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Sindbads längste Reise, Teil 3 von 3

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Sindbads längste Reise, Teil 3 von 3

Roman von Alfred Bekker

Ein CassiopeiaPress E-Book

© by Author

© 2015 der Digitalausgabe by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

Der Umfang dieses Ebook entspricht 130 Taschenbuchseiten.

WO IST JARMILA?

Gut gelaunt kehrten sie zum Schiff zurück. Besonders Sindbad machte einen regelrecht erleichterten Eindruck. Der junge Sin beobachtete das sehr genau. Zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch aus Bagdad wirkte Sindbad der Seefahrer ziemlich gelöst und entspannt. „Ich bin mir sicher, dass man im Reich der Khmer in Angkor mehr über das Land der Riesenvögel weiß“, meinte er an Abdul gewandt. „Und sollte man dort nichts davon gehört haben, so mag es in der Zwischenzeit im Meer versunken sein.“

„Wie kommst du auf einmal darauf, dass das Land des Vogels Rock im Meer versunken sein könnte?“, fragte Abdul stirnrunzelnd, während sie gerade den Hafen erreichten.

„Das ist nur ein Gedanke. Dahergeredet, um zum Ausdruck zu bringen, dass ich überzeugt davon bin, dass wir nun auf dem richtigen Weg sind – und mit Hilfe der Karten des Königs Rajaraja auch sicher ans Ziel gelangen werden! Denn auch wenn das Land der Riesenvögel auf diesen Karten selbst nicht verzeichnet ist, so wird man doch gewiss in Angkor noch besser über jene Länder Bescheid wissen, die noch weiter im Osten liegen!“

Diese Worte erschienen Abdul offenbar vernünftig, denn er nickte zufrieden.

Branagorn meldete sich zu Wort und als er sprach, spitzte Sin die Ohren. „Ich habe auf meinen Reisen in die Länder des Ostens immer wieder Geschichten über Länder gehört, auf denen feuerspeiende Berge zu finden sind. Und so manch eine der vielen Inseln mag im Meer versunken oder daraus neu aufgestiegen sein.“

„Mir sind diese Geschichten neu“, sagte Sindbad daraufhin.

„So? Das wundert mich, da du doch viel weiter nach Osten vorgedrungen sein musst – vorausgesetzt, das Land des Vogels Rock ist wirklich dort zu finden...“

„...und er wirklich dort gewesen ist“, ergänzte Kapitän Firuz noch mit bissigem Unterton.

„Nun, das Inseln aufsteigen und versinken und dass Feuer und flüssiges Gestein aus der Erde kommen und sie entweder aus dem Wasser emporheben oder darin versenken können, wissen wir doch alle! Das geschieht doch auch in anderen Teilen der Welt, die unserer geliebten Heimat Bagdad näher sind“, erklärte Sindbad.

Während der junge Sin noch gebannt der Unterhaltung zuhörte, stieß Jarmila ihn an. „Ich werde dich heute Nacht wecken“, sagte sie. „Du solltest nicht zu tief schlafen und keine Geräusche beim Erwachen von dir geben...“

„Wie...“

„Hörst du mir überhaupt zu?“

Sin hatte Jarmilas Worte nur wie aus weiter Ferne mitbekommen. Er hatte tatsächlich der Unterhaltung der Männer zugehört und sehr intensiv darüber nachgedacht, was wohl die Bemerkung von Sindbad dem Seefahrer über versinkende und versunkene Inseln wohl zu bedeuten hatte und wieso der berühmte Mann diese Worte gerade jetzt gesprochen hatte. Davon abgesehen war Sin ziemlich überrascht, dass Jarmila ihn jetzt ansprach, wo sie doch nun schon eine ganze Weile kaum miteinander geredet hatten.

„Wieso willst du mich wecken? Wir wollen schließlich morgen aufbrechen und wer weiß, wann wir das nächste Mal eine ruhige Nacht haben. Schließlich kommen wir durch ein Kriegsgebiet, wenn wir nach Angkor segeln!“

Jarmila blieb stehen und Sindbad folgte ihrem Beispiel, während die anderen schon weiter zur Anlegestelle der 'Flügel des Windes' gingen. „Ach, Sin“, seufzte sie. „Ich dachte, du wolltest deine Münze wieder haben!“

„Ja, sicher!“

„Dann halte dich bereit. Schließlich wird heute Nacht die letzte Gelegenheit dazu sein, denn wie du schon richtig bemerkt hast, werden wir morgen aufbrechen.“

„Wir?“, fragte Sin.

„Wieso nicht 'wir'?“, fragte Jarmila zurück.

„Irgendwie hatte ich immer angenommen, du würdest vielleicht...“

„...hierbleiben?“

„Ist doch deine Heimat.“

„Es war meine Heimat“, korrigierte Jarmila. „Und das ist so lange her, dass es mir so erscheint, als wäre das in einem anderen Leben gewesen.“ Sie lächelte. „Man glaubt hier nämlich daran, dass man mehrfach auf die Welt kommt und immer wieder ein neues Leben lebt – mal als Mensch, mal als Affe oder vielleicht auch als Insekt.“

„Da ist mir ein immerwährendes Paradies schon lieber“, meinte Sin.

„Ich komme mit euch – obwohl ich tatsächlich eine Weile überlegt habe, ob es nicht besser wäre, hier zubleiben. Und was deine Münze betrifft...“

„Wie willst du das anstellen?“, unterbrach Sin sie, ehe sie dazu auch nur ein Wort hätte sagen können. „Ganz gleich, was du auch versuchst, entweder du beleidigst irgendwelche Götter und kommst hier in größte Schwierigkeiten, oder aber es klappt nicht!“

„Doch, mein Plan wird klappen. Ich habe allerdings nicht geahnt, dass wir schon so früh aufbrechen werden, deshalb muss ich jetzt auch nochmal weg.“

„Aber...“

„Falls jemand nach mir fragt, dann denk dir irgendwas aus, was mir größeren Ärger erspart.“

„Und was bitte schön, sollte das sein?“

Ihre Augen blitzten. „Dein Name ist doch Sindbad!“

„Ja schon, aber...“

„...und jemandem, der diesen Namen trägt, sollte es nicht schwer fallen, sich irgendeine Geschichte einfallen zu lassen. Und ansonsten kannst du ja deinen berühmten Namensvetter fragen, der wohl wie kein zweiter weiß, wie man mit einer Lüge eine andere verbirgt!“

Und damit war sie auch schon fort. Sie ließ Sin einfach stehen, winkte ihm noch einmal kurz zu und verschwand dann zwischen den Menschen, die sich in der Nähe des Hafens stets zu drängen pflegten.

Sin sah ihr einen Augenblick lang nach, konnte sie aber schon nach wenigen Momenten nirgends mehr entdecken. Er war verwirrt. Was hatte sie vor? Auf ihre geheimnisvollen Andeutungen konnte er sich wirklich keinen Reim machen.

„Wo ist Jarmila?“, fragte plötzlich eine Stimme neben ihm.

Es war niemand anderes als Sindbad der Seefahrer.

Sin seufzte tief. Da fragte ihn ja gleich der Richtige, ging es ihm durch den Kopf.

„Sie kommt sicher gleich nach“, sagte er.

Eine richtige Geschichte war das nicht. Und vor allem keine, die jemanden hätte überzeugen können, der ein so begnadeter Erzähler war wie Sins vielgerühmter Namensvetter.

––––––––


Glücklicherweise erkundigte sich niemand sonst nach Jarmila. Es fiel nicht weiter auf, dass sie nicht an Bord der 'Flügel des Windes' war, denn dort hatte man für den Rest des Tages ganz andere Sorgen. Kapitän Firuz war vollauf damit beschäftigt, sicher zu stellen, dass genug Vorräte und Ausrüstung an Bord waren. Neue Pfeile für Hauptmann Hassans Bogenschützen gehörten ebenso zu den Dingen, die gekauft werden mussten, als auch Stockfisch und haltbare Früchte, die man auf die Seereise mitnehmen konnte. Ein paar kleinere Reparaturen hatte der Kapitän bereits während der Zeit, die die Dau bereits im Hafen des Königs Rajaraja angelegt hatte, durchführen lassen. Bei jeder Seefahrt entstanden kleinere Schäden, die nicht weiter ins Gewicht fielen, wenn sie schnell genug entdeckt und ausgebessert wurden. So gab es zwischen den miteinander vernuteten Holzplanken immer wieder undichte Stellen, durch die Wasser ins Innere drang und die dann mit einem klebrigen Brei aus Pech und zerkleinerten Pflanzenfasern abgedichtet wurden.

Branagorn, Ibn Sina und Abdul aus Cordoba berieten ausgiebig über die Karten, die sie von König Rajaraja erhalten hatten. Oft war war auch Steuermann Omar dabei und dann wurde darüber beratschlagt, welchen Kurs man am besten segeln sollte.

Vor allen Dingen ging es um die Frage, wie weiträumig man die Gewässer vor der Küste von Sri Vijaya meiden sollte. Diese Gewässer ganz zu umfahren war kaum möglich und es gab überall relativ enge Durchfahrten zwischen verschiedenen Inseln, die man passieren musste. Dort kontrollierten offenbar die Feinde von König Rajaraja den Schiffsverkehr. Das bedeutete auch, dass man natürlich alles, was darauf hindeuten konnte, dass die Besatzung der 'Flügel des Windes' irgendwie mit dem König in Verbindung stand, verbergen musste.

Insbesondere galt das natürlich für die Karten – aber noch viel mehr für den Gesandtschaftsbrief, den man dem König von Angkor überbringen sollte.

Ein Bote von König Rajaraja brachte diesen Brief ein paar Stunden später zur Anlegestelle des Schiffs und übergab ihn Branagorn.

Kapitän Firuz eröffnete schließlich, dass es auf dem Schiff für solche Zwecke einen ausgehöhlten Balken gab, in dem sich ein Geheimfach befand. Es war von außen mit Pech so abgedichtet, dass nicht auffielt, dass sich dort die Öffnung befand. „Dort bewahre ich immer einen Teil meines Silbers auf“, erklärte Firuz. „Schließlich weiß man ja nicht, ob man unterwegs nicht von Piraten ausgeplündert wird, aber sofern einem zumindest das Schiff gelassen wird, steht man nicht ganz ohne Mittel da!“

Dort wurde also der Gesandtschaftsbrief verstaut.

Zwischenzeitlich zweifelte Ibn Sina die Genauigkeit der Karten und meinte, dass die Angabe der Himmelsrichtungen zum Teil widersprüchlich sei.

„Die Kartenzeichner waren sicherlich nicht so in den Künsten der Mathematik und der Geometrie bewandert wie du“, meinte daraufhin Abdul aus Cordoba. „So müssen wir sicherlich mit gewissen Ungenauigkeiten rechnen!“

„Aber dies ist doch das Mutterland der Mathematik“, erwiderte Ibn Sina. „In meiner Heimat Samarkand lehren Männer aus Indien diese Kunst und ich bin selbst Zeuge ihrer Fähigkeiten gewesen! Hier hat man schließlich das Zeichen für das Nichts erfunden, mit dem wir alle großen Zahlen schreiben!“

Ein Punkt oder ein Kreis.

Das war das Zeichen für das Nichts – die Null. Und obwohl Sin nicht lesen und schreiben konnte, so kannte er doch die Zahlen und wusste, welche Bedeutung dabei das Zeichen für das Nichts hatte. Sich Zahlen aufzuschreiben, das war selbst für einen Lastenträger wichtig, hatte sein Vater immer betont. Dass das Zeichen für das Nichts allerdings nicht von den Gelehrten in Bagdad, sondern von den ungläubigen Verehrern von heiligen Kühen und diebischen Affen erfunden worden war, hatte Sin nicht geahnt.

„Wir werden mit Ungenauigkeiten bei den Karten rechnen müssen“, stellte Branagorn klar. „Allerdings nicht wegen irgendwelcher fehlerhaften Berechnungen oder weil etwa die Zahlenkünstler des Königs Rajaraja nicht mindestens genauso gut wären, wie diejenigen des Kalifen, sondern weil es sich um Kopien handelt. Und beim Abzeichnen kommt es immer zu Fehlern.“

„Andererseits sind dies Kopien ja ursprünglich nicht für uns, sondern für die Kapitäne der Kriegsschiffe des Rajaraja angefertigt worden – und die wird man ja wohl nicht absichtlich ins Verderben geschockt haben“, gab Abdul zu bedenken.

––––––––


Der Abend brach herein. Die Dämmerung kam schnell und inzwischen war auch Jarmila zurückgekehrt.

Die Seeleute an Bord wollten von Sindbad dem Seefahrer erfahren, was er über die östlichen Gewässer wusste. Ob es stimmen würden, dass das Meer dort kochen würde und dass es rauchende Berge gäbe, in denen Drachen hausen würden. Und außerdem wollte der Steuermann Omar wissen, auf welchen Inseln genau, Sindbad denn schon einmal gewesen sei. „Wie sind ihre Namen?“

„Nun, jede Insel hat in jeder Sprache einen anderen Namen“, redete Sindbad sich heraus. „Aber ich habe tatsächlich einmal einen Berg gesehen, der rauchte und dann Feuer spie, so als wären hundert Drachen darin zu Hause, die im selben Moment ihr Feuer aus dem Maul herausschleudern würden! Es muss wohl auf jener Fahrt gewesen sein, auf der ich später unglückseligerweise am Strand des Riesenvogellandes ausgesetzt und zurückgelassen worden bin.

Wir standen alle an der Reling und ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen: Beinahe hätte uns das herumschwenkende Segel von Bord gerissen, weil wir nicht darauf geachtet haben. So gebannt waren wir von dem Anblick. Glücklicherweise waren wir in sicherer Entfernung von dem Drachenschlund der sich auftat. Heißes Gestein, glühend wie geschmolzenes Eisen in einer Schmiede, floss ins Meer und ließ das Wasser verdampfen. Ein gewaltiger Nebel bildete sich und als er sich senkte, war jenes Land, das wir gesehen hatten, nicht mehr da. So sehr wir auch in den nächsten Tagen danach Ausschau hielten, es blieb verschwunden und war offensichtlich durch die Kräfte aus dem Inneren der Erde hinab in die Tiefe des Ozeans gerissen worden.“ Sindbad machte nun eine bedeutungsschwere Pause, wie es seine Angewohnheit war. „Allah sei gepriesen dafür, dass er uns alle in Ländern hat zur Welt kommen lassen, in denen nicht die Gefahr besteht, dass das Land unter einem in den tiefsten Schlund der Hölle versinkt! Aber dieses Glück teilen nicht die Bewohner aller Länder auf der Welt!“

„Dann können wir ja nur hoffen, dass nicht ausgerechnet das Land des Vogels Rock plötzlich im Meer versinkt, bevor wir es gefunden haben“, mischte sich Kapitän Firuz mit einem spöttischen Unterton ein.

Sindbad hob daraufhin die Hände. „Nur Allah weiß, was geschehen wird!“, sagte er.

Sin hatte Sindbads Erzählung nachdenklich zugehört, während Jarmila sich zu ihm setzte. Sie band sich ihr Gewand zurecht.

„Worüber grübelst du?“, fragte sie.

„Wieso spricht Sindbad jetzt auf einmal so viel über versinkende Länder und rauchende Berge?“

„Das ist doch ganz eindeutig: Ich glaube, er hat keine Ahnung, wo das Land des Riesenvogels ist. Ich glaube, er weiß noch nicht einmal, ob dieses Land überhaupt existiert, denn er war mit Sicherheit niemals dort.“

„Wie kannst du so etwas sagen?“

„Du ahnst die Wahrheit doch selber, Sin. Auch wenn du es nicht auszusprechen wagst, weil du Sindbad den Seefahrer magst und in ihm dein großes Vorbild siehst.“ Sie beugte sich zu ihm, kam nahe an sein Ohr heran und flüsterte: „Ich möchte übrigens auch nicht in Sindbads Haut stecken, ehrlich gesagt! Stell dir vor, wie er dasteht, wenn er nach Bagdad zurückkehren muss, ohne ein Ei des Riesenvogels Rock gefunden zu haben!“

Sin schluckte.

„Ich glaube, das würde er nicht überleben!“

„Oder aber er redet sich irgendwie heraus – vorausgesetzt dieser Hauptmann Hassan hat ihm nicht vorher die Gurgel durchgeschnitten!“

Sin dachte über Jarmilas Worte nach. Ja, sie hatte recht. Über die Möglichkeit, dass Sindbad der Seefahrer sich alles nur ausgedacht hatte und er nie im Land der Riesenvögel gewesen war, hatte er auch schon nachgedacht. Dieser Gedanke war wie ein Gift, das langsam wirkte und dessen Wirkung erst nach und nach den ganzen Körper erfasste. „Es wäre aber so schön, wenn alles wahr wäre“, murmelte Sin schließlich.

––––––––


EIN NÄCHTLICHES ABENTEUER

Mitten in der Nacht weckte ihn Jarmila.

„Steh auf, Sin!“, flüsterte sie.

Eine leichte Brise strich vom Meer her über den Hafen und das Schiff.

Sin war hellwach. Keinen Ton hatte Jarmila bisher darüber verraten, was sie in dieser Nacht eigentlich vorhatte. Er sah nur ihren Schatten, der sich gegen das helle Mondlicht abhob. „Folge mir!“, flüsterte sie. „Und mach keinen Krach!“

„Die Wachen...“

„...sind eingeschlafen!“

Sin erhob sich nun und tat, was Jarmila von ihm verlangt hatte. Vollkommen lautlos huschte sie über das Deck der 'Flügel des Windes'. Nicht einen einzigen Laut konnte man hören. Es war so, als würden ihre Füße gar nicht richtig das Holz der Planken berühren.

Sin war da schon etwas schwerfälliger. Vor allem war er es nicht gewohnt, sich mit solcher Leichtigkeit und Behändigkeit zu bewegen. Aber er versuchte sein Bestes.

Jarmila wartete auf ihn, während er vorsichtig über die Reling stieg. Einer der Wächter, die Hauptmann Hasssan eingeteilt hatte, schnarchte gegen den Mast gelehnt vor sich hin. Es war Ahmad der Bogenschütze. Er schreckte plötzlich auf. Das Mondlicht fiel in sein Gesicht und ließ Sin die schreckgeweiteten Augen erkennen. Noch im selben Moment griff Ahmad zu seinem Bogen, den er stets bei sich trug. Inzwischen war auch sein Pfeilköcher wieder gut gefüllt, auch wenn Sin ihn am Tag darüber hatte fluchen hören, dass die Pfeile nichts taugten. Man sollte ihn doch besser selbst welche fertigen lassen. Aber dafür gab es an Bord der 'Flügel des Windes' kein Stück Holz, das erstens geeignet und zweitens übrig gewesen wäre.

Sin erstarrte mitten in der Bewegung. Er saß rittlings auf der Reling, wagte aber nicht den letzten Schritt an Land zu vollenden.

Ahmad runzelte die Stirn.

„Bist du es, Sin?“, fragte der Wächter.

Sin schlug das Herz bis zum Hals.

Er hatte bis dahin noch gehofft, dass ihn der Schatten vielleicht aus Ahmads Richtung unsichtbar machte, wenn er sich nicht bewegte. Aber das war offensichtlich nicht der Fall. Er war entdeckt und es hatte keinen Grund, sich jetzt noch tot zu stellen.

Sins Blick glitt zur Seite, wo gerade noch Jarmila gewesen war.

Aber von ihr war keine Spur mehr zu sehen.

Es war, als ob die Dunkelheit sie verschluckt hatte.

Ahmad war inzwischen bei ihm. „Ich dachte schon, da wäre einer dieser Hafendiebe, die es überall gibt, wo gut beladene Schiffe anlegen, bei denen man vermuten kann, dass sie wertvolle Dinge an Bord haben!“

„Ahmad“, begann Sin und dann stotterte er etwas herum. Er versuchte dem Bogenschützen zu erklären, dass er das Schiff in dieser Nacht unbedingt noch einmal verlassen müsste. Aber die Worte, die von seinen Lippen gebildet wurden, klangen für den Jungen selbst schon wie einziges Durcheinander. Nur er selbst konnte dem irgendeinen Sinn entnehmen, den schließlich wusste er ja als einziger, was er eigentlich sagen wollte.

„Ja, schon gut“, sagte Ahmad schließlich. „Es soll mich nicht kümmern, weswegen du in dieser Nacht unbedingt noch einmal an Land musst! Und wenn mich jemand fragt, habe ich dich nicht gesehen. Hauptsache, du bist morgen bei Sonnenaufgang wieder pünktlich hier auf dem Schiff, sonst wird man alle, die im Laufe dieser Nacht Wachdienst hatten, eine Reihe unangenehmer Fragen stellen.“

„Ich werde pünktlich sein“, versprach Sin jetzt mit einer für ihn selbst überraschenden Klarheit.

Ahmad der Bogenschütze verschränkte die Arme vor der Brust.

„Du bist schon einer! Erst versuchst du mich dazu anzustiften, einen Affen zu erschießen, der in diesem Land als heilig angesehen wird und jetzt verschwindest du einfach mitten in der Nacht!“

„Ja, ich weiß, ich meine.. ich...“

„Sei lieber still! Sonst weckst du den Kapitän auf – trotz des tiefen Schlafs, den der Perser hat!“

Sin nickte und schwieg. Im Moment wäre wohl ohnehin kein brauchbarer Satz über seine Lippen gekommen.

Ahmad machte eine Geste mit der Hand. „Na, geh schon! Was immer du auch vor hast und selbst dann, wenn es mit dieser kleinen Diebin zu tun haben sollte, die die ganze Zeit über an deiner Seite klebt! Ich habe dich nicht gesehen, Sin! Aber wenn du morgen nicht pünktlich bist oder dir etwas anmerken lässt, weil du andauernd gähnst, dann wird es der Kapitän merken, da kannst du sicher sein!“

Sin nickte nur und lief dann in die Dunkelheit – dorthin, wo er glaubte, dass Jarmila verschwunden war.

––––––––


Wenig später sah Sin lautlos eine Schattengestalt auf sich zukommen. Nur der Umriss war zu sehen, mehr nicht. Aber im nächsten Augenblick hörte er Jarmilas Stimme leise wispern. „Als Dieb würdest du kaum eine Woche überleben“, meinte sie. „Dann wärst du vermutlich verhungert! So laut und auffällig, wie du dich verhältst!“

„Das kann schon sein“, meinte Sin. „Aber ehrlich gesagt, habe ich auch niemals vor, jemals auf diese Weise meinen Lebensunterhalt zu verdienen!“

„Dann hoffe ich für dich, dass du das niemals nötig haben wirst, Sin“, antwortete Jarmila.

„Mein Vater sagt, dass niemand das nötig hat und es immer die Möglichkeit gibt, durch ehrliche Arbeit für alles Notwendige zu sorgen.“

„Dein Vater ist sicher ein aufrichtiger und ehrlicher Mann.“

„Das ist er.“

„Und das, obwohl sein Name Sindbad ist!“

„Wie?“

„Vergiss es. Aber wohin hat deinen Vater diese Ehrlichkeit gebracht? Er wird sein Leben lang nichts weiter als ein Lastenträger sein, der für andere Leute die Dinge trägt, die ihnen zu schwer sind.“

„Ist irgend etwas dagegen einzuwenden? Das ist ein ehrlicher Beruf, Jarmila.“

„Natürlich. Und eines Tages, wenn er alt und krank ist und sein Rücken krumm und seine Muskeln nicht mehr stark genug, als dass man ihm die schweren Lasten zumuten könnte, dann wird es ihm niemand danken. Man wird dann einfach sagen: Wir brauchen dich nicht mehr und aus einem ehrlichen Mann wird dann ein Bettler.“

„Nein“, erwiderte Sin.

„Nein?“

„Das wird nicht geschehen. Ich werde das verhindern und ihn versorgen, wenn es so weit sein sollte.“

„Wie willst du das machen, wenn du deine Pläne in die Tat umsetzt und irgendwo auf den Ozeanen dieser Welt eine schwer beladene Dau steuerst?“

„Und du glaubst wirklich, auf deine Art zu leben, ist man besser dran? Man braucht dich nur einmal zu erwischen! Wem wirst du noch in die Tasche greifen können, wenn man dir die Hände abgeschlagen hat?“

Daraufhin schwieg Jarmila. Sin konnte ihr Gesicht im Schatten nicht sehen, darum wusste er nicht, was jetzt wohl in ihr vorging.

„Komm jetzt“, sagte sie schließlich. „Und mach nicht so einen Krach wie gerade. Wenn dieser Ahmad nicht offenbar dein Freund wäre, dann würdest du deine Münze nie wiederbekommen!“

Jarmila und Sin schlichen durch die nächtlichen Straßen der der Hauptstadt im Reich des Königs Rajaraja. Es brannten kaum noch Lichter. Aus der Richtung des Palastes klang ganz Leise etwas Musik herüber, die sich hin und wieder mit dem Trompeten eines Elefanten mischte. Ansonsten war es sehr still. Grillen zirpten und durch die Straßen huschten Ratten, Hunde und Katzen. Von allen drei Arten gab es reichlich und nicht selten lieferten sie sich gegenseitig wilde Jagden.

Ab und zu begegneten ihnen auch Soldaten, die als Wächter eingeteilt waren. Aber die waren nicht besonders aufmerksam und wenn man sich im Schatten aufhielt und ruhig blieb, dann blieb man für sie unsichtbar.

„Warum sollen sie uns nicht bemerken?“, flüsterte Sin. „Wir haben doch nichts getan.“

„Aber sie könnten denken, dass wir etwas Unrechtes vorhaben. Und davon abgesehen habe ich keine Lust, mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Oder drängt es dich nicht, deine Münze endlich wieder in den Händen zu halten?“

„Sicher!“

„Na, also!“

„Trotzdem...“

„Sin! Der gerade, ehrliche Weg ist nicht immer der Beste! Das wirst du auch noch einsehen! Und was diese Soldaten angeht, so halten sie manchmal jemanden einfach fest, den sie in der Nacht auf der Straße aufgreifen und lassen ihn dann erst wieder frei, wenn seine Familie etwas dafür bezahlt. Gibt es vielleicht jemanden, der für dich bezahlen könnte?“

„Nein.“

So unauffällig wie möglich schlichen sie weiter. Sin versuchte dabei, genauso lautlos einen Fuß vor den anderen zu setzen, wie Jarmila das schaffte. Aber sie war das seit vielen Jahren und von klein auf gewöhnt, er hingegen nicht. Und das machte sich nun natürlich bemerkbar.

Den Weg, den Jarmila ihn führte, kannte Sin nicht. Er war sich sicher, diese Straßen bisher in der Zeit, da die 'Flügel des Windes' schon im Hafen lag, noch nicht betreten zu haben. Es waren enge Seitengassen, manche vollkommen von Schatten erfüllt, sodass man kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Nicht einmal das Mondlicht drang in diese engen Wege, die zwischen manchmal bis zu drei oder vier Stockwerke hohen Häusern herführten.

Doch dann erreichten sie eine breite Straße und das Mondlicht ließ die Kuppel eines Tempels auf eine Weise schimmern, dass man den Eindruck bekommen konnte, irgendeine besondere magische Kraft würde an diesem Ort wirksam sein.

Sin stand einen Moment lang der Mund vor Staunen offen.

Aber als er dann auf der Kuppel einen Affen herumturnen sah, da erkannte er, wo sie sich befanden.

Der Tempel des Affengottes Hanoman lag vor ihnen.

Vor dem Tempelportal standen ein paar Gestalten, die nur als Schatten erkennbar waren. Um deren Füße tobten ein paar Affen, die offenbar schwer unter Kontrolle zu bringen waren. Sin bemerkte mit Erstaunen, dass diese Affen – große, auf allen Vieren gehende Geschöpfe mit löwenhaften Mähnen und mächtigen Fangzähnen – mit dem kleinen Dieb, der ihm die Münze weggenommen hatte, so gut wie nichts gemein hatten. Die schattenhaft wirkenden Gestalten führten sie offenbar an Riemen und Geschirren. Wie es mit dem hier üblichen Glauben vereinbar war, dass man ihnen keine Freiheit ließ, wollte Sin gar nicht wissen. Aber andererseits zwangen Elefantentreiber den ihnen anvertrauten Tieren ja auch ihren Willen auf. Es schien offenbar nicht verboten zu sein, auch heilige Tiere zu erziehen und abzurichten.

Vielleicht waren die kleinen Affen im Tempel dazu aber einfach nicht gelehrig genug, dachte Sin.

„Komm! Keine Angst! Ich kenne diese Männer“, sagte Jarmila.

