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Sindbads längste Reise, Teil 2 von 3

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Sindbads längste Reise, Teil 2 von 3

Roman von Alfred Bekker

Ein CassiopeiaPress E-Book

© by Author

© 2015 der Digitalausgabe by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

Der Umfang dieses Ebook entspricht 127 Taschenbuchseiten.

––––––––


IN DEN GASSEN VON HORMUS

„Wie kannst du dich von diesem Angeber nur so beeindrucken lassen“, meinte Jarmila verständnislos an Sin gerichtet, als sie sich am nächsten Tag wieder zu ihm in den Bug der 'Flügel des Windes' setzte. „Es ist unfassbar! Er erzählt irgendeinen Mist und wenig später glaubt jeder, dass er die Wahrheit spricht! Selbst so kluge Männer wie dieser Ibn Sina, der auszurechnen vermag, wann der Mond sich verfinstert und wie schnell das Blut fließt und solche Sachen und es doch eigentlich besser wissen müsste!“

„Jarmila, du irrst dich...“

„Sin, wenn das ein Straßenhändler in Al-Bahrain wäre, dann würde ich ihm nichts abkaufen! Das ist einer, der einem verdorbene Früchte probieren lässt und einem dann erzählt, dass sie genau so sauer schmecken müssten und sie dadurch vielleicht sogar nur besonders gesund seien!“

„Aber, was er gesagt hat, war doch überzeugend!“

Sie atmete tief durch. „Wenn ich die Karten mit den Riesenvögeln nicht selbst gesehen hätte, dann würde ich auch diese Geschichten vom Land des Vogels Rock nicht glauben“, setzte sie hinzu.

„Aber du hast sie wirklich und mit eigenen Augen gesehen?“, wollte Sin sich noch einmal vergewissern.

„Ja, natürlich! Ich wusste damals allerdings nicht, was das zu bedeuten haben kann!“

„Wenn diesem König namens Rajaraja die Riesenvögel bekannt sind, dann wird ihm doch wohl auch die Bedeutung klar sein, die die Eier dieser Tiere als Heilmittel haben!“

„König Rajaraja soll die besten Ärzte, und viele Gelehrte an seinem Hof haben“, bestätigte Jarmila. Und in einem etwas gedämpften Tonfall fügte sie dann noch hinzu. „Wieso die dümmer sein sollten, als diese seltsamen Männer, die der Kalif ausgesandt hat, um ein Heilmittel zu finden, weiß ich ich ehrlich gesagt nicht! Der blasse Branagorn, der angeblich schon überall gewesen ist und jede Sprache spricht, von der er mal ein Wort gehört hat, dieser junge Angeber-Schnösel namens Ibn Sina, der sich so gerne reden hört und sich die Zeit damit vertreibt, auszurechnen, wann welche Sternschnuppe vom Himmel fällt. Und was diesen Abdul aus Cordoba angeht weiß ich ehrlich gesagt auch nicht, ob ich mir wirklich von dem helfen lassen würde, wenn ich irgendeine Krankheit hätte!“

„Wieso nicht?“

„Das ist ein Wichtigtuer. Ich habe nicht das Gefühl, dass er wirklich viel weiß – und vermutlich wird man von seinen unbeholfenen Behandlungsmethoden kränker, als man schon ist!“

„Sprich nicht so laut“, sagte Sin und blickte sich um. Aber es schien sie niemand zu beachten. Nur Branagorn von Corvey blickte zu den beiden hin, aber da der Mönch sich ganz am anderen Ende des Schiffes befand, war Sin sich ziemlich sicher, dass der blasse Mann vermutlich wohl nichts von Jarmilas Worten mitbekommen hatte.

„Es ist doch wahr, was ich sage“, verteidigte sich Jarmila.

„Jedenfalls hast du ein ziemlich strenges Urteil“, stellte Sin fest.

„Ich sage nur, was ich denke. Das ist alles. Kann ja sein, dass ich die Närrin bin – aber mir kommt es andersherum vor!“

Sie erreichte schließlich Hormuz, jene Stadt an der Meerenge am Ausgang des arabischen Golfes. Dahinter lag das eigentliche Meer. So zumindest wollte es Sin nach alledem, was er in letzter Zeit an Bord der 'Flügel des Windes' aufgeschnappt hatte, vorkommen. Abdul aus Cordoba nannte es den Weltozean, weil er angeblich die ganze Welt umfließen würde, allerdings war das nicht bewiesen, dass es wirklich so war, dass dieses gewaltige Meer nicht von Landmassen umgrenzt war, wie der arabische Golf oder das schwarze und das kaspische Meer.

„Was ist denn deine Ansicht zu dieser Frage, großer Sindbad?“, wurde der berühmte Seefahrer mehrmals von Firuz dem Perser auf dieses Thema angesprochen. „Da du doch weiter gesegelt bist als irgendjemand sonst, müsstest du auf diese Frage doch eher eine Antwort geben können, als diese Gelehrten, die nur rechnen können, aber von Schiffen, von Wasser, vom Wind und von den Strömungen gar keine Ahnung haben!“

Aber wie üblich wollte sich Sindbad der Seefahrer nicht festlegen.

„Ich habe Anhaltspunkte dafür gefunden, dass der Ozean, in den wir fahren, endlos ist, aber es gibt auch Argumente, die dagegen sprechen.“

„Wir wären sehr gespannt, genauer zu erfahren, welche Anhaltspunkte das sind“, meinte Ibn Sina.

„In der Tat, großer Sindbad, das würde mich ebenfalls interessieren“, ergänzte Abdul aus Cordoba. Und der junge Sin sperrte dabei natürlich auch die Ohren auf und hörte zu, was sein berühmtes Vorbild zu diesem Thema zu sagen hatte.

„Nun, es gibt ja gewisse südliche, warme Strömungen die darauf schließen lassen, dass das Meer jenseits von Hormus keine Grenzen hat und man könnte auch die Beschaffenheit des Wassers oder Art der Fische als Anhaltspunkt nennen, ohne dass ich mich in dieser Frage letztlich festlegen würde.“

„Dann solltest du es in gutem Arabisch sagen, Sindbad: Du weiß es nicht“, mischte sich Kapitän Firuz ein.

„Ich habe viele der Küsten dieses großen Meers besegelt, aber längst nicht alle. Und erst wenn jemand tatsächlich alle Küsten befahren hätte, so könnte er mit Sicherheit sage, ob es sich um ein abgegrenztes oder ein grenzenloses Meer handelt“, erwiderte Sindbad. „Und dies darf ich euch allen in aller mir gebotenen Bescheidenheit sagen: Allah hat keinem von uns genug Lebenszeit gegeben, um all diese Küsten tatsächlich besuchen zu können. Und nicht einmal der Erfahrenste und Kühnste unter uns würde es fertig bringen, all diese Landstriche innerhalb eines einzigen, kurzen Lebens anzusteuern. Schon die Winde wären dagegen, aber vielleicht lässt Allah diese Winde auch mit weiser Absicht so wehen, wie sie dies jedesmal tun, damit uns allen ein paar Geheimnisse erhalten bleiben.“

„Ich habe mir schon gedacht, dass er etwas in der Art von sich gibt“, murmelte Firuz an Omar gewandt – aber laut genug, dass man es hören konnte.

Sin hingegen war mit dieser Erklärung vollkommen zufrieden.

Es stellte sich rasch heraus, dass das Schiff länger im Hafen von Hormus würde bleiben müssen.

Sin hörte interessiert zu, wie Kapitän Firuz mit dem Hafenmeister sprach. Es lagen viele Schiffe an den Anlegestellen. Einige von ihnen wollten nach Indien weitersegeln, andere kamen von dort. Von der Gefahr durch Seeräuber war die Rede und davon, dass man sich gegen Zahlung eines großzügigen Zolls durch die Schiffe des Sultans von Hormus schützen lassen konnte.

Davon abgesehen war es wohl das Beste, sich mit anderen Schiffen für die Weiterfahrt nach Indien zu einem Verband zusammenzuschließen.

Der nächste Schiffsverband würde aber erst in ein paar Tagen aufbrechen.

Fliegende Händler belagerten die Anlegestellen und versuchten ihre Waren an die Besatzungen zu verkaufen.

„Wir könnten uns etwas in der Stadt umsehen“, schlug Jarmila Sin vor. „Aber du müsstest mich begleiten.“

„Wieso das denn?“, wunderte sich Sin.

„Wieso nicht?“

„Naja, dass eine Diebin wie du jemanden braucht, der sie beschützt, glaube ich jetzt eher nicht“, antwortetet Sin. „Eher umgekehrt wird ein Schuh daraus.“

„Sehe ich etwa aus wie ein Dschinn, vor dem man sich erschrecken müsste?“

„Nein, aber du bist eine Diebin und hast wahrscheinlich schon so manchen Lastenträger um seinen ehrlich und im Schweiße seines Angesichts erworbenen Lohn gebracht!“

„So ein Unsinn! Ich habe dir doch schonmal erklärt, dass...“

„...dass du nur gestohlen hast, um satt zu werden!“

„Richtig!“

„Aber nicht, dass du nur Reiche bestohlen hast!“

Jarmila seufzte. „Man hat nicht immer die Wahl, Sin! Was ist nun? Kommst du mit? Alleine gehe ich nicht, denn mich würde der Kapitän sicherlich ohne zu Zögern zurücklassen, wenn das Schiff plötzlich doch früher auslaufen sollte. Dich hingegen...“

„Ja?“

„Du bist immerhin der Schiffsjunge und anscheinend der besondere Liebling von Sindbad dem Seefahrer! Also wenn du bei mir bist, wird das Schiff nicht ohne mich wegsegeln.“

Sin zögerte. „Ich weiß nicht. Weißt du, ich möchte meine Hände gerne an ihrem Ort behalten und deshalb...“

„Du hast Angst, dass du in Verdacht gerätst, mein Komplize zu sein, falls ich erwischt werde?“

„Genau!“, nickte Sin.

„Das wird nicht passieren.“

„So?“

„Aus zwei Gründen: Erstens werde ich mich niemals erwischen lassen!“ Sie hob ihre Hände, sodass Sin die Glückszeichen an den Handgelenken sehen konnte. „Ich hatte immer Glück und werde es auch in Zukunft haben! Bei allen Göttern der ganzen Welt!“

„Und zweitens?“, fragte Sin wenig überzeugt.

„Zweitens verspreche ich dir, meine Hände bei mir zu lassen und niemandem etwas wegzunehmen!“

„Gut, dann komme ich mit.“

Hormus war eine Stadt mit engen Gassen. Enger noch als in Bagdad. Das lag wohl daran, dass Hormus von einer hohen Stadtmauer umgrenzt wurde, die die Stadt wohl vor Überfällen aus dem Umland schützen sollte. Bagdad hingegen war so groß, dass es wohl unmöglich gewesen wäre, die Stadt des Kalifen mit einer Mauer völlig zu umfassen. Es gab zwar Festungen und Schutzmauern, aber die Grenzen des Stadtgebietes hatten sich immer wieder erweitert. Neue Viertel waren entstanden und in die Umgebung gewachsen.

Sin folgte Jarmila, die sich ziemlich gut auszukennen schien. Der Schiffsjunge hatte sich bei Omar dem Steuermann abgemeldet, damit sich niemand darüber wunderte, wo er geblieben war.

Was Jarmila betraf, so hatte sie wahrscheinlich mit der Vermutung recht, dass so mancher an Bord sich insgeheim wünschte, dass sie in Hormus blieb und später nicht mehr an Bord ging. Denn so ganz geheuer war das Mädchen mit den Bindi-Glückszeichen auf Stirn und Handgelenken den gläubigen Seeleuten der 'Flügel des Windes' nicht.

Sin fiel auf, dass die Frauen hier tief verschleiert waren. Von kaum einer sah man das Gesicht. Sie trugen nicht nur ein Kopftuch, wie es auch in Bagdad oder Al-Bahrain üblich war, sondern manche von ihnen waren mit einem Umhang bekleidet, der nicht einmal die Augen freiließ, denn selbst dort war ein dünner, gazeartiger, durchsichtiger Stoff.

Händler und Geschichtenerzähler gab es an jeder Ecke.

Außerdem fiel Sin noch etwas anderes auf. Es fehlte etwas, das eigentlich zu jeder Stadt und zu jedem Hafen gehörte, wie Sin fand. Und da es für ihn so selbstverständlich war, kam er erst auch gar nicht darauf, was da genau eigentlich fehlte, bis er es schlagartig erkannte.

„Musik“, murmelte er und blieb mitten auf einer der wenigen etwas breiteren Straßen von Hormus stehen. Jarmila packte ihn plötzlich und schubste ihn zur Seite. Gerade noch rechtzeitig, denn ein von Pferden gezogener Karren rollte die abschüssige Straße entlang.

Der Fahrer war ziemlich aufgebracht und rief Sin in einer unbekannten Sprache etwas zu.

