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Kapitel 3

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Majdan Nesaleschnosti in Kiew, Ukraine

Dudka stand mit seinem Hund am Rande des Majdan Nesaleschnosti und beobachtete, wie die Kiewer ihrem Alltag nachgingen – einkauften, sich betranken oder verliebten. An diesem Augusttag zur Mittagszeit war es heiß auf dem Unabhängigkeitsplatz der Stadt, und alle mit den erforderlichen Mitteln hatten sie zum Urlaub im Ausland oder in ihre Datschas verlassen. Wer indes vor Ort verweilte, erfreute sich an der Sonne.

Der Majdan Nesaleschnosti befand sich im Herzen Kiews und war Schauplatz unzähliger Nationalfeiern gewesen. Jedes Jahr zu Silvester tummelten sich mehr als hunderttausend Menschen hier, die darauf warteten, dass die Uhren Mitternacht schlugen. Dudka hatte den Jahreswechsel einmal in London erlebt und ihn nicht sonderlich spannend gefunden. Am Unabhängigkeitstag beging man ebenfalls einen aufwendigen Festakt, gleichfalls an dem des »Sieges im Großen Vaterländischen Krieg«, dem einzigen Überbleibsel auf der Sowjetunion, das er zu schätzen wusste. In letzter Zeit hatten hingegen viele politische Kundgebungen auf dem Platz stattgefunden.

Im Rahmen der Orangen Revolution 2004 hatten weit mehr als zweihunderttausend Ukrainer hier kampiert und protestiert, bis Neuwahlen zum Präsidenten durchgeführt worden waren. Im Folgejahr hatten diejenigen das Gleiche getan, die darauf aus gewesen waren, die Parlamentswahlen noch einmal anzusetzen. Für Dudka bestand die Ironie dabei darin, dass der damalige Premierminister beim ersten Durchlauf rechtmäßig gesiegt und nach dem zweiten behauptet hatte, unrechtmäßig unterlegen zu sein. Heute hingegen? Tja, heute war er das Staatsoberhaupt.

So ging es in der ukrainischen Politik zu. Früher hatte sich Dudka möglichst aus allem herausgehalten und ungeachtet seiner eigenen Präferenzen die richtigen Kandidaten »unterstützt«. Ursprünglich ins Amt gesetzt worden war er 1992 vom ersten ukrainischen Präsidenten. Er hatte seine Ansichten auch nach der Ernennung zum Bereichsleiter beim Sicherheitsdienst – Hauptdirektion zur Bekämpfung von Korruption und organisiertem Verbrechen – für sich behalten. Allerdings war sein »Boss« Jurij Slotnik, den er nur ungern als solchen erachtete, ein stark politisch motivierter Mensch.

Dessen Position als Leiter des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU ging auf eine parlamentarische Weisung zurück. Der Präsident hatte ihn dafür empfohlen, und unmittelbar unter Slotnik arbeiteten wiederum auf seine Empfehlung hin andere, die das Oberhaupt ebenfalls ins Amt gewiesen hatte. Unter normalen Umständen hätte dies zu einer gerechten, unvoreingenommenen und beflissenen Behörde geführt, doch innerhalb eines Regierungsapparates, dessen Präsident und Premierminister miteinander im Clinch gelegen hatten, mussten sich Probleme anbahnen.

Slotnik war ein Kompromisskandidat gewesen, nachdem das Parlament unter der Führung der damaligen Premierministerin den ersten Vorschlag des Präsidenten boykottiert hatte – bittere Zeiten, sozusagen ein Schachspiel zwischen beiden Parteien. Endlich dann war der neue Kopf des SBU bestätigt worden: Eine Notlösung, wie sich Dudka mit Freude erinnerte. Daraufhin war Slotnik erpicht gewesen, in seinem Laden aufzuräumen, indem er den Präsidenten unter Druck gesetzt hatte – keine Überraschung für irgendjemanden –, ihm nahestehende Männer einzustellen: Unterstützer seines Gönners, des vom Kreml begünstigten Premierministers. Der bekleidete nun zwei Jahre später nicht mehr dieses Amt, sondern hatte sich zum Oberhaupt der Ukraine aufgeschwungen, ein Mechaniker aus Donezk im Osten des Landes. Slotnik und seine prorussischen Handlanger hockten nun als Männer des Präsidenten fest im Sattel.

Der Chef des Sicherheitsdienstes hatte beschlossen, Dudka nicht zu entlassen. Er war der älteste und am höchsten geachtete Direktor im SBU, ganz zu schweigen von seiner jahrelangen Tätigkeit zuvor im gehobenen Dienst des sowjetischen KGB. Mit dem Alter hatte Dudka jedoch an Feinsinn eingebüßt, und dass er kein Freund des neuen Präsidenten oder seiner Bagage aus Donezk war, wusste mehr oder weniger jeder. Sprach man ihn darauf an, hielt er seine ehrlichen und bisweilen schonungslosen Ansichten nicht zurück.

Jetzt bückte er sich mit einem Grinsen im Gesicht, um seinen Hund zu streicheln. Er musste daran denken, wie Slotnik auf einer Betriebsfeier wütend geworden war, als ihm Dudka mitgeteilt hatte, was er von ihm hielt. Der Chef hatte sein Wodkaglas auf den Tisch geknallt und war hinausgestürmt. Somit galt Dudka praktisch als Feind im Inneren. Er kam ständig mit seinem Boss ins Gehege, doch seine Leistungen sprachen, verglichen mit jenen von dessen Schergen, für sich. Er war, wie ihm Slotnik ins Gesicht gesagt hatte, ein Widerspruch in sich, »eine lästige Annehmlichkeit«.

Dudka wandte sich ab und machte sich auf den Weg nach Hause, zurück die Karl-Marx- oder besser gesagt Horodezkoho-Straße hinauf – sie war ja umbenannt worden – zu seiner Wohnung, die zwei Minuten von der Zankovezka entfernt war. Auf beiden – die eine mit dem Namen eines politischen Aktivisten, die andere mit jenem einer unpolitischen Schauspielerin – wimmelte es vor Einheimischen und Touristen, die in den überteuerten Boutiquen einkauften. Keine Frage, sein Kollege Pavel Utkin, der dem Antiterrorzentrum des SBU vorstand, würde sich beim Anblick der vielen Sonnenanbeter Sorgen machen, da er in allem Gefahr witterte.

Die zwei stritten sich ständig darum, wer wofür zuständig sei, seine Stelle zur Bekämpfung von Terrorismus oder die des Kollegen für Einsätze gegen Korruption und organisierte Verbrechen. Heutzutage gestaltete sich die Trennung schwierig, denn letztere wurden in zunehmendem Maße begangen, um Anschläge zu finanzieren. Dudka für seinen Teil wünschte sich harmonische Verhältnisse. Es war Utkin, zwanzig Jahre jünger und heiß auf den Spitzenposten, der seine Macht vermehren wollte. Ein Problem bestand auch darin, dass er zu den Männern des Präsidenten zählte.

Dudka musste feststellen, dass er mit, wie die Presse sie nannte, den »Banditen aus Donezk« arbeitete. Die Allgemeinheit war davon ausgegangen, diese Banditen müssten sich bei den Präsidentenwahlen im Januar verdrängen lassen. Die Allgemeinheit hatte sich getäuscht. Im Zuge der Wahl gewannen sie die stärkste Position überhaupt, eben jene des Staatsoberhauptes der Ukraine.

Als Dudka das Appartementgebäude erreichte, nahm er den Aufzug in den dritten Stock. Seine offizielle Mittagspause war vorbei, also brachte er seinen Hund unter und brach zum Büro auf. Er würde den Fußweg nehmen, statt sich in den Wagen zu setzen – ein Vorteil, wenn man mitten in der Stadt wohnte. Bis dorthin waren es siebzehn Minuten, wenn er die Massen auf dem großen Hauptplatz umging. Nachdem er seine Krawatte geknotet und das Jackett wieder angezogen hatte – beide stammten aus dem staatseigenen Zentralkaufhaus ZUM – verließ er das Gebäude und schloss die Eingangstür.

