Читать книгу Rauer Himmel - Alf Mayer - Страница 7
1
ОглавлениеEs war ein merkwürdiger Tag, einer jener Tage, an denen man den Ort verlässt, wo man, ohne um seine Meinung gefragt worden zu sein, schon immer ansässig war. Wer die Muße hat eine Karte aufzuschlagen und dann zwischen Alès und Mende eine gerade Linie zieht, stößt unweigerlich auf diese gottverlassene Ecke in den Cevennen. Einen Ort namens Les Doges, mit zwei Bauernhöfen, ein paar hundert Meter voneinander entfernt, weite Flächen mit Bergen, Wäldern und hier und da ein paar Wiesen, mit einigen Monaten Schnee im Jahr und mit Felsgestein, auf dem das Ganze ruht. Es gab dort auch Farben, die die Jahreszeiten anzeigten, Tiere und dann die Menschen, zwischen Hoffnung und Verzweiflung, wie Kinder, die das Eisen ihrer Träume schmieden, mit der gleichen Auflehnung im Herzen, den gleichen zu bestreitenden Kämpfen, die die vergänglichen Siege und die ewigen Niederlagen ausmachen.
Der nächstgelegene Weiler hieß Grizac und lag in der Gemeinde Pont-de-Montvert. Eine Straße verband sie und musste wohl irgendwohin führen, nahm man sich die Zeit, ihr zu folgen.
Hier lebte Gus seit über fünfzig Wintern. Es war im Dezember gewesen, dass dieses Land ihn aufgenommen und seine Mutter ihn auf Laken, hart und dick wie Kastanienbretter, ausgestoßen hatte, ohne dass er sich verpflichtet gefühlt hätte, zu schreien, als wollte er diesem uralten Körper seinen verheerenden Stempel aufdrücken. Seine Art, bereits da an die Einsamkeit zu stoßen, schon in dem Moment, der ihn durch den einfachen Eintritt eines Luftstroms in seinen verzerrten Mund zu einem Menschen machte. Einige Leute sollten später behaupten, man hätte ihn nicht so schütteln dürfen, wie sie es getan hatten, um den berühmten ersten Schrei aus ihm herauszuzwingen, und es hätte ein wenig an diesem verzögerten Start gelegen, dass er später lieber mit Tieren als mit Menschen sprach. Aber wer kann schon sagen, was geschehen wäre, wenn alles normal verlaufen wäre? Und wer hätte bestreiten können, dass der Allmächtige beschlossen hatte, Gus genau in diese Ausgangssituation zu bringen, und dass diese Eigentümlichkeit sogar ein höheres Schicksal verhieß? Jedenfalls zögerten selbst die erbarmungsvollsten Seelen nicht, mit dem Finger auf diesen Fisch zu zeigen, der seit seiner Geburt gegen den Strom schwamm.
Gus’ Bauernhof lag eingekesselt im höchstgelegenen Teil von Les Doges, etwa zehn Kilometer Luftlinie (Vogelfluglinie) von Pont-de-Montvert entfernt. Er bestand aus alten Gebäuden, Ackerland und Dickicht, eingebettet in einen Wald, der sich im Wesentlichen aus Kastanien, Kiefern, Eichen, Buchen und Lärchen zusammensetzte. Das Anwesen erstreckte sich über vierundzwanzig Hektar. Wie lange man für die zehn Kilometer von Les Doges ins Nachbardorf brauchte, hing allerdings davon ab, ob man in der guten oder in der schlechten Jahreszeit unterwegs war. Entfernungen werden in dieser Gegend in Minuten, nicht in Metern gemessen. Und noch dazu war Gus kein sich in die Lüfte schwingender Vogel.
Schon immer wurden Legenden über Les Doges und seinen geweihten Wald erzählt. Man munkelte, der Name, den man ihm gegeben hätte, stünde in krassem Gegensatz zu dem, was dort geschehen sei, wenn man einmal davon ausgeht, dass ein Ort das Unglück überhaupt eher anziehen kann als ein anderer. Seitdem waren die Legenden in Vergessenheit geraten, und der Name war geblieben. Man hatte andere Sorgen. Es wäre ein bisschen übertrieben, zu behaupten, dass Gus dieses Land liebte, aber da er nichts anderes kannte, hatte er sich an den Gedanken gewöhnt, sein gesamtes Leben hier zu verbringen. Er war darüber nicht unglücklich, aber auch nicht wirklich glücklich. Es war sein Platz in der gewaltigen Ordnung des Universums, weil er sich keinen anderen vorstellen konnte. Hätte er darüber nachgedacht, wäre er wahrscheinlich zu dem Schluss gekommen, dass nur wenige Leute das Gleiche behaupten konnten. Es war schließlich nicht allen Menschen vergönnt, einen eigenen Stuhl zum Sitzen zu haben. Er hatte sich immer mit dem zufriedengegeben, was er besaß, nicht aus freiem Willen, nicht aus Überzeugung, sondern schlichtweg, weil man ihm beigebracht hatte, dass sich nichts ändern sollte, dass die gesamte Schöpfung von einer Macht erdacht worden war, die den Menschen in allen Dingen überlegen war, hier und anderswo. In seinen Bedürfnissen war Gus absolut bescheiden. Er begnügte sich damit, ein paar Gläser Wein zu trinken, wenn ihm der Sinn danach stand, und sich um die Tiere zu kümmern, die er hingebungsvoll aufzog. Alles, was er jemals beherrschte, war das, was man von ihm erwartete.
