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Es war Mars, der Gus aus seiner Erstarrung holte. Der Hund hörte nicht auf zu bellen. Eingesperrt im Schuppen, begann ihm offensichtlich die Zeit lang zu werden. Gus ging die Geschichte mit den Drosseln und den Schüssen nicht aus dem Kopf, er hatte sich keinen Zentimeter bewegt, Tausende von Szenarien entwickelt, nur um am Ende bei dem eines Dramas zu landen, dessen Zeuge er unfreiwillig geworden war. Die mit den Detonationen vermischten Schreie schwollen unter seiner Schädeldecke an, wie Kolloide aus Lehm, die sich an andere Partikel klebten und eine unaufhaltsam aufquellende Paste bildeten. Und diese Paste war zweifellos aus Fleisch und Blut, Mann oder Frau, ein Kadaver ohne Gesicht und ohne Gestalt, von Raureif überzogen.

Gus mobilisierte sämtliche Willenskräfte, die sein Körper barg, stützte sich auf einen Stuhl und stand auf. Der geschmolzene Schnee unter seinen Schuhen bildete schlammige Pfützen, die davon zeugten, was er einige Stunden zuvor erlebt hatte, er konnte sich nicht davon befreien. Wie ein alter Mann bewegte er sich mühsam zur Tür, die zum Hof führte. An einigen Stellen riss die Sonne mit göttlichen Strahlen den Nebel auf. Es war an der Zeit, Mars herauszuholen, damit er sich die Pfoten vertrat. Gus öffnete die Tür des Schuppens, und sofort stürmte der Hund heraus und begann, erneut bellend um seinen Herrn herumzuspringen, wobei er vergaß, dass die Hand des Befreiers auch die des Kerkermeisters war. Gus war noch immer nicht in bester Verfassung. Der Schnee um ihn herum, für ihn war er rot. Blutrot. Es war einfach zu dumm, diese verdammten Gedanken, die immer weiter unter seiner Schädeldecke vor sich hin galoppierten. Er beschloss, sich zusammenzureißen, sagte sich, dass er sich irrte und dass Konzentration auf die Arbeit das beste Heilmittel gegen dieses hinterhältige Übel sei. Er ging seine Tiere versorgen und hoffte, auf diese Weise die Schreie, die er gehört hatte, die Schüsse und alles andere zu vergessen. Er musste schnell einsehen, dass das nicht so einfach war, denn die ganze Zeit musste er an Abel denken, den einzigen Menschen, mit dem er sich manchmal unterhielt.

Was war bei Abel passiert?

Gus hatte Abel nach dem Tod seiner Mutter kennengelernt. Vorher hatten die beiden Familien einander nie besucht, Gus wusste nicht warum. Abel war viel älter als er, obwohl man das nicht wirklich sah, da die Zeit Gus schon ordentlich mitgespielt hatte. Auch Abel lebte allein. Mit über siebzig Jahren war er für sein Alter noch immer rüstig. Lebenslanges Arbeiten hatte ihm Muskeln eingebracht, die noch immer unter der erschlafften Haut seiner Unterarme zu sehen waren, mit Venen, so dick wie Bindegarne. Was einem aber am meisten in Erinnerung blieb, war dieser Blick, der einen festhielt und in dem man eine Lebensgeschichte erahnen konnte, die aus mehr Tiefen als Höhen bestanden haben musste. Seine Augen waren wässrig, vom Leben ausgewaschen, ein bisschen wie der Himmel, wenn er keine bestimmte Farbe hat.

Abels Familie lebte seit noch längerer Zeit in Les Doges als die von Gus. Mit anderen Worten, eine Ewigkeit, die man damit verbracht hatte, sich auf dem gleichen Acker abzurackern. Auch ihm hatte das Leben nichts geschenkt. Abels Vater war 1942 gestorben, von den Boches an eine Eiche gestellt und erschossen, die lange Zeit seinen Namen getragen hatte, bis sie gefällt wurde und man schöne Bretter aus ihr gemacht hatte. Seine Mutter hatte wieder und wieder von ihrem Kummer erzählt, bis sie verrückt geworden war. Fast könnte man meinen, eine vollständige Familie sei ein nicht zu erreichendes Ziel in dieser Ecke des Paradieses. Die Einsamkeit ist vielen Männern und Frauen gemein, als gesellte sich der Tod ungebeten zu allen Ehen dazu. Dabei weiß jeder, dass eine Dreierbeziehung niemals funktioniert und dass es am Ende immer der Mensch ist, der auf der Strecke bleibt.