Etwas, was ganz sicher nicht freundlich gemeint gewesen war.

Jarmila rief etwas in derselben Sprache zurück, was ganz sicher nicht weniger unfreundlich gemeint war.

„Du sprichst, wie die Leute hier?“, wunderte sich Sin.

„Nur ein paar Wörter. Das ist eine Art Persisch. Allerdings habe ich in Al-Bahrain auch Leute gehört, die behaupteten, Perser zu sein und die ich nicht verstehen konnte.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich war nicht lange hier in Hormus. Nicht lange genug, um mehr als ein paar Wörter zu lernen, mit denen man zählen und sich anschimpfen kann, damit man in Ruhe gelassen wird!“

„Ich hatte gerade sagen wollen, dass ich jetzt weiß, was hier fehlt.“

„Musik hast du gesagt.“

„Ja.“

„Natürlich gibt es hier keine Musik.“

„Wieso das denn nicht?“

„Die Leute hier sind sehr strenggläubig. Und sie denken, dass alle möglichen Dinge, die Freude machen, Allah missfallen.“

„Das klingt nach einer Stadt voll schlechtgelaunter Leute“, meinte Sin.

Jarmila zuckte mit den Schultern. „Man muss die Menschen hier verstehen. Andauernd werden sie von den Stämmen der Wüste überfallen und müssen sich oft monatelang hinter die Mauern der Stadt zurückziehen. Ich habe das damals erlebt, als ich hier war und ich muss sagen, ich hatte großes Glück auf ein Schiff zu kommen! Länger hätte ich es hier nämlich auch kaum ausgehalten!“

„Das hättest du früher sagen sollen!“, beschwerte sich Sin. „Dann wäre ich gar nicht mitgekommen. Und ehrlich gesagt verstehe ich auch nicht, was dich in so eine Stadt zieht, die du ja noch viel besser zu kennen scheinst als ich erst den Eindruck hatte!“

Sie lächelte ihn an. „Ganz einfach: Ich will Neuigkeiten erfahren.“

Sin runzelte die Stirn. „Und das kann man hier?“

„Hier so gut wie an keinem anderen Ort, den ich kenne. Die Bewohner von Hormus mögen noch so stur, miesepetrig und verschlossen sein und die Händler in den Straßen ihre Kunden so unfreundlich behandeln, wie sie es sich nirgendwo sonst auf der Welt trauen würden, weil sie dann bestimmt nichts verkaufen könnten! Aber hier gelten andere Regeln! Alle Schiffe, die in den Arabischen Golf hineinsegeln wollen, müssen die Meerenge von Hormus passieren. Und sie haben kaum eine andere Wahl, als hier an Land zu gehen, frisches Wasser an Bord zu nehmen und den Schutz des Sultans vor den Seeräubern zu erbitten!“

„Und wo bitteschön kann man hier Neuigkeiten erfahren?“

„Komm“, sagte sie. „Ich will zwar zurück in meine Heimat – aber nicht ohne dass ich weiß, was mich dort erwartet!“

Sin folgte Jarmila. Sie hatte einen flinken Schritt und da Sin ziemlich neugierig war und immer wieder rechts und links schaute, hatte er manchmal Mühe ihr zu folgen. Kleine Werkstätten drängten sich in den Erdgeschossen der Häuser. Töpferscheiben drehten sich dort oder die Hämmer von Gold- und Silberschmieden waren unablässig zu hören.

Die Gassen schienen enger und verwinkelter zu werden. Die Häuser dagegen sahen aus, als hätte man sie nachträglich noch um ein oder zwei Stockwerke erhöht und bei manchen von ihnen dachte Sin, ob sie nicht innerhalb der nächsten Tage eigentlich einstürzen müssten. So wenig stabil erschienen sie ihm.

Dann erreichten sie schließlich in einem abgelegenen Teil der Stadt ein Tor, das durch eine Mauer führte, so als wäre hier ein Teil der Stadt vom Rest abgetrennt. Das Tor stand offen, aber zwei Wächter standen links und rechts davon. Sie waren mit Schwertern und Speeren bewaffnet. Sin fielen sofort die Zeichen an den Händen auf. Glückszeichen, wie sie auch Jarmila trug.

Jarmila sprach die Wächter in ihrer Sprache an. Sin verstand kein Wort davon, aber er begriff sofort, dass dies nicht jene Sprache war, in der sich die Leute von Hormus unterhielten. Der Klang war vollkommen anders. Einer der Männer antwortete.

Jarmila drehte sich zu Sin um.

Sie sagte noch etwas. Und der Wächter antwortete noch einmal – sehr freundlich und mit sehr tiefer Stimme.

„Komm jetzt, Sin!“, sagte Jarmila schließlich. „Man lässt uns herein!“

Verwirrt folgte Sin ihr. Die Wächter ließen sie tatsächlich passieren.

„Sind das Männer aus deiner Heimat?“, schloss Sin.

„Ja.“

„Und was hast du ihnen gesagt?“

„Dass du ein Lastenträger bist und für Reza Barad etwas abholen sollst.“

„Wer ist Reza Barad?“

„Der reichste Kaufmann von Hormus. Ihm gehören die meisten Schiffe.“

„Und du kennst so einen reichen Mann?“

„Natürlich nicht. Aber jeder jeder weiß wer das ist, der hier länger als zwei Tage gewesen ist. Darum habe ich das gesagt.“ Sie lächelte. „Ich hatte Glück.“

„Wieso?“

„Die Geschäfte des Reza Barad hätten ja in den Jahren, in denen ich nicht hier war, pleite gehe können. Das kommt hier öfter vor als man denkt. Heute noch ein großer Kaufmann und morgen vielleicht ein Bettler. Im Gewürzhandel werden riesige Reichtümer angehäuft – aber auch ganz schnell wieder verloren.“ Sie beugte sich zu ihm und sprach etwas leiser. „Zum Beispiel, wenn man es sich mit der Gewürzgilde verdirbt...“

Der starke Geruch war Sin schon aufgefallen, als sie das Tor passiert hatten. Aber je weiter sie sich dem Hauptgebäude in diesem abgeteilten Bereich näherten, desto stärker wurde er.

„Wo sind wir hier?“, fragte er.

„In einem Gewürzhaus der Gilde“, sagte Jarmila.

„Die Gewürzgilde aus dem Chola-Reich beherrscht auch hier noch den Gewürzhandel?“, wunderte sich Sin.

„Ja, sicher. Niemand, der es sich mit der Gilde verscherzt, wird auch nur noch ein einziges Gewürzkrümelchen bekommen, das er irgendwo verkaufen kann!“

Ungehindert gingen sie in das Hauptgebäude. Es war für die Verhältnisse von Hormus sehr groß. Fast so groß wie eine der Festhallen in Bagdad, in die Sin zusammen mit seinem Vater schon Körbe mit Datteln und Feigen geschleppt hatte. Gewürzhändler drängelte sich zwischen Tischen, auf denen Proben der Waren in kleinen Schalen bereit standen, um geprüft zu werden. Zucker, Pfeffer und Safran erkannte Sin. Aber da waren auch noch andere Gewürze, mit so fremdartigem Geruch, dass Sin sich sicher war, ihn noch sie zuvor in der Nase gespürt zu haben.

Hier und da blieb Jarmila stehen. Sin beobachtete etwas sorgenvoll ihre Hände. Wenn sie sich doch nicht beherrschen konnte und vielleicht einem der Kaufleute den Münzbeutel wegnahm oder sich gar an den Gewürzproben auf den Tischen verging, dann war mit großem Ärger zu rechnen. Und den wollte Sin eigentlich nicht erleben. Aber Jarmila schien das bewusst zu sein. Sie ließ ihre Hände bei sich und schien zu wissen, dass nicht einmal die glücksbringenden Bindi ihr Glück genug bringen konnten, um hier nicht erwischt zu werden. Die Händler beobachteten ihre Proben nicht mit Argusaugen. Allerdings hätte auch keiner der Händler gewagt, sich ohne zu fragen eine Prise Safran oder Zucker zu nehmen, um die Qualität zu prüfen.

Wenn ein Händler die Ware geprüft hatte, wurde oft lautstark und mit großen Gesten verhandelt. Anschließend wechselten dann oft ganze Säcke oder sogar Schiffsladungen den Besitzer. So gut wie alle Händler waren Männer aus Jarmilas Heimat, soweit Sin das zu beurteilen vermochte. Zumindest waren sie in die typischen bunten Gewänder gekleidet und sprachen dieselbe Sprache, die auch das Mädchen benutzt hatte. Und auch die Träger, die dann Säckeweise die Ware fortbrachten, waren aus diesem Volk. Offenbar traute man in der Chola-Gewürzgilde niemandem sonst.

„Sag mal, was tun wir hier eigentlich?“, flüsterte Sin nach einer Weile Jarmila zu. „Wieso sind wir hier? Dieser Geruch ist unerträglich – und davon abgesehen kann ich mir von den Dingen, die hier angeboten werden nicht einmal so viel leisten, wie zwischen meine Fingerkuppen passt! Selbst, wenn ich dafür jahrelang doppelt so schwere Lasten tragen würde, wie mein Vater!“

Jarmila legte ihren Finger auf die Lippen.

„Still!“, sagte sie.

Und dabei wirkte sie ziemlich angestrengt.

„Aber...“

„Ich höre zu“, wisperte sie. „Deshalb sind wir hier! Es gibt keinen Ort, an dem mehr Neuigkeiten ausgetauscht werden! Und schon gar keinen Ort, an dem man mehr darüber erfahren könnt, wie es zur Zeit in Indien aussieht!“

Jetzt begriff Sin.

Offenbar wollte Jarmila nicht einfach so zurückkehren und dabei vielleicht das Risiko eingehen, geradewegs in ein Land zu geraten, in dem gerade eine schlimme Seuche grassierte oder ein furchtbarer Krieg herrschte.

Sin konnte nichts weiter tun, als dabei zu stehen und Worten zuzuhören, von denen er nichts verstand. Nur ganz selten einmal hörte er unter den Händlern jemanden ein paar Sätze auf Arabisch wechseln.

Jarmila ging weiter. Sie bedeutete Sin mit einer Handbewegung, ihr zu folgen.

Für einen kurzen Moment passte Sin nicht auf. Er stieß mit einem Händler zusammen. Der regte sich furchtbar auf, zumal ihm dabei ein paar Münzen aus der Hand fielen, die er gerade abgezählt hatte.

Sin wollte ihm schon dabei helfen, sie vom Boden aufzusammeln, aber Jarmila verhinderte dies mit einem energischen: „Nicht! Lass es liegen!“

Der Händler schimpfte Sin furchtbar an und der Junge war in diesem Augenblick heil froh, dass er kein Wort davon zu verstehen vermochte.

Jarmila sagte ein paar Worte, dann fasste sie Sin an der Hand und zog ihn mit sich fort, so dass sie schon nach wenigen Augenblicken inmitten des Gedränges verschwunden waren. Der Händler, der die Münzen verloren hatte, schimpfte noch immer. Seine Stimme war so durchdringend, dass man sie auch durch den allgemeinen Lärm und die lautstark geführten Verhandlungen hören konnte.

„Du bist doch ein Trottel“, zischte Jarmila ihm zu. „Nicht genug, dass du den Kerl angerempelt hast – sich auch noch nach seinem Geld zu bücken, ist doch nun wirklich das Allerletzte! Da muss er dich doch für einen Dieb halten“

„Auf den Gedanken bin ich gar nicht gekommen“, verteidigte Sich Sin. „Ich wollte wirklich nur helfen!“

Jarmila seufzte. „Ich dachte, du kommst aus Bagdad – einer großen Stadt! Und nicht aus einem kleinen Dorf, wo es nur gute Menschen gibt und jeder seine Türe in der Nacht offen lässt!“

„Tut mir leid, ich wollte uns nicht in Schwierigkeiten bringen!“

Einige der Händler und Träger sahen sie jetzt etwas verwundert an, denn Sin und Jarmila waren weit und breit die einzigen, die sich auf Arabisch unterhielten.

Abermals zog Jarmila Sin mit sich. „Wir können uns hier und jetzt nicht weiter darüber unterhalten! Das merkst du ja wohl hoffentlich!“

Jarmila drängelte sich vorwärts und Sin blieb ihr dicht auf den Fersen. Schließlich blieb sie stehen. Sie hörte ein paar Männern mit dunklen Augen und dunklen Bärten bei ihrer Unterhaltung zu. Es war kein Verkaufsgespräch. Gewürze oder Zucker schienen keine Rolle zu spielen. Jedenfalls waren auf dem Tisch, um den sie herumstanden, keine Proben zu sehen, weder vom Zucker, noch von irgendeiner der stark riechenden Substanzen, mit denen hier sonst noch Handel getrieben wurde.

Stattdessen lagen große Pergamente vor ihnen und immer wieder wurde mit den Fingern auf einzelne Punkte gedeutet oder ganze Bereiche umkreist.

Sin begriff, dass es Landkarten waren.