Es war seine Großmutter väterlicherseits, die Gus all das beigebracht hatte, was er heute über diese fordernde Natur wusste, was sie geben konnte, zu welcher Zeit, und auch, was sie nehmen konnte. Die Großmutter hatte ihm immer gesagt, Glück sei wie das Versprechen der Morgendämmerung, wenn man sich an das Versprechen hält, ohne unbedingt das erraten zu wollen, was man gerne im Voraus wissen möchte. Es war die Art von kompliziertem Gerede, das man von ihr kannte und das in ihrem Mund seltsam klang, wie eine zufällig dahingesagte Warnung. Gus hatte sie manchmal im Verdacht, nur für die gestellte Frage zu bürgen, mit Sicherheit aber nicht für eine Antwort darauf, da sie die offensichtlich nicht in petto hatte.
Den Großvater hatte Gus nie kennengelernt. Anscheinend war er seinerzeit jemand gewesen, der nicht leicht zu nehmen war, der fähig war, für seinen Standpunkt zu kämpfen und nebenbei die Wut herauszulassen, die tief in ihm steckte. Glaubte man den Gerüchten, dann war niemand in der Lage gewesen, ihm die Stirn zu bieten. Er hatte gewissermaßen nie eine Niederlage erfahren. Und genau das war ihm zum Verhängnis geworden, an dem Tag, als er dem Stier den Rücken zukehrte und sein Brustkorb zwischen Stallwand und Rinderschädel zerquetscht wurde. Dem Tier war das noch nicht genug gewesen, wie wild hatte es seine Hörner in den Mann gestoßen, der es so oft geschlagen hatte, um es gefügig zu machen, bis genau zu dem Moment, als die Wachsamkeit des Großvaters nachgelassen hatte, als alles aus den Fugen geriet. Dabei weiß jeder Bauer, dass man einem so mächtigen Tier wie einem Stier niemals trauen sollte. Es hieß, der Großvater habe nicht geblutet, der Brei sei tief in ihm geblieben, bis auf ein kleines Blutrinnsal, das ihm schließlich aus dem Mundwinkel floss, aber da atmete er schon nicht mehr.
Gus’ Vater war zur Zeit der Tragödie ein Halbwüchsiger. Er hatte den Hof dann mit der gleichen Logik geführt wie sein Vater, nur dass er körperlich und im Kopf nicht annähernd so robust war. Die Großmutter hatte gehorcht, sie war noch nie jemand gewesen, der sich durchsetzt, egal, worum es auch ging. Zu erwähnen wäre noch die ausgesprochene Neigung von Gus’ Vater zum Alkohol. Ein Schnaps, der von zwei Zwillingsbrüdern im Tal gebrannt wurde, die wegen ihrer übergroßen Ohren den Spitznamen ›die Mickeys‹ hatten. Ihr Gebräu ähnelte eher fermentiertem Rinderurin als Branntwein. Solange man nichts Besseres gekostet hat als das, was man gerade zur Hand hat, findet man anscheinend immer Gründe dafür, seine dürftige Ration zu schätzen und erst gar nicht nach etwas anderem suchen zu wollen. Sicherlich eines der Rezepte für Zufriedenheit, ohne dass man gleich von Glück reden sollte, denn diese Art von Gefühl hatte offensichtlich noch nie einen Fuß nach Les Doges gesetzt. Eine eigenartige Region voller Grobiane und wortkarger Menschen. Wie könnte es auch anders sein in dieser Gegend, wo sich noch nicht einmal der Leibhaftige die Mühe machte, die Seelen auszusuchen, und zugriff, ohne sich darum zu scheren, mit der Konkurrenz zu verhandeln. Dennoch gingen die meisten dort ansässigen Leute sonntags zum Gottesdienst, zweifellos in der Hoffnung, ihre Bürde ein wenig zu erleichtern. Der einzige Schatz, mit dem sie jeden Tag in Berührung kamen, war gleichzeitig Ausdruck ihres Martyriums: diese majestätische und hinterhältige Natur, die einer verführerischen Frau gleicht, die man nicht vergessen kann.