Abel und Gus’ Vater hätten eigentlich Leidensgenossen sein können, aber sie hatten sich nie gut verstanden. Sicher wegen eines vergrabenen Geheimnisses, das alle anderen vergessen hatten, das sie aber zweifellos aus Familientreue gehegt und gepflegt hatten. Alles Sturköpfe hier! Bis zu einem gewissen Punkt. Und dieser Punkt war der Tod von Gus’ Mutter gewesen, der sozusagen die Totenglocke für Geheimnisse und Feindseligkeit geläutet hatte.

Die beiden Männer unterschieden sich dadurch, dass Abel eine Frau gehabt hatte, sie war schon lange tot, lange bevor Gus geboren wurde. Abel sprach nie darüber, aber Gus hatte nebenbei von seiner Großmutter erfahren, dass sie so einen Unfall hatte, den nur Frauen haben können, ohne damals zu verstehen, was das genau bedeutete, und ohne das Bedürfnis zu verspüren, mehr darüber zu erfahren. Abel hatte nie wieder geheiratet. Hatte er jemals die Gelegenheit dazu gehabt? Das Glück, ein Mädchen zu finden, das auf einem Bauernhof bleiben will, ist selten genug, und es ist schwer vorstellbar, ein zweites Mal eines zu finden, ganz besonders heutzutage. Das war alles, was Gus über Abel und dessen früheres Leben wusste. Keiner der beiden Männer war sehr gesprächig. Sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, einander bei bestimmten Arbeiten zu helfen, und im Verlauf der Jahre etwas aufgebaut, das wie eine entfernte Freundschaft ausgesehen haben musste, die niemals beim Namen genannt wurde. Eine Woche nach dem Tod von Gus’ Mutter war Abel am Steuer seines alten Ford Pick-ups vorgefahren, um ihn bei einem Notfall um Hilfe zu bitten. Eine junge Kuh, die zum ersten Mal kalbte. Abel hatte das Haus ohne Vorankündigung betreten und erklärt, dass die Gebärmutter zusammen mit dem Kalb herausgekommen war und dass er sie nicht allein in den Bauch der Kuh zurückschieben konnte: Ohne Hilfe würde er sie verlieren. Das hatte Gus überrascht, er war gerade dabei, rohe Schinkenscheiben für sein Abendessen abzuschneiden. Vermutlich war das genau die Art von Situation, die sie aus ihrer Einsamkeit herausholen konnte.

Gus hatte nicht lange gefackelt. Er folgte Abel und dachte dabei, wenn ihm so etwas passieren würde, wäre er sehr froh gewesen, wenn ihm zwei zusätzliche Hände helfen würden. Die beiden Männer waren in den Ford gestiegen und rasten bald den Weg von Braque entlang, der direkt zum Hof von Abel führte. Der Pick-up schwankte heftig hin und her, denn Abel schnitt alle Kurven und geriet wegen des kümmerlichen Scheinwerferlichts ab und zu fast in den Straßengraben. Gus bekam es mit der Angst zu tun. Er war es nicht gewohnt, schnell zu fahren oder überhaupt in ein solches Fahrzeug einzusteigen. Als sie auf dem Hof ankamen, stieg Abel aus dem Wagen und rannte in die Scheune. Gus folgte ihm, so schnell er konnte, in seinem Bauch kribbelte es wie in einer Jauchegrube im Hochsommer. Das Kalb war geboren. Unbeholfen stand es auf seinen Beinen und entdeckte das Gesetz des Geotropismus und die Schwierigkeit, das Gleichgewicht zu halten. Die Kuh hatte sich hingelegt, ihr Kopf ruhte kläglich auf der abgenutzten Streu, und ihre verdrehten Augen schienen nach einem Ausweg aus dem Leben zu suchen. Aus Erfahrung weiß jeder Bauer, wie man in einer solchen Situation vorgeht. Mit großer Mühe hatten sie die Kuh auf die Beine gestellt und die Gebärmutter, die von ihrem Hinterteil wie eine riesige, auf einem Brett gestrandete Qualle herabhing, mit aller Kraft auf die Höhe der Vulva gehoben. Dann hatten sie alles, was nie hätte herauskommen dürfen, in die Eingeweide des Tieres zurückgeschoben. Nach dieser Prozedur ließ sich die Kuh erschöpft wieder fallen, die beiden Männer sahen sich sichtlich zufrieden an, und Abel sagte in feierlichem Ton: »Komm, lass uns was trinken, wir haben es uns verdient … Jetzt müssen wir nur noch warten, bis sich alles wieder einrenkt.«

Gus hatte zustimmend genickt und war Abel ohne Diskussion ins Haus gefolgt. Einer nach dem anderen hatten sie sich die Hände und die Arme gewaschen, die immer noch ganz klebrig waren. Während er sich einseifte, hörte Gus, wie sich eine Schranktür öffnete, und dann das Klirren von Gläsern.