Seit ihrer Abspaltung von der Sowjetunion hatte sich die Ukraine erheblich und doch überhaupt nicht gewandelt, wie er dachte, während er entlang der Zankovezka-Straße zurückkehrte. Die Geschäfte in der Hauptstadt strotzten vor teuren Importwaren, und der Verkehr im Kern hatte um ein Zehnfaches zugenommen, doch hinter der Fassade zogen noch viele aus dem alten Kader die Fäden. Man mochte dem Kommunismus entsagt haben, war aber im Geiste nach wie vor sowjetisch. Die Gesichter hatten sich auch nicht verändert. Erst die nächste Generation konnte das Land im Wesentlichen umkrempeln, und Dudka befürchtete, dass er mit seinen zweiundsiebzig Jahren nicht mehr lange genug leben würde, um zu sehen, wie seine teure Heimat zu voller Blüte reifte.

Seine Zeit war vorbei, und jetzt blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als sicherzustellen, dass die Ukraine nicht von innen zersetzt wurde, bevor er sie weiterreichen konnte. Sein eigener Schützling Blaschewitsch gehörte zu den Personen, die die Zukunft des SBU gestalten würden. Er war noch keine fünfunddreißig, also jung und nicht von der sowjetischen Vergangenheit geprägt. Zwei Jahre zuvor hatte er sich zum ersten Mal als würdiger Angestellter bewiesen, als er gemeinsam mit Dudka gegen einen internationalen Ring von Waffenschiebern vorgegangen war. Müsste der Bereichsleiter einen guten Mann in der Schlangengrube nennen, die der Geheimdienst geworden war, dann Witalij Blaschewitsch.

Dudka nahm eine Unterführung auf die andere Seite der Kiewer Hauptader Chreschtschatyk und geriet ins Schnaufen, als er die Prorizna-Straße hinaufging. Die Steigungen hielten ihn fit. Er schätzte sich selbst als robust gebaut, aber ganz bestimmt nicht fett ein. Seine verstorbene Frau allerdings, die Ballerina, hatte ihm ständig eine Diät auferlegen wollen! Auf dem Weg bergab kamen ihm zwei amerikanische Geschäftsleute entgegen. Einer gestikulierte gegenüber dem anderen, der nickte und ein ernstes Gesicht machte. Dudka dachte sich nichts dabei. Vor fünfzehn Jahren hätte jeder Ausländer misstrauische Blicke auf sich gelenkt, doch heute kamen immer mehr Handelsreisende in die Ukraine, wenngleich der internationale Tourismus sie erst noch für sich entdecken musste.

Auch das kriminelle Element hatte »internationale Geschäftsdiversifikation« offenbar zu schätzen gelernt. In den Anfangsjahren hatten sich seine Fälle größtenteils auf versuchte oder tatsächliche Erpressung ausländischer Firmenvertreter belaufen, wohingegen es jetzt selten vorkam, da auch Verbrecher versuchten, über die Grenzen hinweg zu expandieren. Dies bereitete Dudka indes mehr Kopfzerbrechen, weil er sich ins Zeug legen musste, um Verbindungen mit den weltweiten Behörden und Interpol zu festigen. Im Augenblick hatte er jedoch überraschend wenige Fälle zu betreuen. Während der vergangenen zwei Monate war nicht viel passiert. Womöglich lagen die Banditen auf der Lauer und warteten darauf, dass sich die Wogen auf der Politbühne glätteten, bevor sie sich auf das lukrativste »Geschäftsmodell« festlegten … oder, so sann Dudka einmal mehr, sie machten vielleicht einfach nur Ferien.

Hauptquartier des SIS, Vauxhall Cross, London, Großbritannien

Snow ging die Treppe hinauf, um seine verspannten Muskeln zu lockern. Da er zu lange im Stau gestanden hatte, war sein linkes Bein steif geworden. Als er die Etage von Patchems Abteilung erreichte und seine Schenkel leicht aufgewärmt waren, durchquerte er das Großraumbüro und öffnete die Tür zum Empfang des »Sowjetressorts«, wie es die älteren Semester unter den Angestellten immer noch liebevoll nannten. Patchems staubtrockene Sekretärin erlaubte ihm mit einem Nicken, das Büro zu betreten. Drinnen bedeutete ihm sein Vorgesetzter, Platz zu nehmen. Durchs breite Fenster aus dickem Glas fiel das Licht der Vormittagssonne, das die Themse von unten spiegelte.

»Paddy Fox.« Patchem redete nicht lange um den heißen Brei.

Snow nickte. Die dramatischen Aufnahmen der Rettungsaktion, die von manchem überdrehten Journalisten als größte Sensationsvideos seit jenen von der Belagerung der iranischen Botschaft angesehen wurden, hatten Fox zu so etwas wie einem Medienphänomen gemacht – umso mehr durch die hoheitliche Gunst von Umar Al Kabir. Durchgesickert war auch, dass Fox SAS-Veteran sei und in beiden Golfkriegen gedient habe. Die Meinungsmacher, die nichts so sehr liebten wie »Actionhelden« zum Anfassen, bellten lauthals wie ein Rudel Wildhunde nach weiteren Informationen und Fotos. Selbst Großbritanniens bekanntester Ex-Soldat des Secret Air Service, der zum Schreiber geworden war, hatte sich in seiner Zeitungskolumne zu Fox' Taten geäußert.

»Ich weiß, Sie gehörten unterschiedlichen Staffeln an und liegen vom Alter her weit auseinander, doch sind sie sich nicht irgendwann im Lauf der Jahre über den Weg gelaufen?«

»Sind wir tatsächlich, ja.«

Snow ging nicht weiter auf die klirrend kalte Nacht in einem Gebüsch im »Räuberland« von South Armagh ein, als sie beide »The Det« angehört hatten, dem geheimdienstlichen Zweig der Royal Ulster Constabulary. Sie waren dort postiert worden, um Informationen zu einer mutmaßlichen neuen IRA-Zelle einzuholen.

»Was halten Sie von ihm?« Patchem schaute Snow eindringlich mit seinen leuchtend blauen Augen an.

»Ich schätze, die meisten mochten ihn, und jeder brachte ihm Respekt …« Der Ressortleiter fuhr mit einem leicht sarkastischen »Ja, ja« dazwischen. Worauf wollte er hinaus?

»Andererseits brannten ihm schnell die Sicherungen durch. Heute würde er den psychologischen Test bei der Musterung zum Regiment nicht bestehen. Der SIS wollte ihn auch nicht haben, obwohl er Arabisch sprach. Hier, sehen Sie sich das an.« Patchem zog eine gelbbraune Aktenmappe aus seinem Koffer, der auf dem Tisch vor ihm lag.

Snow nahm sie und klappte den Deckel auf. Es handelte sich um eine zensierte Fassung der Militärkartei von James Celtic Fox. Als junger Soldat bei den Gordon Highlanders gelangte er mit einundzwanzig in die B-Staffel des 22nd Regiment Special Air Service. Mobile Landwehr, Sprengtrupp. Ebenfalls gelistet waren einige Kampagnen, an denen er teilgenommen hatte, weithin unbekannt außerhalb der Mauern des Regierungspalastes und des SAS. Man hatte längere Abschnitte vorm Fotokopieren der Seiten mit schwarzem Filzstift durchgestrichen.

»Fox schaffte es bei den Highlanders bis zum Corporal, wurde aber wieder zum Private degradiert.«

Snow schaute vom Text hoch. »Ach ja?«

Patchem sprach sachlich weiter. »Er hat seinen Sergeant Major aus einem Fenster geworfen.«

Darüber wunderte sich Snow nicht; bei Paddy rechnete er mit allem.

»Wie es scheint, ertappte er den Typen mit seiner Frau in der Kiste. Beide hatten Glück, denn das Zimmer befand sich im ersten Stock. Aber zur Sache jetzt.« Patchem streckte eine Hand aus, damit ihm Snow die Mappe zurückgab. »Wie die Medien der Welt bereits unbedingt mitteilen mussten, versuchte eine unbekannte Terrororganisation, die Tochter eines Mitglieds der saudischen Königsfamilie zu entführen. Fox vereitelte dies, erschoss drei der Kidnapper und rettete das Mädchen. Bedauerlicherweise wurde dabei auch ein Unbeteiligter schwer verwundet – aber Sie kennen das ja alles aus dem Fernsehen.«

Snow nickte wieder nur.