Wie jeden Tag war Gus früh aufgestanden. Bisher hatte er seine Tage wie Perlen auf einer Halskette aufgereiht, eine sah wie die andere aus; doch an diesem Tag im Januar 2006, genauer gesagt, am zweiundzwanzigsten, schickte er sich an, eine seltsame Perle aufzureihen, eine, die wirklich nicht wie alle anderen aussah.
Als Gus die Nase aus dem Fenster steckte, war es noch dunkel, der Mond hing über dem Scheunendach. In der Nacht hatte es noch geschneit, ungefähr zehn Zentimeter hoch, pappiger Schnee, soweit er das durch die beschlagenen Küchenfenster erkennen konnte. Er dachte, es würde nicht einfach, den Mist aufzuhäufen und ihn den Hügel hinauf zur Grube zu schaffen. Die bis zum Rand gefüllte Schubkarre würde beim Schieben auf seine dünnen ausgestreckten Unterarme drücken, die wie Insektenbeine aussahen. Abgesehen von den Unannehmlichkeiten, die er verursachen konnte, mochte er den Schnee eigentlich: Er verbarg für eine Weile Schmutz und Unordnung, und zugegebenermaßen war es erholsam, die Bewirtschaftung des Friedhofs, der sich um die Gebäude herum erstreckte, für kurze Zeit vergessen zu können. Die Kadaver zerlegter Maschinen, die ihn ständig an längst vergangene Zeiten erinnerten, wie unterschiedliche Schichten im Schnitt eines verlassenen Steinbruchs. Vorerst waren die Oberflächen makellos, glatt, hohl oder holprig, ein Albinokörper der Natur, den eine gnadenlose Sonne eines Tages zerstören würde.
Es gab zwei Möglichkeiten, in die Scheune zu gelangen, entweder durch den Flur, der direkt mit der Küche verbunden war, oder von außen. An diesem Morgen musste Gus erst einmal sehen, wie das Wetter war. Er frühstückte nicht und ging hinaus, nachdem er sich so warm wie möglich angezogen hatte. Mars begleitete ihn, ein braver Mischlingshund, völlig unkompliziert, der sich offensichtlich nicht um die Kälte scherte, sich wie ein Verrückter im Pulverschnee wälzte, bellte und pinkelte, ohne sich die Zeit zu nehmen, stehen zu bleiben. Gus überquerte den Hof, die Hände in den Hosentaschen. Als Vorboten glitzerten die ersten Lichtstrahlen auf dem gefrorenen Schnee, der die östliche Seite des Scheunendachs bedeckte. Darin hätte jeder Mensch, dem der Lauf des Universums bewusst ist, eine große Schönheit gesehen. Gus selbst aber stellte sich die Veränderung der Dinge im Voraus vor, um nicht blindlings der beklagenswerten Linearität seiner eigenen Existenz zu folgen.
Er blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden, und legte schützend die Hand vor die Flamme seines Feuerzeugs, wie ein Frommer, der sowohl für die Ursache als auch für die Wirkung eines einfachen Wunders betet. Dann ging er in den Stall, um seine Tiere zu versorgen. Es waren nicht sehr viele, aber trotzdem eine Leistung, diese siebzehn Mütter zu ernähren, alles Aubrac-Rinder; und die acht Kälber mussten morgens und abends zum Euter geführt werden, wobei man sie genau im Auge behalten musste. Denn diese Bande wuselte unberechenbar umher. Sobald man sie von ihren Ketten befreite, machten sie Luftsprünge und knallten im Dunkeln ihre Hufe auf den kalten Stein, obwohl sie gerade erst geweckt worden waren durch eine auf einen Strohballen gestellte Laterne und eine funzlige Glühbirne, die zwischen zwei von Spinnennetzen bedeckten Balken klemmte. Die Mütter muhten und bettelten derweil, um von der Milch befreit zu werden, die sie schier umbrachte. Und am Ende liefen die Kälber immer auf die übervollen Euter zu, waren mit zwei Metern Hanfseil an Gus’ knorrigen Fingern festgezurrt, hüpften wie kleine Teufelchen umher, bevor sie ihr Maul in den geäderten Ballon schlugen und dann mit der ganzen Undankbarkeit von Söhnen an einer prallen Zitze schlürften.