»Ich habe nur Roten, ist das in Ordnung?«, hatte Abel gesagt.

Die Antwort war überflüssig, da dies alles war, was Abel zu bieten hatte. Er hatte zwei Gläser gefüllt, und Gus hatte sich auf einen abgenutzten Strohstuhl gesetzt, sodass sie einander gegenübersaßen und miteinander sprachen, als würden sie sich schon ewig kennen, als sei die Situation so natürlich wie vertraut.

»Es wird schon gut gehen«, hatte Gus gesagt.

»Sicher … Ich hoffe, sie krepiert nicht in der Nacht. Die erste Geburt ist oft kompliziert. Ich möchte diese Kuh nicht umsonst gefüttert haben.«

»Aber diese Dinge passieren einfach, dagegen ist man machtlos …«

»Übrigens, ich habe dir noch nicht für deine Hilfe gedankt.«

»Nicht nötig, das ist normal, dass man sich unter Nachbarn hilft, wenn man kann.«

»Da hast du recht. Sag mal, wie findest du ihn denn, diesen Roten?«

»Ausgezeichnet.«

»Man muss ihn nur ein oder zwei Stunden vorher öffnen. Um ihn atmen zu lassen. Sonst fühlt es sich an, als ob man Splitter mit verschluckt.«

»Ich schätze, auf diese Weise haben sie genug Zeit, auf den Boden zu sinken«, meinte Gus mit einer Art schiefem Lächeln.

»Ich hab’ noch nie daran gedacht, mal nachzusehen.«

Gus hatte dann sein Glas ausgetrunken und festgestellt, dass auf dem Boden überhaupt nichts zurückgeblieben war.

»Noch ein Schluck?«, hatte Abel gefragt und die Flasche so dicht am Hals gefasst, dass ihm ein Tropfen an der Hand herunterlief und sich in einem Netz von Rissen in der Haut verlor, die so trocken wie Schluchten waren und genauso tief.

»Ja, gerne.«

»Wie viele Tiere hast du eigentlich?«

»Im Moment dreiundzwanzig Kühe und zwölf Kälber im Stall. Der Rest ist auf der Weide, ich lasse sie das ganze Jahr über draußen.«

»Was für eine Rasse?«

»Die Mütter sind alle Aubracs. Ich lasse sie von einem Charolais besamen, so wachsen die Kälber schneller.«

»Hast du keinen Stier?«

»Nein, ich traue ihnen nicht.«

»Diese Viecher machen einem nur große Sorgen, und was hat man davon: nichts!«

»Das würde ich nicht sagen, aber ich kann verstehen, dass du das so siehst.«

»Egal, sagen wir einfach, dass manche Tage nicht so leicht zu bewältigen sind wie andere und dass die Dinge im Alter nicht gerade einfacher werden.«

»Kann ich mir vorstellen …«

»Wer kauft sie dir denn ab, die Kälber, wenn sie da sind?«

»Der dicke Guillet.«

»Wie bei mir. Der ist nicht leicht zu händeln, dieser Mistkerl, und ich spreche nicht nur vom Gewicht.«

»Ich komme auch nicht mit ihm klar.«

»Daran zweifle ich keine Sekunde. Wenn du mich brauchst, dann weißt du ja, wo du mich findest.«

»Ich werd’s mir merken.«

»Gut, aber zurück zur Sache, ich muss zu meiner Kuh und sehen, wie es ihr geht.«

»Ich komme mit, falls du mich noch brauchst, und dann geh’ ich nach Hause.«

Gus hatte dann sein Glas in einem Rutsch ausgetrunken, wobei er das Gefühl hatte, zwei oder drei Splitter zu verschlucken, die sich anscheinend an der Wand seiner Speiseröhre herumtrieben. Als sie in den Stall kamen, trafen sie die Kuh ruhig auf der Seite liegend an. Abel hatte sie zum Aufstehen gezwungen, indem er ihr mit einem Stock auf die Wirbelsäule klopfte, und das Kalb war unter seine Mutter gestürzt, um an ihrem Euter zu saugen, wie ein großer Blutegel auf wackeligen Stelzen. Die beiden Männer hatten sich angeschaut, mit dem Gefühl, dass gerade etwas Bedeutsames geschehen war und dass sie allein dessen Urheber waren. Dann hatte Abel noch gesagt:

»Ich denke, sie hat’s geschafft.«

»Sieht ganz so aus.«

»Danke noch mal.«

»Behalt’ sie trotzdem in der Nacht im Auge, man weiß ja nie, falls sie einen Rückfall hat.«

»Das mach ich.«

Abel hatte Gus angeboten, ihn in seinem Pick-up nach Hause zu fahren, aber Gus lehnte ab und gab vor, den plötzlichen Drang zu verspüren, sich die Beine vertreten zu müssen. Er erinnerte sich nur zu gut an die Hinfahrt, es war ein so unangenehmes Gefühl gewesen, das er auf keinen Fall noch einmal erleben wollte. Die Nacht war klar, nur ein wenig kühl. Es musste nach Mitternacht sein, war aber nicht ganz dunkel, sodass Gus die Umrisse der schwadenförmig in der Mitte des Weges angeordneten Kieselsteine erkennen konnte, weiß wie gebleichte Gebeine.

Zu Hause angekommen, hatte Gus sich einen Teller mit dem vor einigen Stunden abgeschnittenen Schinken und einem großen Stück Maisbrot zubereitet, dann hatte er das Radio eingeschaltet, in aller Ruhe gegessen und unterdessen Leuten zugehört, die über unbekannte Lebensformen sprachen und sich in Welten herumschlugen, die nichts mit seiner zu tun hatten.

Dies war Gus’ erster Kontakt mit Abel gewesen, vor über zwanzig Jahren. Viele andere waren gefolgt, und zwar recht herzliche für zwei Bären wie sie. Seitdem hatten sie sich angewöhnt, sich in ihrer Einsamkeit zusammenzutun und mal bei dem einen, mal bei dem anderen ein Glas zu trinken. Wenn der Gast sich schließlich entschloss, nach Hause zu gehen, schwankte er ziemlich heftig, und für den Weg brauchte er mehr Zeit, als unter normalen Bedingungen nötig gewesen wäre. Wenigstens gab es keine Frau, die sie verurteilte, kein Kind, das ihnen die Ohren vollschrie, nichts und niemanden, der ihnen Vorwürfe machte. Ein Gefühl von Freiheit. Man musste nur daran glauben.

Je länger er darüber nachdachte, desto überzeugter war Gus davon, sich all das nur einzubilden. Die Schreie, sagte er sich, hatte er wahrscheinlich nur geträumt. Die Blutlache, die er gesehen hatte, stammte vielleicht von Abels Hund, der eine Ratte oder irgendein anderes Tier blutig gebissen hatte. In Nächten, in denen er nicht schlafen konnte, dachte Gus, er hätte sich diesen Unsinn im Fernsehen besser nicht ansehen sollen, der dazu führte, dass er am Ende nicht mehr zwischen wahr und unwahr unterscheiden konnte. Eine der seltenen Erinnerungen an seine Schulzeit stieg in ihm hoch, er war ja nicht sehr oft in der Schule gewesen. Der Lehrer verglich das Gedächtnis oft mit einem großen Schrank voller gefüllter und noch leerer Schubladen. Einige Stunden zuvor hatte er im Nebel und in der Kälte eine dieser verdammten Schubladen geöffnet, ohne es zu wollen, und dann wusste man nie, wann das wieder aufhörte, im Kopf herumzugeistern, denn ein Gedanke schob den nächsten an, wie eine Reihe von Dominosteinen, die hochkant hintereinanderstehen. Möglich, dass Menschen, die nicht allein leben, diese Art von Problemen nicht haben, da sie darüber reden können, um in der realen Wirklichkeit zu bleiben. Gus hatte nur Mars, mit dem er um diese Zeit reden konnte, und obwohl das Tier Augen hatte, die mehr Intelligenz ausstrahlten als die der meisten Menschen, die Gus über den Weg liefen, hatte er ihm nie anders geantwortet als mit Schwanzwedeln oder Knurren oder einem flehenden Blick tief in die Augen seines Herrn.

Weiter war Gus mit seinen Gedanken nicht gekommen, als die Nachrichten anfingen, mit diesem Kerl, der immer so aussah, als würde er lächeln, selbst wenn er die übelsten Schweinereien von sich gab. Der Journalist begann bald, von Abbé Pierre zu berichten und den Weg des heiligen Mannes nachzuzeichnen. Es war noch immer sehr ergreifend. Gus stand auf und schaltete den Fernseher aus. Er nahm sich vor, am nächsten Tag zu Abel zu gehen, um sich dessen Kettensäge auszuleihen, in der Hoffnung, dadurch vielleicht ein bisschen Klarheit in die Dinge bringen zu können – sofern sich die Gelegenheit dazu böte.

Rauer Himmel

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