»Nun ja, dieser Mann – der arglose Unbeteiligte hatte rein zufällig eine Affäre mit Fox' zweiter Ehefrau.«

»Rein zufällig.«

»Genau so legte es die Staatsanwaltschaft aus. Allerdings einigte man sich darauf, obwohl es noch nicht öffentlich gemacht wurde, dass man ihn nicht wegen versuchten Mordes anklagt. Wie sich herausstellte, haben die Saudis Freunde in sehr hohen Positionen. Diese ›überzeugten‹ den Innenminister davon, Fox in allen Punkten der Anklage zu entlasten.«

Dies würde man auf das »besondere Verhältnis« zwischen Saudi-Arabien und Großbritannien zurückführen, das in Wirklichkeit weit mehr mit Rüstungsverträgen zu tun hatte. Patchem war zu Ohren gekommen, Mittelost drohe, sich aus dem jüngst abgeschlossenen Vertrag zurückzuziehen, sollte Fox strafverfolgt werden. Auf saudischer Seite hatte der Prinz unterzeichnet.

»Darüber hinaus will Fouad Al Kabir unserem Mann eine Stelle in Riad anbieten – die des Sicherheitschefs –, um sich erkenntlich zu zeigen. Ich möchte deshalb, dass Sie Fox dazu bewegen, sie anzunehmen.« Patchem drückte eine Taste auf seinem Keyboard, um ein Bild an die hellblaue, leere Wand hinter Snows Kopf zu werfen. »Erkennen Sie ihn wieder?«

Snow drehte sich im Sessel um und sah das Foto einer Leiche. Als sein Chef es vergrößerte, dämmerte ihm, wer es war. Neben dem Gesicht wurde eine zweite Datei geöffnet, ein Ausschnitt aus dem Video, das er selbst mit seinem Smartphone auf der Harley Street gemacht hatte.

»Derselbe Mann.«

»Würde ich auch sagen. Er muss noch identifiziert werden, doch es ist einer der Entführer, die Fox ausgeschaltet hat. Das Attentat auf Durrani hängt mit der Entführung zusammen.«

Snow blieb skeptisch. »Sie meinen, der Doktor hatte Beziehungen zu Terroristen oder Geschäfte mit ihnen am Laufen?«

»Ganz und gar nicht. Er erhielt Zugang zu höheren Geheimhaltungsstufen als Sie, arbeitete seit vielen Jahren für uns und galt als völlig unbedenklich. Er wurde im Land ausgebildet, war aber Paschtune und kam gebürtig aus Quetta in Pakistan. Seine Familie wanderte nach England aus, als die Sowjets im benachbarten Afghanistan einfielen. Dank seines Kontakts zu uns konnten wir alle seine Patienten überwachen, darunter auch die saudische Königsfamilie. Bezüglich der Strippenzieher hinter diesen beiden Taten haben wir offen gestanden keinen einzigen Hinweis. Wenn wir eines nicht gebrauchen können, dann dass jemand die dort drüben auf die Palme bringt.« Er schmunzelte verhalten, weil die Redewendung bildlich so gut passte, womit er seine Trauer über den Tod eines Kollegen überspielte. »Falls Fox diesen Job annimmt, entzieht er sich auch den Medien endgültig. In Whitehall möchte man die Story unbedingt unter den Teppich kehren. Alles, was Sie wissen müssen, steht hier drin. Noch Fragen?«

Snow verneinte kopfschüttelnd, als ihm Patchem eine andere Mappe reichte.

»Gut. Halten Sie mich über Ihre Fortschritte auf dem Laufenden. Sie haben drei Tage.«

Snow stand auf und verließ das Büro. Er würde leisetreten müssen. Nachdem Fox zu sehr im Rampenlicht stand, galt es zu vermeiden, dass sein eigenes Gesicht neben dem seines alten Kameraden durch die Presse ging.

Shoreham-by-Sea, West Sussex

DC Flynn, der immer noch verdrossen war, befahl dem Polizeifahrer, seinen nunmehr freien Gefangenen am Cabot Square in Docklands abzusetzen, dem Bankenviertel der Hauptstadt. Nachdem Fox die einzige Londoner Filiale seines neuen Schweizer Finanzinstitutes gefunden und das Prozedere der Identitätsprüfung durchlaufen hatte, durfte er einen Barbetrag von der großzügigen Schenkung der Saudis abheben. Er kaufte Packpapier, womit er seinen »Säbel« einwickelte, und nahm an der U-Bahn-Haltestelle Canary Wharf die Jubilee Line nach Westminster, wo er in einen Zug der Circle Line nach Victoria umstieg.

In dieser Bahn für den Teilbereich Southern Central befand er sich auf sicherem Weg nach Shoreham, also lehnte er sich zurück und beobachtete durchs Fenster, wie das Großstadtgewimmel dem Vorort Surrey wich und schließlich ins Grün der Landschaft von Sussex überging. Nun da er sein Telefon endlich wiederhatte, war er schon mehrere Nummern durchgegangen, doch niemand wollte sich melden. Auch Tracy ging nicht an ihr Handy. Nicht dass er mit ihr sprechen wollte, aber sie sollte wissen, dass er unterwegs nach Hause war. Er genoss es, zu Fuß von der Haltestelle in Shoreham zu seiner Adresse zu gehen, und staunte nicht schlecht, als er das »Zu verkaufen«-Schild im Vorgarten sah. Obgleich ihm die Galle hochkam, konnte er den Eifer seiner Frau nur bewundern, denn sie fackelte nicht lange. Die Immobilie lief auf ihren Namen, sie hatte sie gekauft und konnte sie darum auch wieder abstoßen. Er ging den Weg zu Jims Tür hinauf und klopfte an.

»Paddy.« Sein Nachbar machte ein erschrockenes wie erleichtertes Gesicht. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja, danke, Jim.« Fox verwies mit einer Kopfbewegung auf das Schild. »Was hat denn das zu bedeuten?«

»Sie ist ausgezogen – zu ihrer Schwester –, aber das weißt du nicht von mir. Tut mir leid.« Reynolds schaute betreten unter sich.

»Muss es nicht.«

Er schluckte. »Weißt du, dass ich mit der Presse gesprochen habe? Jemand musste doch klarstellen, wie du wirklich bist.«

Das gemeinte Interview hatte Fox aufgeregt, doch jetzt machte er sich nichts mehr daraus. Einem Rentner erleichterte alles das Leben, was er nebenher einstreichen konnte. »Jim, es gibt nichts, wofür du dich rechtfertigen müsstest, Kumpel, und falls du dadurch ein paar Mäuse verdient hast oder etwas für Maureens Traumkreuzfahrt beiseitelegen konntest: Gib mir einfach irgendwann ein Bier aus. Ist sie daheim?«

»Nein, sie wollte ein bisschen einkaufen und mich bei Tesco nicht im Weg haben. Du weißt ja, wie Weiber sind.«

Das meinte Jim nicht ironisch. »Oh ja. Wie geht es ihr?«

»Gut. Zunächst war sie leicht erschüttert, ging dann aber dazu über, all ihren Freundinnen davon zu erzählen. Ich glaube, von dieser Geschichte wird sie noch jahrelang zehren!« Er lächelte. »Für dieses Mädchen nahm sie unser bestes Porzellan aus dem Schrank – und als sie dann herausfand, wer es war! Das mal zum Thema Traumerfüllung: Adlige treffen und so weiter.«

Fox schüttelte den Kopf. »Na, solange ihr beide wohlauf seid.«

Das bestätigte Jim. »Paddy, eine Menge Paparazzi haben hier herumgelungert. Einer bat mich, ihn anzurufen, falls du zurückkommst.«

Fox langte in eine Hosentasche. »Wie viel hat er dir geboten? Ich geb's dir.«

»Nein, so hab ich das nicht gemeint. Wie gesagt, das waren schon so einige, und ich wollte dich einfach nur vorwarnen.«

»Danke.« Das Letzte, was Fox sich wünschte, war sein Konterfei in den Zeitungen.