Eigentlich hätte es ein ganz gewöhnlicher Tag werden sollen, der wie jeder andere Tag begann und auch so hätte weitergehen sollen. So war es aber nicht. Als Gus das letzte satt getrunkene Kalb wieder angebunden hatte, wischte er die Zitzen seiner produktivsten Kuh mit einem alten Lappen ab, streichelte ihren Rücken und redete Dialekt mit ihr, setzte sich dann auf einen dreibeinigen Schemel und zapfte ein wenig Milch in einen Krug, wobei er den Kopf im gleichen Rhythmus hin und her schwang, in dem seine Hände sich wie perfekt aufeinander abgestimmte Kolben auf und ab bewegten. Als er mit dem Melken fertig war, ging er zurück ins Haus. In der Küche legte er ein kleines Reisigbündel in die Ofenkammer des Herds, totes Holz, das er im Wald gesammelt und dann getrocknet hatte. Anschließend schob er ein altes Zeitungsblatt unter das Holz und zündete es mit einem Streichholz an. Das Ganze begann sofort zu brennen. Gus hielt seine kalten Hände darüber, um sie zu wärmen.
Sobald das Feuer richtig brannte, warf er zwei Holzscheite in den Ofen und stellte einen Topf, in den er die frische Milch goss, auf die gusseiserne Herdstelle. Mars fiepte, als er seinem Herrn dabei zusah. Gus gab ihm ein bisschen Milch, der Hund stürzte zu seinem Napf, um den dickflüssigen Trunk aufzuschlabbern, dessen Spritzer seine Schnauze mit feinen Tröpfchen besprenkelten. Als die Milch zu sieden begann, füllte Gus eine große Schale damit, ließ drei Stück Zucker hineinfallen und rührte das Getränk mit einem Zinnlöffel um, bis der Zucker sich aufgelöst hatte – sogar etwas länger als dafür nötig. Dann schaltete er den Fernseher ein, der auf den zweiten Kanal eingestellt war, den einzigen, den er bei schlechtem Wetter empfing, und setzte sich auf einen Strohstuhl, um die Milch zu trinken, wobei seine Hände die blaue Keramik-Schale umklammerten.
Gus achtete nicht sofort auf das, was im Fernsehen gesagt wurde. Er zog eine Packung Gitanes aus seiner Jackentasche, zündete sich eine mit seinem Feuerzeug an und trank dann einen großen Schluck von der gesüßten Milch. In diesem Augenblick wurde ihm klar, was gerade geschehen war. Er legte beide Hände auf das Wachstuch auf dem Tisch, seine Augen hingen an dem kleinen, abgerundeten Bildschirm über dem Kühlschrank. Abbé Pierre war tot. Gus hätte nicht sagen können, warum ihn die Nachricht derart aufwühlte. Dabei hatte er ihn nie gekannt, diesen Mann, der auch noch Katholik war, während Gus Protestant war. Er wusste nicht warum, aber es war dennoch so, als ob der Abbé zu seiner Familie gehörte, und die war nicht sehr groß, seine Familie. Eigentlich hatte er gar keine mehr, wenn man einmal von Abel und Mars absah. Aber wer würde denn allen Ernstes behaupten, dass ein Nachbar und ein Hund eine echte Familie darstellen können? Sie waren lediglich besser als nichts.
Der Vater war im Alter von fünfundsiebzig Jahren gestorben, die Mutter im Alter von einundachtzig, zweiundachtzig oder vielleicht fünfundachtzig Jahren. Gus wusste es nicht mehr genau. Jedenfalls hatte er keine Lust, sich an die merkwürdige Art und Weise zu erinnern, wie sie jeweils aus dem Leben geschieden waren. Der Tod des Abbé hingegen berührte ihn, auch wenn dieser mit seinen vierundneunzig Jahren seine Zeit gehabt hatte, wie es im Fernsehen hieß. Tatsächlich ist es so, dass man an Bedeutung gewinnt, wenn man die neunzig überstanden hat, schlichtweg weil man sehr alt ist. Eine Art Leistung. Gus hatte mehr als einmal darüber nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass es nichts für ihn war. Er hatte kein Interesse daran, so alt zu werden und sich fragen zu müssen, was vom Leben übrig blieb, wenn einen die Beine nicht mehr trügen, wenn die Augen nicht mehr klar sehen könnten und wenn man einrostete, ohne jede Hoffnung auf Veränderung. Er dachte oft über das Alter nach, das tatsächliche, jenes, das einem sacht die Bewegungen verwehrte, die man früher mit Leichtigkeit geschafft hatte, dann nicht mehr machen konnte; all das, was geschah, bevor man auf dem Friedhof landete. Eines der wenigen Dinge, die Gus wirklich Angst machten.