Karten von den Ländern im Osten. Jarmila schien sehr aufmerksam zuzuhören, was unter den Männern am Tisch gesprochen wurde. Sie schienen sehr unterschiedliche Ansichten zu haben. Jedenfalls redeten sie leise, aber äußerst heftig aufeinander ein. Manchmal so heftig, dass man befürchten konnte, dass gleich ein handfester Streit vom Zaun gebrochen wurde.

Ein Mann mit einem schwarzen Bart deutete immer wieder auf eine bestimmte Stelle auf der Karte. Sin reckte etwas den Kopf. Wer weiß, vielleicht ist da ja ein Riesenvogel zu sehen, überlegte er. Aber das wäre wohl zuviel des Glücks gewesen. Und abgesehen davon hätten diese Händler wahrscheinlich auch nicht in aller Öffentlichkeit über Karten gesprochen, die der König Rajaraja doch offensichtlich als geheim betrachtete und in seinem Palast verbarg, damit niemand sonst den Weg dorthin zu finden vermochte.

Man müsste die Gabe haben, alle Sprachen zu verstehen, ging es Sin durch den Kopf. Oder wenigstens diejenige, die diese Männer im Mund führten.

Jarmila hörte jedenfalls ziemlich aufmerksam zu.

„Es ist Krieg im Osten ausgebrochen“, sagte sie schließlich zu Sin, nachdem sie ihn ein Stück mit sich gezogen hatte, denn inzwischen waren einige der Männer trotz der Heftigkeit ihres Gesprächs auf die beiden aufmerksam geworden. Und da war es natürlich das Beste, erst einmal das Weite zu suchen.

„Krieg?“, fragte Sin.

„König Rajaraja und sein Reich kämpfen gegen Sri Vijaya und die Länder von den Inseln. Es können keine Schiffe mehr an die Küste des Reiches der Mitte fahren.“

„Das Reich der Mitte?“, fragte Sin. „Davon habe ich noch nie etwas gehört! Nicht einmal Sindbad der Seefahrer hat dieses Reich jemals in seinen Erzählungen erwähnt!“

„Ach, nein?“ Sie hob die Augenbrauen. „Das könnte daran liegen, dass er jene Gewässer gar nicht befahren hat, an denen es liegt!“

„Oder es existiert gar nicht und ist nur eine Legende?“

„Die Ballen von Seide und die Gefäße aus Porzellan, die ich als kleines Kind auf den Märkten meiner Heimat gesehen habe, waren jedenfalls keine Legenden. Und genauso wenig wie die Wandermönche mit den schmalen Augen, die manchmal von dort zu uns kamen.“

„Der Name dieses Landes ist ziemlich seltsam.“

„Wieso?“

„Naja, ein Land, das sich Reich der Mitte nennt und in Wirklichkeit doch ganz am Rand der bekannten Welt liegen muss!“

„Wahrscheinlich denkt jeder, dass dort, wo er gerade ist, die Mitte der Welt ist.“

„Das könnte natürlich sein“, erwiderte Sin.

„Jedenfalls sind das alles schlechte Nachrichten“, fand Jarmila. „Bis zur Hauptstadt des Rajaraja werden wir sicherlich ungehindert kommen, aber falls deinem großen Seefahrer Sindbad plötzlich einfallen sollte, dass die Insel des Vogels Rock irgendwo weiter im Osten gelegen sein könnte, wird es schwierig!“

„Dann müssen wir das Kapitän Firuz sagen“, meinte Sin.

Sie verließen das Gewürzhaus. Die Wächter ließen sie ungehindert durch, als gerade ein großer Handkarren durch das Tor geschoben wurde. Er war so schwer beladen, dass die hölzernen Räder ächzten. Jarmila und Sin taten kurzerhand so, als würden sie den Männern beim Schieben helfen.

Kurz darauf entfernten sie sich in eine der zahllosen verwinkelten Gassen von Hormus.

PIRATEN!

Später, als sie wieder beim Schiff waren, berichteten sie von dem, was Jarmila gehört hatte. Kapitän Firuz hörte Jarmilas Erzählung mit ebenso tiefem Stirnrunzeln zu, wie er dies sonst bei den Erzählungen von Sindbad dem Seefahrer tat. Sehr schnell gesellten sich auch Branagorn, Ibn Sina und Abdul aus Cordoba dazu.

„Das ist eine durchaus interessante Neuigkeit“, meinte Ibn Sina. „Die Frage ist nur, ob sie uns überhaupt betreffen muss! Aber dazu kann wahrscheinlich unser vielgerühmter Sindbad etwas sagen!“

„Ich?“, wunderte sich Sindbad der Seefahrer.

„Nun, glaubst du, dass wir das Kriegsgebiet durchsegeln müssen, um zur Insel des Vogels Rock zu gelangen?“

„Wenn er jetzt nur genau wüsste, wohin wir überhaupt segeln müssen“, konnte sich Kapitän Firuz mit einer spöttischen Bemerkung nicht zurückhalten.

„Ich schlage vor, wir beraten über den weiteren Weg, wenn wir die Stadt des Königs Rajaraja erreicht haben. Und wer weiß, wenn wir ihm die Grüße des Kalifen ausrichten, vielleicht ist er dann sogar bereit, uns einen Blick auf seine geheimen Karten werfen zu lassen“, glaubte Sindbad.

„Der Kalif hat uns in der Tat ein paar diplomatische Dokumente mitgegeben“, erklärte nun Abdul aus Cordoba. „Mit denen könnte man den Rajaraja sicherlich günstig stimmen. Und vielleicht lässt sich dieser Krieg sogar in unserem Sinne nutzen.“

Sindbad der Seefahrer zuckte mit den Schultern.

„Von diesen Dingen verstehe ich leider nichts. Denn so weit ich auch gereist bin, ich habe mich niemals in die Kriege in den Ländern eingemischt, die dort ausgefochten wurden!“

„Und wie stellst du dir das genau vor, werter Abdul?“, fragte Branagorn aus Corvey ungerührt.

„Ganz einfach: Man kann dem König Rajaraja die Unterstützung des Kalifen anbieten...“

„..als Gegenleistung für die Karten?“, schloss Branagorn.

Abdul nickte. „Ganz genau!“

„Darauf wird er aber wohl nur eingehen, wenn er erstens sehr gutgläubig ist und zweitens das Kriegsglück nicht gerade mit ihm ist“, glaubte Branagorn. „Schließlich wäre der Kalif doch gar nicht in der Lage, König Rajaraja Hilfstruppen zu schicken!“

„Aber das weiß König Rajaraja ja nicht“, meinte Abdul aus Cordoba.

„Wie ich sehe, waren die Neuigkeiten für euch von großem Interesse“, mischte sich nun Jarmila ein. Ihre grelle Stimme fiel zwischen all den Männerstimmen sofort auf. Alle drehten sich im selben Augenblick zu ihr um. Dass sie sich so dreist in die Unterhaltung einmischte, hätten manche sicherlich unverschämt genannt. Aber das schien Jarmila in diesem Moment vollkommen gleichgültig zu sein. Ihr kam es auf etwas ganz anderes an.

Was – das erkannte Kapitän Firuz wohl am besten.

„Keine Sorge, wir werden dich weder hier in Hormus zurücklassen, noch von Bord werfen“, versicherte er.

„Ihr werdet alle noch dankbar dafür sein, dies nicht getan zu haben“, erklärte Jarmila daraufhin.

Zwei Tage dauerte es noch, bis die 'Flügel des Windes' den Hafen von Hormus endlich verlassen konnte. Sie segelte im Schutz eines größeren Verbandes von Schiffen. Es waren insgesamt zwanzig Daus, die gen Osten segelten, um die Meerenge zu passieren und in den indischen Ozean zu gelangen. Die meisten dieser Schiffe waren überladene Handelssegler. Manche von ihnen lagen so tief im Wasser, dass man sich fragen konnte, wie sie einen höheren Seegang überstehen sollten, ohne zu kentern.

Omar hielt die 'Flügel des Windes' immer etwas auf Abstand zu diesen Nussschalen, wie er sie nannte. Er wollte offenbar vermeiden, mit einem dieser Schiffe zusammenzustoßen und während Sin ihm bei der Arbeit mit Datteln und Trinkwasser versorgte, schimpfte der Steuermann über die angeblich völlig unzureichenden Fähigkeiten der Steuermänner auf den anderen Schiffen.

Flankiert wurde dieser Verband von Schiffen, die im Auftrag des Sultans von Hormus segelten. An Bord befanden sich bewaffnete Soldaten, darunter viele Bogenschützen. Die sollten wohl Piraten abwehren, falls es zu einem Angriff kam.

Als die 'Flügel des Windes' und die anderen Schiffe des Verbandes die Meerenge passierten, war Sin etwas enttäuscht. Er hatte eigentlich dramatische Veränderungen erwartet, nachdem sie doch nun in einen Ozean hineingesegelt waren, der vielleicht sogar die ganze Welt umspannte. Aber da sich die 'Flügel des Windes' und die andere Schiffe des Verbandes noch immer in der Nähe der Küste hielten, um sich zu orientieren, war nur auf einer Seite die bis zum Horizont reichende Unendlichkeit des Meeres zu sehen.

Nur – weiter als bis zum Horizont konnte man auch hier nicht sehen. Und dieser Anblick glich doch sehr jenem, den man auch schon im arabischen Golf hatte. Eine bläuliche, in der Sonne glitzernde Fläche, die so weit reichte, wie das Auge sehen konnte. Das war alles.

„Um weiter zu sehen, musst du bis zum Horizont segeln“, meinte Omar, den er darauf ansprach. „Dort wird es wieder einen Horizont geben, der deinen Blick begrenzt. Und jetzt hol mir etwas zu trinken! Ich bin durstig!“

Die Stunden gingen dahin. In der Nacht wurde durchgesegelt. Anders als während der Reise innerhalb des Golfes, ging man in den Nächten nicht an Land.

Fackeln wurden auf allen Schiffen entzündet, damit man sich gegenseitig sehen konnte und keines der Schiffe den Anschluss an den Verband verlor.

Trotzdem hörte Sin am nächsten Morgen Kapitän Firuz und den Steuermann darüber sprechen, dass drei Schiffe weniger zu zählen waren.

Immer wieder zählten Omar der Steuermann und Kapitän Firuz die Schiffe. Abdul aus Cordoba unterstützte sie dabei. Aber sie kamen immer wieder zum selben Ergebnis. Drei Schiffe fehlten und waren nirgends auffindbar.

„Ich habe diese Fahrt ja schonmal in die andere Richtung mitgemacht“, meinte Jarmila, während sie zusammen mit Sin im Bug Platz genommen hatte, wo jetzt sonst niemand mehr von der Besatzung sitzen wollte. Der Seegang hatte sich nämlich verändert. Die Wellen waren stärker geworden und immer wieder kam es vor, dass Gischt über die Reling spritzte. Davon abgesehen, hob und senkte sich der Bug immer wieder stark. Davon konnte einem leicht schlecht werden und auch Sin hatte des öfteren ein ziemlich flaues Gefühl in der Magengegend.

„Wo sind diese Schiffe geblieben?“, fragte Sin.

„Waren wohl zu langsam“, meinte Jarmila. „Und das bedeutete, sie konnten diesen Anschluss nicht halten.“

„Werden sie uns wieder aufholen können?“

„Glaube ich nicht. Aber du kannst ja Omar mal danach fragen.“

„Ich vermute, die Piraten werde auf solche Schiffe warten!“

„Kann gut ein, Sin. Aber das könnte bedeuten, dass die Piraten uns dafür in Ruhe lassen und sich mit der leichten Beute zufrieden geben!“

„Allah möge mir verzeihen, wenn ich mir das wünsche.“

„Wieso?“

„Weil man sich nicht das Unglück eines anderen wünsche sollte!“

Jarmila runzelte die Stirn und wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Kopftuch herausgestohlen hatte und jetzt durch den Wind einen unruhigen Tanz über ihre Augenbraue aufführte. „Bist du wirklich nur der Sohn eines Lastenträgers?“

„Wieso bezweifelst du das? Und wieso sagst du 'nur'? Das ist schließlich ein ehrenhafter Beruf! Wahrscheinlich einer der ehrlichsten, die es gibt, denn es ist unmöglich, dabei zu betrügen! Entweder einer trägt seine Last oder eben nicht! Da ist es unmöglich, nur so tun, als hätte man gearbeitet oder jemand zu betrügen!“

Sie lächelte. „Ich bezweifle das, weil du dir über sehr komplizierte Dinge Gedanken machst und manches, was ganz einfach ist, dagegen nicht begreifst!“

In diesem Augenblick ertönte ein lauter Ruf.

Einer der Männer der 'Flügel des Windes' hatte irgend etwas am Horizont entdeckt und schon bald herrschte helle Aufregung an Bord des Schiffes.