»Dieser Kerl – der, auf den du …«

»Auf den ich geschossen habe?«

»Sorry, aber er war nicht zum ersten Mal hier, doch ich brachte es nicht übers Herz, dir das zu sagen. Ist ja nicht mein Haus.«

Fox klopfte dem alten Mann auf die Schulter. »Meins auch nicht mehr, so wie es aussieht.«

Scharm asch-Schaich, Ägypten

»Scharm asch-Schaich gilt als Stadt des Friedens, weil hier schon sehr viele internationale Friedenskonferenzen abgehalten wurden.« Der Wind trug die Stimme des fetten Mannes vom nächsten Boot herüber. Er las weiter aus seinem Reiseführer vor. »Scharm asch-Schaich blieb von Israel besetzt, bis die Sinai-Halbinsel 1982 kraft des Friedensvertrags mit Israel von 1979 wieder Ägypten zufiel. Während der Siebzigerjahre war eine wohlhabende israelische Siedlung mit dem Namen Ophira entstanden, der sich auf das alttestamentarische Land Ofir bezieht. Einige seinerzeit errichtete Gebäude stehen noch heute.«

»Ist das der Ort, den wir heute Nachmittag besichtigen, Dad?«

Der Junge war sieben Jahre alt, wie der Tschetschene schätzte, also in einem Alter, in dem er seinem Vater noch an den Lippen hing, auch wenn er nicht alles verstand.

»Nein, wir fahren mit diesem Boot aufs Meer, um uns die Fischchen anzusehen.«

»Kann man die auch essen?«

»Teilweise, doch manche könnten uns essen!«

Der Kleine lachte. »Dad, das ist Quatsch.«

Der Tschetschene trank von seinem Eistee und blickte zurück zur Küste. In der Felsenbucht reihten sich die Cafés dicht an dicht. Laut schwatzende Touristen besetzten die Tische, aßen Eiscreme und holten sich einen Sonnenbrand. Auf See fuhren Motorboote und Jachten neben Barkassen, Touristenschiffen mit Glasboden und Fischkuttern. Dies war das perfekte Umfeld für ein unauffälliges Treffen. Das Nachbarboot mit den britischen Urlaubern schipperte davon, sodass sie außer Hörweite gerieten.

»Ich bin ganz Ohr«, sprach Chalid leise.

Der Tschetschene lächelte, obwohl das, was er sagen wollte, kein Scherz war. »Wir zwei befinden uns jeweils in einer Position, die uns gegenseitige Hilfe ermöglicht. In Ihrem Land leben zahlreiche Verfechter des wahren Glaubens, die Bedenken haben, das Königreich könne die Ungläubigen zu milde behandeln und werde von denjenigen regiert, die sich nur selbst die Taschen stopfen möchten.«

»Diese Ansicht vertreten immer mehr Bürger, das ist kein Geheimnis.«

»Sehr wohl ein Geheimnis ist allerdings der Umstand, dass es solche unter diesen Verfechtern des wahren Glaubens gibt, die bereit sind, unmittelbar dagegen anzugehen.«

Der Saudi machte eine Pause, um an seinem Glas zu nippen, da sein Mund auf einmal regelrecht ausgetrocknet war. »Ja, solche gibt es.«

»Ich würde Sie gern unterstützen.«

Dass sich der Tschetschene so freimütig äußerte, brachte den für gewöhnlich gelassenen Araber leicht aus der Fassung. Er war diesem Mann noch nie zuvor begegnet; sie hatten das Treffen über einen Kanal für KGB-Schläferzellen aus der Sowjetzeit festgelegt – eine Frequenz, von der Chalid nie gedacht hätte, sie je wieder gebrauchen zu müssen. »Sie stehen auch für den Glauben, den wahren Glauben ein?«

Die Antwort kam auf Arabisch: »Ich bin Tschetschene.« Das stimmte zwar nicht, doch er hatte diese Sprache in Tschetschenien gelernt. »Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn eine ungläubige Besatzungsmacht persönliche religiöse Ansichten unterdrückt. Die Gruppe, die ich vertrete, ist einflussreich und wird nicht mehr tatenlos zusehen, wie die Herrschenden unsere muslimischen Brüder im Königreich verspotten.«

»Und was haben Sie zu bieten, mein Bruder?« Der Saudi wechselte nicht von seinem Oxford-Englisch ins Arabische.

»Wenn man mir bestimmte Ziele nennt, kann ich dazu beitragen, Angriffe jeglicher Art sowohl monetär als auch rüstungstechnisch zu fördern.«

»Sie verstehen beruflich etwas davon?«

»Ich wurde in der Spezialeinheit der Armee ausgebildet, mein Bruder.«

Sie mussten ihr Gespräch unterbrechen, weil die Spritzwelle eines Jetski das Boot zum Wackeln brachte. Chalid schaute seinem Gesprächspartner in die Augen. »Ein bestechendes Angebot.«

»Und eines, das Sie annehmen sollten.«

»Wie kommt es, dass Sie über meinen Glauben Bescheid wissen?« Er hegte weiterhin Vorbehalte gegen den Tschetschenen. Dieser hätte sich als Kreuzritter der Christen im Kampf gegen die wahren Gläubigen Einsicht in die Akte seiner Anführer verschaffen können, um ihn zu ergreifen.

»Alexander Williamowitsch meinte, ich solle sagen: Meine Vaterlandsliebe ist so rein wie der Wodka, der mir wichtiger wurde als meine Ehefrau.«

Jetzt grunzte Chalid überzeugt. Der sonderbare Satz – ungelenk und klischeehaft, doch aus ebendiesem Grund zweckmäßig – war ein Code, der belegte, dass der Mann tatsächlich von seinen ehemaligen sowjetischen Auftraggebern kam beziehungsweise deren Segen hatte.

»Wie geht es der alten Schnapsdrossel?«

»Nicht gut. Er wurde ausgerechnet von dem Russen ermordet, dem er diente. Wussten Sie, dass sein Großvater auch aus Tschetschenien stammte?«

Chalid war betrübt. Genau dieser Mann hatte sich an der Universität Oxford als Kommilitone ausgegeben und ihn rekrutiert. »Mein Bruder, ich würde Ihr großzügiges Hilfsangebot gerne annehmen.«

Der Tschetschene nickte und verzog den Mund zu einem kurzen Lächeln. »Wir können sofort zu den Vorbereitungen schreiten, mein Bruder. Ich habe eine Liste von Zielen, die Sie – davon gehe ich jedenfalls aus – angreifen möchten.«

»Ich habe eine eigene«, stellte Chalid gereizt klar. Er ließ sich ungern Vorschriften machen und wollte kein Missverständnis aufkommen lassen. Er selbst würde unabhängig davon, inwieweit dieser Kerl und seine Erfüllungsgehilfen ihm unter die Arme greifen konnten, den Ton angeben.

Damit hatte der Tschetschene gerechnet. Die Araber waren ein stolzes Volk – genauso wie die Russen, dachte er, und ebenso leicht zu beeinflussen, wenn auch schwer kontrollierbar. »Ich versichere Ihnen, mein Bruder, dass ich meine Ziele nur vorschlage, weil ich Informationen darüber besitze, und möglicherweise decken sie sich auch teilweise mit Ihren.«

»Dann sollten wir unsere Listen vielleicht vergleichen, oder?«

»Wie ich sehe, haben Sie bereits an die Familie Al Kabir gedacht.«

Eine von Chalids Augenbrauen zuckte, weil ihn dies überraschte. »Ein misslicher Fehler führte dazu, dass das Mädchen befreit wurde.«

»Ich bin hier, um weiteren misslichen Fehlern vorzubeugen. Unser nächstes Treffen wird in Dubai stattfinden, in einer angemesseneren Umgebung.«

»Inschallah.«

Shoreham Beach, Großbritannien

Ein metallic-grüner Mini Cooper voller Firmenaufkleber hielt vor Fox' Haus an. Der Fahrer stieg aus.

»Mr. McDonald?« Es war ein Immobilienmakler. Jung, mit Anzug und engagiert bei der Sache.