Er ging an diesem Morgen nicht hinaus, trank einen Kaffee nach dem anderen und rauchte eine ganze Packung Gitanes, während er sich anhörte, was sie über den Abbé sagten. Einige sagten, sie seien ihm begegnet und hätten ihn sogar gekannt. Alle würdigten ihn auf ihre eigene Art und Weise, aber bei den meisten, Gus konnte das sehr gut erkennen, war das nicht wirklich aufrichtig, so fein gekleidet, wie sie waren. Er hatte nicht oft die Gelegenheit, solch unterschiedliche Menschen zu sehen, und es war ihm sehr recht, dass er sich nicht verpflichtet fühlen musste, sie einzuschätzen. Anschließend zeigten sie Bilder aus dem Winter 1954. Gus war damals noch nicht einmal geboren. Sie erzählten, es sei eiskalt gewesen. Und dann, eines Morgens, hatte der Abbé verzweifelt gefordert, dass die Armen, die keine Bleibe hatten, ein Obdach bekämen, wo sie sich aufwärmen konnten. Viele Menschen hatten den Aufruf im Radio gehört, sogar Leute, von denen man es nicht gedacht hätte, wie Charlie Chaplin höchstpersönlich. Der alte Charlie Chaplin, den Gus auf den Archivaufnahmen nicht erkannt hatte, ohne seinen Schnurrbart, ohne seinen Anzug, ohne seinen Stock und mit ganz weißem Haar. Charlot, der mehr Geld gegeben hatte, als man jemals in Les Doges zu sehen bekäme, selbst wenn man hundert Jahre alt würde. Millionen, haben sie im Fernsehen gesagt. Allerdings muss man sagen, dass es für Menschen wie Charlot mit den Millionen so ist wie mit den Fliegenlarven im Sommer im Fluss: Man muss nur die richtigen Steine anheben, um sie zu finden. Mit den Larven kannte Gus sich aus; zu den Millionen konnte er nichts sagen. Und überhaupt, was hätte er mit solch einem Batzen Geld angefangen? Niemand kann damit einen Winterhimmel anmalen. Also, was soll’s?
Nach einer Weile merkte Gus, dass es im Haus immer kälter wurde. Er stand von seinem Stuhl auf und ging hinüber zum Herd. Das Feuer war erloschen, weil nicht nachgelegt worden war. Gus versuchte, es wieder anzufachen, indem er mit einem Schürhaken auf die Glut schlug, aber es war nichts mehr zu machen. Die einzige Möglichkeit war, noch einmal zum Verschlag zu gehen, um Holz zu holen und das Feuer wieder neu zu entfachen, während der Fernsehempfang einige Anzeichen von Schwäche zeigte und Worte von sich gab, die holzschnittartig verzerrt klangen.
Draußen war die Natur noch immer still, und der Tag war angebrochen. Es hatte wieder angefangen zu schneien, Flocken so groß wie Gänsefedern, die den Boden anscheinend nie berührten, so leicht waren sie, und die noch eine Runde in der Luft drehten, bevor sie in Zeitlupe landeten. Gus ging hinaus, ohne sich die Zeit zu nehmen, eine Jacke anzuziehen. Der Wind blies durch die Maschen und Löcher in seinem Pullover, den niemand mehr stopfen konnte. Er beeilte sich, bevor er völlig durchgefroren war. Mars war ihm gefolgt und hatte Spaß daran, die Flocken mit seinem Maul zu erhaschen, als seien es Knabbereien, die Gus ihm manchmal in der landwirtschaftlichen Genossenschaft von Pont-de-Montvert kaufte, ein Extra-Leckerbissen, der dem Tier ein Gefühl von Sonntag vermitteln sollte. Als Gus das Haus betrat, die Arme voll mit trockenem Holz, hatte das Fernsehbild sich verabschiedet. Der Schnee musste schwer auf der Antenne liegen. Er hätte durch den Dachboden auf das Dach klettern können, um mit einem Rechen den Schnee hinabzustoßen, aber er tat es nicht, er dachte, es sei so etwas wie ein Zeichen und es sei nicht so schlecht, dass der Morgen damit endete. Die Beerdigung des Abbé war für drei Tage später angesetzt.
Gus legte das Reisigbündel vor den Ofen, ohne das Feuer wieder anzuzünden. Er zog sich so warm wie möglich an und ging um die Gebäude auf seinem Hof herum, nur um zu überprüfen, ob alles in Ordnung war oder ob der frisch gefallene Pulverschnee irgendwelche Schäden verursacht hatte. Als er sah, dass es keinen Schaden zu beklagen oder zu befürchten gab, ging er zum Schuppen in der Nähe der Scheune, um das notwendige Material für die Reparatur des beschädigten Zauns auf dem Feld von Les Doges zusammenzusuchen. Er sagte sich, dass es sowieso gemacht werden musste und dass ihm ein wenig Bewegung nicht schaden würde, selbst bei diesem schlechten Wetter.