Sin und Jarmila erhoben sich von ihren Plätzen, formten mit der Hand einen Schirm für die Augen, um sich vor der Sonne zu schützen und sahen in die Ferne.

„Schiffe!“, rief einer der Männer. “Bei Allah, es sind Schiffe!“

„Wir wollen nur hoffen, dass es keine Piraten sind!“, meinte Hauptmann Hassan.

„Wer soll es denn sonst sein?“, vermutete der grimmige Kommentar von Firuz dem Perser. „Aber das musste ja so kommen. Sie warten einfach irgendwo an der Küste, bis Schiffe vorbei kommen und stechen dann in See...“

Inzwischen hatten man auch auf den Schiffen, die der Sultan dem Verband mitgegeben hatte, bemerkt, was da aus der Ferne auf sie zu kam. Stimmen drangen hin und wieder herüber. Aufgeregte Rufe und Befehle waren zu hören. Bogenschützen machten sich bereit. Feuerschalen mit Pech wurden entzündet und ihr dunkler Rauch zog sich wie ein langes, schwarzes Band über den Himmel.

„Sie werden Brandpfeile verschießen, um die Piraten zu vertreiben“, meinte Jarmila. „Aber die segeln oft in so kleinen Booten, dass man sie nicht gut treffen kann. Und vor allem nutzt es auch nichts, wenn man ein paar dieser Boote in Brand schießt. Die anderen kommen dann trotzdem durch.“

„Und was sollte man deiner Meinung nach tun?“

„Als ich den Weg in umgekehrter Richtung gesegelt bin, hat der Kapitän das Schiff auf das offene Meer hinausfahren lassen.“

„Seit ihr denn nicht in einem Verband gefahren?“

„Doch. Aber das war dem Kapitän gleichgültig. Er hat den Verband verlassen. Je weiter man nämlich hinaussegelt, desto schwieriger ist es für die kleinen Boote der Piraten, einem zu folgen.“

Sin runzelte die Stirn.

„Du meinst, man sollte so weit hinausfahren, dass man das Ufer nicht mehr sieht!“

„Genau das ist der Trick! Die Piraten werden einem dorthin nicht folgen!“

„Ja, warum wohl! Weil man von dort nicht wieder zurückfindet!“

„Unser Kapitän hat damals sehr wohl zurückgefunden.“ Jarmila zuckte mit den Schultern. „Man muss halt ein bisschen auf sein Glück vertrauen und hoffen, dass irgendwann wieder eine Küste auftaucht, an er man eine bekannte Landmarke erkennen kann. Dann weiß man wieder, wo man ist!“

„Wenn das so ist, dann solltest du das unserem Kapitän sagen!“

Jarmila lachte. „Und du glaubst, er wird auf mich hören?“

„Immerhin bist du auf diesem Meer schon gesegelt. Er hingegen wohl nicht!“

„Aber er ist der Kapitän. Und er wird ganz sicher nicht auf ein Mädchen hören! Eine Diebin, die froh ein sollte, dass man sie nicht über Bord geworfen hat! Wie kannst du nur glauben, dass er auch nur einen Gedanken daran verschwenden könnte, auf mich zu hören!“

Sin dachte nach.

Das stimmte natürlich.

Gerade Firuz der Perser hatte ja einen ausgeprägten eigenen Willen. Und vielleicht wusste er ja auch viel besser, was in dieser Lage zu tun war...

Sin hoffte das zumindest.

––––––––


Auch die Soldaten des Kalifen an Bord der 'Flügel des Windes' griffen zu ihren Waffen. Die Boote der Piraten waren inzwischen nämlich so nahe herangekommen, dass man sie schon sehr gut sehen konnte. Sie manövrierten sehr geschickt. Ihr Weg kreuzte den des Verbandes und es schien möglich zu sein, ihnen auszuweichen.

Hauptmann Hassan rief ein paar Befehle, aber es wirkte auf Sin keineswegs so,als wüssten er und seine Männer, wie sie sich am besten gegen die Piraten wehren konnten. Kein Wunder, dachte Sin. Schließlich hatten Hassan und seine Männer ihren Dienst bisher größtenteils innerhalb der Mauern des Palastes versehen. Für die Sicherheit des Kalifen zu sorgen - das war ihre Aufgabe gewesen. Nicht der Kampf gegen Piraten, die es mit kleinen, wendigen Booten auf die überladenen Handelsschiffe abgesehen hatten, die zwischen Hormus und Indien verkehrten und ihnen einfach wie eine allzu verführerische Versuchung vorkommen mussten. So als ob man einem ausgehungerten Hund mit einem Stück Fleisch vor der Nase herumstrich!

Die ersten Brandpfeile wurden verschossen. Die meisten löschte das Meerwasser. Und viele andere wurden durch die Schilde aus gespannte Tierhäuten abgewehrt, mit denen sich die Piraten schützten. Sie waren nun nahe genug heran, dass Sin erkennen konnte, wie abgerissen und ausgemergelt sie waren. Arme Leute, die selbst nichts hatten und deswegen darauf lauerten, dass Schiffe an ihrer Küste vorbei kamen, überlegte Sin. Aber wer nicht arm und verzweifelt war, der wurde wohl auch kein Pirat und ging das große Risiko ein.

Eines der Boote fing durch die Brandpfeile Feuer. Die Piraten sprangen auf, versuchten sich zu retten und sprangen ins Wasser, während das Boot kenterte. Niemand konnte ihnen helfen. Die meisten konnten nicht schwimmen. Ehe sie eines der anderen Piratenboote erreichen konnten, waren die meisten ertrunken.

Ihre Schreie waren nur kurze Zeit zur hören.

Mehreren Booten erging es so. Aber es waren Dutzende und sie alle zum Abdrehen zu zwingen oder in Brand zu setzen war unmöglich. Diejenigen, die näher an die Handelsschiffe herankamen, schleuderten Seile mit Haken. Fanden sie Halt, dann ließen sie sich mitziehen. Die Schilde aus Tierhäuten boten einen guten Schutz gegen den Pfeilhagel, der über die Piratenboote immer wieder hereinbrach. Sie selbst hatten keine Bögen oder Pfeile. Nur Speere und lange Messer. Aber sobald sie ein Schiff erreicht hatten und an Bord springen konnten, waren diese Waffen sehr wirksam.

Sehr schnell war die erste Dau von den Piraten erobert. Das Segel wurde heruntergelassen. Das Schiff verlor an Fahrt und begann seitlich zu trudeln. Schreie gellten herüber. An Bord wurde noch gekämpft. Aber es war nur noch eine Frage der Zeit, wann die Piraten das Schiff erobert hatten.

Und am Horizont tauchten weitere Boote auf. Darunter sogar eine Dau, die wohl während eines vorangegangenen Überfalls unversehrt in die Hände der Piraten gekommen war. Sin sprang auf. „Seht, da hinten!“ rief er, aber niemand an Bord hörte ihm zu. Er hatte eine weitere Gruppe von Booten entdeckt, die ihren Weg kreuzen würde.

„Gegen so viele werden wir keine Chance haben“, hörte Sin einen der Seeleute sagen. Währenddessen wurde gerade eine weitere Dau von den Piraten geentert. Ein anderes, völlig überladenes Handelsschiff kenterte, weil der Steuermann zu unvorsichtig war. Von überall her war jetzt das Triumphgeheul der Piraten zu hören. Denn die Begleitschiffe des Sultans von Hormus, die die den Verband ja eigentlich beschützen sollten, begannen bereits abzudrehen und das Weite zu suchen. Der Versuch, die Piraten mit ihren Brandpfeilen abzuwehren, war inzwischen nahezu aufgegeben worden.

Es muss etwas geschehen, dachte Sin. Und die einzige Möglichkeit, sich jetzt noch zu retten, war die, die Jarmila erwähnt hatte.

Aber natürlich hatte sie vollkommen recht.

Auf ein Mädchen – noch dazu eine Diebin – würde niemand hören.

Und auf mich auch nicht, erkannte Sin. Schließlich war er ja nur der Schiffsjunge, Sohn eines Lastenträgers, der froh sein konnte, dass man ihn überhaupt auf diese Reise mitgenommen hatte und er nun dem Steuermann zu trinken bringen durfte, wenn dem der Schweiß auf der Stirn stand.

Und dann kam Sin die rettende Idee!

Es gab jemanden an Bord, auf den jeder hörte, selbst dann, wenn er die erstaunlichsten Geschichten erzählte und behauptete, sie alle persönlich erlebt zu haben. Jemand, der doch die größtmögliche Erfahrung als Seefahrer besaß und dem man glauben würde, dass er etwas Vernünftiges vorzuschlagen hatte, wenn es darum ging, wie man sich vor den Piraten in Sicherheit brachte!

Schließlich konnte man doch annehmen, dass er solche Situationen schon wiederholt erlebt hatte!

Diese Gewässer waren schließlich nichts anderes als der Beginn des großen, möglicherweise unendlichen Weltozeans und wo immer auch die Länder und Inseln liegen mochten, die Sindbad der Seefahrer während seiner Reisen besucht hatte, so stand doch eins fest. Er musste genau hier her gesegelt sein! Denn einen anderen Weg vom arabischen Golf in den großen indischen Ozean gab es nicht!

Sin sah sich um. Er entdeckte Sindbad den Seefahrer im hinteren Teil des Schiffs. Er stand da und klammerte sich mit beiden Händen an die Reling.

Und sein Gesicht war kreideweiß.

So hatte Sin sein großes Vorbild noch nie gesehen!

Für einen Moment erschrak Sin darüber. Konnte es etwa sein, dass die Lage so aussichtslos war, dass selbst ein großer Held der Meere wie der allseits bekannte Sindbad darüber blass wurde und keine Hoffnung mehr sah?

Sin ging zu ihm hin.

„Großer Sindbad, du musst etwas tun“, sagte er.

„Natürlich! Die Piraten werden bei meinem Anblick sicher gleich die Flucht ergreifen“, sagte Sindbad der Seefahrer auf eine Art, wie Sin sonst nie bei bei seinem Namensvetter bemerkt hatte. Es war eine Art Spott, der so sehr mit Verzweiflung gemischt war, dass es Sin einen Stich versetzte.

„Sindbad, du musst dem Kapitän sagen, dass er auf das offene Meer hinausfahren soll! Dorthin, wo man kein Land mehr sieht!“

„Wie bitte?“

Sindbad runzelte die Stirn. Der Kampfeslärm von den anderen Schiffen drang herüber und schon näherten sich die ersten Piratenboote auch der 'Flügel des Windes'.

„Jarmila hat mir gesagt, dass der Kapitän des Schiffes, der sie aus dem Reich des Königs Rajaraja nach Hormus gebracht hat, dies getan und damit sich, sein Schiff und seine Mannschaft vor den Piraten gerettet hat! Aber Firuz der Perser weiß davon nichts! Und die Männer von Hauptmann Hassan sind den Kampf auf einem Schiff nicht gewöhnt!“

Die Bogenschützen unter Hassans Soldaten schossen bereits ihre ersten Pfeile ab. Manche davon trafen auch. Aber die meisten wurden von den Fellschilden abgewehrt.

„Du musst ihnen sagen, dass man einfach auf das offene Meer hinaussegeln muss, soweit es nur geht, denn die kleinen Boote der Piraten sind zwar schneller und wendiger, aber je weiter man sich vom Land entfernt, desto unmöglicher wird es für sie, uns zu folgen...“

„Ja...“, murmelte Sindbad.

„Ich bin mir sicher, dass du so etwas auch schon erlebt und auf deinen Reisen vielleicht sogar selbst angeordnet hast und es nur deshalb nicht in deinen Geschichten erwähntest, weil es zu verrückt klingt! Denn schließlich glaubt ja jeder, dass man sich nicht mehr zurechtfindet, wenn man so weit hinausfährt dass man keine Küste mehr zu sehen vermag! Doch wir werde die Küste wiederfinden, da bin ich mir sicher! Und davon abgesehen, was kann es Schlimmeres geben, als Piraten in die Hände zu fallen, die uns alle umbringen oder in die Sklaverei verkaufen werden! Du musst es den Männern sagen, denn auf mich oder Jarmila wird niemand hören!“

Ein Ruck ging durch Sindbad den Seefahrer. Er sah den jungen Sin an und nickte dann. „Du hast recht, kleiner Sin“, murmelte er. Dann rief er dem Kapitän und den Steuermann zu: „Firuz! Omar! Hinaus aufs Meer mit dem Schiff! Geradewegs zum Horizont, so wie es der Wind zulässt und so lange bis man das Ufer nicht mehr sieht!“

„Was hast du gesagt?“, fragte der Perser.