»Genau der bin ich.« Fox, der jetzt eine Baseballmütze trug, gab ihm die rechte Hand, während an seiner linken eine kleine Einkaufstüte baumelte.

»John – John Elgar.«

»Danke, dass Sie so kurzfristig kommen konnten, John.« Er sprach mit breiterem Akzent als üblich.

»War überhaupt kein Problem, Mr. McDonald.« Edgar schwang seinen Schlüsselbund nervös an einem Finger. »Also, wie Sie sehen, ist das eine recht nette, ruhige Straße. Was hat Sie in die Gegend verschlagen?«

»Ich suche eine Bleibe näher an meinem Arbeitsplatz.«

Edgar nickte verständnisvoll. »Gut. Nun, wie Sie ebenfalls sehen, handelt es sich um eine Neubausiedlung. Das älteste Haus wurde, glaube ich, vor drei Jahren gebaut. Sollen wir hineingehen?«

»Bitte, ja.«

»Der Angestellte von Andrews & Sohn öffnete die Tür und machte Platz, um seinem Interessenten den Vortritt zu überlassen. Fox zog den Schlüssel im Vorbeigehen aus dem Schloss.

»Danke, gekauft.«

Edgar war verdutzt, lächelte aber dennoch, bis die Tür zufiel und er ausgesperrt dastand. Fox zwinkerte sich im Spiegel auf dem Flur selbst zu, bevor er zur Küche ging, wobei er die Klingel ignorierte, die der verwirrte Vermittler jetzt drückte. Er griff unters Spülbecken und drehte die Wasserleitung wieder auf. Dann öffnete er den Wandschrank unter der Treppe und stellte den Strom ein. Das Läuten hatte aufgehört; Fox füllte den Wasserkocher am Hahn. Als Edgar an einem der Fenster hinterm Haus auftauchte, hielt Fox die Kanne und einen ausgestreckten Daumen hoch, bevor er den Rollladen hinunterließ.

Tracy wollte ihn nach Strich und Faden bescheißen. Das Haus war bis auf einzelne Gegenstände leer, die sie strategisch zurückgelassen hatte, um es »verkaufen« zu können: Den Herd in der Küche, teure Kochutensilien an ihren Haken und Zeitschriften, die sie nie gelesen hatten, auf dem Kaffeetisch im Eingangsflur. Zum Glück blieben außerdem sowohl der Fernseher als auch die Couchgarnitur zur Vorspieglung erhalten.

Plötzlich kam Fox eine Idee. Er ging schnell zu der Tür, die in die Garage führte, und öffnete sie. Da stand er, sein geliebter Porsche, als habe er sich partout nicht von der Stelle bewegen wollen, still bis zu dem Tag, da er ihn vollständig reparieren würde. Er sah noch genauso aus wie zuletzt, bloß dass er nun von Kisten umgeben war. Fox machte die erstbeste auf und sah, dass Kleider – seine eigenen – darin lagen. Er hob sie auf und nahm sie mit nach oben, wo er duschte, erneut ohne auf die Klingel oder jetzt auch sein brummendes Handy zu achten.

Riad, Königreich Saudi-Arabien

Chalid blickte hinaus in die Wüste. Gab es ein besseres Zeugnis für Gottes Allmacht? Er verrichtete »sein« Werk auf Erden, erfüllte den göttlichen Willen. Es war Zeit, einen neuen Dschihad gegen die Ungläubigen zu beginnen, die das Haus des Islam gemeinsam mit der verderbten Königsfamilie schändeten.

Er hatte die Liste mit den Zielen des Tschetschenen und mehrere Vorschläge bekommen. Diese waren überwiegend annehmbar, wie er fand. Seine Männer kannten ihre Anweisungen nun, und bald – Inschallah – sollte das Königreich Saudi-Arabien frei von der Plage der Ungläubigen zum wahren Haus des Islam werden.

Wellness- und Fitnessklub, Segelhafen Brighton, Großbritannien

Die drei »Klöpse« waren wieder da, um ihre Muskeln weiter zu aberwitzigen Proportionen aufzupumpen. Fox konnte nur mit dem Kopf schütteln. Was für ein Trio! Sie waren Anfang zwanzig, einer fast eins neunzig groß und der zweite nur unwesentlich kleiner, wohingegen der dritte – er hatte ihn »Miniklops« getauft – die eins fünfzig nur knapp überragte. Während sie vorbeigingen, behielt Fox den Monitor vor seinem Laufband im Auge, der gerade die Nachrichten auf Sky News zeigte, wo von irgendeiner Demonstration in der Ukraine berichtet wurde. Ein neuerlicher Blick nach unten, und er sah, wie die zwei größeren Klöpse Gewichte auf die Beinpresse legten, damit Miniklops diese wie gewohnt schnaubend unter stetig zunehmendem Widerstand von seinem Körper wegdrückte.

Der Kerl war wirklich urkomisch, dachte Fox – ein richtiger Würfel, die Schultern breiter als seine und die Brust stämmiger. Das Dumme daran? Dadurch wirkte er noch kleiner. Klops eins und zwei feuerten ihn an. Als er sein Pensum gestemmt hatte, warfen sie ihm eine Flasche Wasser zu.

Fox hatte in seinem Leben schon so ziemlich alles gesehen, angefangen bei drahtigen Typen, die nichts lieber taten, als den ganzen Tag zu laufen, bis zu Volldeppen, die sich für unbezwingbar hielten. Meistens waren es Fallschirmjäger, gewaltige Klötze, die sich in den Kugelhagel stürzten wie in ein Freischwimmerbecken und trotzdem dran glauben mussten. Kraft zu haben traf sich sehr gut, doch beweglich und flink zu sein war genauso wichtig. Als Fox die Marke von fünf Meilen erreichte, lief er langsamer und trat schließlich vom Band.

Mit fünfundvierzig war er noch so gut in Schuss wie mit fünfundzwanzig – oder tat zumindest so als ob. Bierbauch und Falten, das kam für ihn nicht infrage. Sicher, seine Gelenke taten nun häufiger weh, doch er empfand eine perverse Freude daran, den Schmerz zu suchen und durchzustehen. Nachdem er hastig vom Wasserspender getrunken hatte, ging er zum Klimmzug-Trainer, der vor der Beinpresse und den »Klöpsen« stand. Sie machten zwischen den Geräten eine Pause und warfen dem älteren Mann verstohlene Blicke zu. Da Fox wusste, dass sie ihn beobachteten, beschloss er, es ihnen zu zeigen. Er sprang an die Stange und stockte nur kurz, um sich richtig festzuhalten, bevor er blitzflink zehn Züge machte. Als er sich fallen ließ, bemerkte er, dass sie verwundert dreinschauten.

»Bin ein bisschen schlaff heute«, sagte er auf dem Weg zur Langhantel, ohne das Trio direkt anzusprechen.

Snow zeigte einen Klubausweis und wurde hineingelassen. Er folgte der Beschilderung in die Übungshalle. Nach fünfzehn Uhr brummte das Studio immer vor jungen Mamas und Mitgliedern, die Schichtarbeit schoben, wie er annahm. Er musste sich kurz umschauen, bevor er den Mann ausmachte, mit dem er sprechen wollte. Fox quälte sich gerade beim Bankdrücken.

»Ist das ein Aufwärmtraining?« Snow schaute ihn von oben herab an.

Der alte Soldat erkannte das Gesicht nach kurzem Zögern wieder und grinste dann umso breiter. »Wär's nicht für dich, englische Tunte!« Fox legte die Langhantel ab und stand auf. Er streckte eine Hand aus; mehr als vierzehn Jahre war es her, dass er mit dem jungen Infanteristen in einem kalten Graben gelegen hatte.

»Freut mich, dich zu sehen, Paddy.« Snow schüttelte die breite Hand.

»Ganz meinerseits, mein Freund.« Fox fuhr mit seinem Kopf zur Seite, um anzudeuten, dass sie woanders hingehen sollten.

Snow folgte ihm in eine Ecke abseits des allgemeinen Treibens im Saal, die persönlich zugeschnittenem Training vorbehalten war. Die beiden setzten sich jeweils auf ein anderes Übungsgerät.

