhaufen glichen. Glathener konnte sie nicht ertragen. Körperliche Anspannung versteinerte seinen Gang. Er übersah die Menschen, ihren Verkehr, ihre Worttöne – belustigt, wundervoll und zart, humorlos, böse und abgrundtief – sie waren alle so unterschiedlich gestrickt, diese menschlichen Ameisenhaufen und er unter ihnen, einer von ihnen, mit denselben Körperorganen wie sie, dieselbe anatomische Struktur und doch gedankenweltenweit von ihnen entfernt… Glathener tanzte gerne im Bann dieser Vorstellungen, sie verschafften ihm Klarheit über sein auswegloses Dasein und entfernten ihn immer mehr von der unerträglichen Schwermut der Realität.
„Dreckskerl, haben Sie Ihren Kopf in den Wolken verloren?“
Die Fahrradfahrerin, eine gnadenlos-schockierte Frau mit Kleinkind unterwegs, rief ihm weitere Schimpfworte hinterher, das Kleinkind vor Angst versteift.
Um ein Haar hätte die Fahrradfahrerin Glathener über den Haufen gefahren. Und er, Glathener, schaute beklommen nach unten, hielt sich die Ohren zu und ging schweigend weiter – das war seine gewöhnliche Maßnahme in alltäglichen Wutsituationen – und dann war die Fahrradfahrerin außer Sichtweite geraten und Glathener hob wieder den Blick auf und ging weiter. Ziellos. Ohne Ankunft und ohne Aufbruch.
Er wusste nicht, wohin er ging, seine schwindelig anmaßenden Schritte trieben ihn dahin. In die undefinierbare Ferne. Und Glathener ging fort, aus dem alten Leben in das Nichts hinein. Denn es war das Nichts, das er vernahm. Eine innere Leere umgeben von zighunderten fremden Gestalten.
Die Sicht einer Straße wurde fleißig wegignoriert, ohne Hintergedanken überquert, das bremsend-hupende Auto, das Glathener fast überfahren hätte, mitsamt der BUH Rufe fleißig überhört.
Glathener ging weiter, dachte über die gesellschaftliche Zeit nach, die ihn auffraß, seine Gedanken suchten nach Lösungen, nach neuen Perspektiven und mussten feststellen, dass es diese Perspektiven, diese Lösungen nicht gab, und so kehrten die Gedanken immer wieder zum Anfangsimpuls zurück – das zeitliche Auffressen durch die Gesellschaft.
Auf dieser Weg-Suche nach dem unerträglichen Sinn des Lebens traten unerwartete Begleiter auf, es waren Begleiter, die seinem eigenen Körper entsprangen. Zahnschmerzen. Und diese Zahnschmerzen verstärkten den Gedankentrubel um die Ausweglosigkeit, die eigene Verwirrung. Sie bebten im Zahnkiefer, ihrem Ausgangspunkt und wandelten über zum Kopf, zu den Augen, bis sie das Gesicht und den ganzen restlichen Körper erreichten. Glatheners Leib bestand aus einem stechenden Zusammenschluss von Zahnschmerzen. Er bebte.
Es war ihm ungewiss, wieviel Zeit seit seinem Spaziergang verflossen war. Glathener konnte sich lediglich der Abenddämmerung und des wohlbekannten Gebäudes entsinnen, dahin wo ihm die Schritte getrieben hatten. Es war das Wohnhaus, in dem er lebte, nach zweifachem Anblick wurde das abgestandene Gebäude richtig erkannt. Als eine kurzfristig-wechselnde Bleibe des Daseins. Glatheners Gedanken spielten bereits mit der Messerspitze des Abschieds. Da betrat er die Eingangstür.