„Und ihre Raubtieraffen?“

„Die sind gut erzogen!“

„Na, das sieht aus der Ferne aber nicht unbedingt so aus! So mancher Hund scheint mir besser zu gehorchen!“

„Das täuscht. Diese Tiere sind sehr gelehrig. Sie werden dir deine Münze zurückbringen!“

„Wie?“

„Dazu sind sie abgerichtet! Meinst du, die Leute hier in der Stadt hätten Lust, sich andauernd beklauen zu lassen! Es gibt ganze Affenfamilien, die davon leben, dass sie den Menschen in der Stadt die Vorräte stehlen!“

„Und niemand geht dagegen vor?“

„Sie sind heilig. Aber wenn andere Affen sie vertreiben, dann ist das etwas anderes. Und so beauftragt man einen Affentreiber, der dann seine Tiere von der Leine lässt!!“

„Kein Wunder, dass Affen wie die im Tempel sich vor diesem Riesen fürchten!“

„Die Affen ziehen dann einfach ins Nachbarviertel, bis es den Leuten dort zu viel wird oder sie Geld genug für einen Affentreiber haben. Die werden jedenfalls nie beschäftigungslos.“

„Und woher... wieso hast du Geld für einen Affentreiber?“

Jarmila antwortete nicht. Sie waren jetzt so nahe an die Männer mit ihren Affen herangekommen, dass diese sie bemerkt hatten. Und die Affen auch. Die Tiere betrachteten Jarmila und Sin neugierig. Jarmila redete mit den Männern in deren Sprache und Sin bekam natürlich nichts davon mit, was besprochen wurde.

Das Mädchen holte ein paar Münzen hervor, zählte sie ab und gab sie einem der Männer.

Es wurde noch etwas geredet. Dann steckte der Mann, dem Jarmila das Geld gegeben hatte, die Münzen ein – bis auf eine.

„Er will wissen, ob diese Größe etwa hinkommt“, sagte Jarmila. Und als Sin zunächst nicht antwortete, fuhr sie fort. „Na, ob diese Münze etwa von der Größe und Beschaffenheit so aussieht wie deine!“

„Ja“, bestätigte Sin. „So ungefähr. Es war allerdings ein Loch in der Mitte und das Lederband...“

„Ja, das ist nicht so wichtig.“

„Hör mal!“

„Nein, sei jetzt still!“, unterbrach Jarmila ihn, ehe er etwas dazu sagen konnte.

Der Affentreiber zeigte die Münze einem seiner Tiere, ließ den Affen sie anfassen und daran riechen. Sogar darauf herumkauen. Am Schluss gab der Affe sie bereitwillig zurück.

„Manchmal kommt es vor, dass Affen von der Sorte, die im Tempel haust, auch wertvolle Dinge mitnimmt. Nicht nur Vorräte oder Abfälle, sondern zum Beispiel Hochzeitsschmuck oder dergleichen“, erklärte Jarmila. „Und dieser Affe ist dazu ausgebildet, so etwas zurückzuholen! Natürlich nur, wenn der Dieb die Münze noch hat und sie nicht irgendwo achtlos weggeworfen hat. Zum Beispiel in einen der Kanäle in der Stadt oder ins Hafenbecken.“

„Meinst du wirklich...?“

„Das war ein Scherz, Sin!“

„Kein guter!“

„Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass du so empfindlich bist.“

„Ich bin nicht empfindlich.“

„Nein“, murmelte Jarmila. „Dir bedeutet diese Münze wohl nur sehr viel.“

Der Affentreiber löste das Geschirr, an dem sein Haustier bisher festgemacht gewesen war. Die anderen Affen, die von seinen Begleitern an ihren Geschirren festgehalten wurden, zogen daran und tobten, so als wollten sie ebenfalls auf die Jagd gehen. Aber die Männer hatten in dieser Hinsicht offenbar einen anderen Plan.

Der losgelassene Affe stürmte die Stufen des Tempelportals hinauf. Dann sah man ihn nur noch in dem Schatten zwischen den Säulen verschwinden.

Es dauerte nur wenige Augenblicke und im Tempel brach ein Tumult aus, der ohrenbetäubend sein musste. Selbst auf der Straße waren die durchdringenden Affenschreie noch so laut zu hören, dass man sich am besten die Ohren zuhielt. Weitere Geräusche drangen aus dem Gebäude hervor.

Einer der Affentreiber sagte etwas in seiner Sprache.

„Er meint, dass da drin zur Zeit wohl wohl eine ziemlich dramatische Jagd im Gang ist“, übersetzte ihn Jarmila.

Sie sahen einen der Affen plötzlich über das Dach huschen. Und der freigelassene Jäger folgte ihm in Windeseile. Mit traumwandlerischer Sicherheit schnellten sie über die glatte Kuppel und kletterten anschließend kurz hintereinander durch eines der offenen Fenster wieder ins Innere. Ein Alabaster-Vorhang wurde dabei herabgerissen.

Erstmalig mischten sich in den Chor der schreienden Affenstimmen nun auch Laute, die Sin für menschlich hielt. Er war sich allerdings nicht ganz sicher. So deutlich war das dann doch nicht zu unterscheiden.

AUF NACH ANGKOR

Als dann kurze Zeit später der freigelassene Jagdaffe aus dem Tempel herauslief, folgten ihm ein halbes Dutzend wütender Affen aus dem Inneren des Tempels.

Dies war nun der Augenblick, in dem die Affentreiber ihre anderen Tiere freiließen.

Knurrend und die Zähne fletschend schnellten sie auf die sehr viel kleineren Tempelaffen zu. Schreie gellten. Die Tempelaffen huschten so rasch sie konnten zurück zum Tempelportal. Die Angreifer folgen ihnen.

Ein Pfiff des Affentreibers sorgte dafür, dass die Angreifer zurückkehrten – wenn auch widerstrebend. Es war deutlich erkennbar, dass sie die Jagd viel lieber fortgesetzt hätten.

Aber bei aller Heiligkeit, die ihnen nach dem Glauben der Menschen im Land des Königs Rajaraja innewohnen mochte, waren sie doch gut genug dressiert, auf den Pfiff ihres menschlichen Herrn zu hören. Vielleicht lag das aber auch daran, dass der ihnen sofort nach ihrer Rückkehr Leckereien zusteckte, sodass sie sich bereitwillig an die Geschirre legen ließen.

Jener Affe, der zuerst in den Tempel gestürmt war, um den Dieb zu jagen, hielt etwas in der Hand. Selbst in der Dunkelheit erkannte Sin gleich die herabhängenden Enden des zerrissenen Lederbandes. Der Affentreiber gab seinem Schützling ein paar besonders große und offenbar sehr schmackhafte Früchte. Sin wusste nicht, was das für Früchte waren. Sie wuchsen offenbar nur in diesem Land und waren ihm daher unbekannt. Der Affe war jedoch von solcher Gier erfüllt, dass er die Münze bereitwillig dafür hergab.

Der Affentreiber gab sie Jarmila und diese reichte sie Sin weiter.

Abgesehen davon, dass das Lederband zerrissen war, hatte sie nur eine Druckstelle davongetragen. Vermutlich eine Bissspur, überlegte Sin. Fast so, als hätte der Dieb die Echtheit mit den Zähnen überprüfen wollen, wie man es manchmal auch bei Händlern in den Basaren von Bagdad beobachten konnte.

Während Jarmila noch ein paar Worte mit den Affentreibern wechselte, kamen jetzt zwischen den Portalsäulen des Tempels Gestalten hervor. Sie trugen Fackeln in den Händen und Sin sah an den orangerot gefärbten Gewändern sofort, dass es sich um die Mönche handelte, die er auch schon am Tag zuvor dort gesehen hatte.

Hatten sie da noch sehr sanftmütig und zurückhaltend gewirkt und sich selbst von den äußerst frechen Affen nicht provozieren lassen, so kamen sie jetzt mit sehr energisch wirkenden Schritten herbei.

Von ihren Worten verstand Sin natürlich nicht ein einziges Wort – aber dass sie sehr aufgebracht waren, war nicht zu überhören. Einer von ihnen ruderte mit dem freien Arm, während er mit der anderen seine Fackel hielt. Er schien sich sehr aufzuregen und schimpfte den Anführer der Affentreiber an. Die Affen knurrten und glaubten wohl, dass die Priester auch sie angreifen wollten. Nur mit Mühe konnten die zähnefletschenden Tiere zurückgehalten werden.

Der Anführer der Affentreiber zuckte mehrfach mit den Schultern, versuchte etwas zu sagen und gleichzeitig einen der Affen am Geschirr zu halten, was beides zusammen wohl nicht so ganz einfach war.

„Es passt den Mönchen wohl nicht, dass die heiligen Tempelaffen in ihrer Ruhe gestört wurden“, meinte Jarmila. „Und die Priester natürlich ebenfalls!“

„Ich dachte, alles was Affen gegen andere Affen unternehmen ist im Sinne eures Glaubens in Ordnung“, meinte Sin.

„Naja, vielleicht gibt es auch dazu unterschiedliche Ansichten“, gab Jarmila zu. „Ich schlage vor, wir machen uns ganz schnell aus dem Staub. Das könnte hier noch einiges an Ärger geben!“

Inzwischen waren durch den Krach auch die Bewohner einiger umliegender Gebäude wach geworden. Aufgeweckte Esel und Elefanten stießen ihre jeweils typischen Laute aus und dieses Getöse mischte sich dann mit einem immer mehr anschwellenden Chor von Stimmen. Männerstimmen, Frauenstimmen, bald auch Kinderstimmern. Hier und da wurden bereits Öllampen entzündet. Die ersten Menschen strömten auf die Straße, um zu sehen, was sich dort ereignet hatte.

„Komm!“, sagte Jarmila an Sin gewandt. „Sei froh, dass du deine Münzte wiederbekommen hast.“

„Bin ich ja!“

„Der Rest geht uns nichts mehr an!“

„Aber der ganze Aufruhr ist doch nur unseretwegen geschehen! Beziehungsweise deinetwegen!“

„Das heißt ja nicht, dass wir uns das bis zum Ende ansehen müssen! Und morgen früh sind wir sowieso nicht mehr in der Stadt, Sin! Dann kann es uns gleichgültig sein, was hier geschieht!“

Jarmila zog Sin mit sich. Sie verschwanden in der Dunkelheit. Sin drehte sich zwischenzeitlich noch einmal um. Die Priester schienen wirklich sehr aufgebracht zu sein und auch einige der Menschen aus den benachbarten Häusern schimpften laut herum. Die Affentreiber sahen zu, dass auch sie fortkamen. Einer der Affen sprang einen der Priester an, der ihm wohl zu nahe gekommen war, und warf diesen zu Boden. Der Affentreiber konnte ihn erst danach am Geschirr zurückziehen.

Als Sin und Jarmila schließlich in eine Seitengasse eingebogen waren, fragte Sin: „Woher hattest du eigentlich das Geld, um den Affentreiber zu bezahlen?“

„Ach, das ist jetzt nicht so wichtig.“

„Mir aber schon.“

„Lass uns jetzt erst einmal zusehen, dass wir zum Schiff zurückkommen!“

Sin blieb stehen. „Ich will eine Antwort“, verlangte er unmissverständlich.

Jarmila blieb jetzt ebenfalls stehen – glücklicherweise so, dass das Mondlicht ihr Gesicht erhellte und Sin genau erkennen konnte, was sich darin abspielte. Sie verdrehte die Augen.

„Da kam so ein reicher Geschäftsmann des Weges. Ein Gewürzhändler, denke ich, denn er trug das Amulett der Gilde.“

„Ja, und? Der wird dir doch sicher nicht einfach so die nötigen Münzen gegeben haben!“

„Sagen wir so: Er trug sie aufreizend und leicht erreichbar bei sich, dass ich einfach nicht widerstehen konnte. Anders hättest du deine Münze nicht wiederbekommen, Sin, daran solltest du denken! Und abgesehen davon sagt Buddha, dass Besitz nur belastet. Also habe ich ihn in gewisser Weise nur von einer Last erlöst, findest du nicht?“

Sin war fassungslos.

Er schüttelte nur mit dem Kopf. Einige Augenblicke war er nicht in der Lage, auch nur einen einzigen Ton herauszubringen. Er hatte sich zwar schon so ungefähr vorstellen können, wie Jarmila an das nötige Geld gekommen war, um die Affentreiber zu bezahlen, aber es jetzt so offen über ihre Lippen zu hören, das versetzte ihm doch einen Stich. „Du hattest versprochen, nicht mehr zu stehlen“, sagte er.

„Ich hatte versprochen, DICH nicht zu bestehlen, Sin. Das ist was ganz anderes. Und davon abgesehen habe ich doch auf diese Weise einen anderen Diebstahl rückgängig gemacht, so dass sich das wieder ausgleichen dürfte, wenn irgendwann einmal am Tag des Gerichts darüber entschieden wird, ob ich ins Paradies gelange oder nicht!“

„Du redest dich aus allem heraus, was?“

„Das tun andere auch“, verteidigte sich Jarmila. „Dein berühmter freund Sindbad der Seefahrer zum Beispiel. Allerdings – bei ihm bewunderst du das – bei mir beklagst du dich darüber. Bei Allah, Shiva, Vishnu und allen anderen Göttern, ganz gerecht ist das wohl nicht, findest du nicht auch?“

Sie gelangten zum Schiff. Inzwischen hatte nicht mehr Ahmad Wachdienst, sondern stattdessen zwei andere der Soldaten, die unter dem Kommando von Hauptmann Hassan standen. Doch die saßen am anderen Ende des Schiffes und waren damit beschäftigt, Schach zu spielen.

„Diesmal bitte etwas vorsichtiger“, wisperte Jarmila, bevor sie behände und vollkommen lautlos über die Reling stieg.

Ohne dass die Wachen sie bemerkten, gelangten sie an Bord.

Jenseits war bereits ein schwacher Schimmer zu sehen, der über den Horizont schien. Nicht mehr lange und die Sonne würde emporsteigen und ihre ersten Strahlen dunkelrot auf dem Meer glitzern lassen. Viel Zeit zum Schlafen haben wir jetzt nicht mehr!, ging es Sin durch den Kopf. Seine Hand umschloss die Münze, die er fest umklammert hatte, seit Jarmila sie ihm gegeben hatte.

Er war so aufgewühlt, dass er an Schlaf sowieso nicht einmal hätte denken können!

Am Morgen stach die 'Flügel des Windes' in See.

Die Karten – oder besser gesagt: die Abschriften der Karten – wiesen eine Reihe von sehr gut erkennbaren Landmarken aus, sobald man auf eine Küste im Westen stieß. Man konnte sie nicht verfehlen, so hieß es immer wieder in den Gesprächen, die vor allem Branagorn und Ibn Sina mit Omar dem Steuermann führten.

Abdul aus Cordoba wirkte hingegen sehr verschlossen und war die ganze Zeit über in die Lektüre eines Buches vertieft.

Tage gingen dahin, aber der Wind stand gut und blies kräftig. So kam die 'Flügel des Windes' gut voran. Am Tag orientierte man sich an der Sonne, in der Nacht an den Sternen. Zumindest die Richtung konnte man auf diese Weise einigermaßen einhalten, auch wenn Strömungen sicher dafür sorgten, dass ein Schiff wie die 'Flügel des Windes' ein ganzes Stück abgetrieben wurde.

So lange Zeit ohne ein Ufer zu sehen, machte sowohl Kapitän Firuz, als auch seinen Steuermann Omar ziemlich nervös. Einem Großteil der Besatzung ging es nicht anders. Sehr sehnsüchtig wartete man darauf, dass endlich die Küste am Horizont auftauchte, die in den Karten verzeichnet war.

Branagorn mahnte zwischendurch zur Ruhe. „Wir sollten froh sein, dass wir die Richtung wissen und dass man es als ziemlich gewiss annehmen kann, dass da irgendwo hinter dem Horizont tatsächlich jene Küste auftauchen wird, die wir ansteuern“, meinte der Mönch. „Erinnert euch daran, wie es nach dem Überfall der Piraten gewesen ist! Da hatten wir diese Gewissheit nicht und wir hätten gut und gerne auch einfach ins Leere fahren können – geradewegs in ein nie endendes Meer hinein, in dem es überhaupt kein Land gegeben hätte!“

Aber das konnte kaum jemanden an Bord wirklich beruhigen. Die Ungewissheit nagte an fast jedem an Bord. Lediglich Branagorn schien da eine Ausnahme darzustellen. Und was Kapitän Firuz anging, so war sein Gesicht ohnehin so hart geschnitten, dass er selbst dann ziemlich finster wirkte, wenn er ausnahmsweise mal lächelte. Allerdings kam letzteres beim Kapitän der 'Flügel des Windes' nur ausgesprochen selten vor.

Immerhin hatte das Schiff weit mehr Vorräte an Bord, als an jenem Tag, da der Überfall der Piraten stattgefunden hatte. Und so hätte man noch eine ganze Weile aushalten können, ohne gezwungen zu sein, zwischendurch an Land zu gehen.

Schließlich flogen ihnen ein paar Seeschwalben entgegen.

„Ein sicheres Zeichen dafür, dass wir auf Land zufahren“, meinte Omar der Steuermann dazu. „Keine dreißig Meilen und wir erreichen die Küste!“

Die Küste segelten sie dann in südlicher Richtung entlang. Die auf den Karten eingezeichneten Merkmale waren offenbar in der Ferne zu sehen. Ibn Sina und Branagorn wirkten sehr zufrieden und selbst Kapitän Firuz schien etwas unverkrampfter und gelöster zu sein als sonst.

Sindbad der Seefahrer wiederum verbrachte fast die gesamte Zeit am Bug des Schiffs und blickte angestrengt zum Ufer.

„Hoffst du, eine der Küsten wiederzuerkennen, an denen du schon gestrandet bist?“, fragte ihn Abdul aus Cordoba, als dieser einmal die Lektüre seines Buchs unterbrach und sich die Beine etwas vertrat.

„Ach, ich bin schon an so vielen Küsten gewesen“, antwortete Sindbad daraufhin. „Da glaubt man immer und überall, irgend etwas wiederzuerkennen, obwohl es sich dabei in den meisten Fällen wohl um Sinnestäuschungen handelt! Aber dieses Mal bin ich sehr zuversichtlich, dass wir auf dem richtigen Weg sind“

„Und woher kommt deine Zuversicht?“, fragte Abdul.

„Die Art der Bäume, die dort am Ufer wachsen, kommt mir bekannt vor. Ich glaube zwar nicht, dass wir in nächster Zeit einen Riesenvogel hinter ihren Wipfeln sich erheben sehen werden, aber ich nehme an, dass dieselbe Art von Bäumen und Pflanzen auch an anderen Küsten und Inseln dieser Gegend beheimatet sind und ich sie deswegen kenne.“

„Halte auf jeden Fall die Augen offen, Sindbad.“

„Es ist wirklich mein größter Wunsch, dass dem Kalifen geholfen werden kann“, erklärte Sindbad. „Und so war ich hier stehe, ich werde alles tun, was in meiner Macht liegt, um das Land des Riesenvogels Rock wiederzufinden.“

„Davon bin ich überzeugt.“

„Nur, wenn es zu flüssigem Gestein geworden und auf den Grund des Meeres gesunken sein sollt, dann mag das Allahs Wille sein, gegen den niemand von uns etwas auszurichten vermag!“

„Du redest in letzter Zeit sehr oft von der Möglichkeit, dass das Land des Vogels Rock versunken sein könnte!“

Sindbad stutzte zunächst, runzelte für einen kurzen Moment die Stirn. „Ich tue dies nur deswegen, weil solche Dinge nun einmal in diesen Gewässern häufig vorkommen und man damit rechnen muss! Meine eigenen Erlebnisse dazu habe ich ja schon geschildert...“

„Ja, das hast du...“

„Ich sage doch nur eins: Wenn es Allah Wille ist, dass wir ein Ei des Vogels Rock finden, so wird das auch geschehen. Wenn es aber nicht sein Wille ist, dass dies geschieht, so müssen wir dies wohl oder über übel annehmen! Dann ist es eben Schicksal!“

„Pass nur auf, dass es nicht zu deinem Schicksal wird, wenn wir das Land des Vogels Rock nicht finden“, erwiderte Abdul.

Die 'Flügel des Windes' machte ihrem Namen alle Ehre und legte schnell viele Meilen zurück. Die Segel waren stets vom Wind gebläht und schließlich erreichte man eine Meerenge. Schon von weitem waren dort die Segel von Schiffen zu sehen. Wie Schmetterlingsflügel wirkten sie auf dem blau glitzernden Wasser.

Und die Banner, die an den Masten wehten, trugen andere Zeichen als jene, die im Hafen des Königs Rajaraja zu sehen gewesen waren.

„Das müssen die Schiffe des Reiches Sri Vijaya sein“, glaubte Branagorn. „Die Banner stimmen mit den Zeichen überein, die auf den Karten dieses Reich bezeichnen!“

„Dann wollen wir hoffen, dass sie uns weiter nach Angkor segeln lassen – und nicht etwa für Spione aus dem Chola-Reich halten“, meinte Kapitän Firuz düster.

Schon bald kamen mehrere der Schiffe auf die 'Flügel des Windes zu. Kapitän Firuz ließ die Segel einholen und in der Nähe der Küste einen Anker werfen.

Ein Schiff, dessen Größe und Bauweise der deiner arabischen Dau alles in allem sehr ähnlich war, segelte nahe heran. Auch dort wurden jetzt die Segel heruntergelassen. Ruderer sorgten dafür, dass es so nahe an die 'Flügel des Windes' herangebracht werden konnte, dass es möglich war, ein Fallreep herunterzulassen und damit die beiden Schiffe wie mit einer Brücke zu verbinden.

Hauptmann Hassan und seine Soldaten wurden schon ziemlich unruhig.

„Niemand wehrt sich!“, rief Abdul aus Cordoba. „Wir sind ohnehin in der Unterzahl! Keiner greift zur Waffe! Verhaltet euch ruhig, dann wird uns wahrscheinlich nichts geschehen!“

Ein Dutzend schwer bewaffneter Männer stürmten über das Fallreep an Bord der 'Flügel des Windes'. Sie trugen Schwerter und Speere. Ihre Kleidung bestand aus bunten Tüchern, die unter Harnischen hervorschauten, die aus sehr dichtem Flechtwerk gemacht waren und sicherlich Pfeilschüsse oder Hiebe abmildern konnten. Innerhalb weniger Augenblicke hatten sie sich überall auf dem Schiff verteilt.

Ihre Stimmen redeten durcheinander. Niemand konnte sie verstehen. Nicht einmal Branagorn. Er versuchte es in mehreren Sprachen, die er offenbar auf seinen weiten Reisen gelernt hatte, aber der Anführer der fremden Krieger sah ihn nur stirnrunzelnd an.

Dann sagte er ein paar Worte in einer anderen Sprache, die ihm selbst wohl auch nicht so recht geläufig war. Zumindest kam es Sin so vor, als er ihm zuhörte. Der Anführer der Seekrieger aus Sri Vijaya betonte nämlich jedes Wort sehr deutlich und sprach viel langsamer und abgehackter als zuvor, so als müsste er manchmal erst überlegen, bevor ihm ein passendes Wort einfiel.

Firuz antwortete ihm.

„Dieser Mann spricht offenbar etwas Persisch“, stellte er fest.

„Damit habe ich es gar nicht erst versucht“, knurrte Branagorn, der wohl gar nicht erwartet hatte, dass so fern von Persien entfernt jemand zumindest ein paar Worte dieser Sprache über die Lippen brachte.

Aber offenbar hatte sich das Persische im Laufe der Zeit noch weiter nach Osten verbreitet, als zu vermuten gewesen war.

Allerdings hatte der Anführer der Männer aus Sri Vijaya wohl eine ziemlich eigentümliche Aussprache und verwendete manche Wörter nicht so, wie man es in Persien gewohnt war. Aber immerhin gab es mit Abdul, Branagorn, Ibn Sina und Kapitän Firuz ja vier Männer an Bord, die dieser Sprache mächtig waren.

Jarmila, die ja in Hormus gelernt hatte, sich auch einigermaßen darin verständlich zu machen, zählte da natürlich nicht mit. Auf die Meinung einer Diebin hätte wohl in diesem Moment auch niemand gehört, wenn es darum ging, zu erraten, was im Einzelnen gerade gemeint war.

Der Kommandant der Männer aus Sri Vijaya ließ das gesamte Schiff durchsuchen. Jeder Winkel wurde überprüft. Es wurden Fässer geöffnet und die Korken von Krügen herausgezogen, um ermitteln zu können, was sich darin befand. Selbst die Stockfische wurden umgeschichtet und jeder einzelne begutachtet, so als wären dazwischen vielleicht geheime Botschaften versteckt, die in diesem Krieg eine Rolle spielen konnten.

Schließlich schien der Kommandant zufrieden zu sein.

Mit einem bellend klingenden Befehl scheuchte er etwa die Hälfte seiner Männer zurück an Bord seines Schiffes. Die anderen blieben – die Hand ständig am Schwertgriff oder die Speerspitze auf die Besatzung gerichtet.

„Wohin segelt ihr?“, übersetzte Branagorn seine Frage für diejenigen, die den Kommandanten des anderen Schiffs nicht verstanden. Insbesondere galt das wohl für Sindbad den Seefahrer. Aber Branagorn schien großen Wert darauf zu legen, dass gerade er mitbekam, was gesprochen wurde.

„Wir suchen das Land der Riesenvögel und haben Hinweise darauf erhalten, dass man eventuell in Angkor mehr darüber weiß“, erklärte Branagorn.

„Bist du der Herr dieses Schiffes?“, fragte der Kommandant stirnrunzelnd. „Und woher kommt ihr?“

„Aus dem fernen Bagdad“, sagte Branagorn.

„Seid ihr nicht im Reich von König Rajaraja gewesen?“, fragte der Kommandant anschließend.

„Doch. Und wir wissen, dass er mit den Insel des Ostens im Krieg ist. Aber mit diesen Dingen haben wir nichts zu tun.“

„Ihr seid Araber?“

„Die meisten von uns.“

„Ihr seid nicht die ersten arabischen Schiffe, die noch weiter in den Osten gefahren sind. Manche sollen sogar bis zur Küste des Reiches der Mitte gekommen sein! Und einer von ihnen hat sich besonderen Ruhm erworben...“

„Es ist möglich, dass dies Sindbad der Seefahrer ist“, mischte sich nun Firuz der Perser ein. Und dabei deutete er auf den sichtlich erschrockenen Sindbad, der alles andere als begeistert davon war, so in den Vordergrund gestellt zu werden – zumal er den Großteil der Unterhaltung nicht verstehen konnte und auf Branagorns immer etwas verspätete Übersetzung warten musste, bis er einigermaßen im Bilde war.

Der Kommandant ging auf Sindbad zu, musterte ihn von oben bis unten.

„Die Namen der Araber sind oft schwer auszusprechen und zu merken“, übersetzte Branagorn anschließend seine Worte. „Aber es kann schon sein, dass der Mann, der so weit in den Osten gesegelt ist, Sindbad geheißen hat. Aber das ist schon Jahre her...“

„Nun, ich war einige Jahre kaum auf den Meeren der Welt unterwegs“, murmelte Sindbad.

„Wäre es denn möglich, dass ich von dir gehört habe?“

„Ja“, bestätigte Sindbad. „Ich war auch bei den Inseln mit den rauchenden Bergen und wurde Zeuge davon, wie eine von ihnen versank!“

Dies machte auf den Kommandanten sichtlich Eindruck. Schon an der Veränderung in seinem Gesichtsausdruck war das mehr als deutlich zu sehen. Er schien jetzt restlos davon überzeugt zu sein, dass er es bei Sindbad mit dem großen Seehelden zu tun hatte, von dem er gehört hatte und über den offensichtlich auch in diesem Teil der Welt Geschichten im Umlauf waren.

„Du kennst die Inseln mit den rauchenden Bergen??“, fragte der Kommandant also. „Dann hast du diese Gewässer tatsächlich befahren. Und es gab wirklich vor einigen Jahren Inseln, die im Meer versunken sind. Die Götter der See haben sie verschlungen. Shivas Zorn hat sie zerstört und aus dem Inneren der Erde hat sich das geschmolzene Gestein ins Meer ergossen und dazu geführt, dass es verdampfte, ehe schließlich das ganze Land verschwand.“

„So wahr ich Sindbad der Seefahrer war, die Art, wie du redest kam mir gleich ebenso bekannt vor, wie die Bäume an den Ufern eures Landes! Und auch wenn ich von dem, was deine Männer sagen, nicht ein einziges Wort zu verstehen vermag, so ist es doch wie die Melodie eines bekannten Liedes, dass man vor langer Zeit gehört hat und an die man sich wieder erinnert.“

Branagorn übersetzte Sindbads schon in ihrem Original etwas verworrene Worte des berühmten Seefahrers und irgendwie schien der Kommandant der Krieger aus Sri Vijaya auch in der Übersetzung nicht so ganz zu begreifen, was Sindbad nun eigentlich hatte ausdrücken wollen.