»Na, was treibst du hier?«

»Ich bin gekommen, um dich zu treffen.«

»Mich treffen?« Fox trank einen Schluck Wasser.

Snow schaute kurz nach hinten, um sich zu vergewissern, dass niemand sie hören konnte. »Es gibt da was, worüber ich mit dir sprechen muss.«

Fox wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Bist du noch beim Regiment?«

»So würde ich es nicht ausdrücken.«

Er zog die Augenbrauen hoch. Snow weiter auf den Zahn zu fühlen verkniff er sich wohlweislich in diesem Ambiente. »Pass auf, ich spring schnell unter die Dusche, warte draußen. Bist du mit dem Auto da?«

Der Agent nickte.

Fünf Minuten, nachdem er seinen Audi vorne beim Eingang geparkt hatte, kam Fox heraus, woraufhin sie den Segelhafen verließen und zurück nach Shoreham fuhren.

»Du bist bekannt wie ein bunter Hund.« Snow schaute seinen Freund an, als sie in den Verkehr an der Küste einbogen.

»Anscheinend vor allem auf Al Jazeera.«

»Also, was ist passiert?« Snow wollte es aus erster Hand erfahren.

»Wer möchte das wissen?«

»Bloß ich, Paddy.«

Fox verschränkte die Arme und ließ sich in den Sitz sacken. Jemandem alles zu erzählen, ohne rechtliche Konsequenzen oder einen Enthüllungsbericht befürchten zu müssen, kam einer Erleichterung gleich. Er vertraute Snow. Auf dem Weg nach Shoreham legte er lückenlos dar, was an jenem ereignisreichen Nachmittag geschehen war.

»Hast du Sawyer vorm Abdrücken erkannt?«

Fox schaute weiter geradeaus auf die Straße. »Er geriet in meine Schusslinie.«

»Aber ist dir klar gewesen, dass er es war?«

»Ja, ist es.« Seine Finger auf der ledernen Armlehne verkrampften. »Er hat meine Frau gevögelt.«

Snow bremste, als sie die Vorstadt von Shoreham erreichten. »Also hast du den Job nicht bekommen, oder?«

»Was?« Fox lachte auf. »Nein, hab ich nicht.« Er zeigte nach vorne. »Nimm die nächste rechts; am Supermarkt dürfte ein Parkplatz frei sein.«

Snow nahm die Abbiegung und hatte innerhalb einer Minute eine Lücke gefunden.

»Jetzt sag, wo verdienst du dein Geld?« Fox fiel mit der Tür ins Haus.

»Beim MI6.« Snow hatte keinen Grund, die Wahrheit zu verbergen.

Paddy nickte einsichtig. »Als hätte ich es geahnt.« Er klopfte mit einer Hand aufs Armaturenbrett. »Hat der MGs unter der Haube und drehbare Wechselkennzeichen?«

»Nein, aber einen Schleudersitz, besonders für Beifahrer schottischer Gesinnung.«

Fox zeigte ihm im Gegenzug einen Mittelfinger, als sie ausstiegen.

Snow ging hinter ihm her über den Parkplatz zur schmalen Hauptstraße. Keiner von ihnen sprach weiter, bis sie im Pub eingetroffen waren und je ein Pint vor sich stehen hatten. Wie immer war niemand im The Crown & Anchor, außer Burt und Dave. Ersterer zeigte auf die Zeitung in seiner Hand und gab dem Helden gestisch zu verstehen, dass er ihn für einen solchen hielt.

»Also, wie kann ich dir helfen?« Fox hatte keine Ahnung, was sein alter Waffenbruder im Auftrag des SIS in Erfahrung bringen sollte.

»Hab gehört, dir wurde eine Stelle als Leibwächter angeboten, richtig?«

Fox bestätigte. »So ist es.«

»Ich finde, du solltest sie annehmen.« Snow schlürfte von seinem Lager.

»Du meinst wohl, MI6 findet, ich sollte sie annehmen.«

»Oder so, ja.« Patchem hatte von Anfang an gewusst, dass die beiden einander als Soldaten begegnet waren, und Snow deshalb für diese Annäherung ausgesucht.

Fox trank sein Glas leer. »Vom Trainieren bekomme ich einen Riesendurst. Du musst mich zu meinem Glück zwingen.«

Snow begriff, was er damit andeutete, und bestellte noch ein Pale Ale für ihn sowie eine Cola light für sich selbst.

»Bist du zum Weichei geworden, oder was? Wo ist deines?«

»Ich muss fahren.«

»Musst du nicht. Ich sagte, du musst mich zu meinem Glück zwingen, also lass dir auch ein Bier bringen. Kannst heute bei mir übernachten.«

Snow kehrte zum Tresen zurück; er hätte sich eigentlich nicht zweimal auffordern lassen müssen. Als er wieder zum Tisch kam, stellte er außer seinem Pint zwei doppelte Whiskeys ab. »Wenn wir schon trinken, dann richtig.«

Fox hob das Spirituosenglas hoch. »Runter damit, es werden keine Gefangenen gemacht!«

»Damit kennst du dich ja aus.«

Er kniff die Augen zusammen. Kaum jemand anderem hätte er das durchgehen lassen. Die beiden stürzten ihren Whiskey hinunter. Dave schaute von seiner Zeitung auf, sagte aber nichts. Fox trank einen Schluck Bier. »Und was hast du während der letzten zehn und mehr Jährchen so gemacht?«

Snow gab seine eigene Geschichte wieder: Wie er nach seiner Tätigkeit beim »Det« zunächst zum Regiment zurückgekehrt war, um dem ukrainischen SBU zu assistieren, dann eine Schussverletzung erlitten und sich schließlich MI6 angedient hatte.

Fox stieß einen Pfiff aus. »Und ich? Nach der Zeit beim Regiment arbeitete ich sechs Jahre lang für einen Haufen Napfsülzen, wurde vor die Tür gesetzt und musste dann – fast hätte ich's vergessen – drei böse Jungs umlegen, um eine Prinzessin zu retten.«

Weder das eine noch das andere taugte zum herkömmlichen Plausch der Marke »Wiedersehen macht Freude«, doch andererseits konnten sie einander auch nicht als herkömmliche Kollegen ansehen. Trotz des Altersunterschieds zwischen ihnen hatten sie beim SAS zusammengearbeitet und dem Tod gemeinsam ins Auge geblickt. Snow erinnerte sich an jene Nacht in Armagh, als Jimmy McKracken, das damals neuste und seinem Ruf zufolge härteste Mitglied der IRA, sie aus dem Graben gezogen hatte. Fox, dessen Spitzname »Paddy« auf seinen irischstämmigen Vater zurückging, war mit der Weisung, sich als Angehöriger einer anderen Terrorzelle auszugeben, vor Ort als Trumpf eingesetzt worden. Er hatte Snow ordentlich vermöbelt, um seinem Spiel Glaubwürdigkeit zu verleihen, und dabei mit seinem besten Ulster-Akzent gelästert.

Nachdem McKrackens Männer die Bombe am Straßenrand scharfgemacht hatten, waren Fox und Snow zu einem Bauernhaus gebracht worden, wo der Anführer der IRA-Gruppe Fox' Alibi bestätigen wollte – und das in einer Zeit vor dem Siegeszug der Mobiltelefone auf breiter Ebene. Man hatte Snow lädiert mit einem Getreidesack über dem Kopf in eine Scheune geworfen und Fox unterdessen in die Küche geführt. Keiner der beiden war über den Verbleib des jeweils anderen im Bilde gewesen, doch gehandelt hatten sie einvernehmlich.

Snow hatte so getan, als sei er schwerer verletzt als in Wahrheit, und in dem Moment, als ihm der Sack vom Kopf gezogen worden war, hatte er mit einem Bein ausgetreten und dem IRA-Wächter den Boden unter den Füßen weggerissen. Dem jungen Iren war die Luft weggeblieben und die Pistole aus der Hand gerutscht. Snow hatte sich auf ihn gewälzt, ihm mit einer Kopfnuss die Nase gebrochen und die noch gefesselten Hände um den Hals gelegt. Er wollte ihn eigentlich lediglich bewusstlos würgen, aber wegen des Adrenalinschubs in dieser Situation hatte er zu fest zugedrückt.