Der Zaun, der ausgebessert werden musste, befand sich ein paar hundert Meter von den Gebäuden entfernt. Gus hängte einen rostigen Container an den Traktor und lud einen Vorschlaghammer, einen Hammer, eine Zange, ein Brecheisen, eine Kiste mit Krampen, ein paar stumpfe und angekohlte Pfähle und eine Rolle Stacheldraht auf, für den Fall, dass der Schaden größer war, als er geschätzt hatte.
Dort angekommen, streifte er die Schneehaube ab, dann riss er zwei verfaulte Pfähle heraus. Anschließend machte er Löcher mit der Brechstange, bevor er zwei neue Pfähle nahm und sie mit kräftigen Hammerschlägen in den Boden schlug. Von Zeit zu Zeit hallten sie wie knallende Gewehrschüsse im Nebel wider. Danach entwirrte er den Draht, ohne ihn auszutauschen, richtete ihn in gleichmäßigen Reihen neu aus und befestigte ihn mit Hilfe von Krampen. Er war es seit jeher gewohnt, die Dinge ordentlich zu machen – sich Zeit zu nehmen, um sicherzugehen, dass das Ergebnis seinem Ehrgeiz gerecht wurde. Denn es war viel weniger belastend, sich zusätzlich anzustrengen, als die Unzufriedenheit über eine verpfuschte Arbeit ertragen zu müssen. Er hatte diese Erfahrung mehr als einmal gemacht, als er noch viel jünger war und die Dinge und ihre Auswirkungen nicht mit dem gleichen Maßstab wie heute bewertete.
Bis etwa zwei Uhr nachmittags hatte er die erste Reparatur des Zauns abgeschlossen und sein Material weggelegt. Er würde noch einen halben Tag Arbeit brauchen, um sein Werk abzuschließen. Er trat zurück, wie ein Maler, der die Ausgewogenheit der Komposition auf seiner Leinwand prüft, und stellte fest, dass er nicht unzufrieden mit seiner Leistung war. Er hatte sich diese Zigarette wohlverdient, die er jetzt durch Klopfen mit einem Finger aus der Packung gleiten ließ, als wollte er ein kleines ängstliches Tier besänftigen. Er hielt den Rauch des ersten Zuges lange Zeit zurück, ließ ihn sich in seiner Lunge verteilen, dann lehnte er sich an einen Pfahl und blickte auf die unberührte Ebene und den Wald in der Ferne. Ein leichter Nordwind ließ die Zigarette noch schneller verbrennen, dann löschte Gus die Zigarettenkippe zischend im Schnee und machte sich auf den Heimweg. Er trug seine Werkzeuge auf den ausgestreckten Armen bis zum Anhänger und legte sie hinein. Dann kletterte er auf den Traktorsitz und verschwand wie ein fantastisches Wesen inmitten der Abgase, die die Luft in einer Reihe von Spiegelungen zum Flimmern brachten, hinter denen aufgeschreckte Vögel ihre Flügel zerfledderten.
Zurück auf dem Hof, räumte Gus seine Geräte weg und ging hinein, um Reis zu kochen und zwei Koteletts von einem der Lämmer zu grillen, die er im letzten Jahr von Abel gekauft hatte. Es schmeckte köstlich, aber er war nicht in der Lage, seinen Teller leer zu essen. Traurigkeit überkam ihn ohne Vorwarnung. Er war niedergeschlagen wie jemand, der erkennt, dass er etwas verloren hat, was zu seinem Leben gehört hatte, ohne von ihm sonderlich beachtet worden zu sein. Etwas, das wichtiger wird, wenn man es verloren hat, als wenn man es jeden Tag vor Augen hat, weil man ihm dann irgendwann keine Aufmerksamkeit mehr schenkt. Mit einem Mal musste er an seinen Hund denken, den er Mars genannt hatte, weil er ihn ganz klein, zitternd und hungrig vorgefunden hatte, als er eines Morgens im März die Angelleinen einholen wollte, die er am Vortag im Fluss, der durch den Wald fließt, gelegt hatte. Gus hatte vor diesem Hund schon viele Hunde gehabt, und er hatte schon oft einen Hund verloren, aber ohne zu wissen warum, hing er an diesem Bastard mehr als an allen anderen. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er dieses Tier wirklich vermissen würde, sollte es eines Tages sterben und nicht mehr da sein, um ihm die Hände zu lecken, vor Zufriedenheit mit dem Schwanz zu wedeln, sich an ihm zu reiben und auch nicht, um die Kühe auf die Weide zu führen. Das Tier gab ihm Gewicht, verlieh seiner eigenen Existenz eine Bedeutung, die seine Einsamkeit in gewisser Weise verringerte. Hunde haben bekanntlich ein kürzeres Leben als Menschen. Wenn er die Wahl gehabt hätte, hätte Gus etwas von seiner Zeit abgegeben, um die von Mars zu verlängern. Aber letztendlich waren das einfach nur Berechnungen, nicht das Leben, sagte sich Gus, als er wieder ein wenig zu seiner Gelassenheit zurückfand.