„Es ist die einzige Möglichkeit, noch zu entkommen! Die kleinen Boote werden irgendwann aufgeben, weil sie uns nicht mehr folgen können!“

„Aber das ist Wahnsinn. Sind wir vielleicht Nordmänner, die ohne Rücksicht auf die Gefahren und ob sie einen Rückweg finden, in See stechen? Denen ist es gleichgültig, wo sie ankommen, mir nicht!“

„Wir werden zurückfinden! So wahr ich hie stehe! Entweder wir finden eine Küste, an der es bekannte Landmarken gibt, die auf unseren Karten verzeichnet sind – oder aber die Rechenkünste von Ibn Sina und Abdul aus Cordoba werden uns helfen!“ Alle sahen zu Sindbad hin. Selbst die Soldaten unter Hauptmann Hassans Kommando hörten damit auf, auch noch sinnloserweise ihre letzten Pfeile in Richtung der Piraten zu verschießen, da ihnen klar war, dass sie damit die Flut der Angreifer nicht würden aufhalten können.

Gut so, dachte der junge Sin. Ihm hören sie zu und vielleicht kann er sie noch rechtzeitig davon überzeugen, wie wir uns retten können!

Sindbad schwang sich mit einem eleganten, leichtfüßigen Satz auf die Reling. Dabei hielt er sich mit einer Hand an einem der Seile fest, die zur Mastspitze gespannt waren und ihn aufrecht hielten. Sin hatte ihn schonmal so erlebt – im Hafen von Bagdad. Auch da war er auf diese Weise auf die Reling eines Schiffs gesprungen, hatte sich hinaufgeschwungen, um einen erhöhten Standpunkt zu haben und von dort aus sein Publikum besser erreichen zu können.

Und dann begann er mit kraftvoller Stimme zu sprechen. Einer Stimme, die sich schon im Hafen und auf den Plätzen Bagdads hatte durchsetzen können und es deswegen selbst unter diesen widrigen Umständen schaffte, die Hörer in den Bann zu schlagen. „Hört mich an! Hört, was einer zu sagen hat, der schon weiter gereist ist, als jeder andere hier an Bord! Der Steuermann soll geradewegs auf das Meer hinaussegeln. Der Wind steht günstig und er wird uns weit hinaustreiben... So weit, dass die von Allah verlassenen Piraten uns nicht mehr folgen werden!“

Es brauchte nicht lange und Sindbad der Seefahrer hatte jeden an Bord davon überzeugt, dass dies die einzige Möglichkeit war, Schiff und Besatzung noch zu retten. Ja, manch einer wunderte sich darüber, nicht vorher schon selbst darauf gekommen zu sein. Und was die Gefahr betraf, die es bedeutete, einfach tollkühn in das Nichts hinauszusegeln, ohne irgendeine Orientierung zu haben, schien nicht so schwerwiegend zu sein.

Zumindest wenn der große Sindbad darüber sprach, klang das alles sehr einfach. Es schien keine besondere Schwierigkeit zu sein, die richtige Küste wiederzufinden.

„Was meint ihr?“, wandte ich daraufhin Firuz der Perser an diejenigen unter der gegenwärtigen Besatzung der 'Flügel des Windes', die als die Klügsten galten.

Ibn Sina und Abbdul aus Cordoba stotterten jedoch nur unverständliche Worte.

Ihre Meinung zu diesem Thema schien nicht eindeutig zu sein.

Dann ergriff Branagorn das Wort. „Tun wir es!“, rief er. „Ehe es zu spät ist.“

SINDBAD DER RETTER

Omar riss am Ruder. Das Segel schwenkte herum. Hier und da schaffe es der eine oder andere Seemann an Bord der 'Flügel des Windes' gerade noch, den Kopf einzuziehen, bevor er vom Segel getroffen werden konnte. Das Schiff wendete und fuhr dann hinaus auf das offene Meer.

Der Wind war bisher von der Seite gekommen, wenn er das Segel gebläht hatte.

Jetzt blies er geradewegs von hinten und drückte es weit nach vorn. Die 'Flügel des Windes' gewann an Fahrtgeschwindigkeit. Die Dau begann sich leicht aus dem Wasser zu heben und über die Wellen zu gleiten.

Am Heck postierten sich einige von Hassans Soldaten. Omar der Steuermann fluchte deswegen. „Diese Kerle stehen mir im Weg, oder wollen sie mir etwa helfe, das Ruder zu halten – diese Schwächlinge!“

Das Ruder hatte Omar sich unter den Arm geklemmt und es war offensichtlich, dass selbst dieser kräftige Mann seine gesamte Kraft brauchte, um es zu halten. Aber um nichts in der Welt hätte er sich dabei helfen lassen. Höchstens während eines schlimmen Sturms wäre so etwas in Frage gekommen. Ansonsten galt: Omar war der Steuermann und nur ihm stand es zu das Ruder zu halten.

Sin wusste davon ein Lied zu singen, denn er hatte Omar während der bisherigen Fahrt schon mehrfach gefragt, ob er nicht auch einmal das Ruder halten dürfte, aber das hatte der Steuermann bisher abgelehnt. Zuschauen, das war erlaubt. „Später einmal werde ich es dir zeigen!“, hatte Sin noch die Worte des Steuermanns im Ohr. „Aber nur, wenn wir in Ufernähe und in seichtem Gewässer sind. Sicher ist schließlich sicher!“

Nachdem Omar das Schiff gedreht hatte, holten die Piratenschiffe zunächst noch auf. Hassans Soldaten verschossen ihre letzten Pfeile.

Dann endlich blieben die kleinen, wendigen Boote mehr und mehr hinter der 'Flügel des Windes' zurück.

„Allah sei gepriesen dafür, dass er uns gerettet hat!“, sagte Sindbad der Seefahrer.

„Und vielleicht wird er uns alle am Tag des Gerichts dafür bestrafen, dass wir die anderen im Stich gelassen haben“, murmelte Firuz der Perser düster. Inzwischen waren sie scheinbar vollkommen allein auf dem Meer. Die Richtung aus der sie gekommen waren, konnten sie nur noch daran erkennen, dass hinter dem Horizont Rauchsäulen von den brennenden Schiffen aufstiegen.

„Wir hätten nicht mehr tun können“, sagte Branagorn schließlich.

„Das stimmt“, erklärte Hauptmann Hassan und straffte dabei seine Körperhaltung. „Meine Männer haben keinen einzigen Pfeil mehr in ihren Köchern.“

„Der, dessen Glaube stark genug ist, kämpft mit bloßen Händen“, knurrte Firuz.

„Ah, das ist doch alles nur Gerede“, meine Hassan.

„Jedenfalls habe ich nicht gehört, dass du dich gegen den Vorschlag des großen Sindbad gewandt hat“, meldete sich nun Ibn Sina zu Wort.

Die Gesichtszüge des Kapitäns der 'Flügel des Windes' wurden noch finsterer, als sie ohnehin schon waren. Seine Augenbrauen zogen sich dabei auf eine Art und Weise zusammen, die Sin noch niemals zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Sie glichen einer gewellten Linie und erinnerten leicht an eine Schlange, die sich über den Boden nach vorne schob.

––––––––


Eine ganze Weile war die Dau nun schon auf das offene Meer hinausgesegelt und Sin hatte jedes Gespür dafür verloren, wie viel Zeit eigentlich vergangen war. Er saß am Bug und glaubte zu bemerken, dass die Wellen höher geworden waren und das Schiff heftiger schaukelte, als dies bisher der Fall gewesen war.

Allerdings war er sich nicht ganz sicher, ob dieser Eindruck nicht eine Ausgeburt einer Einbildung und seiner Furcht war und in Wahrheit sich nichts geändert hatte.

Nichts, bis auf die Tatsache, dass wirklich nirgends Land zu sehen war. Nicht einmal ein grüner oder brauner oder vielleicht auch nur ein dunstig-grauer Streifen am Horizont, von dem man immerhin vermuten konnte, dass er aus festem Boden bestand, wenn man sich ihm näherte.

Es schien außer dem Meer nichts anderes zu geben.

Wenn man auf das Wasser schaute, sah man das Glitzern der Wellen und bemerkte, wie sich die Wellen leicht aus der Oberfläche heraushoben. Manchmal geschah das so sanft, dass man es zuerst gar nicht merkte und ehe man sich versah, hob dies Welle dann auch gleich das ganze Schiff ein Stück in die Höhe.

Wie die große Hand Allahs, die uns einfach ein Stück versetzt!, ging es Sin schaudernd durch den Kopf. Niemals zuvor hatte er sich über die Kräfte, die im Wasser verborgen waren, nähere tiefergehende Gedanken gemacht. Dass Wasser ein gefährliches Element war, war ihm durchaus bewusst. Selbst in einer Wasserschüssel konnte man ertrinken, wie der Tod eines alten Mannes bewiesen hatte, der in der Nachbarschaft von Sins Familie gelebt und beim morgendlichen Waschen einen Schwächeanfall erlitten hatte.

Aber dass Wasser so mächtig sein konnte, dämmerte Sin erst jetzt, da er ganz von ihm umgeben war.

Bei Anblick der sich hebenden Wellenberge wurde ihm schlecht. Wenn sich das Schiff unter ihm leiht hob, krampfte sich sein Magen zusammen und ihm wurde schlecht. Richtig übel war ihm – und dabei hatte er während der bisherigen Reise nicht einen einzigen Tag an der gefürchteten Seekrankheit gelitten.

Schließlich senkte sich die Sonne hinter den Horizont. Sie sank immer tiefer und verschwand schließlich ganz. Es sah aus, als würde sie in die Fluten des Meeres eintauchen und darin versinken.

Wenig später überwölbte sie das Sternenzelt. Der Mond blickte wie das Auge eines übermächtig großen Wesens auf die 'Flügel des Windes' herab. Der Wind ließ nach. Zuerst trieb er die Dau nur noch schwach voran und Kapitän Firuz ließ jeden Fetzen Segel spannen, den es an Bord gab.

Schließlich konnte ja niemand wissen, ob die Piraten ihnen nicht vielleicht doch noch folgten und die Dau am Ende sogar rudernd einholten.

Denn je schwächer der Wind war, desto größere Vorteile hatten kleine Boote, die sich viel leichter mit Muskelkraft fortbewegen ließen, als eine große und im ganzen doch recht schwerfällige Dau, die darüber hinaus durch die vielen Vorräte, die sie an Bord trug, auch noch schwer beladen war.

Doch von den Verfolgern zeigte sich niemand.

Zwischendurch gelte zwar der der erschrockene Ruf eines Ausgucks durch die Nacht, der am Horizont Fackeln gesehen haben wollte. Fackeln auf einem Piratenboot! Aber nachdem das Schiff sich schon schief auf die Seite zu legen drohte, weil alle, die sich zur Zeit an Bord befanden zur Reling auf der Backbordseite schnellten, um anschließend angestrengt in die Ferne zu blinzeln, stellte sich heraus, dass niemand sonst diesen Lichterschein zu entdecken vermochte.

„Es wird eine Spiegelung der letzten Lichtstrahlen der Sonne auf dem Wasser gewesen sein“, glaubte Ibn Sina. „Oder das Mondlicht, das sich ebenfalls auf höchst eigenartige Weise im Wasser widerzuspiegeln vermag.“

„Da ist wirklich nichts“, bestätigte auch Branagorn aus Corvey. „Glaubt mir, ihr könnt alle ganz beruhigt sein“, setzte der wunderliche Mönch aus dem unzivilisierten Norden noch hinzu. „Wenn die Piraten uns gefolgt wären, dann hätte ich sie gesehen!“

„Dann wollen wir deinen scharfen Augen vertrauen, Branagorn“, sagte Abdul aus Cordoba. „Aber vielleicht könnte der Kapitän trotzdem den Ausguck verdoppeln und zusätzliche Posten aufstellen, damit wir nicht noch eine böse Überraschung erleben.“

„Ich bin ganz deiner Meinung“, nickte unterdessen Hauptmann Hassan. „Und ganz davon abgesehen könnte es ja auch sein, dass es außer uns doch noch andere Schiffe aus dem Verband geschafft haben, den Piraten zu entkommen.“

„Allah lehrt uns, die Hoffnung niemals zu verlieren“, sagte Firuz. „Aber wir sollten deswegen die Augen nicht vor der Wahrheit verschließen.“

„Und was ist deiner Ansicht nach die Wahrheit?“, wollte Hassan wissen.

„Dass wir weit und breit allein und auf uns selbst gestellt sind. Selbst wenn noch anderen Schiffen aus dem Verband die Flucht vor den Piraten gelungen sein sollte, so ist trotzdem fraglich, ob wir sie je wiedersehen würden. Dazu ist der Ozean viel zu groß.“

Hassan wandte sich an Sindbad den Seefahrer. „Trifft das zu, was unser Kapitän sagt?“

„Einerseits ja, andererseits...“ Die Worte des großen Seefahrers brachen plötzlich ab, als er die Aufmerksamkeit aller auf sich gerichtet fühlte.

Sin hatte plötzlich das Gefühl, dass sein berühmter Namensvetter dies mit Absicht tat. Es kam ihm vor, als würde Sindbad es genießen, dass alle an seinen Lippen hingen und darauf warteten, bis er endlich die richtigen Worte fand, um weiter zu sprechen.