Das war Snows erste Tötung gewesen – eine schlimme Sache, doch für Reue hatte ihm die Zeit gefehlt. Die Fesseln konnte er mit dem Messer des Unabhängigkeitskämpfers durchtrennen, und nachdem er die Pistole aufgehoben hatte, war er so leise wie möglich zum Bauernhaus geschlichen.

In der Küche hatte man Fox nicht an einem Stuhl festgebunden, sondern von zwei Männern bewachen lassen, als McKracken mit dem Telefon hinausgegangen war. Dank eines Sommers bei seinen Großeltern in der benachbarten Gegend war Fox in der Lage gewesen, seine Aufpasser mit Anekdoten zu unterhalten, bis einer draußen Bewegungen bemerkt hatte. Da war der Gefangene aufgesprungen und hatte dem nächsten Mann zwischen die Beine getreten. Während der eine Terrorist zusammengesackt war, hatte sich Fox sein Sturmgewehr geschnappt. Gleichzeitig hatte Snow durchs Fenster geschossen, zwei 9mm-Patronen in den Schädel des anderen Mannes. Fox war weiter ins Haus gegangen und Snow durch die Tür hereingekommen, um den Liegenden in Schach zu halten, der sich noch seine Hoden gehalten hatte.

Fox hatte Schüsse gehört, doch McKracken war nicht geblieben, um zu kämpfen, sondern mit seinem Chevrolet Cavalier geflohen. Der nächtliche Einsatz war ein Erfolg gewesen. Sie hatten die Bombe entschärft und die übrigen Mitglieder der IRA-Zelle dazu gebracht, wertvolle Informationen herauszugeben. Fox und Snow hatten sich als starkes Team bewährt.

Der Schotte stand nun auf. »Komm, holen wir uns was zu essen.«

»Warum nicht hier?« Snow mochte das hausgemachte Steak- und Nierenfleisch im Fettmantel.

Fox schaute ihn an, als halte er ihn für verrückt. »Du willst noch länger leben, oder?«

Dave, der die Gläser einsammelte, warf ihm einen bösen Blick zu. »Denkt mal an mich. Ihr könnt euch aus der Affäre ziehen, aber meine bessere Hälfte besteht darauf, jeden gottverdammten Tag für mich zu kochen!«

Sie verließen das Lokal und gingen die Hauptstraße hinunter. »Willst du das Auto nehmen?«

Snow verneinte. »Ist ein Gemeinschaftswagen. Würde er abgeschleppt, bekäme ich einen anderen.«

»MI6-Karre mit Radkralle, wäre 'ne prima Schlagzeile für die Abendausgabe des ›Argus‹.« Fox fand seine Scherze selbst am witzigsten. »Also, ich hab Lust auf Indisch.«

Fox ging voraus um die Ecke zum Indian Cottage, tatsächlich einem umgebauten Landhaus aus dem 16. Jahrhundert und nun das Restaurant des besten »Inders« in Shoreham. Dass es wie die meisten mit Speisen aus diesem Kulturkreis Bangladeschern gehörte und auch von diesen betrieben wurde, entging den beiden Veteranen.

***

Snow fuhr aus dem Schlaf hoch, als eine Möwe vorm Zimmerfenster lachte. Mit brummendem Schädel zog er den Reißverschluss des Armeeschlafsacks auf, den er von Fox bekommen hatte – »Maggot«, also Made nannte man sie beim Militär –, und rollte von der Matratze. Er trug nur seine Boxer-Shorts und ein T-Shirt. Als er vorm Fenster stand und hinausschaute, fiel sein Blick auf die andere Straßenseite, und wenn er sich den Hals ein wenig verrenkte, konnte er links Shoreham Beach und den Ärmelkanal sehen. Die ersten Sonnenstrahlen glitzerten auf der Meeresoberfläche. Snow zog seine Jeans an und ging nach unten, um Ibuprofen, Aspirin oder Paracetamol einzuwerfen – irgendetwas, um den Kater zu vermeiden, der sich bald vollends bemerkbar machen würde.

Auf der Treppe hörte er den Wasserkocher blubbern und roch gebratenen Schinkenspeck. Im Erdgeschoss kam ihm Fox mit strahlendem Lächeln entgegen. »Gut gepennt? Du scheinst mit dem Alter nachgelassen zu haben.«

Snow schaute auf die Anzeige der Mikrowelle. 7:15 Uhr. Fox schaltete den Kocher aus und füllte zwei Tassen mit kochendem Wasser. »Hier, um wieder fit zu werden. Milch steht im Kühlschrank.«

»Prost.« Snow gab einen Schuss hinein und reichte die Packung weiter. »Du hast nicht zufällig …«

Fox wusste, was er wollte. »Zweite Schranktür. Da liegt auch noch etwas von dem Pferdebetäubungsmittel, das Tracy für ihr Kreuz bekommen hat.

Snow nahm zwei Schmerztabletten ein und schluckte sie mit heißem Tee hinunter. »Wie fühlst du dich?«

Sein Freund schlug ein Ei an. »Ich? Bestens, aber ich bin ja auch keine englische Tunte. Einmal wenden oder nicht?«

»Nicht.« Eigentlich war Snow noch satt von dem Curry, das sie in der Nacht verputzt hatten.

»Wann rechnen sie denn wieder mit dir in der Spionagezentrale?«

»Bin da flexibel.« Snow trank noch einen Schluck Tee. »Wieso?«

Fox breitete die Arme aus. »Glaubst du, ich würde das alles für eine Handvoll Sand aufgeben?« Der Agent blieb still, während sich ein neuerliches Lächeln auf Fox' zerknautschten Zügen ausbreitete. »Hast du wirklich erwartet, dass ich Nein sagen würde?«

»Nein.«

»Iss.« Fox klatschte zwei Eier, drei Streifen Bacon und ein Paar Würstchen auf einen Teller. »Denn es könnte kein Morgen für uns geben.«

Arizona Bar & Grill, Kiew, Ukraine

Gennadij Dudka freute sich darauf, seinen ältesten Freund Leonid Suchoi wiederzusehen. Er lächelte versonnen in Gedanken an längst vergangene Zeiten. Sie hatten gemeinsam in der Roten Armen gedient, bevor sie als KGB-Grenzwächter ausgesucht worden waren. Als solche hatten sie einen langen Atem bewiesen und sich in der Hierarchie hochgearbeitet, bis Suchoi nach Weißrussland und Dudka in die Ukraine versetzt worden war, beide also in ihre jeweilige Heimat. Im Laufe der Jahre hatten sie sich so regelmäßig getroffen, wie es im Rahmen ihrer Arbeit machbar war, und über ihre beiden KGB-Abteilungen möglichst oft kollaboriert.

Dann jedoch brach 1991 an, und die mächtige Sowjetunion implodierte. Die zwei Freunde arbeiteten auf einmal für unterschiedliche Staaten: Suchoi war nun beim weißrussischen KGB angestellt, Dudka beim ukrainischen SBU, obwohl sein Land wenig mehr als den Sowjetnamen abgelegt hatte. Im Zuge der Neunziger und jetzt des neuen Jahrtausends war die Ukraine Schritt für Schritt aus dem Schatten des ehemaligen Großreichs getreten und näherte sich – wenn auch nur langsam – dem Westen beziehungsweise der EU an. Weißrussland indes hatte versucht, das Bündnis wiederaufzubauen, und zunächst einen »Unionsstaat Russland und Weißrussland« und dann einen größeren »slawischen Staat« mit Russland, dem damaligen Jugoslawien und der Ukraine schaffen zu wollen. Jugoslawien war im Bürgerkrieg zerfallen, bevor es die Gelegenheit zur Unterzeichnung bekam, und die Ukraine hatte ihre Pforten vor den Nachbarn verschlossen gehalten, weil sie zu beschäftigt damit gewesen war, ihren neuen Besucher zu unterhalten, den Westen. Nun war Weißrussland von fast allem außer der berüchtigten »Achse des Bösen« und Russland isoliert, stand also allein auf weiter Flur und wurde fast gänzlich ignoriert – als Überrest der Sowjetunion, der weder zur Vergangenheit noch in die neue demokratische Zukunft Europas passte.