Er gab Mars den Rest der Koteletts, dann stellte er seinen Teller mit Besteck und Glas in das Spülbecken. Anschließend wischte er die Klinge seines Messers am Hosenbein ab, faltete das Messer zusammen und steckte es in seine Tasche. Er wärmte Kaffee in einem Topf auf, und damit das Gebräu nicht aufkochte, blieb er vor dem Herd stehen. Die Oma sagte immer, dass ein aufgekochter Kaffee ein lausiger Kaffee sei, die Art von Lektion, die man nie vergisst. Gus dachte, dass es wirklich ein seltsamer Tag war, mit all diesen Erinnerungen, die wie Krähenschwärme aus dem Nebel auftauchten. Erinnerungen, bei denen man nie weiß, wohin sie gehen oder ob es überhaupt gut ist, sie zu haben, die aber zurückkommen und sich ohne Vorwarnung aufdrängen.
Gus setzte sich hin, um seinen Kaffee zu schlürfen, dann döste er ein, den Kopf auf seinen flach auf dem Tisch liegenden Händen. Als Mars sich satt gefressen hatte, scharwenzelte er zu seinem Herrn, legte sich hin und schmiegte die Schnauze fest an Gus’ linken Schuh.
Draußen waren die Wolken noch tiefer herabgesunken, und der Nordwind schien nicht dazu bereit, die Seiten zu wechseln oder aufzugeben. Als Gus aus seinem Mittagsschlaf erwachte, lag die Asche der Zigarette, die er sich vor dem Einnicken angezündet hatte, in einem Muschelaschenbecher, wie vertrocknete Spatzenscheiße. Jedes Mal war es dasselbe, das Einschlafen nach dem Essen brachte ihn ganz durcheinander. Keine Lust mehr zu arbeiten. Dazu wäre er jetzt auch nicht in der Lage. Er dachte an die Drosseln zurück, die er morgens unter den Eichen am Rand des Feldes bei Les Doges gesehen hatte. Es würde genügen, wenn jemand die gleiche Idee wie er hätte und in der nahe gelegenen Apfelplantage stünde, dann würden sie sich die Vögel schon vom ersten Schuss an gegenseitig zutreiben. Der gute alte Abel!, dachte Gus. Er griff sich sein doppelläufiges 16-Kaliber-Gewehr, das an einem Balken hing, und schob zwei Schachteln Patronen Kaliber 6 in seine Jackentaschen. Mars sperrte er in den Schuppen, damit er die Drosseln nicht verscheuchte, denn er konnte nie still sein, war wegen jeder Kleinigkeit am Kläffen. Gus schlug den Kragen seiner Jacke hoch und brach auf. Er nahm den kürzesten Weg über die Felder der Cardons. Die Gänse folgten ihm eine Weile, streckten ihre Hälse aus, als wollten sie den noch immer fallenden Schnee schnappen, und watschelten dann wieder zurück in ihren Unterstand, wobei die dicken Hinterteile fast den Boden berührten.
Gus lief etwa zwanzig Meter am Fischteich der Nachtigallen entlang. Früher hatte es hier offenbar Nachtigallen gegeben. Es musste aber verdammt lange her sein, denn Gus hatte sie noch nie singen gehört. Die einzigen Vögel, die in Hülle und Fülle in den Bambusbüschen raschelten, waren Stare und einige Amseln, die sich wie verliebte Auerhühner aufführten.
Das Wasser an der Oberfläche des Fischteichs war gefroren. Gus bemerkte die Krallenabdrücke von Teichhühnern auf dem schneebedeckten Eis. Der Fußmarsch und die Kälte hatten ihn jetzt hellwach gemacht. Als er am Rande des Feldes von Les Doges ankam, positionierte er sich unter einer großen Eiche, brach einige Äste ab, die ihm bei der Bewegung und beim Zielen hätten hinderlich sein können, und wartete. Den Gewehrkolben hatte er unter den Bizeps geklemmt, sodass der Doppellauf auf seinem Unterarm lag. Die Hände hatte er in die Taschen seiner Jacke geschoben, wobei er die Patronen knetete, um die Finger beweglich zu halten. Der Himmel hing noch immer so tief. Es würde nicht leicht sein, die Drosseln auffliegen zu sehen. Von Vorteil daran war aber, dass auch sie Schwierigkeiten haben würden, ihn auszumachen. In dieser Hinsicht also fifty-fifty. Immerhin war er derjenige, der das Gewehr in der Hand hielt.