Der junge Sin aber, der das alles mitanhörte, war wie vom Donner gerührt! Hatte er seinem großen Idol vielleicht doch Unrecht getan, als er am Wahrheitsgehalt seiner Worte gezweifelt hatte? Selbst die Menschen von Sri Vijaya schienen ihn zu kennen und er war anscheinend auch tatsächlich bereits in diesen Gewässern umhergesegelt, denn wie sonst war es zu erklären, dass er so viele Einzelheiten darüber wusste? Dass er nur andere davon hatte erzählen hören, schien Sin dann doch reichlich unwahrscheinlich zu sein.

„Wir haben nichts an Bord eures Schiffes gefunden, was darauf hindeuten würde, dass ihr Spione der Chola seid“, meinte der Kommandant schließlich. „Wäre es anders gewesen, so hätte man euch gewiss getötet!“ Er lächelte breit und ließ den Blick schweifen und wandte sich dann noch einmal direkt an Sindbad. „Es ist mir eine Ehre, einen so großen Mann kennen gelernt zu haben“, übersetzte Branagorn dann die Worte, die der Kommandant sagte. „Sich weit von seiner Heimat zu entfernen ist mutig. Und noch mutiger ist es, nahe an eine Insel mit einem rauchenden Berg heranzusegeln. Manche sagen auch, dass das nur lebensmüde Narren tun.“

„Frag ihn doch, was er über das Land der Riesenvögel gehört hat“, mischte sich Sin ein. Er war erstaunt über sich selbst und als plötzlich alle Blicke auf ihn gerichtet waren, bereute er schon, sich nicht beherrscht und seinen Gedanken für sich behalten zu haben.

Der Kommandant sah ihn mit einem erstaunten Blick an. Natürlich hatte er Sins Worte nicht verstehen können, denn der Junge hatte Arabisch gesprochen. Aber Branagorn übersetzte sie.

„Es gibt überall auf den Inseln im Osten Gerüchte über ein solches Land“, sagte der Kommandant schließlich. „Aber niemand weiß, wo es liegt und genauso wenig kann niemand sagen, ob das alles vielleicht nur Geschichten sind, mit denen Seefahrer anzugeben versuchen.“

„Und in Angkor?“, fragte Ibn Sina. „Glaubst du, dass es dort Riesenvögel gibt?“

„Ich war nie in Angkor“, sagte der Kommandant. „Um ehrlich zu sein, habe ich die Küsten von Sri Vijaya nie weiter als ein paar Seemeilen weit verlassen. Ein Kriegszug auf eine der östlichen Inseln war die weiteste Reise die ich je unternahm. Von Angkor weiß ich nur, was man darüber erzählt.“

„Und was erzählt man?“, fragte Ibn Sina.

Sin war froh, dass der junge Gelehrte diese Frage stellte, den ihn interessierte das ebenfalls.

„Es ist eine Stadt, die für die Götter erschaffen wurde“, sagte der Kommandant. „Das sagt man. Und wenn dort die Götter selbst wohnen, dann ist es auch möglich, dass es dort große Vögel gibt oder man über deren Heimat Bescheid weiß. Ehrlich gesagt, an einem Ort, der eine Wohnstatt der Götter sein soll, ist alles möglich.“

Ja, dachte Sin. Da hat er wohl etwas Wahres gesagt!

Und gleichzeitig dachte er daran, was man ihm von klein auf über die Götter anderer Völker immer beigebracht hatte: Dass sie nämlich nichts als Ausgeburten des Aberglaubens waren und dass sie eigentlich gar nicht existierten.

MEISTER HENG

Die Männer aus Sri Vijaya verließen die 'Flügel des Windes' wieder und Kapitän Firuz gab daraufhin Befehl, wieder das Segel hochzuziehen und Fahrt aufzunehmen.

Das Schiff kreuzte durch die Meerenge, vorbei an den den anderen Schiffen, die hier patrouillierten und offenbar die Aufgabe hatten, jedes Schiff zu kontrollieren, das diesen Weg nahm.

„Es wird nicht das letzte Mal sein, dass Krieger aus Sri Vijaya an Bord kommen“, verkündete Branagorn. „Ich möchte, dass sich jeder an Bord dann genauso ruhig verhält wie es diesmal der Fall war!“

„Mach dir um die Besatzung meines Schiffs keine Sorgen“, gab Kapitän Firuz zurück. Der Perser schüttelte dann den Kopf und kratzte sich am Kinn. „Persisch nannte dieser Kerl die Sprache, die er benutzte! Dabei konnte man seine Worte kaum wiedererkennen!“

In den nächsten Tagen wurde die 'Flügel des Windes' noch viermal von den Seekriegern aus Sri Vijaya angehalten und kontrolliert. Mal geschah dies sehr eingehend und peinlich genau. Mal eher oberflächlich.

Und manchmal konnte man in der Ferne sehen, dass es anderen Schiffen ebenso erging.

Die Meerenge ließ die Dau bald hinter sich.

Sin blickte hinaus auf das glitzernde Meer und dachte an Angkor.

Schon das wenige, was er bisher über diese Stadt gehört hatte, reichte aus, um sich diesen Ort auszumalen. Und in Sins Vorstellung nahm diese Stadt der Götter dabei immer fantastischere und großartigere Formen an.

„Am Ende wirst du enttäuscht über das sein, was dich tatsächlich erwartet“, meinte Jarmila, der er davon erzählte. „Was soll Angkor schon anders sein, als eine große Stadt mit großen Tempeln eben?“

„Ja, aber nach allem, was wir gehört gaben, muss sie gewaltige Ausmaße haben“, gab Sin zu bedenken.

„Etwas größer als die Hauptstadt von König Rajaraja!“, sagte Jarmila. „Das wird es sein! Und vielleicht sind die Tempel mancher Gottheiten etwas größer als dort, dafür wird es andere Götter geben, die nur einen kleinen Tempel erhalten, weil sie den Menschen dort weniger wichtig sind.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich sage dir voraus, dass es dich kaum beeindrucken wird, was wir vorfinden. Du kommst doch schließlich aus Bagdad, der Mutter aller Städte!“

Wochen vergingen, ehe die 'Flügel des Windes' schließlich in einem kleinen Hafen anlegte, wo die Vorräte aufgefrischt wurde. Die Menschen sprachen dort eine unbekannte Sprache, die keinem an Bord bekannt war. Das Verhandeln um die Preise für die an Bord genommenen Vorräte wurde dadurch natürlich etwas schwieriger. Branagorn vermutete dennoch, dass es sich um die Sprache handeln musste, die im Reich von Angkor gesprochen wurde. Wie er diese Vermutung begründen konnte, war Sin nicht so recht klart. Aber der Mönch schien sich da ziemlich sicher zu sein und auch Abdul aus Cordoba bekannte, dass vieles für diese Möglichkeit sprach. Ibn Sina hingegen war sich da nicht ganz so sicher.

Als die 'Flügel des Windes' wenige Tage später vor einem weiteren Küstenort vor Anker ging, kehrten Branagorn und Abdul aus Cordoba mit einem Wandermönch zurück, der sich Heng nannte und aus dem Volk der Khmer stammte. Er schien sehr gebildet und in den Schriften bewandert zu sein. Darunter auch die heiligen Schriften des 'Veda', die Branagorn studiert hatte. Veda bedeutete 'Wissen' und diese Schriften waren überall dort bekannt, wo Menschen an die Götter aus Indien glaubten.

„Er kommt aus Angkor und will dorthin zurück“, erklärte Branagorn. „Wenn wir ihn mitnehmen, ist er bereit, uns als Übersetzer zu dienen!“

„Ich habe in Samarkand eine Abschrift der Schriften des Veda gesehen“, behauptete Ibn Sina. „Angeblich sollen neben heiligen Offenbarungen und Beschreibungen und Gesängen darin auch magische Sprüche und Rechenregeln enthalten sein!“

„Der magischen Sprüche wegen habe ich diese Schriften auf meinen Reisen in einem Bergkloster studiert“, sagte Branagorn.

„Ich hätte liebend gerne die Rechenregeln entschlüsselt, aber leider gab es in Samarkand niemanden, der mir diese komplizierte Sprache hätte beibringen können.“

„Nun, vielleicht wird Heng dazu bereit sein, sie dir zu offenbaren“, sagte Branagorn.

Der fremde Mönch lächelte freundlich. Er trug ein orangerotes, togaähnliches Gewand und sein Kopf war kahlrasiert. Außer einer Schale aus Holz schien er keinerlei weiteren persönlichen Besitz zu haben. Sin rätselte zunächst, wozu die Schale wohl dienen mochte. Für Jarmila war das keine Frage. „Mönche werden mit Almosen unterhalten“, sagte sie. „Das wird in diesem Land genauso sein, wie im Chola-Reich. Die Leute geben ihm Reis in die Schale. Das bringt Glück.“

„Dann hoffe ich, dass es uns Glück bringt, dass wir diesen Mönch an Bord genommen haben“, meinte Sin.

Jarmila lächelte. „Eigentlich kann uns nichts Besseres passieren. Die Götter werden auf unserer Seite sein.“

Während die 'Flügel des Windes' weiter die Küste entlangsegelte, unterhielten sich Abdul aus Cordoba und Ibn Sina ausgiebig mit dem Mönch Heng und Branagorn musste sich bemühen, alles zu übersetzen. Branagorn wies darauf hin, dass man Heng respektvoll als 'Meister Heng' ansprechen sollte, denn dieser Rang stünde ihm zu.

„Da er unsere Sprache nicht spricht, ist es doch gleichgültig, wie wir ihn anreden“, glaubte hingegen Abdul aus Cordoba.

Was die Rechenregeln anging, die Ibn Sina so gerne entschlüsselt gehabt hätte, erlebte der junge Gelehrte eine Enttäuschung. Viel darüber erfuhr er nämlich nicht. Entweder lag dies an Branagorns Übersetzung oder die Mathematik war nicht der Teil der Schriften des Veda gewesen, die Meister Heng besonders interessiert hatten.

„Branagorn sollte ihn danach fragen, was uns in Angkor erwartet“, verlangte Sindbad der Seefahrer.

„Und vielleicht weiß er ja auch etwas über Riesenvögel“, fügte Kapitän Firuz noch etwas spöttisch hinzu, was dazu führte, dass sich Sindbads Gesicht für einen Moment etwas verfinsterte.

Das, was Meister Heng dann über Angkor berichtete, stimmte mit dem überein, was man auch bisher schon über diese Stadt der Götter gehört hatte. Branagorn übersetzte Beschreibungen von künstlich angelegten Seen und gewaltigen Tempeln, die darin wie Inseln angelegt waren. Inseln, die von Menschen für die Götter geschaffen worden waren.

„Es gibt doch die Schrift eines Griechen, die von einer solchen Stadt berichtet“, stellte Abdul aus Cordoba fest. „Platon war der Name dieses Griechen und die Stadt, von der er berichtete hieß Atlantis. Ich las einst eine Übersetzung von Platons Schriften in Cordoba... Die Beschreibungen scheinen starke Übereinstimmungen mit dem zu haben, was dieser Mönch uns berichtet“

„Nur dass Atlantis unterging und vom Meer verschlungen wurde“, sagte Ibn Sina.

Abdul sah ihn erstaunt an. „Du hast auch davon gehört?“

„In Samarkand gibt es nicht nur Übersetzungen von Platons Schriften, sondern auch Abschriften des Originals“, erklärte Ibn Sina. „Aber da Platon wenig über die Gesundheit des Menschen zu sagen hat, haben mich seine Schriften damals nicht interessiert.“

Abdul grinste. „Damals – du sprichst wie ein alter Mann, Ibn Sina und dabei bist du gerade einmal ein Jüngling!“

„Er hat eben viel erlebt für sein kurzes Leben“, warf Sindbad ein.

„Viel erlebt?“, fragte Firuz spöttisch. „Ich würde eher sagen: Viel gelesen.“

„Sagt man nicht: 'Es steht geschrieben' und meint damit das Leben selbst und alles was einem geschieht?“, erwiderte Ibn Sina.

„Man sagt auch, dass jemand reden kann, bis er Knoten in der Zunge hat“, sagte Firuz daraufhin.

„Vielleicht gab es in dieser Gegend eine andere Stadt wie Angkor, die bei der Explosion eines rauchenden Berges unterging“, warf nun Sindbad der Seefahrer ein.

„Womit du mal wieder auf dein derzeitiges Lieblingsthema kommst, Seefahrer“, spottete Firuz. „Untergegangene Länder nämlich. Glaub mir, sollte sich herausstellen, dass es das Land des Vogels Rock nicht gibt, weil du es nur erfunden hast, dann wird kein Meer tief genug sein, um deine Schande zuzudecken! Und Hauptmann Hassan wird bereitstehen, um dir die Gurgel durchzuschneiden!“

Sindbad der Seefahrer schluckte.

So wortgewandt er auch war, so schien er doch in diesem Moment plötzlich um eine Antwort verlegen zu sehen. Ausgerechnet jetzt traf sein Blick sich mit dem des jungen Sin.

Warum wirkt er so verzweifel?, ging es diesem durch den Kopf. Gerade jetzt, da wir doch gute Aussichten haben, in Angkor mehr über das Land der Riesenvögel zu erfahren?

Die Zweifel, was den Wahrheitsgehalt von Sindbads Geschichten anging, kamen von Neuem in Sin auf und nagten an ihm.

Das Schiff erreichte schließlich das Delta eines großen Flusses, der sich ins Meer ergoss. Zahlreihe Fischerboote waren hier unterwegs, dazu kleinere, stets vollkommen überladen wirkende Handelsschiffe und Boote. Ganze Familien schienen auf ihren tief im Wasser liegenden Booten zu leben und die Dörfer am Ufer waren auf Pfählen errichtet.

Um flussaufwärts zu gelangen musste gerudert werden, denn der Wind stand nicht immer günstig. Manchmal setzte er auch nahezu vollkommen aus, sodass das Segel ohnehin eingeholt werden konnte.

Die Fahrt ging quälend langsam voran. Dazu war es heiß. So heiß und feucht, dass einem die Kleider am Leib klebten.

Sin hatte manchmal das Gefühl, kaum noch einen klare Gedanken fassen zu können.

Nur Meister Heng schien all das wenig auszumachen. Er wirkte so gut gelaunt wie stets. Sein lächelnder Gesichtsausdruck stand in einem starken Gegensatz zu den eher angestrengt wirkenden Gesichtern aller anderen an Bord.

„Selbst im heißen Al-Bahrain ist es dagegen ja angenehm!“, meinte Jarmila und strich sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht, die ihr auf der Stirn klebte. „Was ist das nur für ein Land? Und dann dazu all diese Insekten, die einen dauernd umschwirren!“

„Hauptsache, es tut sich nicht plötzlich die Erde auf und Angkor versinkt genauso wie dieses Land namens Atlantis, über welches Ibn Sina immer wieder spricht!“, meinte Sin.

„Hat dich die Krankheit von untergehenden Ländern zu sprechen, auch schon ergriffen?“, fragte Jarmila.

Sin zuckte mit den Schultern. „Wäre die aufsteigende Hitze aus dem Inneren der Erde nicht ein möglicher Grund dafür, dass es hier so heiß ist?“

„Um das zu erklären, reicht glaube ich die Sonne völlig aus“, meinte Jarmila. „Und abgesehen davon, hast du hier irgendwo schon rauchende Berge gesehen?“

„Nein.“

Genau genommen hatten sie gar keine Berge gesehen. Das Land lag insgesamt sehr tief und war vermutlich deswegen so fruchtbar, weil es regelmäßig überflutet wurde. Bauern arbeiteten auf Reisfeldern und überall schien es zu wachsen und zu wuchern. So belastend das Klima für jeden sein mochte, der daran nicht gewöhnt war – aber die Pflanzen schienen davon zu profitieren. Dort, wo nichts angebaut wurde, wucherte dichter Dschungel. Eine Vielzahl von unterschiedlichen Tierstimmen konnte man hören, die zusammengenommen einen eigenartigen, geradezu unheimlichen Chor ergaben.

In der Nacht veränderte sich dieser Chor. Er wurde dann noch unheimlicher, weil es dann oft so dunkel wurde, dass man kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Hin und wieder sah man dann die Schatten breiter Flügel in die Lüfte steigen, und hörte die durchdringenden Schreie und Rufe verschiedener Tiere, die man sich um so furchteinflößender vorstellte, je weniger man von ihnen sehen konnte.

Sobald die Dunkelheit einsetzte, wurde ein Anker geworfen oder man legte am Ufer an. Mehrmals legte die 'Flügel des Windes' auch bei kleinen Dörfern am Flussufer an. Die Bewohner waren sehr freundlich, auch wenn keiner von ihnen irgendeine Sprache gesprochen hätte, die jemand an Bord verstand. Abgesehen natürlich von Meister Heng. Ihm begegnete man überall mit großer Ehrerbietung und Freundlichkeit. Und man riss sich geradezu darum, ihn mit Almosen zu versorgen.

„Er sagt, wenn er alles annehmen würde, was man ihm an Reis anbietet, dann wäre er längst ein dicker, runder Buddha geworden“, übersetzte Branagorn einmal die Worte des Mönchs, den er mit der Zeit immer besser und fließender verstand.

Nach ein paar weiteren Tagen erreichten sie schließlich einen gewaltigen See. Er hatte die Ausmaße eines kleinen Meeres und war so groß, dass man das andere Ufer nicht sehen konnte.

Auch hier waren zahllose Fischerboote zu finden und Mister Heng erklärte, dass dieser See in der Regenzeit noch mehr anschwellen würde.

„Anscheinend dient dieser See als Wasserspeicher“, meinte Branagorn. „Die Bewohner kontrollieren offenbar den Zu- und Abfluss und haben deshalb drei Ernten im Jahr!“

„Aber bei all den vielen Menschen, die hier leben, wird man die sicherlich auch brauchen, wenn niemand hungern soll“, meinte Abdul aus Cordoba.

„Und dabei haben wir die eigentliche Stadt noch gar nicht erreicht“, gab Ibn Sina zu bedenken.

Meister Heng sagte ein paar Worte, die Branagorn anschließend übersetzte. „Wir sollen auf den Eingang eines Wasserweges achten, der geradewegs nach Angkor führen würde.“

„Eines Wasserweges?“, fragte Ibn Sina, der sich über die eigenartige Ausdrucksweise zu wundern schien, die Branagorn benutzt hatte.

Dieser zuckte mit den Schultern. „Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, dass er so etwas wie einen künstlich angelegten Kanal meint. Davon gäbe es hier ein ganzes Netz, dass dichter sein muss als das Netz der Straßen und Gassen in Bagdad!“

„Ich bin gespannt, ob du ihn richtig verstanden hat“, meinte Ibn Sina.

Nachdem sie den See überquert hatten, war die Stadt nicht mehr zu übersehen. Schon das Ufer war dicht siedelt. Überall standen Häuser, oft auf Pfählen errichtet, sodass ihnen das wechselnde Hochwasser nichts anhaben konnte.

„Aber das sind alles Häuser aus Holz!“, entfuhr es Sin. „Ich dachte, es gäbe hier riesige Tempel!“

„Also die Gebäude meiner Heimat wirken dagegen richtig herrschaftlich“, stellte auch Jarmila fest. „Vielleicht haben da einfach zu viele Menschen zu fantastische Geschichten über eine Stadt erzählt, die in Wahrheit auch nicht mehr als ein etwas größeres Fischerdorf ist.“

Meister Heng stand unterdessen an der Reling und winkte freundlich den Menschen auf den Booten zu, die sich der 'Flügel des Windes' weit genug näherten. Aber schon die Farbe seines Gewandes sorgte dafür, dass man Meister Heng aus großer Entfernung als Mönch erkennen konnte. Vermutlich war dies auch der Grund dafür, dass die Menschen ihm so überaus freundlich begegneten.

„Gut, dass wir ihn an Bord haben“, hörte Sin Kapitän Firuz zum Steuermann sagen.

„Ist das Angkor?“, fragte Ibn Sin den Mönch und Branagorn übersetzte diese Frage.

Meister Heng bestätigte dies sofort und mit weit ausholenden Gesten, so als wollte er deutlich machen, welche gewaltigen Ausmaße dieser Ort hatte.

„Er sagt, dies sei die Stadt der Menschen. Die Stadt der Götter werden wir noch sehen“, übersetzte Branagorn.

„Und dort sind dann die viel gerühmten Tempel?“, vergewisserte sich Ibn Sina.

„Und vor allem dieses Abbild eines Riesenvogels“, warf Sindbad noch ein.

Der Mönch redete daraufhin ziemlich lange und Branagorn fragte mehrfach nach.

„Scheint so, als wären die beiden sich über die Bedeutung einiger Wörter nicht so ganz einig“, vermutete Jarmila. „Leider verstehe ich kein Wort von der Sprache der Veda.“

„Ist sie denn so verschieden von der, die du von deiner Mutter gelernt hast?“, fragte Sin und bereute es sogleich schon, dies gesagt zu haben. Er begriff sofort, dass er da einen ziemlich wunden Punkt bei ihr berührt hatte. Ihr Gesicht veränderte sich. Eine Falte erschien auf ihrer Stirn – genau dort, wo sie ihr Stirn-Bindi aufgemalt hatte. Sie versuchte trotzdem zu lächeln, was sonst eigentlich gar nicht ihre Art war.

„Die Sprache der Veda ist sehr verschieden von der Sprache des Chola-Reichs“, sagte sie. „Man lernt sie nur, wenn man Priester ist. Ein Gelehrter aus der Kaste der Brahmanen. Aber jemand wie ich hat keine Ahnung davon.“

„Tut mir leid, ich hätte nicht...“

„Das mit der Sprache meiner Mutter ist doch doch nur eine Redensart“, unterbrach sie ihn, als er etwas unbeholfen seinen Fehler wieder gut machen wollte. „Und dafür, dass ich keine Eltern habe, kannst du ja schließlich auch nichts.“

Sin hätte dazu noch gerne irgend etwas gesagt. Etwas, dass sie vielleicht getröstet hätte. Aber erstens war sein Kopf so voller Gedanken, dass ihm auf die Schnelle gar nichts einfiel und zweitens zog ihn nun Branagorns Stimme in seinen Bann, der wohl gerade verstanden hatte, was der Mönch ihm schon die ganze Zeit über zu erklären versuchte.

„Er sagt, die Häuser seien den Göttern vorbehalten. Den Göttern und dem König, der ihnen gleichgestellt ist“, sagte Branagorn. „Aber für die Häuser der Menschen ist ein anderes Material angemessen – Holz!“

DIE STADT DER GÖTTER

Während der Fahrt durch den Kanal konnte das Segel nicht benutzt werden. Nur durch rudern ging es vorwärts. Das Wasser war zudem recht flach. Die Boote der Einheimischen wurden zumeist durch den Gebrauch langer Stangen fortbewegt, die als Staken benutzt wurden. An ihnen war auch abzulesen, dass der Wasserstand kaum mehr als die Hüfthöhe eines erwachsenen Mannes betragen konnte.

Auf dem großen See hatte noch ein leichter, relativ frischer Wind das Wasser gekräuselt. Hier war davon jetzt nichts mehr zu spüren. Aber selbst wenn der Wind stärker gewesen und auch noch aus der richtigen Richtung gekommen wäre, hätte man wohl kaum segeln können, da sich einfach zu viele Wasserfahrzeuge auf dem Kanal drängten.

Dicht gedrängt standen die Holzhäuser der Bewohner am Ufer. An den Pfählen war erkennbar, dass das Wasser sonst wohl auch noch mehr als einen Meter und der Wasserspiegel um mindestens eine Armspanne höher steigen konnte.

Überall in den Holzbauten an den Kanälen waren kleine Werkstätten zu sehen. Die Arbeitsgeräusche waren von überall her zu hören. Steinmetze gingen mit Hammer und Meißel zu Werk. Auf großen Flößen wurden mit Seilen festgezurrte Gesteinsblöcke transportiert.

Meister Heng führte die 'Flügel des Windes' durch das Gewirr von Kanälen, die ein regelrechtes Labyrinth bildeten. Allerdings war die Anordnung der Wasserstraßen nur auf den ersten Blick verwirrend. Sehr schnell wurde deutlich, dass sie einem Netz ähnelten, das außerdem noch vollkommen symmetrisch angelegt war.

Sin sah Kinder im Wasser planschen. Frauen wuschen Wäsche und immer wieder kreuzten Boote mit schweren Lasten den Weg der Dau. Nicht selten musste Kapitän Firuz dann die Anordnung geben, die Ruder einzuziehen. Die waren nämlich so lang, dass man sonst den zahlreichen Booten in die Quere gekommen wäre.

Manchmal schienen sich einige Bootsfahrer darüber aufzuregen, dass ein vergleichsweise großes und für diese Gewässer viel zu bauchiges und schwer zu manövrierendes Schiff wie die 'Flügel des Windes' sich in das Labyrinth der Wasserstraßen von Angkor hineingewagt hatte. Aber die Gemüter besänftigten sich sofort, wenn Meister Heng auftauchte, sich an die Reling stellte und den aufgebrachten Bootsleuten zunickte. Zumeist war es noch nicht einmal nötig, dass er ein Wort sagte. Schon sein Erscheinen reichte vollkommen aus und hatte eine erstaunlich beruhigende Wirkung.

Eine ganze Weile schon fuhren sie durch die Holzstadt – den Wohnort der Menschen. Doch je weiter sie kamen, desto mächtiger erhoben sich dahinter jene steinernen Gebäude, die für die Götter reserviert waren. Gewaltige Kuppeln tauchten hinter kleinen Waldstücken auf, die sorgsam gehegt und gepflegt wirkte. Da war kein wild wuchernder Dschungel, der die Mauern der Tempel für den Blick aus der Ferne verbarg, sondern mit Bedacht angelegte Haine und Gärten. Die Kuppelbauten und Säulentempel erinnerten Sin entfernt an die Gebäude, die er in der Hauptstadt des Königs Rajaraja gesehen hatte. Nur dass hier alles noch viel größer und imposanter war. Und ein weiterer Unterschied war, dass man Gebäude aus Stein in diesem Land offenbar tatsächlich ausschließlich für Tempel und den Königspalast erbaute, während die Bevölkerung von Angkor in Holzbauten lebte.

Diese Trennung nach Baumaterialien hatte Sin im Reich der Chola nicht beobachten können.

„Vielleicht liegt das daran, das Stein hier sehr selten und deswegen wertvoll ist“, meine Jarmila dazu, als Sin sie darauf angesprochen hatte.

„Wie kommst du darauf, dass Stein hier selten ist?“

„Na, sieh dir doch einmal an, was für ein Land das ist! Halb überschwemmt, große Reisfelder, ein weicher, sumpfiger Boden. Felsen oder so etwas habe ich hier nirgends gesehen! Man hat eher das Gefühl, dass sich das ganze Land beim nächsten Regenguss in einen einzigen großen See verwandelt und man nur trockene Füße behält, wenn man sich entweder in einem Boot oder in eine Haus auf Pfählen befindet.“

Sin ließ den Blick schweifen. Die einzigen Steine, die er weit und breit sehen konnte, waren in die gewaltigen Tempel verbaut worden – oder man sah sie auf den Transportbooten, die dadurch manchmal so tief ins Wasser gedrückt wurden, dass man befürchten konnte, sie würden jeden Moment untergehen. „Vielleicht hast du recht“, meinte Sin schließlich. „Wenn sie jeden einzelnen Brocken von weit her holen müssen, dann ist das wirklich sehr aufwändig!“

Die Dau fuhr an hoch aufragenden Tempelmauern vorbei, in die kunstvolle Reliefs hineingemeißelt worden waren. Mönche, Priester, Tempeltänzerinnen und die vielgesichtigen, vielarmigen Götter, die Sin schon aus dem Reich der Chola kannte, wechselten sich hier ab.

Auch mehrere Darstellungen des Affengottes Hanoman erkannte Sin – und einen gewaltiges Standbild von Nandi, dem Stier des Gottes Shiva.