Dudka hatte seinen Freund seit – er zählte es an einer Hand ab – knapp drei Jahren nicht gesehen. Er wunderte sich. War es wirklich schon so lange her, dass Leonids Enkeltochter ihren eigenen ehrgeizigen KGB-Beamten aus Minsk geheiratet hatte? Die Jahre waren gerast und beide nunmehr Anfang siebzig, weshalb Dudka allmählich die Einsicht gewonnen hatte, dass weder Leonid noch ihm viel Zeit zum Leben blieb. Er selbst fühlte sich rüstig wie eh und je, doch er bangte um seinen Freund, der zwar größer, aber seit je zarter besaitet gewesen war. Der Kopf des Büros zur Bekämpfung von Korruption und organisiertem Verbrechen beim ukrainischen Geheimdienst fasste den Beschluss, zukünftig engeren Kontakt mit denjenigen zu halten, die ihm etwas bedeuteten.

Das Restaurant füllte sich an diesem Sonntag allmählich mit den ersten Gästen. Es war erst kurz nach Mittag, und Leonid musste jeden Moment auftauchen. Die Bedienung fragte Dudka erneut, ob er »bereit zum Bestellen« sei, und er erklärte zum zweiten Mal, auf jemanden warten zu müssen, aber Sie könne ihm einfach ein Glas Wasser bringen und die Klimaanlage niedriger stellen. Ihn fröstelte schon draußen trotz des milden Wetters Anfang September, doch hier drin kam es ihm vor wie im tiefsten Winter. Als sein Wasser kam, klirrten Eiswürfel darin – eine Idee der Amerikaner. Er strafte die Frau mit einem säuerlichen Blick ab. Das entging ihr, und sie zog sich wieder zurück, als er bemerkte, dass sein alter Freund das Lokal betrat.

Dudka strahlte ihn an, streckte ihm beide Hände entgegen und schüttelte Leonids, bevor er ihn umarmte. »Mein lieber Freund, wie gut es tut, dich zu sehen!« Er sprach von Herzen; Leonid bedeutete ihm so viel wie ein Bruder.

Suchoi lächelte ebenfalls, aber nicht ganz so warmherzig. »Geht mir genauso, altes Haus.«

Dudka trat einen Schritt zurück, um seinen Gefährten anzuschauen. Leonid hatte zugenommen – Hemd und Jackett schienen ein wenig zu eng zu sein – und fühlte sich augenscheinlich unwohl. Sie setzten sich.

»Ich hoffe, dein Flug vom Internationalen Flughafen Minsk verlief reibungslos.« Das war scherzhaft gemeint, denn von »international« konnte eigentlich weder in Hinblick auf den Flughafen noch die Fluggesellschaft die Rede sein.

Suchoi lächelte gezwungen.

Dudka fragte argwöhnisch: »Was ist denn los?«

Sie unterbrachen, während die Bedienung mehr Wasser brachte, und bestellten schnell, bevor sie wieder verschwinden konnte.

Suchoi trank aus seinem Glas und wischte sich dann die Stirn ab. Er schwitzte. »Genna, du bist der einzige Mensch, an den ich mich wenden kann – der einzige, dem ich traue.«

Da blickte Dudka ernst drein. »Was auch immer in meiner Macht steht, um dir zu helfen, werde ich tun, das weißt du, Leonija.«

Das Oberhaupt der Dritten Hauptdirektion des weißrussischen KGB nickte. Er befand sich in einer heiklen Lage – so heikel gar, dass er das Land hatte verlassen müssen, in dem er Befehlsgewalt innehatte, und in die Ukraine gereist war, um Beistand zu erbitten. Er schaute sich beklommen im Restaurant um. Er hatte es im Grunde nur willkürlich gewählt, sich aber dann darüber gefreut, dass es sich als bevorzugtes Lokal von Ausländern erwies, also kaum von alten Sowjets.

»In meiner Regierung walten gewisse Kräfte, die das Land gerne zerstören würden.« Suchoi schlug einen dringlichen Ton an, und seine Worte blieben im Raum stehen, als die Suppe der beiden gebracht wurde. Borschtsch, eines der wenigen ukrainischen Gerichte auf der Karte.

»Lukaschenko hat bislang gute Arbeit geleistet, weshalb ich ihn weitermachen lassen würde.« Dudka tunkte sein Brötchen in die Schale und biss die durchweichte Seite ab; seine Bemerkung triefte vor Sarkasmus.

Suchoi fiel auf, dass ein Brösel auf die Krawatte seines Freundes rieselte. Beide wussten, dass sie sich in ihrer schlechten Meinung über den Präsidenten Weißrusslands einig waren. Das Problem dort bestand darin, dass man nur schwerlich Gleichgesinnte fand, was dies betraf. Alle Staatsbürger in ihrem Alter hatten zu viel zu verlieren, und jüngere Generationen waren während Lukaschenkos schon zu langer Regierungszeit gehirngewaschen worden.

»Etwas Schreckliches ist in Planung – etwas, das sehr wahrscheinlich das Ende der weißrussischen Nation bedeutet.«

Dudka hielt mit vollem Löffel in der Hand inne, sodass die Suppe zurück in die Schale platschte und seine Krawatte bespritzte. Sein Freund war mehr denn je besorgt. »Was genau soll das sein?«

Der KGB-Mann schluckte mühselig. Zur Kontaktaufnahme eignete sich das Restaurant durchaus, doch im Folgenden wollte er kein Risiko eingehen. »Können wir irgendwohin ausweichen, wo wir sicher sind?«

Dudka sah ihn verkniffen an. »Ja. Meinst du das ernst?«

Suchoi bekräftigte: »Ich brauche Hilfe, Genna.«

Da wusste sein Freund, dass er nicht weiter zu bohren brauchte. So blieben beide still hocken und löffelten ihre Suppe aus. Der Appetit auf die Hauptspeise war ihnen vergangen.

Nachdem Dudka gezahlt hatte, brachen sie auf. Er hatte seinen Wolga, einen Regierungswagen, gleich draußen geparkt. Die jüngeren Angestellten des SBU erhielten neue VW Passats, doch er zog sein altes Auto vor. Er nickte dem Wachmann des Restaurants zu, der mit seiner Militärhose im zünftig grau-blauen Flecktarn der Stadt eher wie ein Kommandosoldat als ein besserer Türsteher aussah, und entriegelte den Wagen, der wenige Meter vorm Eingang stand. Der Verkehr donnerte auf dem Nabereschno-Chreschtschatyk-Boulevard entlang, der quer durch Kiew verlaufenden Uferschnellstraße.

Suchoi sah sich nervös um, als er die Beifahrertür öffnete. Plötzlich stöhnte er, kippte vorwärts und schlug auf die Motorhaube, von der er abrutschte und auf den Asphalt sackte.

»Leonija!« Dudka lief für einen Mann seines Alters schnell auf die andere Seite des Fahrzeugs. Er hörte ein Prasseln wie von dicken Hagelkörnern und sah Suchois Leib am Boden zucken. Da warf er sich nieder. Jemand feuerte mit einem Schalldämpfer auf sie! Während er flach auf dem Bauch liegen blieb, streckte er einen Arm aus und griff nach Suchois Hand. Er spürte eine Erschütterung und dann einen stechenden Schmerz im Gesicht. Obwohl es wehtat, langte er erneut nach seinem Freund. Dieser hatte keinen Puls mehr. Als Dudka seinen Kopf anhob, sah er einen Audi losfahren, der auf der gegenüberliegenden Fahrbahnseite gestanden hatte, und zwar in Richtung der neuen Brücke, die zum linken Flussufer führte.

Flinker, als er es in den vergangenen zwanzig Jahren je gewesen war, sprang Dudka auf und feuerte mit seiner Dienstwaffe, einer Glock 9mm, auf das kleiner werdende Ziel. Die Schüsse verfehlten bis auf einen, der die Heckscheibe zum Bersten brachte. Als sich Dudka wieder seinem besten Freund zukehrte, lag dieser immer noch reglos vor seinen Füßen; Blutspritzer befleckten den Boden unter seinem Kopf.

COLD BLACK

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