Genau wie im Hafen!, dachte Sin.

Aber dann schalt er sich einen Narren.

Es war doch nicht möglich, dass der berühmte Sindbad mit ihnen allen ein Spiel aus Erwartung und Spannung trieb, jetzt, da sie doch gerade aus einer so großen Not gerettet worden und vielleicht in eine noch größere hineingeraten waren!

„Nun, ich stimme dem, was gesagt worden ist zu“, erklärte Sindbad schließlich mit seiner tiefen, durchdringenden Stimme, die so kraftvoll und überzeugend klang, dass es einem kaum etwas ausmachte, wenn man gar nicht richtig mitbekommen hatte, wem oder was er jetzt genau zustimmte. Denn schließlich war ja eine ganze Menge gesagt worden.

Sin fiel das erst nach ein paar Augenblicken auf.

„Heißt das nun, dass du der Meinung bist, wir werden noch welche aus dem Verband wiedertreffen oder glaubst du, dass das eher unwahrscheinlich ist?“, wollte es Abdul aus Cordoba genauer wissen.

Wieder waren alle Augen auf Sindbad gerichtet.

Jarmila, die sich dicht hinter Sin gestellt hatte, flüsterte ihm zu: „Ich glaub, er hat keine Ahnung!“

„Quatsch“, zischte Sin.

„Er hatte sogar vergessen, wie die Frage war!“

„Pst!“

„Das Meer ist zu groß“, erklärte Sindbad der Seefahrer schließlich. „Nur wenn Allah es will, werden wir irgendjemanden, der mit uns nach Indien segelte, irgendwann einmal wiedersehen. Aber ich vermute, dass das das wohl erst im Paradies sein wird.“

––––––––


Es war eine sehr helle Nacht, denn es war Vollmond und keine einzige Wolke stand am Himmel. Nahezu vollkommene Windstille herrschte nun, was aber nicht hieß, dass das Meer jetzt spiegelglatt gewesen wäre, wie Sin es eigentlich erwartet hatte.

Aber offenbar hörte die Bewegung des Meeres nicht einfach auf, wenn es erst einmal aufgewühlt worden war. Und so schaukelte die 'Flügel des Windes' wie eine Nussschale dahin.

Sin konnte kaum schlafen. Immer wieder wachte er auf. Dann war ihm furchtbar übel.

Einmal glaubte er, sich übergeben zu müssen, sprang plötzlich auf und stürzte zur Reling.

Aber obwohl sich sein Magen zusammenkrampfte und er das Gefühl hatte, als wäre ihm gerade ein Faustschlag in den Bauch versetzt worden, kam es dann doch nicht ganz so schlimm und er konnte seine letzte Mahlzeit bei sich behalten.

„Ich glaube, Schiffsjunge zu sein, ist nicht wirklich deine Bestimmung“, sagte Jarmila, die ebenfalls aufgestanden war, um nach ihm zu sehen.

„Das geht schon vorüber“, meinte Sin.

„Sicher tut es das. Aber ich fürchte, du wirst es öfter haben, wenn du mit einem Schiff unterwegs bist und die See etwas rauer wird!“

„Tja, bevor ich diese Höllenfahrt mitgemacht habe, bin ich nur einmal mit einem Lastkahn, auf dem mein Vater zu tun hatte, von einer Anlegestelle im Flusshafen von Bagdad zur anderen gefahren. Und dabei ist das Schiff an einer Sandbank stecken geblieben, weil es überladen war und man wohl auch zu wenig bedacht hat, wie wenig Wasser in der Flussmitte zu dieser Jahreszeit floss.“

„Ja, dies ist etwas anderes.“

„Du sagst es.“

Es musste weit nach Mitternacht sein. Und die anderen waren – abgesehen von den eingeteilten Posten – in einen unruhigen Schlaf gefallen. Selbst Omar hatte sein Ruder an einen der anderen Seeleute abgegeben. Aber das hatte wohl weniger damit zu tun, dass er jemand anderen zutraute, die 'Flügel des Windes' genauso gut zu steuern, wie er das vermochte, sondern war dadurch bedingt, dass es im Moment ohnehin gleichgültig war, wie das Ruder stand. Es blies kein Lüftchen. Das Schiff trieb einfach dahin, getragen von den Wellen.

Bis spät in die Nacht hatte Sin noch gehört, wie Ibn Sina und Abdul aus Cordoba zusammen mit Branagorn darüber beraten hatten, wie man aus der Stellung der Gestirne vielleicht errechnen konnte, in welche Richtung man sich zu segeln hätte. Immer wieder war Sindbad der Seefahrer dabei um seine Meinung gebeten worden. „Es ist das beste, bis zum Morgen zu warten, wenn die Sonne wieder scheint“, hatte der Seefahrer schließlich gesagt. „Dann können wir zumindest die Himmelsrichtungen bestimmen.“

Dass die dahintreibende Dau bis dahin vermutlich sehr weit abgetrieben sein würde, schien den großen Seefahrer nicht weiter zu beunruhigen. „Wir sind alle in Allahs Hand – so oder so“, so war seine Ansicht dazu.

Und Sin dachte, dass er sich dann ja eigentlich keine Sorgen zu machen brauchte.

War Sindbad der Seefahrer nicht bislang noch von jeder seiner Reisen zurückgekehrt? Meistens sogar reich beschenkt oder für große Taten fürstlich belohnt!

Dagegen hätte ich natürlich auch nichts, ging es Sin durch den Kopf, während ihm von Neuem speiübel wurde.

Ein einziger Umstand beunruhigte ihn jetzt noch.

Seinen Erzählungen nach, war Sindbad nicht selten als einziger von seinen abenteuerlichen Reisen zurück in das heimatliche Bagdad gelangt, während das Schicksal derer, die mit ihm zusammen aufgebrochen waren, ungewiss geblieben war.

„Er ist ein furchtbarer Angeber“, wisperte Jarmila in diesem Moment und riss ihn aus seinen Gedanke heraus.

„Wer?“

„Dein großes Vorbild! Der, dessen Namen du trägst! Er tut so, als würde alles wissen, aber ich bin mir sicher, dass er nicht einmal den Hauch einer Ahnung hat! Und trotzdem...“ Sie stockte und schüttelte den Kopf. Irgend etwas schien sie über die Maßen in ihren Gedanken zu beschäftigen.

„Trotzdem was?“, hakte Sin nach.

„Trotzdem hören alle auf ihn. Selbst diese schlauen weisen Männer, die so gut rechnen können, dass jeder Händler auf einem Bazar dagegen wie ein Dummkopf wirken muss! Aber wenn Sindbad seine Stimme erhebt, dann kann er ihnen den größten Blödsinn erzählen! Oder gar nichts, in dem er mit vielen Worten zu verstecken weiß, dass er eigentlich auch nicht weiter weiß.“ Sie seufzte. „Na, wenigstens hat er auf mich – beziehungsweise dich – gehört, als du ihm geraten hast, auf das offene Meer hinauszusegeln. Sonst wären wir jetzt mit Sicherheit alle ein Opfer der Piraten geworden!“

„Nein, nein, da irrst du dich“, behauptete Sin.

Jarmila runzelte die Stirn. „Irren? Wie meinst du das?“

„Sindbad der Seefahrer wusste natürlich, dass man bei einem Piratenüberfall in dieser Gegend, der mit kleinen Booten durchgeführt wird, am besten auf das Meer hinaussegelt, soweit es nur geht.“

„Ach, ja? Und warum ist er dann nicht vorher zum Kapitän gegangen und hat ihn an seiner Weisheit teilhaben lassen?“

Sie hatte jetzt etwas lauter gesprochen – so sehr regte es sie offenbar auf, was Sin da behauptete. Einer der Männer drehte sich auf seinem einfachen Lager auf den Planken der Dau um. Und im ersten Augenblick dachte Sin schon, dass Jarmila den Mann geweckt hätte. Aber dann ertönte ein durchdringendes, sägendes Geräusch. Der Seemann hatte angefangen zu schnarchen. Ein Geräusch, das auch deswegen besonders auffiel, weil es ansonsten eine so ruhige Nacht war. Außerdem wurde einer der eingeteilten Ausgucke bereits auf Sin und Jarmila aufmerksam.

„Sei um Allahs Willen leiser“, beschwor Sin Jarmila.

„Wie kannst du nur so einen Unsinn reden, Sin“, flüsterte sie nun. Aber ihre Empörung hatte keinen Deut nachgelassen. Sin sah, wie ihre Augen im Mondlicht blitzten, als sie ihn ansah.

„Es ist aber nunmal so. Sindbad hat nur deswegen nichts gesagt, weil ihm die Risiken klar waren und er so lange wie möglich damit warten wollte!“

„Na, dann können wir ja alle miteinander froh sein, dass er nicht noch länger gewartet hat““, erwiderte sie mit beißendem Spott.

––––––––


ALLEIN IM UNENDLICHEN OZEAN

Der Morgen kam.

Stimmen weckten Sin. Und außerdem das Sonnenlicht, das ihm ins Gesicht schien.

Ibn Sina und Abdul aus Cordoba diskutierten heftig darüber, in welche Richtung man sich jetzt am besten halten sollte, um so schnell wie möglich Land zu erreichen.

„Aber dieses Land wäre vermutlich Piratenland“, mischte sich Branagorn ein. „Wir werden in einem größeren Bogen segeln müssen.“

„Mit Verlaub, einen wesentliche Punkt scheinst du zu vergessen“, mischte sich Firuz der Perser in das Gespräch ein, das augenscheinlich weit davon entfernt war, zu irgendeiner Einigung zu führen. „Wir haben nämlich keinen Wind und so lange der nicht bläst, werden wir wohl nirgendwo hin gelangen!“

Drei Tage blies nicht ein einziges Lüftchen. Das Meer wurde schließlich spiegelglatt.

Sin bekam die Aufgabe, zusammen mit Jaffar, einem der Soldaten unter dem Befehl von Hauptmann Hassan, die Portionen von Stockfisch aufzuteilen, die es zum Frühstück gab.

Die Portionen waren ziemlich knapp bemessen und an den folgenden Tagen immer kleiner. Zudem wurde die Anzahl der Mahlzeiten auf eine einzige am Morgen beschränkt und das Trinkwasser streng eingeteilt.

Schließlich wusste niemand, wann sie eine Küste erreichen würden. Die Stimmung an Bord wurde entsprechend gereizt. Ein paar der Soldaten des Kalifen murrten. Omar der Steuermann und die anderen Seeleute hingegen nahmen die Situation gelassener.

„Allah schickt den Wind oder er tut es nicht“, sagte einer von ihnen. Und anstatt, dass sie sich beklagten, hielten sie die Gebetszeiten genau ein und beteten mit besonderer Inbrunst.

Ibn Sina und Abdul aus Codoba stritten sich derweil über Berechnungen, die niemand sonst verstand und bei denen vor allem auch vollkommen rätselhaft blieb, wie sie ihnen in der gegenwärtigen Situation irgendwie von nutzen sein konnten.

Sin ging es langsam besser. Dass es wenig zu essen gab, machte ihm aufgrund der Übelkeit wohl am wenigsten aus.

Stockfisch mochte konnte er im Moment nicht mehr sehen und so musste er sich zwingen, die kleiner werdenden Portionen hinunterzuwürgen. Aber etwas anderes gab es nicht. Alle anderen, leichter verderblichen Vorräte waren längst aufgebraucht.

„Wieso rudern wir nicht?“, fragte Hauptmann Hassan ziemlich ungehalten den Kapitän. „Dann kämen wir zwar langsam, aber immerhin ein wenig vorwärts.“

„Die 'Flügel des Windes' ist dafür nicht ausgelegt“, erwiderte Firuz der Perser. „Wir haben zu wenig Ruder an Bord. Um im Hafen zu manövrieren reicht das - aber hier draußen wäre das nur Kraftverschwendung, zumal uns die Strömung einfach fort trägt, wohin immer Allah es auch will.“

Erst am fünften Tag kam endlich wieder Wind auf. Es war mehr ein laues Lüftchen, aber es reichte immerhin aus, damit sich das Segeltuch wenigstens straffte und die meisten seiner Falten etwas glättete.

„Gepriesen sei Allah!“, rief Omar der Steuermann, der sogleich auf seinem Posten war.

Der Wind hatte kaum kraft, aber eine Dau war so gebaut, dass diese Kraft gut ausgenutzt wurde und so konnte sie selbst bei schwachem Wind leicht Fahrt aufnehmen. Einige der Seeleute meinten, dass man doch die Essensrationen jetzt wieder vergrößern könnte. Schließlich würde man doch sicher bald eine Küste erreichen.