„Du bist ja langsam schon ein richtiger Gelehrter, was die Götter angeht“, staunte Jarmila. „Und dabei glaubst du doch gar nicht an sie, sondern nur an deinen unsichtbaren Gott!“

„Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich mich vor diesen Göttern nicht fürchte. Ich weiß, dass sie keine Macht haben und kann sie mir deshalb besser merken.“

Jarmila zuckte mit den Schultern. „Kann sein.“

„Angst tötet den Verstand. Und wenn ich mich vor diesen Göttern fürchten würde, könnte ich mir wahrscheinlich keinen einzigen davon merken und all diese Fratzen würden vollkommen gleich schrecklich aussehen..“

„Es sind lächelnde Gesichter, Sin. Keine Fratzen!“

„Naja...“ Sin streckte den Arm aus und deutete auf ein steinernes Abbild von Nandi, dem Stier Shivas. „Aber der da sieht etwas eigenartig aus, findest du nicht?“

„Wie die Wasserbüffel, die wir auf den Reisfeldern gesehen haben“, stellte Jarmila fest.

„Genau.“

„Unsere Götter passen sich offenbar in ihrem Aussehen den Ländern an, in denen sie verehrt werden“, lächelte Jarmila. „Aber auch Nandi lächelt – ganz bestimmt!“

Die 'Flügel des Windes' legte schließlich an einem Steg an, der in einem quadratischen Becken lag. Die Dau wirkte zu groß für dieses Becken. Dieser Eindruck wurde noch durch die Dutzenden von kleineren Booten und Schiffen verstärkt, die hier ebenfalls festgemacht hatten. Darunter waren auch schmale Hausboote mit Dächern aus geflochtenen Blättern, die wohl gleichermaßen gegen Sonne und Regen schützen sollten. Ganze Familien lebten auf solchen Booten. Rauchsäulen stiegen von ihnen auf, denn es wurde dort fast pausenlos gekocht. Manche Familien kochten nur für sich selbst, aber oft genug boten sie ihre Speisen all den Arbeitern an, die auf dem Weg zu den zahlreichen Baustellen waren oder von dort zurückkamen. Andere Boote gehörte offenbar Fischern, die ihren Fang feilboten. Wieder andere dieser Händlerhausboote gehörten Werkzeugmachern, die Hacken, Hämmer und Messer bereithielten, die zumeist von mehreren Familienangehörigen gefertigt wurden.

Sin wandte sich an Sindbad den Seefahrer.

„Warum legen wir hier an und fahren nicht weiter?“

„Der Mönch sagt, dass das nicht ohne weiteres gestattet ist“, sagte Sindbad. „Zumindest soweit ich das mitbekommen gab. Abdul möchte ja, dass wir eine Audienz beim König bekommen und daraus wird vermutlich nichts, wenn wir uns falsch verhalten und gleich daneben benehmen.“ Sindbad zwinkerte seinem jüngeren Namensvetter verschwörerisch zu. „Kann man sich ja wohl denken, oder?“, fügte er noch hinzu.

„Kann dieser Mönch nicht für uns ein gutes Wort beim Herrscher dieses Landes einholen, so dass die Botschaft von König Rajaraja übergeben werden kann! Und vielleicht ist der König von Angkor ja auch so ergriffen vom Schicksal des Kalifen, dass er alles in seiner Macht stehende in Bewegung setzt, um uns bei der Suche nach den Riesenvögeln zu helfen!“

Aber der große Sindbad seufzte auf eine Art und Weise, die Sin gleich klar machte, dass er die Möglichkeiten, diese Reise zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen, offenbar überhaupt viel weniger günstig einschätzte.

„So einfach, fürchte ich, ist das nicht, mein lieber Namensvetter!“

„Bestimmt ist dein Ruf bis hier her gelangt! Denn schließlich hast du doch andere Länder in dieser Gegend bereist, zum Beispiel die Inseln mit den rauchenden Bergen. Und so glaube ich, dass man auch hier in Angkor schon von dir gehört hat!“

Sindbad wog den Kopf zweifelnd hin und her. „Du bist anscheinend ein Optimist, Sin!“

„Warum sollte man nicht an das Bestmögliche glauben?“, erwiderte Sin.

„Aber man sollte auch nie das Schlimmstmögliche aus dem Blick verlieren“, gab Sindbad zurück.

„Sprichst du deshalb in letzter Zeit so häufig von untergehenden Ländern, die vom Feuer aus ihren Bergen verschlungen werden?“

Sindbad der Seefahrer stutzte einen Moment. Dann sagte er: „Hör mal, ich wollte mit dir über etwas anderes sprechen. Du möchtest sicher auch mehr über den Riesenvogel erfahren, der auf den Karten abgebildet war.“

„Natürlich“, bestätigte Sin.

„Ich möchte dieses Tempelstandbild oder was immer es auch letztlich sein mag gerne suchen. Die Stadt Angkor scheint zwar wirklich riesig zu sein und noch gewaltigere Ausmaße als Bagdad zu haben, aber das heißt ja nicht, dass man den Vogel nicht finden könnte!“

„Und vielleicht sind dort Hinweise darauf zu sehen, wo solche Riesenvögel leben“, glaubte Sin. „Inschriften zum Beispiel oder...“

„Ja, ja, das könnte schon sein“, unterbrach Sindbad ihn. „So begleitest du mich?“

„Wir sollten auch Jarmila mitnehmen. Sie hat schließlich die Originalkarten gesehen und die Form des Vogels wahrscheinlich besser im Gedächtnis als wir alle.“

„Meinetwegen.“

„Und Branagorn sollten wir mitnehmen. Er hat gute Augen und erkennt vielleicht Dinge, die...“

„Nein, nein – besser nicht“, wehrte Sindbad ab. Und dann beugte er sich nahe an Sin heran und flüsterte ihm ins Ohr. „Weißt du, diese Gelehrten bei uns an Bord sind mir inzwischen alle drei ziemlich schwer erträglich! Der eingebildete Ibn Sina, Abdul, der sich stets was darauf einbildet, dass der Kalif ihn zu seinem Botschafter gemacht hat und dieser wunderliche Branagorn, dessen Kutte so aussieht, als wäre sie schon hundert Jahre alt und noch nie gewaschen worden! Ich kann die drei nicht ausstehen. Die tun immer so, als wüssten sie alles! Sie reden über das Zeichen für das Nichts und über die Entfernungen zum Mond und zu den Sternen, aber wenn es darum geht, uns hier auf Allahs guter alter Erde bei einem Problem zu helfen, dann hört man nur wertloses Gerede!“

„Ehrlich gesagt: Ich verstehe das meiste von dem, was die miteinander bereden nicht“, sagte Sin. „Aber ich habe auch keine Schulen besucht wie Ibn Sina und um jetzt noch damit anzufangen ist es wahrscheinlich zu spät. Als werde ich wohl nie so klug und weise sein, wie die drei!“

„Alles nur Angeberei“, glaubte Sindbad. „Ich sage es dir! Da steckt nichts dahinter! Diese Männer lieben es nur, wenn sie eine Sonnen- oder Mondfinsternis exakt vorhersagen können und dann ganz Bagdad über sie staunt! Und sie lieben es, einen spüren zu lassen, wie dumm man doch angeblich sei! Aber ich sage dir, es kann durchaus sein, dass einer wie du es zu viel mehr bringt, während diese Narren ihre Zeit mit Rechnungen und irren Theorien verschwenden, die sie am Ende nur vom Ziel abbringen!“ Er seufzte. „Armer Kalif! Dass seine Gesundheit und sein Leben von solchen Männern abhängen muss!“

Abdul aus Cordoba gelang es, Meister Heng dazu zu überreden, mit ihm und Branagorn zum Palast zu gehen, um dort eine Audienz beim König zu erhalten. Und so brachen sie mit einem der Beiboote der 'Flügel des Windes' zum Palast auf, der sich nach Angaben von Meister Heng inmitten eines quadratisch angelegten künstlichen Sees befand, über den ein schnurgerader Damm führte.

Allerdings hatte Meister Heng schon deutlich gemacht, dass es einige Zeit dauern konnte, bis man zum König vorgelassen wurde. Möglicherweise viele Tage oder sogar Wochen würde man warten müssen. Zunächst musste man mit den unteren Beamten des Königs sprechen, dann mit deren Vorgesetzten und erst nach einer gewissen Zeit konnte man hoffen, dass der Herrscher selbst einen Fremden empfing.

Wenn überhaupt!

Zunächst war Sin enttäuscht, dass er daran nicht teilnehmen konnte, den zumindest den erhabenen Königspalast inmitten des quadratischen Sees hätte er gerne gesehen. Aber als er erfuhr wie langwierig die Aufgabe war, die vor Abdul und Branagorn lag und das es wohl auch in den Sternen stand, ob sie überhaupt Erfolg haben würden, war er schon weniger traurig darüber. Und Sindbad dem Seefahrer schien es ähnlich zu gehen. Er schien es überhaupt nicht zu bedauern, dass Branagorn und Abdul ihn nicht einmal gefragt hatten, ob er sie begleiten wollte.

Ibn Sina wiederum musste an Bord zurückbleiben, denn Hauptmann Hassan ging es schon seit ein paar Tagen nicht mehr gut. Er hatte sich zunächst nichts anmerken lassen, aber jetzt ließ es sich nicht mehr verbergen. Der Kommandant der Bogenschützen an Bord der 'Flügel des Windes', litt unter furchtbaren Bauchkrämpfen und Ibn Sina sollte seine ärztliche Kunst anwenden, um den Kranken wieder auf die Beine zu bringen.

„Komm, lass uns nach diesem Vogel suchen“, schlug Sindbad an seinen jungen Namensvetter gewandt vor – allerdings erst, nachdem Abdul und Branagorn das Schiff bereits einige Zeit verlassen hatten. „Hier an Bord werden wir uns höchstens bei Hauptmann Hassan anstecken!“

Sin sagte Jarmila Bescheid, mit der er schon über Sindbads Pläne gesprochen hatte und alle drei gingen von Bord. Sie standen auf dem Steg, der auf dicken, geteerten Pfählen ruhte, als Kapitän Firuz auf sie aufmerksam wurde.

„Wohin willst du entschwinden, großer Seefahrer?“, rief der Kapitän hinter ihm her.

Und Hauptmann Hassan, der sich unter Schmerzen auf seiner Decke gewunden hatte, rief nun: „Haltet den Mann fest! Er darf sich nicht einfach davonmachen, sonst sehen wir ihn nie wieder!“

Ehe Sindbad oder seine beiden jungen Begleiter etwas hätten tun können, waren bereits mehrere von Hassans Soldaten an Land gestiegen. Sie versperrten den Weg, der über den Steg auf das feste Land führte.

„Das muss ein Missverständnis sein“, meinte Sindbad. „Ich hatte niemals die Absicht...“

„...dich zusammen mit einer berüchtigten Diebin und einem Schiffsjungen, der aus einer Laune des Schicksals heraus deinen Namen trägt und dich bis zur Einfalt bewundert, auf und davon zu machen?“, vollendete Firuz gewohnt spöttisch den Satz des großen Seefahrers.

„Du irrst dich!“

„Ach, wirklich? Ich nehme an, du befürchtest, dass sich spätestens hier in Angkor herausstellt, dass alles, was du über ein Land der Riesenvögel bisher erzählt hast, nichts als Lüge ist und in Wahrheit gar nicht die Möglichkeit besteht, unserem geliebten Kalifen ein Heilmittel zu besorgen! Und so willst du dich gerade noch rechtzeitig aus dem Staub machen, weil du dir vielleicht überlegt hast, dass dies doch einfacher ist, als uns alle davon zu überzeugen, dass dieses geheimnisvolle Land vielleicht in der Zwischenzeit im Meer versunken ist und wir es nur deswegen nicht finden können!“

Der Perser stieg nun ebenfalls auf den Steg. Die Soldaten hatten ihre Hände an den Schwertgriffen und es konnte wohl kein Zweifel daran bestehen, dass sie auch bereit waren, von ihren Waffen Gebrauch zu machen, falls Sindbad der Seefahrer es wagen sollte, sich noch weiter vom Schiff zu entfernen.

„Ein schöner Mist, in den wir da geraten sind“, flüsterte Jarmila Sin zu.

Sin hoffte nur, dass seinem großen Vorbild noch irgendeine passende Erwiderung einfiel, um sich auch diesmal herauszureden. Allerdings – so sehr sich der Junge auch dagegen sträubte, so musste er doch anerkennen, dass Firuz' Anschuldigungen sehr plausibel klangen.

„Ich wollte mich keineswegs davon machen“, erklärte Sindbad nun. „Vielmehr wollte ich mich mit diesen beide jungen Begleitern auf die Suche nach dem steinernen Riesenvogel machen, der auf den Karten abgebildet war.“

„Was du nicht sagst, Sindbad...“

„Sieh mal, es ist ungewiss, ob uns der erhabene König dieses Landes überhaupt empfängt. Er scheint verehrt zu werden wie ein Gott – und er wohnt als einziger Mensch mit seinem Hofstaat in einem Haus aus Stein, was ansonsten nach der Sitte dieses Landes den Göttern vorbehalten ist. Aber warum sollte ein Gott einen einfachen Reisenden empfangen wollen? Nicht, dass ich diese Sicht teilen würde, aber ich glaube schon, dass der König von Angkor so denkt. Und so dachte ich, dass man nichts unversucht lassen sollte, um weiteren Hinweisen nachzugehen!“

„Und was sind das für Hinweise, die du zu finden hoffst, Sindbad?“, höhnte Firuz mit einem breiten Lächeln. „Glaubst du, die Lösung dieses Rätsels ist in den Stein geschrieben, den du suchst?“

„Warum denn nicht?“

„Wir hätten es alle leichter, wenn du dir den Weg zu der Riesenvogelküste besser gemerkt hättest!“

„Ich werde dich daran erinnern, dir deinen Weg gut zu merken, wenn dich ein Geschöpf wie der gewaltige Rock in die Höhe zieht, du keinen Grund mehr unter den Füßen spürst und nur die ganze Zeit hoffst, dass dich dieses Geschöpf weder fallen lässt, noch möglicherweise mit seinen Klauen zerreißt! Wenn du weißt, dass sich jederzeit ein Schnabel über dich beugen und dich zerteilen könnte wie eine Tranchierschere es mit einem Stück Hühnerfleisch macht, dann würdest du vielleicht auch nicht gerade daran denken, dir markante Landmarken zu merken! Glaub mir, Kapitän, dann hat man andere Sorgen, als sich ausgerechnet zu überlegen, wie man es vielleicht viele Jahre später anstellen könnte, in dieses Land zurückzukehren!“

„Reden kannst du!“, nickte Firuz. „Und die Worte sprudeln so schnell aus deinem Mund wie das Wasser aus einer ergiebigen Quelle, die Allah in tausend Jahren nicht versiegen lässt!“

„Zwei Männer sollen ihn begleiten“, ächzte unterdessen der ziemlich elend und bleich aussehende Hauptmann Hassan von seinem Lager aus. Er hatte sich halb erhoben. Nicht einmal Ibn Sina hatte ihn daran hindern können, der inzwischen damit beschäftigt war, für den kranken Hauptmann eine Heiltinktur zu brauen, die so ekelhaft roch, dass Sin sich kaum vorstellen konnte, dass damit die Übelkeit vertrieben werden konnte. „Lass ihn gehen, aber zwei Wächter sollen ihm folgen und ihn töten, falls er sich tatsächlich davonmachen oder es auch nur versuchen sollte!“

„Und das hältst du für eine gute Entscheidung?“, fragte Firuz zweifelnd.

Hasssan nickte. „Stell dir vor, er könnte tatsächlich einen wertvollen Hinweis finden und wir ließen es nicht zu... Bei Allah, dass würde uns der Kalif ebenso wenig verzeihen wie wenn wir Sindbad eine Gelegenheit zur Flucht gäben!“

Firuz atmete tief durch. „Also gut“, stimmte er zu.

Zwei Soldaten wurden bestimmt, die Sindbad dem Seefahrer auf Schritt und Tritt zu folgen hatten. Einer von ihnen war der Bogenschütze Ahmad. Den anderen kannte Sin nicht so gut. Er wusste nur, dass er von den anderen Tawil genannt wurde. Das bedeutete 'Langer'. Aber ob das wirklich sein Name war oder man ihn nur so nannte, war Sin nicht so ganz klar. Zumindest passte diese Bezeichnung zu Tawil, denn er überragte tatsächlich alle anderen Männer an Bord der 'Flügel des Windes' um mehr als einen Kopf.

„Wenn ihr tatsächlich den steinernen Vogel sucht, solltet ihr wenigstes eine der Zeichnungen mitnehmen, um sie den Menschen zu zeigen“, schlug nun Ibn Sina vor. „Niemand von euch spricht doch die Sprache, die hier verbreitet ist, also, wie wollt ihr sonst klarmachen, wonach ihr sucht?“

„Ein guter Gedanke!“, stimmte Sindbad zu. „Eigentlich hätte ich selbst darauf kommen müssen!“

„Ich überlasse dir gerne eine der Zeichnungen, Sindbad. Ich selbst kann ja im Moment nicht von Bord, aber sollte dieser steinerne Riesenvogel gefunden werden, würde ich ihn mir in den nächsten Tagen auch gerne mal ansehen!“

DIE IN STEIN GEHAUENE GESCHICHTE

So gingen sie in Begleitung der beiden Soldaten den Steg entlang und standen schließlich auf festem Land. Sindbad gab Sin die Zeichnung, die er von Ibn Sina erhalten hatte. „Nimm du sie“, meinte er. Es war Sin schon zuvor aufgefallen, mit welcher Gleichgültigkeit der Seefahrer die Zeichnung entgegengenommen hatte, so als glaubte er gar nicht daran, dass sie ihnen vielleicht dabei helfen konnte, den steinernen Riesenvogel zu finden.

Und wieder begann eine bohrende Frage sich in Sins Gedanken zu regen. Wollte sein berühmter Namensvetter das denn überhaupt oder trafen die Vermutungen von Kapitän Firuz den Nagel genau den Kopf und der berühmteste aller Seefahrer war nichts weiter als der berühmteste Geschichtenerzähler aller Zeiten, der tatsächlich nur nach einer Möglichkeit suchte, irgendwie unterzutauchen.

Und welcher Ort war dazu schon besser geeignet, als eine so riesige Stadt wie Angkor?

Ein unachtsamer Moment der beiden Soldaten, die ihnen zur Bewachung mitgegeben worden waren und Sindbad der Seefahrer war womöglich in diesem unübersichtlichen Labyrinth aus Kanälen, Tempeln, bewaldeten Bereichen, Gärten, halbwilden Büschen und den Behausungen der einfachen Leute verschwunden.

Und weshalb sollte er dann Jarmila und mich mitnehmen?, ging es Sin durch den Kopf.

Dies schien ihm plötzlich nahezu das einzige Argument dafür zu sein, dass sich der Perser vielleicht doch irrte und es Sindbad dem Seefahrer doch darum ging, den steinernen Riesenvogel zu finden. Zu dumm, dass man anderen Menschen nicht in die Seele sehen kann, dachte Sin.

Sie gingen zwischen den Häusern hindurch und schon sehr bald sammelten sich dutzendweise Kinder, Hunde und Hühner, die sie allesamt gleichermaßen interessiert und neugierig anstarrten. Die Kinder redeten durcheinander, die Hunde kläfften und die Hühner gackerten, so als hätten sie auch etwas dazu zu sagen.

Sindbad nickte allen freundlich zu.

„Wir scheinen hier tatsächlich ein besonderer Anblick zu sein!“, meinte Sindbad der Seefahrer an seinen jungen Namensvetter gewandt.

„Bei allem Respekt, aber ich glaube, die größte Neugier gilt nicht dir, großer Seefahrer“, gab Sin zurück.

„Nicht?“, fragte Sindbad schmunzelnd, so als würde ihm das tatsächlich etwas ausmachen. Im Moment war übergroße Aufmerksamkeit wohl das letzte, wonach er strebte.

Sin deutete zu Tawil.

Die meisten der Kinder starrten hauptsächlich den riesenhaften Bogenschützen an. Schon im Vergleich zu Ahmad oder Sindbad war er ein Hüne – doch im Vergleich zu den im Durchschnitt nicht besonders groß gewachsenen und sehr zierlichen Menschen, die in Angkor wohnten, wirkte Tawil wie ein Riese.

Es dauerte nicht lange und einige der Mütter der Kinder kamen aus den Häusern und sorgten mit ein paar Anweisungen dafür, dass sich die Kinder zerstreuten.

Einen schmalen Kanal überwanden sie dann durch eine schwankende Bambusbrücke. Unter ihnen fuhr ein überladenes Lastboot hindurch, für das dieses Kanalstück gerade noch breit genug war.

Als sie an den nächsten Häusern vorbeigingen erregten sie auch dort Aufmerksamkeit. Wieder liefen Kinder zusammen und in einer Schmiedewerkstatt hörte das Hämmern auf.

Sin zeugte einem der Kinder die Zeichnung. Sie wichen zunächst vor ihm zurück, aber dann sahen sie doch hin.

„Garuda!“, sagte Sin dazu. Schließlich war es ja sehr wahrscheinlich, dass sich der Name des Vogelgottes nicht verändert hatte, seit sich der Glaube an die Götter Indiens auch in die weiter östlich gelegenen Ländern verbreitet hatte. „Garuda! Garuda!“, wiederholte Sin.

„Garuda!“, gab ein Junge zurück, dessen Alter Sin auf acht oder neun Jahre schätzt. Der Junge sagte etwas, machte einige Gesten mit den Händen und schien im erste Moment gar nicht zu begreifen, dass weder Sin noch seine Begleiter auch nur ein einziges Wort von dem zu verstehen vermochten, was er sagte.

Ein anderer, etwas größerer Junge mischte sich ein und sagte etwas, woraufhin der Kleinere gar nichts mehr von sich gab. Und zu allem Überfluss lief dem Kleinen auch noch ein Huhn zwischen den Beinen hindurch, das sogleich mit einem Tritt vertrieben wurde. Ein durchdringendes, lautes Gackern kam daraufhin über den Schnabel des Tieres.

„Hühner sind zumindest in diesem Land nicht heilig“, meinte Sin daraufhin.

„Ich glaube, die wissen, wo der steinerne Vogel ist“, glaubte Jarmila.

„Ja, aber leider kann ich nichts verstehen!“

Jetzt mischte sich Sindbad der Seefahrer ein. Er deutete auf die Zeichnung und machte dann eine weit ausholende Bewegung, so als wollte er noch einmal verdeutlichen, dass es um ein sehr großes steinernes Abbild des Riesenvogels ging.

„Garuda!“, sagten die Jungen wie aus einem Mund und ein dritter kam hinzu, blinzelte etwas, als er auch einen Blick auf die Zeichnung warf und bestätigte dann ebenfalls: „Garuda!“

Die Zeichen und Gesten, die der Junge machte, waren wohl so etwas wie eine Wegbeschreibung.

„Ich glaube, ich weiß, was er meint“, behauptete Sindbad. „Zumindest so ungefähr.“

„Wenn es schonmal in die richtige Richtung geht, bin ich schon sehr zufrieden“, seufzte Jarmila.

„Dann folgt mir mal!“, verlangte Sindbad.

Und ein wenig von dem Vertrauen, das der große Seefahrer bei seinem jungen Namensvetter in der Zwischenzeit schon verspielt hatte, kehrte in diesem Augenblick wieder zurück. Ja, dachte Sin, so voller Tatkraft stelle ich mir vor, hat Sindbad die zahlreichen Abenteuer bestanden, die er während seiner sieben bisherigen Reisen schon erlebt hat!

Eine ganze Weile irrten sie durch die gewaltige Stadt, deren Ausmaße noch viel größer zu sein schienen, als sie bisher geahnt hatten. Immer wieder ertappte sich Sin dabei, wie sein Blick durch die Reliefs abgelenkt wurde. Die eingemeißelten Götter, Krieger, Tänzerinnen und Dämonen zogen ihn geradezu in ihren Bann. Manchmal dachte er, dass die Szenen, die dort dargestellt waren, jeden Moment lebendig werden und sich bewegen müssten. All diese Figuren schienen nur auf einen Zauber zu warten, der sie erwachen ließ. Und wenn man genau hinsah, dann konnte man ganze Geschichten erleben. Die vielarmigen Götter mit ihre Tierköpfen kämpften miteinander. Sie verwundeten sich, kämpften wieder gegeneinander. Schade, dass ich die Schriftzeichen nicht lesen kann, die man dazu eingraviert hat, ging es dem Jungen durch den Kopf.

Jarmila berührte ihn am Arm und zog ihn mit sich. „Heh, du kannst hier nicht träumen!“

„Hast du dir diese Steinbilder mal genauer angesehen?“

„Es sind die Geschichten über die Götter“, meinte sie, so als wäre das nichts besonderes. „So etwas gibt es im Chola-Reich auch.“

„Aber nicht so großartig!“, behauptete Sin.

„Du hast ja auch längst nicht alle Tempel gesehen, die es im Reich von König Rajaraja gibt“, gab Jarmila zu bedenken.

„Und sag bloß, du hättest schon einen gesehen, der großartiger ist?“

Sie atmete tief durch und schüttelte den Kopf. „Nein, das muss ich zugeben. Hier ist alles etwas größer.“

Sie folgten Sindbad über eine weitere Kanalbrücke, bogen dann in einen breiten Weg ein, dann in einen schmaleren und immer wieder fragten sie nach Garuda dem Vogelgott. Die Leute waren freundlich und gaben bereitwillig Auskunft. Dass sie in eine anderen Sprache redeten, schienen sie dabei kaum als hinderlich zu empfinden. Jedenfalls bremste es ihren Redefluss nicht und sie versuchten durch viele Gesten und Handzeichen deutlich zu machen, was sie meinten.

Sindbad der Seefahrer konnte durchaus auch recht geschickt mit Händen und Füßen reden.

Selbst Jarmila war überrascht, wie gut es ihm gelang, mit den Menschen in Verbindung zu kommen.

„Er hat eben eine sehr gewinnende Art“, meinte Sin.

„Ja“, stellte Jarmila erstaunt fest. „Er muss wirklich eine besondere Gabe haben! Denn selbst wenn ihn eigentlich niemand verstehen kann, scheint man ihm trotzdem zuzuhören!“

„Ich hoffe nur, dass er auch richtig zuhört und richtig auffasst, wo wir hin müssen“, gab Sin zurück. „Sonst werden wir wohl noch eine halbe Ewigkeit brauchen, ehe wir den Vogel aus Stein gefunden haben!“

Eine alte Frau verwies sie schließlich an einen blinden Mönch, dem die Menschen der Umgebung stets die Reisschale füllten. Und dieser Mönch wusste offenbar genau, wo sich der Tempel des Garuda befand. Er erklärte dies einem Jungen, der höchsten sechs oder sieben war. Und Sindbad der Seefahrer gab diesem Jungen schließlich eine Münze, wofür der Junge sie dann führte. Der Junge schaute sich die Münze immer wieder an. Sie musste für ihn etwas sehr Seltenes und Exotisches sein. Ein Silberstück mit dem Kopf des Kalifen von Bagdad darauf! Der Kopf war sicherlich vollkommen unbekannt in Angkor. Aber dass Silber etwas Wertvolles war, schien unter den Menschen hier geläufig und sogar kleinen Kindern bekannt zu sein.

Schließlich führte der Junge sie vorbei an zahllosen Kuppeln, Mauern und Tempeln. An einigen davon wurde gearbeitet. Mit Seilwinden schleifte man große Steine an ihren Ort und überall war das Hämmern von Steinmetzen zu hören. Wolken aus Staub hingen in der Luft und ließen außer Sin und Jarmila auch Sindbad den Seefahrer und die beiden Soldaten husten. Da die Luft sehr feucht war, hielten sich die Staubwolken allerdings in Grenzen.

Einige der Steinmetze waren von oben bis unten von diesem feinen, grauen Staub bedeckt. Sie wirken dann so, als wären sie zum Leben erwachte Gestalten aus den Reliefs.

Dann erreichten sie einen größeren Platz und dort ragte ein Gebäude aus grauem Stein empor.

Zuerst dachte Sin, es wäre nur irgendein weiterer Tempel, nur dass er zu den größeren Bauwerken gehörte und man seine Form deshalb auf den ersten Blick nur schwer erkennen konnte.

„Garuda“, sagte der Junge, der sie geführt hatte und deutete auf den Tempel.

Sin blickte an den Mauern empor und dann fiel es ihm auf, dass er bisher nur den Sockel angesehen hatte, auf dem das Ebenbild eines riesenhaften Vogels stand.

„Garuda“ murmelte er.

Selbst Jarmila war sehr beeindruckt. „Er sieht genauso aus, wie auf den Karten, die ich gesehen habe“, murmelt sie. Sin entrollte noch einmal die Zeichnung. Die Übereinstimmungen waren erstaunlich. Die Form des Schnabels erinnerte Sin an die abgerichteten Falken, mit denen auf den Basaren von Bagdad gehandelt wurde. Nordmänner brachten sie aus ihren fernen, kalten Ländern mit und gerade diese Falken galten als die besten. Aber richtig wertvoll wurden sie erst durch die Ausbildung. Ein Vermögen konnten sie wert ein. Mehr als ein großes Haus oder eine Dau.