Einige Minuten später wurde Gus schließlich für seine Geduld belohnt, als er das charakteristische Geräusch von fliegenden Drosseln hörte. Er blickte hinauf in den Himmel, sah aber nichts, bis ein Schwarm von etwa zwanzig Vögeln sich auf den Bäumen niederließ, wie aus einer Mehlwolke auftauchend. Sie vergewisserten sich, dass alles in Ordnung war, landeten auf den Baumwipfeln und warteten noch ab, bevor sie den Boden anfliegen würden, um dort, wo die Schneedecke am dünnsten war, nach Nahrung zu suchen. Jetzt gab es kein Zögern mehr. Gus hob behutsam die Waffe und zielte von der Seite auf einen der Vögel. Mit nur noch einem intakten Flügel würde er selbst dann vom Himmel fallen, wenn Gus ihn nur verwundete.
Gus blieb jedoch keine Zeit abzudrücken, denn genau in diesem Moment ertönte ein Schuss von Abels Plantage. Gus zuckte zusammen. Er hatte sich nicht getäuscht. Abel hatte die gleiche Idee gehabt und als Erster geschossen. Die Drosseln flogen davon, und ein paar Sekunden später trafen andere ein, die von Abels Plantage vertrieben worden waren. Gus wollte sich seine Chance kein zweites Mal entgehen lassen. Er zielte auf einen anderen Vogel. Gerade wollte er den Abzug betätigen, hatte aber auch dieses Mal keine Zeit mehr abzudrücken. Schrille Schreie begannen die Leere zu zerreißen, Schreie, die offensichtlich von der Stelle kamen, an der die Schüsse abgegeben worden waren, und die nichts mit dem Gesang einer Drossel zu tun hatten. Gus erstarrte. Noch mehr Schreie ertönten und gingen in ein Knurren wie von einem Tier über, dann ertönte ein dritter Schuss, und dann nichts mehr. Gus konnte noch nicht einmal die erste Reihe der Apfelbäume erkennen. Er wartete, konnte nichts anderes tun, er hoffte wohl, dass etwas aus dem Nebel auftauchen würde. Etwas, das gerettet wäre. Aber alles blieb still. Keine einzige Drossel ließ sich mehr sehen. Er hätte sowieso nicht schießen können. Trotzdem blieb er noch eine ganze Weile unter den Bäumen, und als er sich endlich entschloss, sich zu rühren, wäre er fast hingefallen, so starr waren seine Muskeln geworden. Es wäre am besten, am vernünftigsten gewesen, nach Hause zu gehen, ein schönes Feuer anzuzünden, sich aufzuwärmen und zu vergessen, was er gehört hatte. Es zu versuchen.
Stattdessen ging Gus mit dem geladenen Gewehr in der Hand über das Feld und dann über den Acker. Als er Abels Hof erreichte, stellte er fest, dass anscheinend niemand dort war, auch nicht in der unmittelbaren Umgebung des Ackers. Er näherte sich leise der Scheune und ging an ihrer Rückseite entlang, lief gebückt im jungfräulichen Schnee, verringerte sein Gewicht, um das Knirschen seiner Schritte zu mindern, als liefe er barfuß über Glut, und suchte sich die Stellen aus, die er für die günstigsten hielt, diejenigen, die ihn ohne große Überraschungen zu den nächsten bringen würden. Er lief so vor sich hin, ohne zu wissen, was er suchte, wie ein kleines, verängstigtes Wesen, dem Befehl der gleichen Neugier folgend, die Menschen gegen die halluzinierten Mauern des Morgenlands führte, der gleiche Wunsch, die versprochenen Schätze zu finden und sie an sich zu nehmen, ohne den Preis dafür zahlen zu wollen.
Viel später würde Gus sich sagen, dass er niemals hätte nach unten blicken dürfen, aber manchmal tun wir Dinge, die stärker sind als wir, wenn allein der Instinkt uns leitet. Da war dieser große Fleck im Schnee. Wie Blut. Die Schneeflocken, die wieder unermüdlich herabfielen, versuchten, ihn auszulöschen, aber es war ihnen noch nicht gelungen. Gus stand regungslos, unfähig zu begreifen. Er betrachtete den herabfallenden Schnee, der sich nach und nach rot färbte. Er drehte sich um, ohne nach einer anderen Erklärung zu suchen als der, die die Angst seiner Fantasie entlockte. Es kam ihm so vor, als ob seine Schritte genauso viel Lärm machten wie die große Trommel der Blaskapelle, die im August auf dem Jahrmarkt spielte. Er vergaß nun alle bisher getroffenen Vorsichtsmaßnahmen und begann zu rennen, drehte sich dabei dauernd um, um sicherzugehen, dass ihm niemand folgte. Als er endlich zu Hause ankam, verbarrikadierte er sich im Haus und setzte sich zitternd auf den blanken Boden, den Rücken gegen eine Wand gepresst, wie ein Tier in einer Falle.