Aber Kapitän Firuz bestand darauf, dass der Stockfisch nur so sparsam wie bisher ausgeteilt wurde. „Sindbad der Seefahrer hat es mir dringend geraten, nicht damit aufzuhören, die Rationen so knapp wie möglich zu halten“, erklärte der Kapitän im Brustton tiefster Überzeugung. „Denn niemand von uns weiß, wie weit wir tatsächlich auf den großen Ozean hinausgetrieben worden sind und wie lange es noch dauern kann, bis wir irgendwo wieder eine Küste erreichen, an der wir unsere Vorräte auffüllen können!“ Und damit streckte Firuz in einer großen, ausholenden Geste die Hand aus und deutete zu Sindbad. „So ist es doch, nicht wahr, größter unter den Seefahrern und am weitesten Gereister unter allen Weitgereisten!“

„Gewiss“, bestätigte Sindbad.

„So bist du also an unserem Hunger schuld“, knurrte einer der Seeleute.

„An eurem Hunger und an eurem Überleben“, sagte Firuz daraufhin mit schneidender Stimme.

Sin saß mit offenem Mund da und hatte nicht aufgehört, an den Lippen seines großen Vorbildes zu hängen. Und das, obwohl Sindbad außer seiner knappen Bemerkung gegenüber Firuz gar nichts mehr gesagt hatte. War es nicht bewundernswert, wie der große Sindbad dafür sorgte, dass alle die unangenehme Nachricht annahmen, dass sie vermutlich noch eine Weile hungern und ihre Vorräte gut einteilen mussten?

Was, so fragte sich Sin, hätten wir auf dieser Seereise nur ohne den berühmten Mann gemacht?

Endlos dehnten sich die Stunden zu Tagen. Zwar blies jetzt ein beständiger Wind, der die Segel einigermaßen blähte, aber nirgends tauchte am Horizont eine Küste auf.

Tagelang ging das so und die Stimmung an Bord wurde zunehmend schlechter.

Die sparsamen Mahlzeiten spielten dabei bald nur noch eine untergeordnete Rolle. Entschiedener wurde nach und nach die Ungewissheit, ob sie nicht vielleicht geradewegs in das Nichts eines unendlichen Ozeans hineingesegelt waren und sie sich vielleicht immer mehr von jeder erreichbaren Küste entfernten.

Die Streitgespräche zwischen Ibn Sina und Abdul aus Cordoba wurden heftiger. Es war jetzt nicht mehr länger einfach nur ein Zeitvertreib, auszurechnen, ob sie sich in einer halbwegs richtigen Richtung bewegten und wie viele Meilen sie sich vermutlich schon von den Ufern der Piratenküste entfernt hatten. Beide nahmen die Dinge jetzt sehr ernst und waren dabei so sehr von ihren jeweiligen Argumenten besessen, dass sie gar nicht mehr auf die Einwände des anderen hörten.

Branagorn mahnte sie mehrfach und vergeblich dazu, sich zu mäßigen.

Erst als Sindbad der Seefahrer schließlich seine Stimme erhob, trat Besserung ein. „Ihr könnt durch eure Berechnungen weder den Wind noch unsere Position ändern“, gab er zu bedenken. „Stattdessen bekommt ihr nur Magenschmerzen und verliert die Klarheit der Gedanken!“

„Und was sollten wir deiner Meinung nach tun?“, fragte Ibn Sina.

„Vertraut auf Allah und darauf, dass sich alles zum Guten wenden wird“, erklärte Sindbad. „Ich sage euch das als einer, der schon so viele Gefahren überstanden hat und nur auf diese Weise davor bewahrt wurde, vor Angst wahnsinnig zu werden.“

Sin hatte die ganze Zeit über dem Streit der Gelehrten zugehört und obwohl er kaum ein Wort von dem, was Ibn Sina und Abdul aus Cordoba miteinander diskutiert hatten zu verstehen vermochte, war er doch die ganze Zeit über sehr aufmerksam gewesen. Was ihn am meisten beunruhigt hatte war die Tatsache, dass nicht einmal so furchtbar kluge Männer, die doch alles zu wissen vorgaben, im Moment noch Rat wussten.

Das galt selbst für Branagorn, von dem Sin glaubte, dass er der Klügste der drei Gelehrten war, auch wenn Ibn Sina und Abdul aus Cordoba dies niemals zugegeben hätten. Schließlich war Branagorn ja ein Ungläubiger aus einem fernen, unzivilisierten Land.

Doch am Allerklügsten erschien Sin jetzt sein Namensvetter Sindbad der Seefahrer. Die Art und Weise, wie er trotz der schlimmen Lage, in der sich Schiff und Mannschaft befanden, ruhig und besonnen zu wissen schien, wie man sich verhalten sollte, beeindruckte ihn.

Jedes Wort von dem, was er erzählt hat, muss wahr sein!, ging es Sin durch den Kopf und er schämte sich schon beinahe, je daran gezweifelt zu haben.

Ein durchdringender Schrei weckte Sin im Morgengrauen. Der Junge öffnete die Augen. In der Ferne ging die Sonne auf. Sin gähnte. Es war der Ausguck, der so laut gerufen hatte.

„Land! Da hinten ist Land!“, rief er.

Und diese wenigen Worte reichten vollkommen aus, um dafür zu sorgen, dass innerhalb kürzester Zeit jeder an Bord hellwach war.

„Ich kann dort nichts erkennen“, meinte Firuz der Perser. „Der Ausguck muss sich vertan haben! Da ist nichts weiter, als etwas Dunst am Horizont. Wahrscheinlich hat er sich so sehr gewünscht, dass wir eine Küste erreichen, dass er Dinge gesehen hat, die gar nicht...“

„Du irrst, Kapitän“, unterbrach ihn Branagorn. „Die Küste ist eindeutig zu sehen. Der Ausguck irrt sich nicht!“

Der Mönch aus dem Land der Ungläubigen sagte das im Brustton der Überzeugung, so als könnte es an der Wahrheit seiner Worte überhaupt keine Zweifel geben.

Sin stand unterdessen zwischen den anderen und starrte wie alle zum Horizont. War dort Land oder spielten ihnen ihre eigenen Wünsche nur einen Streich? Er konnte es nicht sagen, so sehr er sich auch bemühte.

Und den anderen schien es zunächst genauso zu ergehen.

„Was sagst du, großer Sindbad, ist dort Land zu sehen?“, wandte sich Sin schließlich an seinen berühmten Namensvetter, der zufälligerweise ganz in seiner Nähe stand. Und diesen Umstand wollte der junge Sin ausnutzen. Vielleicht, so überlegte er, war es ein wenig unverschämt, den großen Seefahrer deswegen so direkt anzusprechen. Aber auf der anderen Seite fand Sin, dass es ihm (als größtem Bewunderer des Seefahrers und treuem Unterstützer) sehr wohl zustand, so eine Frage zu stellen.

„Ich sage, der Ausguck hat sich nicht geirrt“, meinte Sindbad. „Der erfahrene Blick des Vielgereisten und auf allen Weltmeeren zu Hause seienden Abenteurers sagt mir das!“

Es herrschte einige Augenblicke angespanntes Schweigen.

Sie alle warteten darauf, dass die ferne Küste auch für sie sichtbar wurde und so manch einen unter den Besatzungsmitgliedern sah man sich die Augen reiben.

Niemand allerdings achtete auf die schwarzen Punkte am Himmel, hoch über ihnen. Vögel, die von einer Küste herübergezogen sein mussten und offenbar aus ihrer Höhe nach Fischschwärmen Ausschau hielten.

Auch Sin bemerkte diese Vögel nicht, die schon eine ganze Weile auf das Schiff zugeflogen waren und nun darüber hinwegglitten.

Zu sehr war seine Aufmerksamkeit auf das Land gerichtet, das vielleicht am Horizont bald wirklich erscheinen würde – und zwar nicht nur als dunstige Ahnung, sondern als richtige Küste aus Sand und Felsen, mit Bäumen, die auf fester Erde wuchsen, auf die man sicher seine Füße stellen konnte.

Jarmila war die einzige, die durch den Schrei der Vögel veranlasst wurde, emporzublicken.

Sie begegnete dabei kurz dem Blick von Sindbad dem Seefahrer und fragte sich dabei, ob der die Vögel wohl schon bemerkt hatte, bevor er das Land zu erkennen geglaubt hatte.

Dann wäre es wohl kein Kunststück, vorherzusagen, dass Land auftauchen wird, ging es Jarmila durch den Kopf. Dazu braucht man in dem Fall nicht einmal gute Augen!

Als das Land endlich deutlich zu sehen war, brandete Jubel unter den Seeleuten auf.

„Ich hatte schon aufgehört zu zählen, wie viele Tage wir schon kein Land mehr gesehen haben“, stieß Sin hervor. „Allah sei Dank, dass wir es wieder sehen können!“ Er wandte sich an Sindbad den Seefahrer und fügte noch hinzu: „Du bist es sicherlich gewöhnt, nur von Wasser umgeben zu sein, aber für jemanden wie mich, der sein ganzes Leben lang nichts anderes gesehen hat, als die engen Gassen von Bagdad, war dieser Anblick schwer erträglich!“

„Ich kann dich gut verstehen, Sin“, sagte daraufhin Sindbad der Seefahrer und legte dem jungen Sin verständnisvoll die Hand auf die Schulter. „Mir ist es einst bei meiner ersten Reise auch nicht anders ergangen.“

„Davon hast du in deinen Erzählungen nie berichtet, großer Sindbad!“

„Natürlich nicht! Was hätten all die Zuhörer in Bagdad gedacht, wenn ich ihnen etwas über Seekrankheit, Übelkeit und den Schauder erzählt hätte, den man beim Anblick des unendlichen Ozeans empfindet? Wenn man nichts als Wasser sieht und die Welt um einen herum so aussieht, als hätte Allah niemals etwas anderes als nur Wasser geschaffen! Das hätte doch niemand verstanden. Oder man hätte mich ausgelacht und nicht glauben wollen, dass es auch dem größten und weitgereistesten aller Seefahrenden Helden einst so ergangen ist.“

Sin nickte. „Ja ich verstehe, was du meinst.“

Und er glaubte noch etwas anderes zu verstehen.

Das, was der berühmte Sindbad ihm nun offenbart hatte, war der Beweis dafür, dass er auch sonst die Wahrheit gesprochen hatte und seine Schilderungen den tatsächlichen Geschehnissen entsprachen. Und Sin überkam tiefe Scham angesichts der großen Ehrlichkeit, mit der sein berühmter Namensvetter sogar über seine Ängste und Schwächen gesprochen hatte.

„Ich werde niemandem von dem erzählen, was du mir gerade geschildert hast“, versprach Sin.

Sindbad senkte leicht den Kopf und nickte langsam.

„Dafür wäre ich dir sehr dankbar, mein Junge.“

„Es muss wirklich niemand erfahren, dass auch der große und berühmte Sindbad Furcht vor der Weite des Meeres hatte. Das würde dich nur in ein ungünstiges Licht rücken!“

„Wie wahr! Aber du, junger Sin, der du jetzt dasselbe durchlitten hast, wie ich bei meiner ersten Reise, wirst jetzt die Wahrheit meiner Erzählungen um so besser ermessen können!“

Sie gelangten zur Küste. Sumpfiges Marschland war dort zu sehen. Wälder und unwegsames Gelände reihten sich aneinander. Es schien keine Küste zu sein, die stark besiedelt war. Zumindest waren nirgends Spuren irgendwelcher Städte oder Ansiedlungen zu finden.

Sie segelten die Küste gen Süden, denn sowohl Abdul aus Cordoba als auch Branagorn von Corvey waren sicher, dass man dieses Land im Süden umfahren müsste, um zum Reich des Rajaraja zu gelangen.

Ibn Sina war sich da nicht ganz so sicher, aber schließlich gab die Stimme von Sindbad dem Seefahrer den Ausschlag.

„Kann es sein, dass du diese Küsten bereits befahren hast, Sindbad?“, wollte Ibn Sina wissen.

„Nun, wir sind noch nicht auf irgendwelche charakteristischen und unverwechselbaren Merkmale gestoßen“, sagte er. „Deswegen kann ich da nicht vollkommen sicher sein.“

„Zumindest haben wir keine der Landmarken wiedergefunden, die auf unseren Karten verzeichnet sind“, mischte sich Firuz der Perser sein.

„Bei nächster Gelegenheit sollten wir an Land gehen, damit wir zumindest eine vage Ahnung haben, wo wir uns befinden“, schlug Branagorn vor. „Schon wenn irgendeinem von uns die Sprache bekannt vorkommt, die man dort spricht, wäre das eine Hilfe.“ Mit diesen Worten wandte er sich an Jarmila. „Ganz davon abgesehen, dass auch die Tiere und Pflanzen Hinweise darauf liefern können, in welchem Land man sich befindet...“

Es vergingen noch einmal einige Tage, in denen sie nichts anderes taten, als sich von einem gemäßigten Wind die Küste in südlicher Richtung tragen zu lassen. Omar verrichtete wie üblich stumm sein Steuermannshandwerk und die Essensrationen, die Kapitän Firuz den Mitfahrenden genehmigte, waren wieder deutlich größer. Schließlich hätte man ja notfalls jederzeit an Land gehen und etwa durch Jagd etwas Essbares bekommen können.