Der Steinsockel war grau, aber der Vogelgott selbst war bunt angemalt. Das war so kunstvoll geschehen, dass man den Eindruck haben konnte, dass seine Augen auf einen herabsahen und jeden Schritt beobachteten, den man tat.

„Danke“, sagte Sindbad der Seefahrer dem Jungen, der sie hier her geführt hat.

„Danke“, wiederholte dieser das arabische Wort dafür, dass Sindbad benutzt hatte. „Shukran!“

Es schien den Kleinen zu amüsieren, sich selbst ein Wort in einer für ihn völlig fremden Sprache sprechen zu hören. Er grinste und lachte. Und dann sagte er gleich noch dreimal „Shukran!“

Sin wandte sich unterdessen den fein gearbeiteten Reliefs zu, die den Sockel zierten. In Stein gehauene Bilder, die Geschichten erzählten. Geschichten, die man verstehen konnte, auch wenn man nicht lesen und schreiben konnte! Schriftzeichen gab es keine, soweit Sin feststellen konnte. Aber sicher war er sich da nicht, denn manche der Verzierungen, die die einzelnen Bilder voneinander abgrenzten, waren vielleicht in Wahrheit nichts anderes als Zeichen für Buchstaben, Silben oder ganze Wörter.

Sin konnte nicht anders, er musste diesen Stein einfach berühren. Vorsichtig strich er mit der Hand über das Relief. „Selbst ein Blinder könnte fühlen, was hier zu sehen ist“, meinte er, während er den Anfang der Geschichte suchte, die hier dargestellt war.

„Tja, nun wissen wir jedenfalls, dass die Kartenzeichner des Königs Rajaraja ihr Handwerk beherrschen“, meinte Sindbad der Seefahrer. „Und es sollte eigentlich auch jedem klar sein, dass das Land der Riesenvögel wirklich existiert – oder existiert hat, bevor es möglicherweise unterging! Denn genau wie dieser Vogel sah auch der Vogel Rock aus und ich bin überzeugt davon, dass man diesen Tempel nach seinem Vorbild geschaffen hat!“

„Jedenfalls sieht Garuda im Chola-Reich etwas anders aus“, stimmte Jarmila zu.

„Seht nur!“, rief Sin. „Seht nur! Oh Sindbad, schau, hier hat man deine Geschichte in Stein gehauen!“ Sin war völlig außer sich.

Er deutete auf einen Stelle des Reliefs, wo ein Riesenvogel einen Mann in die Höhe trug. Und an einen Ort brachte, an dem es viele Schlangen gab. Dort kämpfte der Vogel gegen die Schlangen.

„Oh großer Sindbad, hast du nicht erzählt, dass dich der Vogel Rock in ein Tal gebracht hat, in dem es viele Diamanten gab und in dem viele Schlangen lebten?“

„Ja, das ist wahr!“, murmelte der berühmte Seefahrer, während er sich mit nachdenklichem Gesicht die in Stein gehauenen Bilder ansah.

„Es ist deine Geschichte! Sindbad, war vielleicht hier das Land der Riesenvögel? Konntest du dich vielleicht nur nicht mehr an die Küste erinnern? War es vielleicht gar keine Insel, sondern die Küste dieses Landes, wo dich deine Kameraden zurückließen und der Vogel Rock davontrug?“

„Nun, das will ich nicht ganz ausschließen“, sagte Sindbad.

„Ich denke, dass dieser Mann, der vom Vögel getragen wird Vishnu ist“, meinte Jarmila nüchtern. „Garuda ist schließlich sein Reittier! Und auch wenn dieser Vishnu keine vier Arme und nur ein Gesicht hat und dieser Garuda nur wie ein Vogel und nicht wie eine Mischung aus einem Mann und einem Vogel aussieht, erkenne ich unsere Göttergeschichten wieder!“

„Ich glaube, dass es Sindbads Geschichte ist“, beharrte Sin. „Denn was hätte diese begnadeten Steinmetze daran gehindert, Garuda mit dem Oberkörper eines Mannes und Vishnu mit mehreren Gesichtern und Armen zu hauen? Und dass sie dann auch noch ausgerechnet in einem Tal landen, in dem es Diamanten und Schlangen gibt!“

„Ich sehe nur Schlangen, keine Diamanten“, sagte Jarmila. „Und Garuda ist als Schlangenbekämpfer bekannt!“

„Das hier“, meinte Sin und deutete auf eine bestimmte Stelle, „sind die Diamanten.“

„Sin, das sind Kratzer und poröse Stellen im Gestein!“

„Die diese wie du schon sagtest begnadeten Steinmetze und Bildhauer nicht hätten wegschleifen können, wenn sie das gewollt hätten?“, gab Sin zurück.

„Nun, dieser Streit führt uns nicht weiter“, meinte Sindbad der Seefahrer. „Ich halte es jedenfalls durchaus für möglich, dass die Menschen dieses Landes von meinen Abenteuern gehört haben und sie in Stein meißelten.“

„Und du glaubst wahrscheinlich auch, dass es vollkommen angemessen wäre, dich unter die Götter einzuordnen“, meinte Jarmila spöttisch. „Denn den Göttern ist der Stein in diesem Land vorbehalten!“

Nachdem sie zum Schiff zurückgekehrt und Ibn Sina von dem steinernen Garuda und dem Relief an seinem Sockel berichtet hatten, war dieser davon so fasziniert, dass er es sich unbedingt selbst ansehen wollte. „Vielleicht sind in diesem Relief ja noch weitere Hinweise verborgen, ohne dass man es zu erkennen vermag“, vermutete er. „Und dass der Garuda hier anders dargestellt wird, kann ja auch daran liegen, dass es unter den Bildhauern Menschen gibt, die den Vogel Rock und seine Artgenossen gesehen haben und sie mit Garuda in Verbindung gebracht haben!“

„Ich führe dich gerne zu diesem Garuda-Tempel hin“, sagte Sindbad der Seefahrer und grinste dabei. „Mit und ohne Soldaten zur Bewachung.“

„Hauptmann Hassan geht es jetzt besser“, berichtete Ibn Sina. „Ich habe ihn mit einem belebenden Aufguss behandelt und jetzt schläft er tief und fest, was wohl das Beste ist, was er tun kann.“

„Wenn du glaubst, dass du ihn allein lassen kannst, dann...“

„Ach, ich glaube, im Augenblick kann ich ohnehin nichts für ihn tun“, meinte Ibn Sina. „Und lange werden wir ja nicht unterwegs sein – jetzt, da du den Standort dieses Tempels genau kennst!“

Und so machte sich Ibn Sina zusammen mit Sindbad dem Seefahrer ein zweites Mal zu dem Tempel des Garuda auf. Diesmal wurden sie nur von einem Soldat begleitet. Offenbar hatte die Nachricht, dass die Abenteuer von Sindbad dem Seefahrer in diesem Land in Stein gemeißelt worden waren, selbst auf Firuz den Perser großen Eindruck gemacht. Ein Soldat zur Bewachung des zwielichtigen Seefahrers, das schien genug zu sein, so dachte er wohl.

Jarmila und Sin blieben jedoch an Bord der Dau.

Sin musste seinen Pflichten als Schiffsjunge nachkommen und das bedeutete im Moment, beim Säubern der leeren Krüge zu helfen, die mit frischem Wasser gefüllt werden mussten.

Branagorn, Abdul und Meister Heng kehrten erst am nächsten Morgen zurück. An Bord der Dau hatte man sich schon Sorgen darüber gemacht, was wohl mit ihnen geschehen war und ob der Herrscher von Angkor sie vielleicht einfach in ein Verlies gesperrt hatte, weil er die Fremden für Spione hielt.

Aber dem war nicht so.

„Der König will uns alle sehen“, berichtete Branagorn. „Die ganze Besatzung und auch unser Schiff.“

„Dann sollte Hauptmann Hassan möglichst rasch gesund werden, damit man nicht glaubt, er würde eine ansteckende Krankheit verbreiten“, meinte Ibn Sina, der ziemlich müde wirkte, weil er nahezu die ganze Nacht über im Schein einer Öllampe das Relief abgezeichnet hatte, das entweder den göttlichen Garuda bei seinem Kampf gegen Schlangen oder Sindbad den Seefahrer bei seinen Abenteuern zeigte – ganz wie man es auffassen wollte.

„Drei Tage wird es dauern, bis man uns in den Palast lässt“, sagte Branagorn. „Denn dann sind die Sterne günstig für ein Zusammentreffen von so fremden Menschen aus so fern voneinander liegenden Ländern. So zumindest hat man es uns erklärt beziehungsweise so habe ich die Erklärung verstanden, die Meister Heng mir in die Sprache der Veda übersetzte.“

„Und er will wirklich uns alle empfangen?“, fragte Sindbad der Seefahrer daraufhin.

„Der König von Angkor ist sehr an allem interessiert, was aus fernen Ländern kommt. Er will sehen, mit wem er es zu tun hat und wir sollen sogar unser Schiff mitbringen und über den künstlichen See segeln, in dessen Mitte der Palast liegt.“

„Dann scheint er so etwas wie Unterhaltungskünstler oder Gaukler in uns zu sehen“, meinte Jarmila leise an Sin gerichtet. „Das Leben dieses göttlichen Königs muss ja ziemlich langweilig sein, wenn er darauf angewiesen ist, dass unser Anblick ihm die Zeit vertreibt!“

Abdul aus Cordoba berichtete noch davon, dass er den Brief des Königs Rajaraja und den Gesandtschaftsbrief des Kalifen einem der Hofbeamten hätte übergeben können. „Der Name von König Rajaraja war gut bekannt, aber wer der Kalif von Bagdad ist, weiß im Palast anscheinend niemand“, erklärte Abdul sichtlich erschüttert darüber, dass der Herr aller Rechtgläubigen anscheinend in diesem Land vollkommen unbekannt war.

„Wir sollten den König nach Sindbad dem Seefahrer fragen“, schlug Ibn Sina dann vor und berichtete dann seinerseits von dem Relief des Tempel des Garuda.

DIE AUDIENZ

In den nächsten drei Tagen wurde die Dau so gut es ging auf Vordermann gebracht und herausgeputzt. Auch Sin und Jarmila mussten dabei kräftig mithelfen. Schließlich wollte man ja einen guten Eindruck auf den König von Angkor machen. Ibn Sina, Branagorn und Abdul aus Cordoba zog es dafür immer wieder zum Tempel des Garuda. Meister Heng begleitete sie und sie hatten die Hoffnung, dass der Mönch ihnen vielleicht mehr über die Bedeutung des Reliefs offenbaren konnte.

Jedenfalls stellte sich heraus, dass die Verzierungen, die die einzelnen Bilder des Reliefs voneinander abgrenzten in Wahrheit aus verschnörkelten Schriftzeichen bestanden. Branagorn zeichnete diese Schrift auf ein Pergament nach und ließ sich von Meister Heng den Inhalt übersetzen.

Dabei gab es natürlich erhebliche Verständigungsschwierigkeiten.

Trotzdem konnte Branagorn einiges herausfinden, was er am Abend den anderen verkündete. „Die Schrift spricht von einer Insel jenseits der Inseln und der kleinen und großen Länder des Feuers. Einem Land, in dem es viele von Garudas Art gäbe, aber keine Menschen.“

„Weil dieses Land den Göttern vorbehalten ist“, murmelte Jarmila etwas deutlicher, als sie beabsichtigt hatte und alle, die Branagorn zugehört hatten, drehten sich für einen Moment zu ihr um.

„Ja, genau das sagt auch Meister Heng“, bestätigte Branagorn. „Wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann steht genau das in der Inschrift“

Kapitän Firuz verzog das Gesicht und wandte sich an Sindbad. „So ist die Insel der Riesenvögel vielleicht doch nicht versunken, viel gerühmter Seeheld“, spottete er. „Allerdings frage ich mich noch immer, ob du überhaupt dort gewesen bist.“

„Das wird sich herausstellen, wenn wir den Weg in dieses geheimnisvolle Land gefunden haben“, mischte sich Abdul aus Cordoba ein.

Nach drei Tagen ging es Hauptmann Hassan schon wieder besser. Die Medizin, die Ibn Sina ihm eingeflößt hatte, schien zu wirken. Zwar sah er immer noch ziemlich blass aus, aber wenigstens hatten die Bauchkrämpfe aufgehört. Die 'Flügel des Windes' war auf Hochglanz gebracht. Alles war gereinigt, das Segel geflickt, die Banner des Kalifen aufgezogen und außerdem hatte Branagorn darauf bestanden, dass alle Besatzungsmitglieder ihre Kleidung in Ordnung brachten.

„Branagorn hat wohl Angst davor, dass wir aussehen wie eine Horde von Piraten, die zufällig hier her gespült wurden“, meinte Sin an Jarmila gerichtet, die ihre Haare im Flusswasser gewaschen und zu einem Zopf zusammengefasst hatte.

Kapitän Firuz hatte schon einige seiner Männer zum Rudern abgeordnet, doch das war voreilig gewesen. Denn es kamen mehrere Boote mit bunt gekleideten Palastwachen an Bord. Diese Boote waren gekommen, um die 'Flügel des Windes' abzuholen und durch die Kanäle zu schleppen.

Und so trat die Dau ihre Reise durch das engmaschige Kanalnetz an, dass Angkor durchzog.

Sin und Jarmila standen zusammen mit Sindbad und Branagorn am Bug des Schiffes. Sie passierten einen prachtvollen Tempel nach dem anderen. Überall waren die beinahe lebendig wirkenden Steinreliefs zu sehen. Göttergesichter mit Augen aus grüner Jade tauchten überlebensgroß zwischen knorrigen Bäumen auf, die von einem Heer von Gärtnern so zurechtgestutzt wurden, dass sie die Sicht nicht verstellten.

Dann erreichten sie schließlich den quadratischen See, in dessen Mitte sich der eigentliche Palast befand.

Sin vergaß beinahe, den Mund wieder zu schließen, als er die prachtvollen Türme und erhabenen Mauern sah. Der Palast unterschied sich nicht von den Tempeln. Aber warum sollte er auch?, dachte Sin. Wenn dieser König als Gott angesehen wird, dann war es auch einleuchtend, dass man ihn wie einen Gott wohnen ließ.

Hier auf dem quadratischen See wurden die Segel gesetzt. Branagorn war nämlich mitgeteilt worden, dass der König darum ausdrücklich gebeten hätte. Er wollte nämlich von einem seiner Türme aus beobachten, wie das fremde Schiff sich mit Hilfe des Windes bewegte.

Unglücklicherweise war es fast windstill. Die Banner des Kalifen hingen ebenso schlaff am Mast wie das Segel.

Zunächst trieb die 'Flügel des Windes' einfach nur ein Stück dahin und als sie sich dem breiten Straßendamm näherte, der zum Palast führte, wollte Kapitän Firuz bereits doch wieder Ruderer einsetzen.

„Nein, keine Ruderer“, wehrte Branagorn ab. „Ich glaube, der König will sehen, dass wir segeln – er wird uns sonst nie glauben, dass wir wirklich einen so weiten Weg hinter uns haben, wie wir es behaupten und vielleicht sogar annehmen, dass unsere Botschaftsbriefe nichts weiter als Fälschungen sind!“

„Dann wird das eine zwar kurze Seestrecke, aber doch eine sehr langwierige Reise“, knurrte Kapitän Firuz finster. „Bei Allah, es sieht nun wirklich nicht nach einer kräftigen Brise aus!“

Meister Heng hatte sich unterdessen nahe des Schiffshecks hingesetzte, dabei seine Beine miteinander verschränkt und die Augen geschlossen. Dabei murmelte er irgendwelche Gebete oder Formeln. Ein monotoner Singsang ertönte und als er die Augen öffnete, erhob sich plötzlich ein leichter Wind. Zunächst raschelte es in den Bäumen am Ufer. Aber dann bewegte sich endlich auch das Segel und blähte sich.

Zumindest ein wenig.

Große Fahrt nahm die 'Flügel des Windes' nicht gerade auf. Aber alle an Bord waren schon froh, dass sie sich überhaupt in Bewegung setzte und nun langsam aber doch sichtbar vorankam.

„Allah sei gepriesen!“, rief Kapitän Firuz. „Auch wenn es der Zauber eines Heiden war, der den Wind herbeirief!“

Das Schiff erreichte nach einer quälend langsamen Fahrt den Palast. Diener standen am Ufer bereit, um die 'Flügel des Windes' festzumachen. Ein in bunte Gewänder gekleideter Mann verbeugte sich und redete dann auf die Ankömmlinge ein. Natürlich verstand zunächst niemand etwas, abgesehen von Meister Heng. Der übersetzte es dann in die Sprache der Veda und Branagorn übersetzte dies dann für alle anderen.

„Wir sollen alle das Schiff verlassen. Man erwartet uns im Palast“, sagte Branagorn.

„Wer hätte gedacht, dass ich innerhalb so kurzer Zeit Audienzen bei zwei so mächtigen Herrschern haben werde wie König Rajaraja und dem König von Angkor“, meinte Sin. „Und dabei bin ich doch nur der Sohn eines Lastträgers, der dazu bestimmt zu sein schien, selbst ein Lastenträger zu werden.“

„Wenn ich dir einen guten Rat geben darf: Lass dass besser nicht zur Gewohnheit werden, Sin“, sagte Sindbad der Seefahrer an seinen Namensvetter gerichtet, während sie beide gerade an Land stiegen.

„Wieso nicht?“, fragte Sin.

„Könige und Fürsten haben die Eigenschaft, manchmal sehr wechselhaft in ihrer Zuneigung zu sein. Sie überhäufen dich mit Ehrungen und im nächsten Moment drohen sie dir vielleicht schon an, dir den Kopf abschlagen zu lassen! Sie sind unberechenbar und deshalb sollte man ihre Gesellschaft meiden!“

„Ich fürchte, diese Wahl bleibt uns nicht“, erwiderte Sin.

„Leider. Also hoffen wir das Beste!“

Die ganze Mannschaft bis zum letzten Mann fand sich am Ufer ein. Die Diener vertäuten die Dau. Kapitän Firuz und Omar der Steuermann sahen mit tief gerunzelter Stirn dabei zu.

„Lasst euch nicht anmerken, dass es euch nicht gefällt, wenn ihr die Knoteten nicht selber schlagt“, mischte sich Branagorn ein. „Ich habe den Eindruck, dass das möglicherweise als unhöflich empfunden würde!“

Die Wachen nahmen sie in die Mitte und führten sie von der Anlegestelle fort zum Palasttor. Es wurde geöffnet. Sie durchquerten einen großem Hof und schritten dann ein breites Portal empor. Wächter mit langstieligen Waffen, an deren Enden sich sichelförmige Klingen befanden, bewachten das Portal und gingen zur Seite.

Die Besatzung der 'Flügel des Windes' wurde in einen gewaltigen, hohen Saal geführt. Die Wände waren von Reliefs übersät. Tausende von steinernen Wächtern, Schutzdämonen und Tempeltänzerinnen waren dort zu sehen. Sin hatte den Eindruck, dass sie alle den Ankömmlingen mit ihren Blicken folgten.

Auf einem hohen Steinthron saß ein eher unscheinbarer Mann in den mittleren Jahren. Er war prächtig geschmückt, trug einen Reif aus Gold um die Stirn, der mit Jade besetzt war. Seine Gewänder waren aus kostbarer Seide.

Die Hofbeamten machten durch Zeiten deutlich, dass die Ankömmlinge sich niederzuknien hatten.

Manche Dinge sind wohl überall gleich, dachte Sin.

Dann erhob sich der König von Angkor von seinem Thron.

Er kam die Stufen des steinernen Sockels herab, auf dem sein Thron stand und ging durch die Reihen der Männer, die mit der 'Flügel des Windes' in sein Reich gekommen waren. Bei Branagorn blieb er kurz stehen, dann schritt er weiter. In seinen Gesichtszügen spiegelte sich großes Erstaunen wieder. Schon von ihrer Kleidung her schienen die Ankömmlinge einen sehr exotischen Eindruck auf den Herrscher zu machen.

Die Art und Weise, wie er sie alle musterte, erinnerte Sin an die Art und Weise, wie in den Straßen von Bagdad Affen, Elefanten und Schlangenbeschwörer angestarrt wurden.

Schließloch sprach der König mit ruhiger, gleichmäßig klingender Stimme. In der hohen Halle hallten seine Worte so gewaltig wieder, dass man tatsächlich meinen konnte, dieser König hätte selbst die Kräfte eines Gottes.

Meister Heng übersetzte seine Worte für Branagorn und der Mönch aus Corvey übertrug sie wiederum für alle anderen ins Arabische.

„Ich erwidere die Grüße an den König Rajaraja aus dem Reich der Chola und den Kalifen von Bagdad“, sagte der Herrscher von Angkor. „Das Ersuchen, einem Bündnis gegen die Krieger von Sri Vijaya einzugehen, werde ich überdenken. Dabei gilt es zu beachten, dass wir keine Flotte besitzen, um Krieger über das Meer zu bringen und dass die Menschen im Reich von Angkor den Frieden der Götter bewahren wollen.“ Nachdem Branagorn diese Worte übersetzt hatte, fügte er noch seine persönliche Meinung hinzu, indem er sagte: „Ich glaube, das ist die hier übliche höfliche Art und Weise auszudrücken, dass man mit dem Krieg des Chola-Reichs gegen Sri Vijaya nichts zu tun haben möchte.“

Der König von Angkor schwieg eine Weile. Er ging zurück in Richtung seines Thrones, blieb dann stehen und drehte sich wieder herum. „Mir wurde gesagt, ihr sucht das Land der Riesenvögel“, stellte er dann fest. „Und mir wurde auch gesagt, dass einer von euch bereits vor langer Zeit einmal dort gewesen ist. Wer von euch ist das?“

Sindbad der Seefahrer meldete sich zu Wort, nachdem die Worte des Königs übersetzt worden waren. „Ich bin das – Sindbad der Seefahrer, bekannt auf allen Meeren der Welt“, sagte der vielgerühmte Mann.

„Ich werde eine etwas bescheidenere Fassung deiner Worte übersetzen“, erklärte Branagorn daraufhin.

Offenbar traf zunächst Branagorn und anschließend Meister Heng genau den Ton, der dem König gefiel, denn ein Lächeln spielte einen Moment lang um dessen Mundwinkel, bevor das Gesicht des Königs von Angkor wieder so ausdruckslos wurde wie zuvor.

„Steh auf“, forderte der König Sindbad dann auf. Sindbad ließ sich das nicht zweimal sagen und erhob sich aus seiner knienden Haltung, in der alle anderen weiterhin verharren mussten. „Zu der Zeit, als noch mein Vater regierten, erreichte uns ein Schiff, dessen Mannschaft von den Inseln mit den rauchenden Bergen stammte. In einem Sturm waren diese Seeleute vom Weg abgekommen und so gelangten sie auf eine abgelegene Insel, die sie das Land von Garuda nannten, weil es von großen Vögeln bevölkert wurde.“

„Gestattet, dass ich Euch anspreche, hoher Herrscher“, sagte Sindbad und wartete dann, bis Branagorn und Meister Heng seine Worte übersetzt hatten.

„Sprich!“, forderte der König.

„Wir versuchen verzweifelt diese Insel wiederzufinden, um unserem Herrn, dem Kalifen von Bagdad ein Heilmittel zu bringen, das man aus dem Ei eines Riesenvogels zu gewinnen vermag und das den Kalifen von seiner quälenden Krankheit erlösen könnte. Haben die Seefahrer, von denen Ihr gesprochen habt, vielleicht irgendwelche Hinweise hinterlassen, wie man das Land des Garuda erreichen kann?“

„Eine seltsame Frage für einen Mann, der doch von sich sagt, er sei bereits dort gewesen“, fand der König von Angkor.

„Nun, ich strandete einst an jener Küste und einer dieser Garuda-Vögel trug mich fort. Ich konnte mir den Weg nicht so genau merken und auch wenn ich einst dieses Land schon betreten habe, stehen wir heute vor dem Problem, es wieder zu finden!“

„Leider hinterließen diese Seeleute keine Karte. Nur eine Beschreibung, die aussagt, wie man segeln muss und welche Sterne senkrecht über dem Land stehen müssen...“

„Könntet Ihr uns diese Beschreibung geben?“, fragte Sindbad. „Euch wäre die immerwährende Dankbarkeit des Kalifen sicher, wenn Ihr auf diese Weise dazu beitragen würdet, dass unser Herrscher wieder gesundet.“

„Es wurde damals ein Tempel des Garuda errichtet und die Steinmetze haben die Beschreibung in den Sockel gehauen. Ihr braucht sie nur abschreiben und zu lesen“, sagte der König. „Eine Frage habe ich noch an dich.“

„Ich werde Euch Eure Frage nach bestem Wissen und Gewissen beantworten“, versprach Sindbad.

„Wenn du das Inselreich von Garuda erreichst, würdest du dort ein paar behauene Steine lassen und dem Garuda auftragen, sie den Göttern zu bringen? Denn Garuda gilt bei uns als Bote der Götter.“

„Falls wir es schaffen, dieses Land zu erreichen, werden wir das tun“, versprach Sindbad.

„Vor einem Jahr war übrigens ein Kauffahrer in meinem Reich, der von sich behauptete, aus Bagdad zu kommen. Er war auf dem Rückweg aus dem Reich der Mitte und erwähnte deinen Namen.“

„So?“, fragte Sindbad, der erst nicht so genau wusste, wie er auf diesen Einwurf des Königs reagieren sollte. Doch dann fasste sich Sindbad und meinte: „Erinnert Ihr Euch an den Namen dieses Kauffahrers? Vielleicht bin ich an Bord seines Schiffes gefahren oder wir waren einst Kameraden derselben Besatzung! So gesehen sind die Meere der Welt manchmal kleiner als die Taschen einer Sultansweste!“

Der König versuchte mehrfach den Namen des Kauffahrers auszusprechen, aber weder Branagorn noch irgendein anderer der Anwesenden konnte sich einen Reim darauf machen, wie der Araber tatsächlich geheißen hatte. Sein Name schien mit M zu beginnen, aber selbst das war angesichts der fremdartigen Aussprache nicht ganz eindeutig. Mohammed, Mansur, Mustafa, Malik – all das schien möglicherweise gemeint zu sein.

„Dieser Kauffahrer“, fuhr der König schließlich fort, „behauptete ebenfalls das Land der Riesenvögel gesehen und von dort zurückgekehrt zu sein. Er sagte außerdem, dort einige Männer verloren zu haben und diese Gewässer nie wieder befahren zu wollen.“

„Möglich dass Ihr von Mansur Ibn al-Malik sprecht. Auf seinem Schiff fuhr ich einst“, behauptete Sindbad der Seefahrer.

„So brauche ich Euch ja nicht davor zu warnen, dass Garuda vielleicht nicht gefällt, wenn man das Land betritt, das den Göttern vorbehalten ist! Mehrere seiner Männer wären von Garuda zerrissen worden! Aber euch scheint das ja nicht zu schrecken.“

Sindbad schluckte. „Garuda hat mich in die Lüfte getragen, als ich als Gestrandeter zurückblieb“, erklärte Sindbad.

„So hast du offenbar das Wohlwollen der Götter. Verspiele es nicht durch respektloses Auftreten oder unbedachten Frevel!“

Der König hob die Arme, wie man es eher von einem Priester erwartet hätte. Aber das war er wohl für sein Volk in gewisser Weise auch. Er sprach einige Worte, bei denen die Übersetzung kaum einen Sinn ergab. Es schien sich um uralte Gebetsformeln zu handeln, die Namen vieler verschiedener Götter enthielten, von denen keiner der Ankömmlinge je etwas gehört hatte. Selbst Jarmila nicht.

„Die Weisheit Brahmas sei mit euch“, waren die letzten Worte, die der König zur Besatzung der 'Flügel des Windes' sprach. Dann drehte er sich um und schritt zurück zu seinem Thron. Doch ließ er sich anschließend nicht darauf nieder, sondern verschwand durch eine Tür, die sich daneben öffnete und hinter ihm wieder schloss.

Die Audienz beim König von Angkor war beendet.

IMMER NACH SÜDEN

Die 'Flügel des Windes' brauchte Stunden, um die Palastinsel des Königs zu verlassen und schließlich ihren alten Anlegeplatz wieder zu erreichen. Überall betrachteten neugierige Menschen das Schiff, dessen Bauweise sich deutlich von den hier üblichen Wasserfahrzeugen unterschied. Dass die Fremden an Bord offenbar eine Audienz beim König genossen hatten, sprach sich sehr schnell herum. Es war ja auch offensichtlich gewesen. Jedermann hatte schließlich sehen können, wie das fremde Schiff den quadratischen See überquert hatte.

Auf dem Rückweg verließ man sich allerdings nicht auf die Kraft des Windes. Stattdessen ließ Kapitän Firuz seine Männer rudern. Etwas missmutig wandte sich der Perser an Branagorn. „Du könntest doch Meister Heng fragen, ob er nicht noch einmal den Wind herbeirufen könnte.“

Nachdem Branagorn kurz in der Sprache der Veda mit Meister Heng geredet hatte, erklärte er dann: „Meister Heng sagt, er habe nie den Wind herbeigerufen.“

„Aber wir sind doch alle Zeuge seines Zaubers geworden“, meinte Firuz stirnrunzelnd. „Bei Allah, ich bin kein abergläubischer Mensch und mir ist auch noch nie ein leibhaftiger Dschinn begegnet, aber in diesem Fall weiß ich doch, was sich vor meinen Augen ereignet hat.“

Branagorn redete daraufhin noch einmal mit Meister Heng. Es schien selbst für den gelehrten Mann aus dem fernen Corvey nicht so ganz einfach zu sein, genau zu verstehen, was die Worte des Mönchs zu bedeuten hatten.

Doch dann schien er es erfasst zu haben. Ein verhaltenes Lächeln spielte um Branagorns dünnlippigen Mund, als er sich wieder dem Perser zuwandte.

„Meister Heng sagt, dass das, was du für einen Zauber gehalten hast, nur dazu diente, ihm die Rückenschmerzen zu vertreiben, unter denen er Dank seines fortgeschrittenes Alters seit einigen Jahren leidet. Den Wind, so sagt er, haben allein die Götter geschickt. Und wenn sie ihn jetzt zurückhalten, so ist dies ebenfalls einzig und allein ihr Wille, der sich im übrigen nicht beeinflussen ließe.“

Am Abend saßen Branagorn, Abdul und Ibn Sina zusammen mit Meister Heng über der Abschrift der Zeichen auf dem Tempelsockel. Meister Heng las ihnen immer wieder vor, was dort stand, dann übersetzte er es in die Sprache der Veda und Branagorn übersetzte dies für alle anderen.

Sin hielt sich in der Nähe auf und verfolgte dies mit großer Anspannung, denn immerhin sollte doch das Rätsel des Riesenvogellandes in diesen Zeichen verborgen sein.

Sindbad den Seefahrer hingegen schien das nur beiläufig zu interessieren. Sin hörte, wie er mit Omar dem Steuermann sprach und ihm von den dramatischen Erlebnissen in einer Hafenstadt erzählte, deren Namen Sin nie gehört hatte. Omar offensichtlich auch nicht, denn er fragte mehrmals nach, wo dieser Hafen denn zu finden sei und welcher Sultan dort regiere. Sindbad schaffte es jedoch, dieser Frage immer wider auszuweichen. „Was sind schon Könige und Sultane?“, fragte er. „Sie regieren kaum ein Menschenalter lang, aber eine Stadt überdauert Jahrtausende!“ Und dann erzählte er einfach weiter. Er sprach von einer wilden Schlägerei im Hafen und einem Diebstahl, bei dem Sindbad angeblich in Verdacht geraten war, sodass er schließlich unter dramatischen Umständen flüchten musste. „In einem Fass ließ ich mich an Bord eines Schiffes tragen, das mich dann aus der Stadt brachte“, berichtete er und das alles war so dramatisch, dass Omar völlig vergaß, dass er ja eigentlich noch genauer wissen wollte, um welche Stadt es sich denn nun eigentlich handelte.

Seltsam, dass sich der große Sindbad so wenig dafür interessiert, wo wir das Land des Vogels Rock finden werden, ging es Sin durch den Kopf. Schließlich hatte sich doch nun herausgestellt, dass offenbar doch alles, was der Seefahrer gesagt hatte, der Wahrheit entsprach. Zumindest stellte sich das für Sin so dar. Zwar fragte er sich für kurze Zeit, wie es denn sein konnte, dass die Geschichte von Sindbad, der von einem Garuda davongetragen wurde, offenbar schon noch zu Zeiten des vorherigen Königs in den Stein gehauen worden war. Aber andererseits hatte ja niemand den König gefragt, wie lange er überhaupt schon regierte und ob er nicht vielleicht erst seit wenigen Jahren auf dem Thron saß. Und zweitens konnte es ja auch sein, dass das Relief erst viel später eingearbeitet worden war und der Tempel des Garuda selbst schon länger stand.

Alles war so verwirrend! In Sins Kopf drehten sich die Bilder und klangen alle Worte eines Tages dermaßen durcheinander, dass das alles zusammengenommen nichts weiter als ein einziges, ungeordnetes Durcheinander zu bilden schien. Lass mich nicht den Verstand verlieren, Barmherziger, ging es dem Jungen durch den Kopf.

Die drei Gelehrten Branagorn, Abdul und Ibn Sina waren unterdessen ziemlich verzweifelt. Es schien fast unmöglich zu sein, die Bedeutung der Inschrift zu entschlüsseln. Meister Heng las jeweils etwas von diesen alten Zeichen vor. Er beherrschte diese Schrift offenbar recht gut.

Branagorn versuchte dann, eine passende Übersetzung zu liefern und am Schluss schrieb Ibn Sina sehr aufmerksam alles mit Tinte auf ein Pergament.

Aber das Ergebnis stellte keinen der Beteiligten zufrieden.

„Wie wir es auch drehen und wenden, es ergibt einfach keinen Sinn“, sagte Ibn Sina ziemlich ärgerlich.

„Es sind offenbar Gebete“, stellte Abdul aus Cordoba etwas sachlicher fest. „Und da wir nicht an die Götter dieser Menschen glauben, erscheint uns manches vielleicht etwas befremdlich zu sein. Aber dass das alles keinen Sinn gibt, würde ich nicht ganz so sehen.“

„Jedenfalls kann ich daraus keinerlei Angaben darüber herauslesen, welchen Kurs wir zu segeln haben“, erklärte Ibn Sina. Er wandte den Blick zu Kapitän Firuz, der sich das Ganze schon eine ganze Weile mit verschränkten Armen ansah. „Oder wie denkst du darüber, Kapitän?“

„Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass es an der Übersetzung liegt“, erklärte der Perser. Er deutete auf Branagorn. „Ich will dir keinen Vorwurf machen, Ungläubiger! Diesmal wirklich nicht, denn ich bin überzeugt davon, dass du dein Bestes tust.“

„Aber das ist anscheinend leider nicht gut genug“, murmelte Branagorn, dem die innere Verzweiflung ebenfalls anzumerken war. Eine tiefe Furche hatte sich schon seit geraumer Zeit mitten auf seiner Stirn gebildet. Sie war dort gar nicht mehr verschwunden. „Ich verstehe das nicht!“

„Kann es sein, dass du vielleicht Meister Heng falsch verstanden hast?“, fragte Abdul aus Cordoba.

Unterdessen war Ibn Sina hochkonzentriert und hatte den Blick auf die Notizen gerichtet, die er sich gemacht hatte. Dann blitzte es plötzlich in seinen Augen. Er fasste sich an die Stirn und schüttelte den Kopf. „Bei Allah, das ist doch nicht möglich!“, stieß er hervor.

„Das klingt so, als hättest du einen deiner genialen Einfälle, junger Gelehrter“, meinte Abdul aus Cordoba mit zweifelndem Blick.

„Es ist so leicht, dass man gar nicht darauf kommt“, meinte Ibn Sina. „Ich habe die übersetzten Worte in umgekehrter Reihenfolge gelesen. Dann ist es nämlich kein Gebet, sondern eine Beschreibung. 'Vorbei an den Inseln mit den Feuerbergen in den Ozean des Südens', heißt es dann. „Oder zumindest so ähnlich!“

„Du hast Recht“, bestätigte Branagorn. Er nahm Ibn Sina das Pergament aus der Hand. Jetzt hielt den sonst so ruhig und besonnen wirkenden Mann aus dem fernen Corvey nichts mehr. Es schien ihm nun ebenso wie Ibn Sina wie Schuppen von den Augen zu fallen, während Meister Heng ein paar Sätze sprach, die niemand unter den Anwesenden verstand.

––––––––


Bevor sie aufbrachen, kamen Boten des Königs an Bord der 'Flügel des Windes'. Sie brachten einige heilige Steine, die in der Erde von Garudas Land vergraben werden sollten. Steinmetze hatten kunstvolle kleine Reliefs in diese Steine hineingearbeitet. Garuda würde diese Seine dann in der Erde finden und sie irgendwann zu den Göttern tragen, sodass diese die darin eingravierten Gebete lesen und sie dann hoffentlich auch erfüllen würde.

„Bei Allah, bin ich froh, dass unser Gott überall und auf sehr viel einfachere Weise angesprochen werden kann“, entfuhr es daraufhin Sin.

„Das mag schon sein“, gab Jarmila zu bedenken. „Aber weißt du, ob ein unsichtbarer Gott dich überhaupt hört?“

„Nun...“

„Wenn Garuda diese Steine bekommt und sie den Göttern bringt, dann werden sie auch die Gebete lesen. Dessen kann man sicher sein.“

Sin erwiderte nichts darauf. Es war wohl einfach eine Frage des Glaubens. Und wenn es schon so schwer war, zu entscheiden, ob die erstaunlichen Abenteuer eines berühmten Seefahrers nur Erfindung waren oder der Wahrheit entsprachen, wie viel weniger konnte man dann wohl sicher sein, die Wahrheit zu kennen, wenn es um Götter, Gebete und noch kompliziertere Dinge ging.

„Früher“, sagte Sin dann nach einer Weile zu Jarmila, „habe ich immer gedacht, es gäbe einfach nur wahr und unwahr.“

„Ist das denn nicht so?“, fragte sie zurück.

„Nein“, behauptete er. „Das meiste scheint irgendwie dazwischen zu liegen und man weiß ehrlich gesagt nie so recht, auf welche der beiden Seiten man es nun letztlich eigentlich sortieren sollte!“

Meister Heng blieb in Angkor. Die 'Flügel des Windes ' trat unterdessen den Rückweg zum offenen Meer an. Die Strömung machte die Reise diesmal leicht. Man war nicht auf den Wind oder die Kraft von Ruderern angewiesen.

„Ich bin gespannt, ob wir wirklich dieses geheimnisvolle Land erreichen“, meinte Jarmila an Sin gewandt, als sie das Delta des großen Flusses erreichten, der das Land der Khmer durchzog.

„Und warum sollte das nicht der Fall sein?“, fragte Sin. „Ich schäme mich schon fast, je an Sindbads Erzählungen gezweifelt zu haben. Aber es scheint sich ja alles bestätigt zu haben. Sogar ein arabischer Seefahrer, der hier her nach Angkor segelte, kannte ihn.“

„Ein Seefahrer an dessen Namen sich niemand erinnern oder ihn aussprechen kann und von dem dein verehrter Sindbad nun einfach dreist behauptet, dass wäre der Kapitän gewesen, der ihn an der Küste des Riesenvogellandes zurückgelassen hätte.“

„Ja, aber ist das denn nicht möglich?“

„Natürlich ist das möglich. Genau wie die Geschichte von der Sultanstochter, die er gerettet haben will und deren Existenz heute angeblich verschwiegen wird.“

„Jarmila...“

„Er hat für alles eine Erklärung, Sin! So ist er eben. Und wenn übermorgen ein neuer Stern am Himmel aufgeht, dann wird er dir erzählen, er sei schon dort gewesen.“

Immer nach Süden, so lautete die Anweisung, die in der Inschrift in verschlüsselter Form enthalten gewesen war. Vorbei an den Inseln mit den rauchenden Bergen und dem großen brennenden Land. Ein ganz bestimmter Stern war außerdem angegeben, der exakt senkrecht über dem Land anzupeilen sei, in dem Garuda lebte. Und wenn man sich dem Land am Tag näherte, würde anstatt des Sterns (der natürlich Garuda geweiht war) eine lange, weiße Wolke das Vorhandnein dieses Landes anzeigen, lange bevor man seine Küste am Horizont erkennen könnte.

Allerdings ergingen sich Branagorn, Ibn Sina und Abdul aus Cordoba in endlosen Diskussionen darüber, ob sie diese Anweisungen tatsächlich richtig verstanden hatten. Schließlich war die zweifache Übersetzung eine große Fehlerquelle. Und zwischenzeitlich zweifelte Abdul sogar völlig daran, ob es überhaupt richtig war, den Text in umgekehrter Reihenfolge zu lesen und ob die Angaben, die dadurch entstanden, nicht völlig willkürlich waren.

„Folgen wir dieser Spur“, mischte sich schließlich Sindbad ein. „Es sind die einzigen Hinweise, die wir haben...“

„Neben deinen etwas dürren Erinnerungen!“, kommentierte Kapitän Firuz spöttisch. Er hob zur Entschuldigung die Hände und fügte noch hinzu: „Aber ich will jetzt nicht lang und breit darüber sinnieren, ob jemand, der von einem große Vogel in die Höhe gehoben wird, vielleicht doch in der Lage sein könnte, sich etwas besser an den Ort zu erinnern, an dem ihm das widerfuhr.“

„Zumindest erinnere ich mich tatsächlich daran, dass eine lange, weiße Wolke über diesem Land schwebte“, erklärte Sindbad. „Schon von weitem war sie sichtbar, noch bevor ich dann unglückseliger Weise dort strandete und zurückgelassen wurde. Sie zog sich über dem ganzen Himmel und wir alle an Bord wunderten uns darüber! Später taufte unser Steuermann die Küste, an die wir gelangten, das Land der langen weißen Wolke.“

Firuz verzog den Mund. Der Ausdruck in seinen Zügen wechselte dabei von unverhohlenem Spott zu Verachtung. „Natürlich!“, sagte er. „Ich vergaß. Es gibt ja so wenige Inseln, über denen Wolken schweben! Das wird sicher ein Zeichen sein, an dem wir das Land erkennen werden. Ganz ehrlich, großer Sindbad – dieses ach so unverwechselbare Erkennungszeichen hätte ich mir an deiner Stelle sicherlich auch sofort gemerkt!“

In Angkor hatte hatte man reichlich Vorräte an Bord genommen. Trotzdem frischte man sie in einem Ort, der an der Küste einer unbekannten Insel lag, noch einmal auf. Branagorn meinte, er würde die Sprache der Leute dort zwar nicht verstehen, sie hätte aber zweifellos einen ganz ähnlichen Klang wie diejenige, die die Krieger aus Sri Vijaya untereinander benutzt hätten.

Jedenfalls wurde man sich handelseinig, ohne dass beide Seiten auch nur ein Wort von der Sprache der anderen hätten verstehen können. An den Amuletten und Götterfiguren konnte man sehen, dass die Lehren aus Indien sich offenbar hier ebenfalls verbreitet hatten. Aber schon die Namen, die man den Götter gegeben hatte, stimmten her nicht mehr mit denen überein, wie man sie in Angkor oder im Reich des Königs Rajaraja zu nennen pflegte.

Die 'Flügel des Windes' setzte ihre Reise schließlich mit günstigem Wind fort.

Immer wieder stieß man auf die Küste von Inseln, die teilweise von ganz erheblichen Ausmaßen zu sein schienen. Da musste man oft Tage oder sogar wochenlang eine Durchfahrt Richtung Süden suchen.

In jeder Nacht peilten die drei Gelehrten an Bord Garudas Stern über die Mastspitze der 'Flügel des Windes' an, so wie es in der Inschrift angegeben gewesen war – oder besser gesagt: so, wie sie die Inschrift mit Hilfe von Meister Heng verstanden hatten. Oft genug schlossen sich an diese Peilungen endlose Diskussionen darüber an, ob ihnen doch vielleicht irgendein ganz grundsätzlicher Fehler unterlaufen sei.

Am Tag orientierten sie sich am Stand der Sonne und wiesen Omar den Steuermann an, stets einen Kurs einzuhalten, der möglichst geradewegs nach Süden führte.

Sin hatte die Tage kam noch mitgezählt, die seit ihrem Aufbruch aus Angkor vergangen waren.

Aber eines Morgens, als er erwachte, war das erste, was Sin sah, eine Insel, auf der sich ein gewaltiger Berg erhob. Und dieser Berg rauchte. Die Rauchfahne zog mit dem Wind und war gewiss weit über den Horizont hinaus noch zu sehen.

„Die rauchenden Berge!“, rief Sin aufgeregt.

Die meisten an Bord schliefen noch. Der Seegang war so ruhig gewesen, dass man, seit man sich in diesen südlichen Gewässern befand, bei Nacht nicht mehr an Land gegangen war, zumal das auch immer zusätzliche Gefahren mit sich brachte. Omar der Steuermann war einer der wenigen, die schon wach waren. Aber er schien es nicht für nötig befunden zu haben, die anderen deswegen zu wecken.

Branagorn war bereits auf den Beinen. Dass er besonders wenig Schlaf bracht, war Sin sowieso schon im Verlauf der Reise aufgefallen. Der Mann in der Kutte blickte zu dem rauchenden Berg hin über und nickte leise.

Sin lief zu ihm hin, während Jarmila sich gerade erst umdrehte und gähnte.

„Du beobachtest den rauchenden Berg schon länger!“, stellte Sin fest.

„Seit er am Horizont auftauchte“, gab Branagorn zu. „Da war es noch dunkel und die Rauchsäule verdeckte einen Teil der Sterne.“

„Alles, was Sindbad gesagt hat, trifft zu“, sagte Sin und er fühlte eine große Erleichterung.

Branagorn wandte den Kopf und bedachte Sin mit einem gleichermaßen rätselhaften wie prüfenden Blick. „Du hast dir gewünscht, dass seine Erzählungen der Wahrheit entsprechen.“

„Das stimmt, das habe ich. Nur in einem Punkt sollte er sich besser geirrt haben.“

„Und in welchem?“

„Ich hoffe, dass das Land, das wir suchen weder jetzt noch in naher Zukunft im Meer versinkt und dass die gebirgigen Inseln, an denen wir vorübersegeln, nur rauchen, aber kein Feuer spucken!“

Die 'Flügel des Windes' verließ schließlich das Gebiet mit den vielen Inseln. Und das war nicht das einzige, was sich veränderte. Es wurde sehr warm und manchmal blies über Tage hinweg kein Lüftchen. Dann trieb das Schiff einfach nur im Ozean, dessen Wellen kaum spürbar waren.

Kapitän Firuz ordnete zwar an, dass gerudert wurde, aber angesichts der großen Entfernungen, die sie zurückzulegen hatten, war das kaum ein Lösung. Bald waren sie von allen Seiten vom Ozean umgeben und es schien nirgends am Horizont noch Land zu existieren.

Sin fühlte sich an jenen Moment erinnert, als sie den Piraten jenseits der Straße von Hormus mit knapper Not entkommen waren.

Wie damals wurden auch jetzt die Vorräte streng eingeteilt, denn schließlich wusste niemand an Bord, wie lange diese Flaute andauern würde.

Tag um Tag verging und eine glühend heiße Sonne brannte ihr Feuer auf sie herab – so heiß, dass es um die Mittagszeit, wenn die Sonne am höchsten stand, schwer wurde, überhaupt einen klaren Gedanken fassen zu können.

Wie ein lähmendes Gift wirkte die Hitze auf die Männer an Bord.

Des Nachts ließ sich zwar Garudas Stern hervorragend anpeilen, aber das half ihnen nicht. Schließlich konnten sie ihm ja doch nicht folgen.

„Garuda will nicht, dass wir sein Land erreichen“, meinte Jarmila einmal zu Sin. „Wahrscheinlich ist es ein großer Frevel, diese Küste zu bereisen und dort landen zu wollen und deswegen werden wir jetzt gestraft.“

DER STURM

Die Flaute hielt quälend lange an. Dann endlich begann sich etwas zu ändern. Wind kam auf und die Dau bekam wieder Fahrt.

Die Tage vergingen nun einer wie der andere. Omar hielt einfach Kurs und jeder an Bord hoffte, dass irgendwann hinter dem Horizont wieder Land auftauchte. Schon begannen einige der Seeleute und Soldaten an Bord zu murren. Es sei besser umzudrehen, so lange das noch möglich sei und man sich nicht zu weit von den bekannten Ländern entfernt hätte.

Die Stimmung wurde Tag für Tag gereizter. Und dann wurde der Horizont mitten am Tag plötzlich dunkel.

Selbst Kapitän Firuz, den sonst nicht allzu viel erschüttern konnte, zog die Stirn in Falten.

Er wandte sich an Sindbad den Seefahrer. „Hast du auf den Fahrten, die du gemacht hast, schon mal so etwas gesehen?“

Sindbad war ganz blass geworden. Er schüttelte stumm den Kopf. Unterdessen wurde der Himmel von Augenblick zu Augenblick dunkler. „Das Segel herunter!“, rief er dann. „Sofort! Verliert keine Zeit!“

„Wegen ein paar dunklen Wolken in weiter Ferne?“, fragte Kapitän Firuz.

„Tun wir besser, was er sagt“, schlug Branagorn vor.

„So ein Unfug“, meinte Firuz.

„Runter mit dem Segel!“, verlangte Sindbad. Der Junge Sin hatte seinen berühmten Namensvetter noch nie so erlebt. Sindbad der Seefahrer schien wirklich von Furcht getrieben zu sein – und das war für ihn eigentlich vollkommen untypisch. Schließlich hatte er doch sonst immer eine passende Bemerkung (oder eine Ausrede!) auf den Lippen. Aber im Augenblick schien es ihm wirklich ernst zu sein.

„Über ein paar Wolken sollte man sich freuen, die bedeuten mehr Wind“, meinte Firuz.

„Ja, vielleicht ist das im arabischen Golf so“, fuhr Sindbad ihn an. „Aber nicht hier! Ich habe einen Mann in Al-Bahrain davon erzählen hören, wie er draußen im endlosen Ozean in ein solches Wetter geriet... Wir haben keine Zeit mehr. Wenn wir das Segel nicht herunternehmen, werden wir es verlieren! Bindet außerdem alles fest – auch euch selbst! Los!“

Er begann damit die Knoten der Seile zu lösen, mit denen das Segel befestigt war. „Sin! Hilf mir!“, rief er auf eine so drängende Weise, dass der Junge sich nicht entziehen konnte.

„Tun wir, was er sagt“, meinte Abdul aus Cordoba. „Er ist nunmal der erfahrenste Seemann unter uns.“

„Ihr Leichtgläubigen“, knurrte Firuz düster.

Innerhalb kurzer Zeit war das Segel vom Mast geholt und zusammengebunden. Sindbad bestand darauf, denn sonst würde es verloren gehen. „Bindet euch selber auch fest!“, rief er. „So lange noch Zeit ist!“

Dass dies kein gewöhnliches Wetter war, wie die Besatzung der 'Flügel des Windes' es sonst auch schon erlebt hatte, wurde jetzt so manchem klar, denn die Dau wurde von immer gewaltiger werdenden Wellen angehoben. Regen setzte ein. Und in der Ferne waren wirbelnde Säulen zu sehen, die über das Wasser tanzten.

Der Regen wurde heftiger.

Sin band sich mit einem Seil fest und sorgte dafür, dass auch Jarmila ein Tau um ihren Leib knotete und es an der Reling befestigte.

Das Schiff schwankte inzwischen so stark, dass niemand mehr auf seinen Füßen stehen konnte. Alle Mitglieder der Besatzung hatten sich irgendwo an Bord einen Platz zum Sitzen gesucht, klammerten sich fest, überprüften noch einmal die Knoten der Seile, mit denen sie sich selbst festgebunden hatten und hofften ansonsten, dass dieses dunkle Unheil, das da über sie hinwegzog, glimpflich verlaufen werde. Das Schiff war nur noch ein Spielball unfassbarer Kräfte. Das Segel war zwar vom Mast geholt worden, das Banner des Kalifen allerdings nicht.

Es dauerte nicht lange und es waren nur noch Fetzen von ihm übrig, so sehr riss der Wind daran. Der Regen peitschte und jeder an Bord war bereits innerhalb der ersten Augenblicke, da sich die Wolkenschleusen geöffnet hatten, nass bis auf die Haut. Hoch hoben die Wellen die Dau empor, bevor sie dann wieder in tiefe Wellentäler hinabfiel und man das Gefühl bekam, die Hand eines gebirgsgroßen Dschinns hätte die 'Flügel des Windes' emporgehoben und anschließend aus der Höhe wieder fallen gelassen.

Sin klammerte sich an der Reling fest. Die Schreie der Männer waren kaum zu hören, so ohrenbetäubend toste der Sturm. Die Wut, mit der er das Schiff herum schleuderte, wollte gar nicht aufhören. Die Finsternis, die wie eine große, dunkle Wand auf sie zugekommen war, hüllte sie jetzt vollkommen ein. Es war beinahe so dunkel, als wäre mitten am Tag die Nacht hereingebrochen.

Allah, mach dass wir das überstehen, konnte Sin nur noch denken. Aber im Augenblick schienen sich alle Kräfte gegen die Besatzung der Dau verschworen zu haben.

So schnell wie das Unheil gekommen war, so plötzlich war es auch wieder vorbei. Alles fühlte sich nass und glitschig an.

Tatsächlich hatte die 'Flügel des Windes' kein einziges Besatzungsmitglied verloren, wie sich bald herausstellte.

„Bei allen Göttern, was war das denn?“, flüsterte Jarmila, der der Schrecken – wie allen anderen auch – noch ins Gesicht geschrieben stand.

„Wäre Sindbad nicht gewesen und hätte uns gewarnt und angewiesen, das Segel einzuziehen, so wären wir mit Sicherheit gekentert“, meinte Sin.

„Viel hätte da wohl auch so nicht gefehlt“, erwiderte Jarmila mit Blick darauf, dass das Wasser fast kniehoch in der Dau stand.

Firuz rief Befehle. Es musste schleunigst dafür gesorgt werden, dass das Wasser aus dem Schiff kam – denn sonst bestand immer die Gefahr, dass es in Bewegung geriet und dann die Dau zum kentern brachte - und in dem Fall wären sie zweifellos alle verloren gewesen. Das nächste Stück Land musste unzählige Meilen weit entfernt sein. Weiter jedenfalls als der Horizont, denn in welche Richtung man auch sah – es war überall nichts als das Blau des Meeres zu sehen.

Die dunkle Wand, die über sie hinweggezogen war, tobte ihre Wut jetzt offenbar woanders aus. Man sah sie noch in der Ferne ihren Weg fortsetzen und langsam verschwinden, so wie auch die Säulen aus wirbelnder Luft, die an böse Geister aus den Erzählungen der Geschichtenerzähler erinnerten, die an den Straßenecken von Bagdad mit Sindbad dem Seefahrer um die Gunst der Zuhörerschaft wetteiferten, um sich ein paar Münzen zu verdienen.

Alle noch verfügbaren Gefäße wurden jetzt benutzt, um das Wasser aus dem Schiff herauszuschöpfen. Und wer keinen Krug, kein Gefäß, kein Ruderblatt oder etwas Vergleichbares mehr bekam, der schöpfte das Wasser mit den bloßen Händen oder benutzte ein Kleidungsstück, um es aufzusaugen und dann über die Reling zu halten und auszuwringen.

Es dauerte bis zum Einbruch der Nacht, bis es einigermaßen geschafft war. Und nachdem die Dunkelhit hereinbrach, setzte erneut Regen ein. Diesmal allerdings ein ruhiger, gleichmäßiger Regen, ohne dass dabei ein Sturm aufkam. Die Wolken waren so dicht, dass kaum etwas von den Sternen zu sehen war. Und Garudas Stern, der sie eigentlich leiten sollte, war natürlich auch nicht sichtbar. Wolken verdeckten ihn. Es war nicht daran zu denken, ihn unter diesen Umständen anzupeilen.

Erst am nächsten Morgen schien sich das Wetter einigermaßen beruhigt zu haben.

Die ganze Nacht hatte es mal heftiger und mal etwas schwächer geregnet. Immer wieder hatte Wasser geschöpft werden müssen. Alle an Bord waren der Erschöpfung nahe. Aber immerhin hielten sich die Verluste an Vorräten und Trinkwasser in Grenzen. Die meisten Fässer waren noch an Bord und offenbar so gut befestigt gewesen, dass selbst der Sturm daran nicht hatte rütteln können.

Es dauerte noch bis zum Mittag, bis man endlich das Segel wieder aufzuziehen wagte.

Mit einem gemäßigten Wind im Rücken segelte die Dau weiter. Ob man wirklich noch auf dem richtigen Weg war, konnte niemand an Bord noch beurteilen. Selbst die drei Gelehrten nicht, die darüber immer wieder in lange Streitgespräche gerieten.

Immerhin ließ sich in der nächsten Nacht Garudas Stern wieder anpeilen. Das gab zumindest etwas Sicherheit, nicht vollkommen in die falsche Richtung unterwegs zu sein, oder gar am Ziel meilenweit vorbeizusegeln.

Sindbad unterhielt die Soldaten von Hauptmann Hassan unterdessen bereits wieder mit seinen Erzählungen. Der Respekt den der Seefahrer genoss, war seit dem Sturm sichtlich gestiegen. Jedem an Bord war klar, dass das Schiff mit Sicherheit gekentert wäre, wenn das Segel nicht rechtzeitig vom Mast genommen worden wäre. Nur das hatte ihnen allen das Leben gerettet.

„Ein Schiff ist nicht mehr als eine Nussschale auf dem Ozean“, sagte Sindbad und vollführte dabei eine weit ausholende Geste. Der berühmte Seefahrer hatte seinen Turban ausgewickelt und in die Sonne gelegt, damit er wieder trocknete. „Einmal während meiner zweiten Reise, geriet unser Schiff in einen Sturm, der ganz ähnlich war wie jener, den wir über uns ergehen lassen mussten. Auch damals war der Horizont schwarz wie die Nacht und außerdem erschien eine gewaltige, bis zum Himmel reichende Säule aus wirbelnder Luft. Bei Allah, wenn es in den Weiten der Meere Dschinne und böse Geister gibt, dann muss dieser Sturm von mindestens hundert dieser üblen Gesellen beseelt gewesen sein... Doch wie auch immer, damals lernte ich hautnah, wie man sich gegen ein solches Ungeheuer wehren muss und wie man es schafft, dass die Gewalt des Sturms einen nicht zerbricht oder das Schiff untergehen lässt.“

„Ich dachte, das alles hättest du von einem Seefahrer gehört, den du in Al-Bahrain trafst“, mischte sich Firuz ein, der der Erzählung eine Weile zugehört hatte. Es störte den Kapitän wohl ganz gewaltig, dass die Männer seiner eigenen, unter seinem Befehl stehenden Besatzung wie gebannt an den Lippen eines Manns hingen, den der Perser nach wie vor für einen Betrüger und Aufschneider hielt. Jemanden, dem es nur darum ging, möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen und auf dessen Wort man nichts geben konnte!

„Nun, ich weiß jetzt ehrlich gesagt nicht, wie du darauf kommst...“

„Du selbst hast es gesagt!“, fuhr Firuz dazwischen. „Erinnerst du dich deiner eigenen Angebereien nicht mehr? Hast du so viele Lügen erzählt, dass du dir nicht mehr jede einzelne davon zu merken vermagst!“

„Werter Kapitän, ich...“

„Eines solltest du wissen, Sindbad: Allah sieht sie alle! Jede einzelne deiner Lügen ist ihm offenbar! Auch wenn du vielleicht ein paar einfältige Seeleute täuschen kannst, am Tag des Gerichts wird auch für dich die Stunde der Wahrheit schlagen, Sindbad! Der einzig wahren Wahrheit, die nichts mit dem Zerrbild zu tun hat, dass du uns davon gibst!“

Einen Augenblick herrschte ein angespanntes Schweigen.

„Wart's ab, gleich redet er sich wieder heraus“, flüsterte Jarmila Sin zu. „Und alle werden ihm dann wieder die erstaunlichsten Ausreden glauben!“

„Es ist so, dass ich zum ersten Mal von solchen Stürmen hörte, als ich mit einem Schiff in Al-Bahrain anlegte.“

„War das jene Reise, bei der du angeblich die Sultanstochter gerettet hast?“, fragte Firuz mit einer Schärfe in der Stimme, die mehr als deutlich machte, dass er nicht mit sich spaßen ließ und er nicht die Absicht hatte, den berühmten Sindbad mit irgendeiner Ausrede durchkommen zu lassen.

„Ha, das ist gut möglich“, meinte Sindbad. „Aber später habe ich dann selbst so einen Sturm erlebt und weiß daher...“

„Aber war die Reise, auf der du die Sultanstochter gerettet hast, nicht erst nach der Reise, auf der du den Sturm erlebt hast?“

„Ich gebe zu, dass ich bei all den Erlebnissen während meiner Reisen über die Reihenfolge der Geschehnisse nicht mehr ganz sicher bin.“

„Dann hoffe ich doch sehr, dass du dir sicher bist, was davon überhaupt geschehen und was nur deiner Einbildungskraft entsprungen ist!“

„Warum so feindlich, Firuz? Bedenke, dass ich dir dein Schiff gerettet habe. Das sollte doch alles sein, was zählt. Findest du nicht?“

„Warten wir doch einfach ab, ob wir das Land der langen weißen Wolke erreichen und ob es dort Riesenvögel gibt“, schlug indessen Abdul aus Cordoba vor. „Dann wird man ein Urteil über den Wahrheitsgehalt von Sindbads Erzählungen fällen können.“

„Und ich bin überzeugt davon, dass wir uns da noch alle wundern werden“, fügte Ibn Sina hinzu.

„Rauch!“, rief unterdessen der Ausguck. „Am Horizont steigt Rauch auf!“

Es war Sindbad dem Seefahrer mit Sicherheit sehr recht, dass die Aufmerksamkeit auf diese Weise zunächst einmal nicht mehr ihm galt. Am Horizont stiegen tatsächlich mehrere dunkle Rauchsäulen auf. Sie bogen sich in die Richtung, in die auch der Wind blies.

„Sind das die Feuerberge, die Länder untergehen lassen?“, fragte Jarmila.

Sin schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Aus dem Gebiet, wo es die gibt, müssten wir doch längst heraus sein.“

„Es sei denn, wir sind im Kreis gefahren.“

„An diese Möglichkeit sollten wir nicht einmal denken, Jarmila!“

Die Dau wurde einer Küste entgegengetrieben, von der noch Dutzende weiterer Rauchsäulen aufstiegen. Büsche, Bäume, Gras – alles schien in Flammen zu stehen. Ein schrecklicher Buschbrand musste hier wüten.

„Wir sind richtig!“, rief Branagorn mit einer für den blassgesichtigen Mönch eigentlich völlig untypischen Heftigkeit. „Das ist das brennende Land, von dem wir gehört haben!“

„Ja“, murmelte Abdul aus Cordoba. „Das muss es sein...“

Sie kamen näher an die Küste heran und konnten Einzelheiten erkennen. Auf einem Felsen entdeckten sie wenig später ein paar Gestalten.

„Menschen!“, entfuhr es Ibn Sina. „Das sind Menschen!“

Sie trugen Speere, eigenartige gebogene Hölzer, die vielleicht als Wurf- oder Schlagwaffe dienten und Fackeln. Während man überall beobachten konnte, wie Tiere vor den Flammen zu flüchten versuchten, schienen diese Fackelträger durch das Feuer nicht im mindesten beunruhigt zu sein.

„Es sieht fast so aus, als hätten sie den Brand gelegt“, vermutete Branagorn.

„Warum sollte jemand so etwas tun?“, fragte Sindbad kopfschüttelnd.

„Auf meinen Reisen bin ich auf Völker gestoßen, die auf diese Weise zu jagen pflegen“, sagte Branagorn. „Vielleicht tun das die Bewohner des brennenden Landes auch. Und das wäre auch eine Erklärung dafür, warum man dieses Land so nennt und es offenbar immer wider zu solchen Feuersbrünsten kommt!“

Tatsächlich kamen sie während der Fahrt entlang der Küste des brennenden Landes kaum je an einem Landstück vorbei, über dem nicht irgendwo auch eine Rauchwolke schwebte.

Manchmal sahen sie Gruppen der Bewohner, die wiederum das Schiff genauso verwundert beobachteten, wie umgekehrt die Besatzung der 'Flügel des Windes' die Bewohner dieses eigenartigen Landes.

Eine ganze Weile folgten sie der Küste,

Ibn Sina schlug vor, dort doch einmal kurz anzulegen, um Vorräte aufzufrischen und sich zumindest einmal umzusehen. Aber Abdul aus Cordoba war dagegen. „Wir sollten unseren Auftrag nicht aus den Augen verlieren“, erklärte der Botschafter des Kalifen. „Und der lautet nunmal die Insel des Vogels Rock zu finden und ein Ei des Vogels Rock nach Bagdad zu bringen. Nur daran wird man letztlich den Erfolg unserer Reise messen. Dass sollten wir nicht vergessen.“

Und so segelten sie mit gutem Wind weiter, ohne das brennende Land zu betreten.

Stattdessen verfolgten sie weiter Garudas Stern und das machte es zunehmend erforderlich, sich von dieser Küste zu entfernen. Schließlich waren sie wieder vollkommen vom Meer umgeben.

Eines Nachts, als die drei Gelehrten wie üblich Garudas Stern über den Schiffsmast der 'Flügel des Windes' anpeilten, waren sich alle drei darin einig, dass das rätselhafte Land der Riesenvögel eigentlich in Kürze aus dem Meer auftauchen müsste.

Es dauerte jedoch noch bis zur Mitte des nächsten Tages, dass am Himmel eine lange weiße Wolke auftauchte. Ibn Sina und Branagorn stritten eine ganze Weile darüber, ob es sich nun tatsächlich nur um eine einzige Wolke oder nicht vielmehr um ein ganzes Konglomerat nahe beieinander schwebender Wolken handelte. Jedenfalls verbesserte sich die Stimmung an Bord zusehends, zumal der Wind außerordentlich günstig stand und sich die Dau geradewegs und mit guter Fahrt auf ihr Ziel zubewegte.

Es dauerte noch einmal Stunden, ehe schließlich am Horizont ein grüner Streifen erschien.

„Das muss das Land sein, das wir suchen!“, rief Ibn Sina vollkommen außer sich. Die gute Laune steckte alle an – selbst Kapitän Firuz, der nun wirklich nicht für sein frohes Gemüt bekannt war.

Lediglich Sindbad der Seefahrer wirkte eher zurückhaltend.

Sin fiel das erst gar nicht auf, aber schließlich bemerkte er, dass sein berühmter Namensvetter sich abseits hielt und eher angespannt als erfreut wirkte.

„Frag ihn doch mal, ob das die Küste sein könnte, an der man ihn zurückließ“, sagte Jarmila, die zu erraten schien, worüber er nachdachte. „Wenn er wirklich schon hier war, dann müsste er doch etwas wiedererkennen, findest du nicht?“

„Ich werde ihn nicht fragen“, entschied Sin.

„Wieso nicht?“

„Ich denke, dass er jetzt mit seinen Gedanken und Erinnerungen für sich sein will.“

„Oh, wir rücksichtsvoll du bist!“

„Ist dir das noch nicht aufgefallen?“

„Doch. Aber in diesem Fall hast du vielleicht nur Angst vor der Antwort.“

Ja, musste Sin insgeheim eingestehen. Das mochte wohl zutreffen.

DER RIESENADLER

Stunden vergingen noch, ehe sie sich endlich der Küste soweit genähert hatten, dass man Einzelheiten erkennen konnte. Vor ihnen lag von Wald bedecktes Land. Dahinter ragten schroffe, schneebedeckte Berge auf. Es schien sich auf jeden Fall um ein Land mit einer sehr vielfältigen Landschaft zu handeln. So viel konnte man schon beim Blick aus weiter Ferne erkennen.

Als die 'Flügel des Windes' sich noch weiter näherte, tauchte plötzlich ein Vogel auf. Je näher er kam, desto deutlicher wurde, wie ungewöhnlich groß er war.

„Ein Adler!“, entfuhr es Sin. Oft genug hatte er Adler gesehen, die von Händlern in den Basaren von Bagdad angeboten wurden. Doch dieser war von einer geradezu unwahrscheinlichen Größe.

„Der hat ja einen Körper so groß wie ein Mann!“, entfuhr es Jarmila. „Und die Flügel...“

„Wie unser Segel“, murmelte Sin.

Der Riesenadler näherte sich, stieß plötzlich herab. Ein durchdringendes Krächzen kam aus seinem Schnabel. Er flog geradewegs auf das Deck des Schiffes zu.

Blitzschnell kam der Riesenadler herab. Sin starrte ihm entgegen. Es dauerte einen Augenaufschlag, bis er begriff, dass dies nichts anderes als ein Angriff war. Sin erinnerte sich an die Art und Weise wie die gezähmten Greifvögel, die man in den Basaren von Bagdad kaufen konnte, ihre Beute jagten. Nur bestand die aus Kleintieren – nicht aus Menschen. Aber diese Kreatur war so groß, dass sie einen Menschen wohl mühelos hätte töten können. Ein einziger Stich mit dem leicht gebogenen Schnabel hätte dazu ausgereicht.

Der Vogel flog geradewegs auf Sindbad den Seefahrer zu, der völlig erstarrt wirkte.

Sin sprang zur Seite. Mit ganzer Kraft warf er Sindbad zu Boden. Die Klauen und der Schnabel des Riesenadler gingen ins Leere. Er flatterte mit seinen gewaltigen Schwingen, um seinen Flug zu stabilisieren und nicht abzustürzen. Dann gewann er wieder an Höhe und strich knapp über die Reling dahin. Er stieg wieder auf, gewann weiter an Höhe und stieß einen durchdringenden Schrei aus.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Sin.

„Nun, ich weiß nicht... ich.... also...“, stotterte Sindbad der Seefahrer. Er betastete seinen Oberkörper, und seinen Hals, so als konnte er nicht glauben, dass ihm tatsächlich nichts geschehen war. Dank Sins Eingreifen war der Angriff des Riesenadlers ins Leere gegangen. In der Ferne sah man ihn in einem weiten Bogen zurück zum Land der langen weißen Wolke fliegen und dort auf einem hervorspringenden Felsen landen.

Sindbad erhob sich zögernd. Sin half ihm dabei.

Das Gesicht des Seefahrers war vollkommen blass geworden.

Er musste schlucken.

„War das der Vogel Rock?“, fragte Branagorn.

„Ja, ich denke“, murmelte Sindbad der Seefahrer.

„Aber warum hat dieser Vogel dich angegriffen?“, fragte Branagorn. „Das war kein Zufall!“

Sindbad zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht.“

„Um ein Haar hätte er dich getötet. Aber dein junger Namensvetter hat anscheinend ein gutes Auge und dich im letzten Moment gerettet.“

Sindbad lächelte matt. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter und nickte. „Ich weiß, was ich dir verdanke, Sin! Dieser Angriff erfolgte so plötzlich, dass ich ohne deine schnelle Hilfe wohl dem Angriff nicht entgangen wäre!“ Er atmete tief durch und fasste sich wieder. Alle an Bord waren durch das Auftauchen dieses gewaltigen Vogels stark beeindruckt – aber das dies ausgerechnet für Sindbad den Seefahrer am meisten galt, verwunderte Sin dann doch etwas. Schließlich war Sindbad doch als einziger von ihnen dem Vogel Rock bereits begegnet.

„Die Frage ist, weshalb dieses Geschöpf ausgerechnet Sindbad angegriffen hat“, meinte Branagorn.

„Auf deine Antwort bin ich jetzt aber ziemlich gespannt, großer Sindbad“, mischte sich Firuz ein. „Nun weiß ich allerdings, dass Greifvögel mitunter einen sehr wählerischen Geschmack haben und nur ganz besondere Fleischbrocken zu nehmen pflegen. Vielleicht ist dies also ein Vogel, der nur die Ruhmsüchtigen verspeist!“

Alle Augen waren nur auf Sindbad gerichtet. Der Seefahrer fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und sagte gefasst. „Es könnte sein, dass dies Rock selbst war und dass er mich deshalb angegriffen hat, weil er mich tatsächlich bestrafen wollte.“

„Dich bestrafen? Warum das denn, großer Sindbad?“, verlangte Sin zu wissen.

„Ganz einfach: Schließlich brachte er mich in das Tal der Diamanten und Schlagen. Und wie alle Welt weiß, kehrte ich von dort mit Reichtümern überhäuft nach Bagdad zurück. Die Diamanten des Tals, dass ich da erwähnte, wurden von Rock ganz sicher als sein Eigentum betrachtet und vielleicht wollte er mich dafür bestrafen, dass ich ihn bestohlen habe.“

„Für mich sah das eher so aus, als wäre er hungrig gewesen“, meinte Firuz. „Und im Grunde ist diese Kreatur wie geschaffen dafür, um Beute zu schlagen, die so groß wie ein Mensch – oder sogar noch viel größer ist.“

„Das spricht doch für meine Annahme“, verteidigte sich Sindbad.

Firuz trat nahe an den berühmten Seefahrer heran und sagte dann zwischen den Zähnen hindurch und auf eine Weise, die seine Lippen sich kaum bewegen ließ: „Nur eins passt für meine Begriffe nicht: Dieses Tier mag groß genug sein, einen Menschen zu töten, aber ich glaube, der Adler wäre trotzdem niemals in der Lage gewesen, einen Mann durch die Luft zu tragen!“

„Es mag an Land noch größere Artgenossen dieses Wesens geben“, äußerte sich Ibn Sina, für den das alles keinen Widerspruch darzustellen schien. „Ich zumindest kann einen Vogel ohnehin nur scher vom anderen unterscheiden.“

Man beschloss, vor der Küste vor Anker zu gehen und erst im Licht des nächsten Morgens das Land zu betreten.

In der Dunkelheit war das einfach zu risikoreich. Gerade der Angriff des Riesenadlers hatte gezeigt, dass dort zwischen diesem dichten Unterholz oder auch in den kleineren und größeren Gesteinsschluchten jedesmal neue Gefahren lauerten.

Bogenschützen wurden zur Wache eingeteilt. Schließlich konnte sich ein derartiger Angriff eines Riesenadlers jederzeit wiederholen.

Sin fiel es schwer, in dieser Nacht die Augen zu schließen. Nach Einbruch der Dunkelheit drang ein Chor von unheimlichen Stimmen aus den Wäldern an der Küste, geheimnisvolle Kreaturen schienen dort in großer Anzahl zu wohnen. Sie stießen die eigenartigsten Schreie aus, wie Sin sie nie zuvor gehört hatte.

Ein Schwarm von fledermausähnlichen Geschöpfen erhob sich in der Nähe eines großen, knorrigen Baumes in die Höhe.

Erst im Licht der Morgensonne wurden zwei Boote zu Wasser gelassen.

Außer den drei Gelehrten sollten auch einige der Bogenschützen und Hauptmann Hassan mit an Land gehen. Firuz bestand darauf, ebenfalls einen Fuß in dieses neue Land zu setzen. „Ich will schließlich mit eigenen Augen sehen, wie viel von dem der Wahrheit entspricht, was Sindbad der Seefahrer behauptet hat“, erklärte Firuz dazu. „Das Kommando an Bord übernimmt in der Zeit Omar der Steuermann“, bestimmte er dann.

Dass Sindbad der Seefahrer zu der Gruppe gehöre musste, die an Land nach Eiern des Riesenvogels Rock suchen musste, lag ebenfalls auf der Hand.

Sindbad wiederum bestand darauf, dass sein junger Namensvetter ebenfalls dabei war. „Mag sein, dass er nur Schiffsjunge ist, aber so wie er mir durch seine mutige Tat das Leben gerettet hat, so wird er sicher uns allen Glück bringen.“

„Und ich bestehe darauf, dass Jarmila uns begleitet“, erklärte Sin mit einem Selbstbewusstsein, das eigentlich zu einem Schiffsjungen nicht passte. Aber stand ihm das nicht zu, jetzt, da er noch vor kurzem dem berühmten Sindbad durch sein beherztes Eingreifen davor bewahrt hatte, zur Beute eines Riesenvogels zu werden? „Wir gehen schließlich an Land, um etwa zu stehlen, da steht es uns gewiss gut an, wenn wir die einzige Diebin an Bord bei uns wissen!“

Dieses Argument leuchtete natürlich allen ein.

Die beiden Beiboote der 'Flügel des Windes' wurden mit kräftigen Zügen zum Ufer gerudert. Sin sprang in das flache Wasser am Strand. Ahmad der Bogenschütze und Hauptmann Hassan folgten als Nächste. Die Boot wurde so weit wie möglich an Land gezogen und außerdem mit einem Seil an einem der in Ufernähe stehenden Bäume befestigt. Das zweite Boot erreichte den Strand wenig später.

Die Wellen rollten an dem flachen Strand aus. Es roch nach Seetang.

„Nach all der Zeit auf See tut es gut, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren“, meinte Sin.

Jarmila ließ den Blick schweifen. „Dieses Land muss wirklich am Ende der Welt liegen“, meinte sie. „So weit entfernt von allem, was uns bekannt ist...“

„Und doch war Sindbad der Seefahrer schon hier!“

„Ach, Sin.“

„Das Gegenteil hat ihm niemand beweisen können.“

„Dann ist also alles das wahr, von dem man nicht beweisen kann, dass es Lüge ist? Du bist einfach zu gutgläubig, Sin!“

„Aber den Vogel Rock hast du doch auch gesehen.“

„Und du wirst doch sicher auch bemerkt haben, dass das zwar ein großer Vogel war, aber dass er kaum groß genug gewesen ist, um wirklich der Vogel Rock zu sein!“

„Es wird ihn in unterschiedlicher Größe geben. Oder es war ein Jungtier!“

Sindbad der Seefahrer hatte inzwischen ebenfalls das Ufer erreicht. Er blickte sich um und Sin beobachtete ihn dabei. Er versuchte Zeichen im Gesicht seines berühmten Namensvetters zu finden, die vielleicht darauf hindeuteten, dass er sich an irgend etwas erinnerte, dem er schon bei seinem ersten Aufenthalt begegnet war, über den er stets in seinen Erzählungen zu berichten pflegte.

Aber er ließ sich nichts anmerken.

So zumindest war Sins Überlegung.

„Was schlägst du vor, wie wir jetzt vorgehen sollen, Sindbad“, fragte Abdul aus Cordoba den berühmten Seefahrer.

„Nun, ich denke, wir sollten uns einfach etwas umsehen.“

„Worauf ich hinaus möchte ist folgendes: Der Vogel Rock wird seine Eier doch sicherlich mit Vorliebe an bestimmten Stellen ablegen.“

„Zweifellos.“

„Dann sollten wir dort anfangen zu suchen – und es macht schon einen Unterschied, ob diese Geschöpfe Horste auf hohen Felsen bauen oder vielleicht am Boden in Erd- und Wurzelhöhlen brüten.“

„Nun, ich denke, wir sollten einfach die Augen aufhalten“, sagte Sindbad, „ich bin vom Vogel Rock nur getragen worden, aber welche Angewohnheiten diese Kreaturen haben, weiß ich nicht. Ich fand zwar während meiner zweiten Reise, als ich am Strand von meinen Kameraden vergessen wurde, ein Ei des Vogels, aber ob der Fundort nun typisch war oder ob nicht vielmehr irgendein Tier, das sich auf das Rauben von Vogeleiern versteht, es an den Strand geschleppt hat, weiß ich nicht.“

„Und was ist mit deinen Erlebnissen auf deiner 5. Reise?“, fragte Sin. „Als du noch einmal im Land des Vogels Rock warst und die Kaufleute, mit denen du gereist bist, ein Junges von ihm umbrachten und dann...“

„Die Vogeleltern furchtbare Rache übten und das ganze Schiff zertrümmerten...“, vollendete Sindbad. „Ja, ich konnte ja damals mit knapper Not entkommen. Aber es sollte uns dazu gemahnen, vorsichtig zu sein.“

„Ich schlage vor, du führst die Gruppe an“, wandte sich Branagorn an Sindbad. „Schließlich kennst du dich ja ganz gewiss hier am besten aus.“

„Wenn das euer alle Wunsch ist, werde ich mich dem nicht verschließen“, versprach Sindbad.

Nachdem sie den schmalen Strand hinter sich gelassen hatten, drangen sie in den dichten Wald vor. Hohe Bäume ragten hier empor und bildeten ein fast lückenloses Blätterdach, durch das nur hin und wieder die Sonne drang. Der Wald vor voller fremdartiger Tierstimmen, die Sin schon in der vergangenen Nacht aufgefallen waren. Ahmad und die anderen Soldaten, die sie begleiteten, hatten bereits ihre Bögen von der Schulter genommen, so als fürchteten sie jederzeit den Angriff irgendwelcher feindlich gesonnenen Geschöpfe. Immer wieder raschelte es im Unterholz.

Sin hielt sich in der Nähe seines berühmten Namensvetters und Jarmila hielt sich in Sins Nähe auf. Dann folgte Kapitän Firuz, Branagorn und Ahmad, anschließend Hauptmann Hassan, Ibn Sina und Abdul aus Cordoba. Die Nachhut bildeten noch zwei weitere Soldaten.

Einer von Hauptmann Hassans Männern war bei den Booten zurückgelassen worden, um sie zu bewachen.

„Wir sollten uns nicht weiter entfernen, als dass wir bei Anbruch der Dunkelheit zum Schiff zurückkehren können“, äußerte sich Hauptmann Hassan. „Jedenfalls sollten wir in diesen unheimlichen Wäldern auf gar keinen Fall die Nacht verbringen!“

„Warum so ängstlich, wenn es doch um die Gesundheit des Kalifen geht!“, rief Sindbad der Seefahrer ihm mit einem Schmunzeln zu. „Etwas mehr Mut hätte ich den Soldaten des Herrn aller Gläubigen schon zugetraut!“

„Vorsicht!“, rief unterdessen Jarmila.

Aus dem Unterholz kam ein kleiner Vogel. Er war, wenn er sein Gefieder aufplusterte so groß wie eine Faust. Mit unglaublicher Geschwindigkeit huschte er über den Waldboden, pickte mal hier und mal dort hinein und blieb dann stehen. Ruckartig wandte er den Kopf und verschwand anschließend im Unterholz auf der anderen Seite des Pfades, dem die Gruppe schon seit geraumer Zeit folgte. Eines Pfades, von dem Sin sich zwischendurch einmal kurz gefragt hatte, wer ihn wohl gebahnt haben mochte...

„Also ein Artgenosse des Vogels Rock war das wohl nicht“, lachte Ibn Sina. „Aber trotzdem sehr interessant. Ein Vogel mit Stummelflügeln, der offenbar nicht fliegen kann. Ich frage mich, ob das eine krankhafte Missbildung ist oder...“

Die Frage wurde schnell beantwortet, als eine Gruppe von zwanzig dieser kleinen Laufvögel aus dem Unterholz hervorkam und in Windeseile den Pfad überquerte. Auch sie verschwanden wenig später wieder zwischen Blättern und Sträuchern.

„Es scheinen hier abgesehen von riesigen Adlern noch andere wundersame Geschöpfe zu leben, die in den meisten Ländern, die ich kenne, unbekannt sein dürften“, meldete sich Branagorn zu Wort.

––––––––


Sie folgten weiter dem Pfad und gelangten schließlich an einen Ort, an dem Fledermäuse über den Boden krochen und den weichen Waldboden durchwühlten. Es waren offenbar Tiere von der Art, wie sie in der Dämmerung in großen Schwärmen zu sehen gewesen waren. Auch jetzt erhob sich manchmal eines der Tiere in die Luft und flatterte zu den Baumkronen empor, um sich dort irgendwo von einem Ast hängen zu lassen.

„Anscheinend haben sich hier nicht nur viele Vögel das Fliegen abgewöhnt“, meinte Branagorn. „Die Fledermäuse scheinen gerade dabei zu sein, sich ebenfalls eine andere Lebensweise anzueignen.“

Der Schlag großer Schwingen ließ Sin nach oben blicken. Wie ein dunkler Schatten flog ein gewaltiger Vogel über die Baumwipfel. Es musste sich um einen jener Riesenadler handeln, der Sindbad angegriffen hatte. Im selben Moment stoben die Fledermäuse auseinander. Wie auf ein geheimes Zeichen hin flogen sie empor und stießen schrille Rufe aus. Es dauerte nur Augenblicke und kein einziger von ihnen war noch zu sehen. Wenig später waren sie alle verschwunden – und der große Vogelschatten auch.

Die Gruppe legte eine kleine Rast ein und Ahmad fand ein paar Beeren, die essbar wirkten.

„Wir sollten das Glück nicht herausfordern“, meinte Ibn Sina. „Niemand weiß, wie unseren Mägen die Beeren dieses Landes bekommen.“

„Fragen wir doch Sindbad“, meinte Kapitän Firuz. „Er war doch angeblich für längere Zeit in diesem Land. Oder habe ich das falsch verstanden?“

„Nein, das entspricht der Wahrheit“, sagte Sindbad, der wohl schon ahnte, dass er sich auf eine weitere spitzfindige Frage des Kapitäns gefasst machen musste.

„Du bist doch hier gestrandet. Dann wirst du gewiss auch etwas gegessen haben!“

„Richtig.“

„Dann wirst du auch wissen, ob diese Beeren giftig sind.“

„Ich habe sie nicht gegessen“, sagte Sindbad. „Und ich kann das auch niemand anderem empfehlen...“

„Und was hast du gegessen, Sindbad?“, ließ Firuz nicht locker.

Sindbad lächelte verhalten. „Es war gerade Fastenmonat, als ich hier her gelangte und so hielt ich die Gebote ein, die der Prophet uns gegeben hat.“

Firuz lachte schallend. „Das ist die beste Ausrede, die mir je untergekommen ist! Aber eins muss dir der Neid lassen: Niemand kann sich so gut herausreden wie du!“

„Er braucht sich nicht herausreden“, fuhr nun Sin dazwischen, obwohl es ihm als Schiffsjungen nun wirklich nicht zustand, überhaupt etwas dazu zu sagen. Aber es ärgerte ihn einfach so sehr, dass Kapitän Firuz immer wieder nachzuweisen versuchte, dass der berühmteste aller Seefahrer nichts anderes als ein Lügner war.

Sindbad sah Sin überrascht an. Ein zufriedenes Lächeln stand im Gesicht des Seefahrers. Fast so, als wollte er damit den Mut seines jungen Namensvetters anerkennen.

„Wir werden sehen, wer sich am Ende herausreden muss“, sagte Branagorn. „Das hängt unter anderem davon ab, ob wir auf Eier des Vogels Rock stoßen.“

Sie setzten den Weg schließlich fort. Der Pfad, dem sie folgten, gab ihnen die Richtung vor. Sich abseits davon zu bewegen war kaum möglich. Dazu war das Unterholz einfach zu dicht und man hätte sich erst mühsam eine Schneise bahnen müssen.

Sin fielen ameisenähnliche Insekten auf, die so groß wie Mäuse oder kleine Ratten waren. Sie huschten über den Boden und stoben davon, wann immer man sich ihnen näherte.

Den Kadaver eines kleinen Laufvogels hatten sie bis auf die Knochen abgefressen. Und selbst die schienen sie noch verwerten zu können, denn sie schleppten sie davon.

DAS EI DES VOGELS ROCK

Dann gelangten sie zu einem Haufen aus Blättern, Ästen, Moos und aufgehäuftem Waldboden. Auf den ersten Blick war nicht erkennbar, wozu dieser ungefähr kniehohe Haufen diente oder wer ihn dort angelegt hatte.

Sin näherte sich vorsichtig. Einige der mausgroßen Insekten kamen aus dem Gesträuch heraus. Sie huschten augenblicklich davon. So als hätte man Mäuse in der Vorratskammer überrascht, dachte Sin. Unter den Sträuchern und Blättern kam jedoch etwas zum Vorschein, was sofort sein Interesse erweckte. Sin ging darauf zu, beugte sich über den Blätterhaufen und legte dann mit der Hand mehrere grauweiße Eier frei.

Sie waren größer als ein menschlicher Kopf. Bei manchen von ihnen war die Schale aufgebrochen worden und der Dotter floss heraus. Die mausgroßen Krabbler hatten sie offenbar als willkommenes Festessen angesehen.

Glücklicherweise hatten sie das Gelege wohl auch erst vor kurzem entdeckt, denn von den vier Eiern, die in dem Gelege zu finden waren, war nur eins beschädigt.

„Die Eier des Vogels Rock“, entfuhr es nun Abdul aus Cordoba.

„Das müssen sie sein“, murmelte Ibn Sina und man sah dem jungen Mann an, wie ergriffen er allein von dem Anblick war. „Es ist kaum zu fassen.“

„Allah sei gepriesen!“, rief Firuz aus. „Mein Misstrauen war offensichtlich unbegründet.“

„Also wenn dies nicht die Eier des Vogels Rock sind, dann weiß ich es auch nicht“, sagte nun Sindbad. „Ich erinnere mich an eine Begebenheit während meiner fünften Reise, als der Koch an Bord unseres Schiffes...“

„Keine Geschichte jetzt, Sindbad“, verlangte Branagorn. „Seien wir vielmehr froh, dass wir offensichtlich das Ziel unserer Reise erreicht haben.“

Sin hatte sich bereits über das Gelege gebeugt, bereit dazu eines der Eier vorsichtig emporzuheben. Aber Branagorn sah ihn streng an und schüttelte den Kopf. „Das solltest du anderen überlassen, Sin“, sagte er.

Im nächsten Moment hob Branagorn das größte der Eier vorsichtig aus dem Gelege. Er hielt es ins Licht, das durch eine Öffnung im ansonsten recht geschlossenen Blätterdach. „Ich hoffe nur, dass das Heilmittel, das wir daraus gewinnen können, dem Kalifen auch hilft“, murmelte er. Dann reichte er das Ei an Ibn Sina weiter.

Doch in diesem Augenblick erzitterte der Boden zu ihren Füßen. Ein durchdringender, tiefer Ruf ertönte und ließ alle zusammenzucken. Das Unterholz bog sich zur Seite. Ein gewaltiger Schatten kam dahinter zum Vorschein. Und dann wusste Sin plötzlich, welche Kreatur den Pfad geebnet hatte, dem sie gefolgt waren.

Es war Vogel, höher als die Elefanten im Reich von König Rajaraja. Der Schnabel war gewaltig und nach unten gebogen. Die Augen standen weit auseinander. Der Kopf vollführte ruckartige Bewegungen und ein weiterer wütender, dröhnender Ruf ertönte.

Die Form dieses Vogels erinnerte etwas an ein wildes Huhn. Aber schon aufgrund seiner gewaltigen Größe war dieses Geschöpf gefährlich.

„Die Vogel Rock!“, entfuhr es nun Kapitän Firuz. „Bei Allah! Er wird uns verspeisen!“

Die Flügel dieses Riesenvogels spreizten sich etwas. Sie wirkten ähnlich stummelhaft, wie es bei den kleinen Laufvögeln der Fall gewesen war, die ihnen auf dem Waldboden begegnet waren. Nie und nimmer hätte dieses gewaltige Tier sich damit in die Lüfte erheben können! Das schien völlig ausgeschlossen zu sein.

Der Riesenvogel machte einen Schritt nach vorn. Seine Klauen scharrten dabei dunklen Waldboden in die Luft.

„Er ist wütend“, stellte Sin fest.

„Natürlich! Weil wir an sein Gelege gehen“, erkannte Jarmila.

„Eine wütende Riesenvogelmutter! Hattest du nicht auf einer deiner Reisen mit so einem Geschöpf zu tun, Sindbad?“, fragte Sin an den berühmten Seefahrer gerichtet, der – ähnlich wie bei dem Angriff des Riesenadlers – wie erstarrt dastand. Sein Gesicht war so bleich, dass selbst der blasse Branagorn dagegen braungebrannt wirkte.

Der Schnabel senkte sich. Wütend blitzte das Licht in den Augen des Riesenvogels, die nun auf das Gelege gerichtet waren – ein Gelege, das halb geplündert war! Das Tier brüllte laut auf und ging dann zum Angriff über. Es stürmte blindwütig vorwärts. Der Schnabel war länger und schärfer als jedes Schwert. Die Klauen waren ebenso furchtbare Waffen und allein das Gewicht dieses Kolosses hätte schon ein halbes Dutzend Männer einfach unter sich begraben und erdrücken können.

Wie ein durchgehender Elefantenbulle stampfte der Vogel voran.

„Schießt!“, rief Hauptmann Hassan seinen Soldaten zu. Der Hauptmann konnte sich gerade noch durch einen Sprung zur Seite vor dem Vogel retten. Mehrere Pfeile zischten durch die Luft. Sie blieben im Fleisch des Riesenvogels stecken - aber um dieses Geschöpf zu töten, waren sie zu klein. Die Verletzungen konnten es nicht einmal in seinem Lauf aufhalten.

Sin sah aus den Augenwinkeln heraus, wie Jarmila sich über das Gelege beugte und die zwei übrigen, noch heilen Eier herausgenommen hatte. Eines reichte sie Sin. „Nimm das hier! Schnell! Und sei vorsichtig!“

Ibn Sina machte unterdessen einen Schritt nach hinten, stolperte über eine Wurzel und fiel zu Boden. Das Ei, das Branagorn ihm gegeben hatte, hielt er noch in der Hand. Es schien unbeschädigt zu sein.

Der Riesenvogel richtete jetzt seine Aufmerksamkeit auf den jungen Gelehrten. Auch noch so viele Pfeile in seinem Körper konnten ihn nicht daran hindern, sich demjenigen zuzuwenden, den er wohl für den Dieb seiner Brut hielt!

Ibn Sina!

Der Schnabel des Riesenvogel öffnete sich, stieß herab.

Genau in diesem Augenblick kam ein großer, schwarzer Schatten durch die Baumwipfel. Der Schlang schwerer Schwingen zu hören.

Der Riesenadler, durchfuhr es Sin, während er emporblickte. Branagorn und Abdul versuchen unterdessen Ibn Sina zu helfen und Kapitän Firuz schleuderte dem Untier seinen Dolch entgegen, was den Riesenvogel allenfalls ablenkte. Das Metall kam geräuschvoll gegen den Schnabel. Der Riesenvogel brüllte tief und dröhnend auf. Aber diesmal hatte sein Schrei einen anderen Grund als die Wut über denjenigen, die sich an seinem Gelege vergangen hatte.

Der gewaltige Adler, der sich durch das Blätterdach herabgestürzt hatte, landete auf seinem Rücken. Mit seinen gewaltigen Klauen packte er nach Art eines Greifvogels das Genick des Riesenvogels. Dort war das gewaltige Tier vergleichsweise schlank. Ein knackendes Geräusch war zu hören, das Sin an einen brechenden Ast erinnerte. Der Schrei des Riesenvogels erstarb. Er brach in sich zusammen. Sein Kopf mit dem großen Schnabel schlug genau dorthin, wo sich noch vor wenigen Augenblicken das Gelege befunden hatte. Der ganze Haufen aus Blätterwerk, Ästen und aufgehäufter Erde wurde tief eingedrückt. Ein letzter röchelnder Laut und der Riesenvogel war tot.

Der Adler saß auf seiner zu Boden gestürzten Beute.

„Kein Wunder, dass der Adler dich angegriffen hat, Sindbad“, murmelte Ibn Sina, dem Branagorn inzwischen auf die Beine geholfen hatte.

Sindbad nickte.

„Er scheint an zweibeinige Beute gewöhnt zu sein – auch wenn ich nicht verstehe, wie er einen kleinen Happen wie mich mit so einem Riesenbraten verwechseln konnte!“

„Sind die Eier unbeschadet geblieben?“, fragte Abdul aus Cordoba besorgt.

„Dieses ja!“, erklärte Jarmila.

„Und dieses auch!“, meldete Sin.

Das Ei, mit dem Ibn Sina zu Boden gestürzt war, nahm Abdul diesem aus der Hand und überprüfte es persönlich. Er atmete schließlich hörbar auf.

Als daraufhin der Adler, der bereits mit seiner Mahlzeit begonnen hatte den Kopf hob, erstarrten alle und für einige Augenblicke wagte es niemand, auch nur einen einzigen Laut von sich zu geben.

„Wir sollten jetzt sehr vorsichtig sein und uns davonmachen“, sagte Branagorn.

„Er wird uns nichts tun, so lange er dafür seine Beute verlassen muss“, glaubte Sindbad.

„Du musst es ja wissen“, konnte sich Kapitän Firuz einer spitzen Bemerkung nicht enthalten.

„Beachte lieber, was er sagt!“, riet Branagorn. „Denn niemand kennt sich mit diesen riesigen Vogelgeschöpfen so gut aus wie Sindbad der Seefahrer.“

Vorsichtig schlichen sie also davon. Jarmila fiel das am leichtesten und auch Branagorn schien Talent dafür zu besitzen, nahezu lautlos über den Waldboden zu wandeln. Die anderen waren nicht annähernd so geschickt. Immer wieder knackten Äste oder es wurden kleine Laufvögel, am Boden herumkriechende Fledermäuse oder einige der großen Insekten aufgescheucht.

Mehr als einmal unterbrach der Adler seine Mahlzeit, weil er wohl argwöhnte, dass man ihm vielleicht die Beute streitig machen wollte.

Und ganz gewiss geschah das auch!

Sin beobachtete jedenfalls, wie hunderte der mausgroßen Insekten sich kriechend in Richtung des Riesenvogelkadavers auf den Weg machten. Das konnte kein Zufall sein! Sie wollten ohne Zweifel sich ihren Teil des gewaltigen Fleischberges sichern, den der Adler trotz seiner gewaltigen Größe wohl ohnehin nicht schnell genug hätte vertilgen können, um ihn vor diesen kleinen Räubern zu retten.

Sie erreichten schließlich den Strand, wo die Beiboote bereit standen, um zum Schiff zurückzukehren. Abdul aus Cordoba hatte Sin und Jarmila inzwischen längst die beiden Eier abgenommen, die sie bis dahin getragen hatten. Vielleicht traute er einem Schiffsjungen und einer Diebin nicht zu, sie heile bis zum Schiff zu bringen, obwohl er selbst sich manchmal so ungeschickt anstellte, dass Sin nur den Atem anhalten konnte.

Bevor sie ins Boot stiegen, zögerte Sin und drehte sich noch einmal um.

„Komm, Sin“, forderte Jarmila.

„Wer hätte das gedacht...“, murmelte er und lauschte den Geräuschen. Die schrillen Rufe von Riesenadlern waren zu hören. Es hörte sich nach einem Kampf an. Vielleicht war ein Artgenosse des großen geflügelten Jägers aufgetaucht und wollte nun auch einen Teil bekommen.

„Sin!“

„Allah hat alles wunderbar gefügt“, sagte Sin. „Das unmöglich Erscheinende hat sich als möglich erwiesen. Wir haben das Land des Vogels Rock gefunden und eine Diebin und ein Schiffsjunge haben die wertvollen Vogeleier davor bewahrt, dass der Kopf dieser Kreatur sie einfach zerschlug!“

„Sin, willst du so lange warten, bis man dich hier zurücklässt, wie es einst Sindbad dem Seefahrer widerfuhr?“

Sie fasste ihn am Arm und wollte ihn mitziehen. Aber Sin konnte sich vom Anblick des Landes der langen weißen Wolke noch nicht lösen. Er lächelte. „Ist es nicht wunderbar, Jarmila?“

„Ja, aber nun komm endlich!“

„Seit ich mich erinnern kann, höre ich den Geschichten zu, die Sindbad der Seefahrer über seine Reisen erzählt. Und nun erlebe ich all dies selbst. Nie hätte ich geglaubt einmal, das Land zu betreten, in dem der Vogel Rock wohnt. Und jetzt...“

Er drehte sich zu ihr um und sah sie an.

„Sin, sie werden nicht ewig auf dich warten! Niemand von uns hat Lust, diesen Vogelbestien noch einmal zu begegnen!“

„Sindbad gelangte ins Tal der Diamanten und kam reich und mit einer wunderschönen Frau nach Bagdad zurück. Gut, es fragt sich heute so mancher, wo die schöne Frau und sein Reichtum geblieben sind und zweifeln deshalb an allem, was Sindbad sagt! So als sei ihnen selbst noch nie etwas wieder abhanden gekommen, was sie unter großen Mühen verdient hatten!“

„Sin!“

„Aber ich, Jarmila, habe all das, wofür der große Sindbad sieben Reisen brauchte, schon bei der ersten errungen!“

„Ach, bist du jetzt reich? Habe ich da was verpasst und du bist nicht länger Sohn eines Lastenträgers? Eine einzige Münze besitzt du – und die musste eine Diebin dir vor einer Affenhorde retten!“

„Ich habe viel mehr als Diamanten oder Silber je bedeuten könnten! Ich habe geholfen, ein Heilmittel für den Kalifen zu finden! Und wenn es ihm gut geht, ist das für den wahren Gläubigen nicht der größte Reichtum?“

„Ach, Sin, was redest du da für einen Unsinn.“

Er lächelte sie versonnen an. „Naja, und was die schöne Frau angeht, die mich nach Bagdad begleitet...“

„Sin, du bist ein Spinner!“, sagte Jarmila. „Und wenn du je anfängst von deiner ersten Reise so zu erzählen, wie Sindbad der Seefahrer dies von seinen ersten sieben Reisen tut, dann...“

„Was dann?“, fragte er.

„Dann... dann...“ Sie schluckte und ihr Tonfall veränderte sich. „Wahrscheinlich würde ich dir einfach zuhören und es würde mir noch nicht mal was ausmachen, dass ich ja alles schon kenne.“

Die Beiboote legten ab und kehrten zum Schiff zurück. Sin blickte immer wieder zurück zur Küste. Er wollte diesen Anblick in seiner Erinnerung festhalten und hatte das Gefühl, sich jede Einzelheit unbedingt einprägen zu müssen. Jarmila hingegen schloss die Augen, als die 'Flügel des Windes' Fahrt gewann.

Und während ihnen ein frischer Wind um die Nasen blies und Kapitän Firuz Steuermann Omar anwies, den Kurs etwas zu korrigieren, hörte Sin, wie sein berühmter Namensvetter von Hauptmann Hassan angesprochen wurde.

„Jeder von uns hat gesehen, dass du die Wahrheit gesprochen haben musst und der Kalif wird dir sehr dankbar sein“, sagte Hassan. „Und dennoch bleibt für mich eine Frage unbeantwortet.“

„Welche?“, fragte Sindbad der Seefahrer.

„Wie kann es sein, dass du davon berichtest, von einem Vogel Rock fortgetragen worden zu sein? Von den Riesenvögeln, auf die wir hier stießen, war einer zwar recht erstaunlich groß, aber nicht so groß, dass er einen Mann während des Fluges hätte tragen können. Und der andere wäre zwar stark genug gewesen, konnte aber nicht fliegen.“

Sindbad seufzte. „Ja, ich kann mir vorstellen, dass dies für jeden schwer zu versehen ist“, gestand er zu. „Um dir das zu erklären, muss ich etwas weiter ausholen. Als man mich damals am Strand des Riesenvogellandes zurückließ, da...“

Und während Sindbad der Seefahrer zu erzählen begann und gar nicht mehr damit aufhören wollte, sah sein junger Namensvetter noch einmal zurück zur Küste und dachte plötzlich: Nein, ich brauche mir all das nicht so genau einzuprägen! Denn ich kann es jederzeit neu erschaffen, wenn ich es einfach nur erzähle!

EPILOG

„...und so endet die Erzählung meiner achten Reise“, sagte Sindbad der Seefahrer, der sich sich auf deinem kostbaren persischen Diwan bequem gemacht hatte. „Ich sollte vielleicht noch erzählen, was nach unserer Rückkehr nach Bagdad geschah. Zumindest das, was man mir erlaubt hat, darüber zu berichten, denn da manches die Geschehnisse im Palast unseres Kalifen betrifft, ist es mir leider nicht gestattet, in jedem Fall Einzelheiten preiszugeben. Doch kann ich kann sagen, dass unser Schiff wohlbehalten in Bagdad ankam und dass das Heilmittel, das aus dem Ei eines Vogels Rock gewonnen werden konnte, maßgeblich dazu beitrug, dass unserer aller Herrscher seine furchtbare Krankheit überwand. Wenn er sich heute dem Volk zeigt, kann jeder sehen, dass es ihm inzwischen so gut geht, wie schon Jahre zuvor nicht mehr. Jeder, der dazu beigetragen hatte, dieses Wunder wahr zu machen, ist vom Kalifen natürlich reichlich belohnt worden.“ Sindbad hob die Hände und machte eine ausholende Handbewegung. „Ihr, meine lieben gleichermaßen vermögenden wie handverlesenen Gäste, könnt hier sehen, welchen Wohlstand man mir zuteil werden ließ. Aber auch alle anderen wurden mit Reichtum überhäuft, auch wenn nicht alle bereit waren, ihn anzunehmen. Branagorn von Corvey zum Beispiel, der seinem Glauben entsprechend Armut gelobt hatte, nahm nicht eine einzige Münze an, aber als der Kalif ihm ein paar seltene Handschriften griechischer Schriftsteller übereignete, die in der Palastbibliothek seit Jahrhunderten unbenutzt vor sich hin staubten, konnte der Mönch nicht widerstehen. Ibn Sina hingegen wurde damit belohnt, dass er fortan den höchsten Turm des Palastes für seine Beobachtung der Sterne benutzen durfte! Allerdings musste er dafür schwören, sich auch weiterhin um die Gesundheit des Kalifen als Arzt zu kümmern, was er auch tat. Inzwischen allerdings habe ich gehört, dass der junge Gelehrte seit kurzem nicht mehr in der Stadt ist, was damit zusammenhängen soll, dass es in Isfahan einen Turm gibt, der noch sehr viel höher ist als derjenige, den man ihm hier in Bagdad zur Verfügung gestellt hat... Abdul aus Cordoba kehrte inzwischen hoch geehrt nach Cordoba zurück und Kapitän Firuz ist zum Admiral der Flotte des Kalifen aufgestiegen!“

„Was wurde aus deinem jungen Namensvetter, Sindbad?“, fragte einer der Gäste. „Sein Schicksal hat in deiner Erzählung der achten Reise immer besonderen Raum eingenommen!“

„Ja, das ist wahr“, nickte Sindbad. „Um ehrlich zu ein, hat mich selten etwas so tief bewegt, als die Worte, mit denen der junge Sin antwortete, als der Kalif ihn für seine Verdienste belohnen wollte. Er sagte nämlich: 'Belohnt nicht mich, sondern meinen Vater, der einfacher aber ehrlicher Lastenträger ist und nichts weiter tun will, als seine Arbeit!'

'Und wie sollte ich deinen Vater belohnen?', fragte daraufhin der Kalif.

'Ganz einfach: Versprecht ihm, dass er fortan immer einen Teil Eurer Lasten tragen darf, ganz gleich bei welcher Gelegenheit. Braucht ihr einen Träger, so ruft ihn zu Euch, entlohnt ihn gut und versprecht, ihn immer nur so viel tragen zu lassen, wie zu tragen vermag. Das wird im Laufe der Zeit sicher weniger werden, aber der Lohn soll derselbe bleiben!'

Daraufhin wunderte sich der Kalif und fragte: 'Willst du denn gar nichts für dich selber, Träger eines berühmten Namens?'

Daraufhin erklärte Sin, dass dies auch für ihn das Beste sei, denn sein Vater würde so stets Arbeit und Geld genug haben. Und so könnte der junge Sin, wenn er eines Tages Steuermann oder gar Kapitän eines Schiffes sei, getrost auf seine Reisen aufbrechen, ohne sich um das Auskommen seiner Eltern Sorgen machen zu müssen.“ Sindbad der Seefahrer hob die Schultern. „Ob mein junger Freund Sin dies wirklich nur aus edler, selbstloser Gesinnung heraus sagte oder vielleicht deshalb, weil er an meiner achten Reise teilgenommen hat, ohne vorher seiner Familie Bescheid zu sagen und sich seine Eltern deshalb große Sorgen gemacht haben, vermag ich nicht mit Sicherheit zu sagen. Ich kann aber sagen, dass diese Antwort den Kalifen so sehr berührt hat, dass er sich entschloss, den jungen Sin in ganz besonderer Weise zu belohnen und für seinen Wohlstand zu sorgen. Auf welche Weise dies genau geschah, soll aber geheim bleiben. Doch mir ist zu Ohren gekommen, dass der junge Sin zuerst zum Steuermann und später zum Kapitän ausgebildet wurde und sogar ein eigenes Schiff gestellt bekam, um im Auftrag des Kalifen, Botschaften in fremde Länder zu überbringen.“

„So trat er gewissermaßen in deine Fußstapfen, Sindbad“, äußerte sich ein weiterer Gast.

„Das könnte man so sagen und ich bin stolz darauf, dass er nicht nur meinen Namen trägt, sondern ihm auch alle Ehre macht.“

„Und die junge Diebin?“, fragte ein anderer unter den Gästen. „Was wurde aus ihr?“

„Nun, ich gebe zu, dass ich lange nichts von ihr hörte. Aber vor kurzem, als ich mal wieder in alter Tradition das Haus meines Freundes Sindbad des Lastenträgers betrat, um dort zu essen, hörte ich Neues. Ihr müsst nämlich wissen, dass Sindbad der Lastenträger inzwischen schon die Leiden des Alters ertragen muss, sodass ihn der Kalif nur noch die allerleichtesten Gegenstände tragen lässt und auch das nur auf kurzen Wegen. Allerdings erfüllt Sindbad der Lastenträger diese Pflichten mit großem Stolz, wie er es stets bei seiner Arbeit getan hat. Und dabei spielte es nie eine Rolle, ob er nun für den Kalifen kostbares Geschmeide in die Schatzkammer trug oder nur einem Fischhändler ein volles Netz mit dem Fang der letzten Nacht!“ Sindbad machte eine kurze Pause, ehe er schließlich fortfuhr: „Wie gesagt, das letzte, was ich von Jarmila hörte, erfuhr ich im Haus von Sindbad dem Lastenträger. So ist der junge Sin, der inzwischen nicht mehr ganz so jung ist, wie zur Zeit der achten Reise. Das letzte, was ich aus dem Mund von Sindbad dem Lastenträger hörte ist, dass Jarmila und Sin an Bord eines Schiffes zum Reich der Chola unterwegs sind. Neben einer Botschaft des Kalifen, die überbracht werden muss, gibt es noch einen weiteren Grund für die Reise. Es soll nämlich Jarmilas bisher unbekannte Familie ausfindig gemacht werden, denn Sin beabsichtigt, um ihre Hand anzuhalten. Wenn Jarmilas Eltern nicht mehr leben, so lässt sich vielleicht aber noch ein anderer Verwandter finden, der ihnen den Segen ihrer Familie geben könnte. Zum Schluss darf ich noch darauf hinweisen, dass ich seit jüngstem mehrere Schreiber beschäftige, die den Bericht meiner sieben ersten Reisen fleißig kopieren. Die Exemplare kosten nicht mehr, als sie es in jeder Bibliothek und bei jedem Buchhändler hier in Bagdad täten... Belohnt mich für eine gute Geschichte, so wie der Kalif mich für gute Dienste belohnte...“

„Eine Frage noch, hochverehrter Sindbad!“, meldete sich eine helle Stimme zu Wort. Der Sprecher war noch ein Junge. Er hatte leuchtende Augen – Augen, die Sindbad den Seefahrer so sehr an seinen Namensvetter erinnerte, mit dem zusammen er ins Land der Riesenvögel gereist war, dass er schmunzeln musste.

„Bitte, stell deine Frage!“

„Was ist mit der achten Reise? Wann wird man über sie lesen können? Mein Vater hat die Erzählungen deiner anderen Reisen gekauft und ich lese jeden Tag darin! Aber was ist mit jener Reise, von der du heute berichtet hast?“

„Ich werde sie niemals aufschreiben lassen“, sagte Sindbad. „Man kann sie nur in erlesener Gesellschaft von handverlesenen Gästen aus meinem Mund hören, denn sie soll etwas ganz besonderes bleiben. Eine besondere Erzählung für besondere Gäste, die sie zu schätzen wissen und es verdienen, dass ein besonderer Erzähler sie ihnen von Angesicht zu Angesicht offenbart.“

„Kein Buch?“, stammelte der Junge.

„Zumindest in dieser Hinsicht muss ich dich enttäuschen.“

Später, als Sindbad seine Gäste verabschiedet hatte, sagte einer von ihnen zu einem anderen: „Er ist ein lebendiger, meisterhafter Erzähler und das Essen, das sein Hauskoch servieren lässt, schmeckt wirklich vorzüglich!“

„Ja, das ist wahr. Aber die Preise, die er von seinen Gästen verlangt, sind so hoch wie bei niemandem sonst!“

„Aber ist es das nicht wert?“

„Ein teurer Genuss ist das – aber wenigstens nicht ungesund. Und was das fehlende Buch über die achte Reise angeht...“

„Ja?“

Der Gast, der davon zu sprechen begonnen hatte, drehte sich zunächst nach allen Seiten um und redete dann in gedämpftem Tonfall weiter. „Ich habe gehört, dass in der Schreibstube des Kalligraphen Al-Munir, der ansonsten ja für unseren Herrscher arbeitet, ein Exemplar von Sindbads achter Reise hergestellt wird. Es soll nur dieses eine Exemplar geben und der Preis wird höher sein, als der, für den man sich ein gutes Schiff kaufen kann...“

––––––––


ENDE

Das große Buch der Seemänner: 13 Seefahrer-Romane

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