Vorerst jedoch vermied man das.

Erstens war das Anlanden an diesen sumpfigen Ufern schwierig und wenn man sich dem Ufer zu weit näherte, bestand immer die Gefahr, dass das Schiff auf eine Untiefe auflief und stecken blieb. Mehrmals kratzte der Mittelsteven der Dau über den Grund. Dasselbe galt für Omars Ruderblatt, das sich tief in den Schlamm grub, durch ihn hindurchfurchte wie ein Pflug und schon zu brechen drohte. Der Steuermann hielt daraufhin größeren Abstand zur Küste.

Am vierten Tag seit das Land gesichtet worden war, sah man schließlich Rauchwolken hinter hohen Bäumen aufsteigen, die den Uferbereich säumten und die Sicht verstellten.

„Das sind Lagerfeuer“, war Branagorn überzeugt. „Wir sollten ankern, mit einem Boot an Land rudern und mit den Menschen dort in Verbindung treten. Sie werden uns sicherlich wertvolle Hinweise geben können, wo wir uns befinden!“

„Und wer sagt uns, dass dort wirklich Lagerfeuer brennen und nicht gerade ein Krieg tobt, bei dem Dörfer gebrandschatzt werden?“, fragt Hauptmann Hassan skeptisch.

Branagorn von Corvey lächelte verhalten. „Niemand kann das mit Sicherheit sagen. Aber ich beobachte diese Rauchsäulen schon eine geraume Zeit. Es ist immer dieselbe Anzahl und die Feuer scheinen auch ungefähr gleich gleich groß zu sein. Davon abgesehen habe ich keinen Schlachtenlärm bemerkt oder irgendwelche verdächtigen Beobachtungen am Ufer gemacht, die auf die Anwesenheit fremder Krieger schließen ließen. Auch scheint es keine Flüchtlinge zu geben, was dann ja auch der Fall sein könnte.“

„Schlachtenlärm?“, lachte Hassan. „Denn würde niemand bis hier hören. Und was die Flüchtlinge angeht – vielleicht sind sie schon alle erschlagen worden!“

Branagorn hob leicht die Schultern und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie gesagt, man kann das nicht ausschließen. Das Böse ist überall in der Welt anzutreffen, wie uns unser weitgereister Sindbad sicher zu bestätigen weiß...“

„Gewiss! Gewiss! Beim Barte des Propheten, davon kann ich ein Lied singen!“, bestätigte Sindbad.

„Etwas Wagemut werden wir wohl aufbringen müssen, Hauptmann Hassan“, fuhr Branagorn fort.

„Dein Vorschlag erscheint mir vernünftig“, meldete sich Kapitän Firuz zu Wort. „Du sprichst viele Sprachen, Branagorn...“

„Und deswegen sollte ich auch an Land gehen“, erklärte der blasse Mönch, bei dessen Anblick sich Sin jedesmal aufs neue fragte, wie alt er wohl sein mochte. Während seine Bewegungen und sein Körperbau den Eindruck eines jüngeren Manns erweckten, schien das Gesicht allerdings die Erfahrung hohen Alters widerzuspiegeln und abgesehen davon hatten die langen Reisen, die Branagorn unternommen hatte, und die ihn so weit von seinem Stammkloster Corvey fortgeführt hatten, viele Jahre in Anspruch genommen. Er musste schon aus diesem Grund das mittlere Alter längst erreicht, sogar überschritten haben. Aber vielleicht, so überlegte Sin, haben ihn die Strapazen und Entbehrungen all dieser Reisen widerstandsfähig gegen den Verfall des Alters gemacht und dafür gesorgt, dass sein Körper geschmeidiger und kräftiger geblieben ist, als bei den meisten anderen!

Branagorn wandte sich an Jarmila. „Du sprichst die Sprache des Chola-Reichs...“

„Ja, denn das ist meine Heimat.“

„Ich möchte, dass du mich begleitest. Wenn wir uns schon im Reich des Königs Rajaraja befinden, so wirst du das bemerken. Und selbst wenn wir in einem benachbarten Land gestrandet sind, dessen Sprache nur verwandt, aber nicht gleich ist, wirst du vielleicht mehr verstehen als ich, der ich die Art, wie im Chola-Reich geredet wird, nur oberflächlich und beiläufig meinem Wissen hinzugefügt habe...“

Jarmila nickte bereitwillig.

„Ich begleite dich gerne, Branagorn“

„Lass mich auch mit dir gehen!“, verlangte Sin. Er war über sich selbst und seinen Mut erstaunt und überlegte dann fieberhaft, welche Begründung er jetzt eigentlich dafür angeben sollte, dass ausgerechnet er mit an Land gehen sollte. Aber so sehr er auch darüber nachgrübelte, es fiel ihm keiner ein. Was hätte er auch schon an besonderen Fähigkeiten anführen können, die für so eine Unternehmung von unbedingter Wichtigkeit waren? Fremde Sprachen konnte er nicht. Sein Vater hatte wenigstens ein breites Kreuz und starke Muskeln, die er sich in den vielen Jahren als Lastenträger erworben hatte. Sin hingegen war zwar für sein Alter kräftig und gut gebaut, aber der Großteil seiner Muskeln mussten ihm erst noch wachsen!

Branagorn musterte ihn.

„So ein Unsinn. Was soll denn ein Schiffsjunge bei so einer Sache?“, versetzte Kapitän Firuz verständnislos. Er machte eine wegwerfende Handbewegung, so als wollte er eine Fliege im Flug erschlagen.

„Ein paar meiner Soldaten - das wäre das richtige zu deiner Begleitung“, erbot sich Hauptmann Hassan. „Mich selbst eingeschlossen! Du weißt schließlich nicht, auf wen du in diesem Land triffst, Branagorn!“

„Ich nehme lieber den Schiffsjungen“, erwidertet Branagorn, während Firuz und Hassan einen doch ziemlich erstaunten Blick miteinander tauschten.

„Wieso das?“, fragte Hassan.

„Er macht niemandem Angst. Du und deine Soldaten schon, also bleibt ihr besser auf dem Schiff. Sonst hält man uns noch für fremde Eroberer!“

„Dann kannst du auch mich mitnehmen!“, mischte sich Ibn Sina ein. „Oder sehe ich etwa aus, als ob ich in unfriedlicher Absicht käme?“

„Naseweise Besserwisserei kann einen allerdings auch in sehr schwierige Situationen bringen, wenn man sich in einem fremden Land befindet“, erklärte Firuz. „Dein verehrter Sindbad wird dir das von seinen Reisen mit Sicherheit bestätigen können, wie ich annehme!“

WIEDER FESTEN BODEN UNTER DEN FÜSSEN

Zwei kleine Beiboote wurden von der Dau mitgeführt. Eins davon ließ man nun zu Wasser. Fast ein Dutzend Männer waren dazu nötig. Aber die Mannschaft von Kapitän Firuz war gut eingespielt. Die Männer ließen das Boot zu Wasser, und Sin war der erste, der an Bord des Bootes sprang. Jarmila, Branagorn und Ibn Sina folgten ihm.

Zuletzt stieg Sindbad der Seefahrer auf das kleine, schwankende Boot. Um ein Haar wäre es dabei doch noch gekentert. Jedenfalls schwankte es ganz schön. Und Sindbad war froh, als er endlich im Boot saß. Er hielt sich am Bootsrand fest, so als wollte er auf jeden Fall vermeiden, dass er vielleicht doch noch ins Wasser fallen könnte. Sein Gesicht war kreidebleich.

Der junge Sin begriff nicht so recht, was den großen Seefahrer nun eigentlich so mitgenommen hatte. Von der Dau schaute der Rest der Besatzung zu und ihr Schweigen musste Sindbad als viel schlimmer empfinden, als wenn sie ihn lauthals ausgelacht hätten.

Er war wirklich ungeschickt!, erkannte selbst der junge Sin, der sonst ja eigentlich stets irgendeine Erklärung oder Entschuldigung für die Verhaltensweisen seines großen Vorbildes fand.

Branagorn ruderte das Boot Richtung Ufer.

Sindbad bot dem bleichen Mönch an, ihn dabei zu unterstützen, doch der lehnte dankend ab.

Das Wasser war sehr flach und so dunkel, dass man nicht sehen konnte, was sich darin befand. Hin und wieder waren allerdings Bewegungen und Luftblasen zu erkennen, die vielleicht von Fischen und anderem Meeresgetier stammten.

Es dauerte nicht lange und Branagorn hatte eine bestens geeignete Anlegestelle gefunden, wo das Boot festgemacht werden konnte. Sie stiegen an Land. Der Boden war tief und feucht, aber fest. „Achtet darauf, wo ihr hintretet“, sagte Branagorn zu den anderen. „Schließlich soll niemand von euch in den Sümpfen versinken.“

Sie erreichten schließlich festeres Land und kämpften sich durch hohes Gras und dichtes Gestrüpp. Hin und wieder ragten Bäume dazwischen auf. Sie folgten dem Geruch der Feuer und den Rauchsäulen.

Plötzlich blieb Branagorn stehen.

Im nächsten Moment hörte auch Sin die stampfenden Schritte und das durchdringende, trompetende Geräusch eines Elefanten.

Daneben spürte er einen dumpfen Druck in der Magengegend. So als hätte ihm jemand einen Schlag dorthin gegeben. Gleichzeitig erklangen so tiefe Töne, dass sie kaum noch zu hören waren. Wie ein drohendes, dumpfes Brummen, das selbst die Erde vibrieren ließ.

Die Sträucher bogen sich zur Seite und ein gewaltiger Elefantenbulle mit riesenhaften, geschwungenen Stoßzähnen brach daraus hervor.

Dass dieses Tier von Wut und Angst erfüllt war, lag auf der Hand. Der Elefantenbulle stampfte vorwärts.

„Zur Seite!“, rief Branagorn.

Sindbad der Seefahrer war bereits ein halbes Dutzend Schritte gelaufen, als sein junger Namensvetter noch immer wie erstarrt dastand und sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Er sah den Elefanten an, sein Mund stand offen und es schien so, als wäre er vollkommen von dem Anblick des gewaltigen Geschöpfs gefangen.

Jarmila riss ihn zur Seite während Branagorn einen durchdringenden Schrei ausstieß. Diesen beantwortete der Elefant mit einem dröhnenden, ohrenbetäubenden Trompeten.

Er verlangsamte seinen Sturmlauf nicht, sondern änderte auf Grund von Branagorns Schrei nur geringfügig die Richtung und stampfte dicht an Sin und Jarmila auf der einen und Branagorn auf der anderen Seite vorbei.

Ibn Sina und Sindbad standen etwas abseits.

Der Elefant walzte die Sträucher in seinem Weg förmlich nieder.

Wenig später war er nicht mehr zu sehen. Er verschwand im dichten Unterholz eines Waldstücks. Nur sein wütendes Trompeten war noch zu hören.

„Wieso bist du einfach stehen ge...“

Weiter kam Jarmila nicht. Dutzende von Männern waren von allen Seiten aus den Büschen gekommen. Sie trugen Speere, lange Messer und Holzstöcke. Einige trugen auch Fackeln in den Händen.

Ihre Stimmen redeten in einer Sprache, von der sich Sin sicher war, dass er nie ein Wort davon gehört hatte. Er sah zuerst zu Jarmila und dann zu Branagorn hinüber. Aber auch die schienen nichts von dem zu verstehen, was gesagt wurde. Das ist kein gutes Zeichen!, dachte Sin. Es bedeutete wohl, dass sie weiter vom Weg abgekommen waren, als sie es bisher angenommen hatten. Aber damit mussten wir ja eigentlich rechnen, überlegte Sin. Einige der Männer lief dem Elefanten hinterher. Die anderen umringten die Ankömmlinge von allen Seiten und redeten durcheinander.

„Ob das jetzt ein freundlicher Empfang ist?“, murmelte Sin.

„Das sind Elefantenjäger“, sagte Jarmila.

„Wie?“

„Ja, sie fangen Elefanten und bilden sie zur Arbeit aus. In Gefangenschaft vermehren sie sich nicht so gut, deshalb muss man immer wilde Elefanten hinzufangen! Wahrscheinlich verkaufen sie die, wenn sie gezähmt sind.“

„Und manchmal reißt einer aus?“

„Genau!“

„Dann sind wir hier doch in deiner Heimat! Aber du verstehst doch kein Wort, hast du gesagt!“

„Im Reich des Rajaraja wird mit vielen Zungen gesprochen. Manchmal haben sogar einzelne Dörfer ihre eigene Sprache!“

Die Elefantenjäger umringten die Ankömmlinge.

Branagorn versuchte in verschiedenen Sprachen, die er offenbar auf seinen Reisen in den Osten kennengelernt hatte, mit ihnen zu sprechen, aber er erhielt keine Antwort. Die Männer, die Jarmila für Elefantenjäger hielt, schwiegen und sahen ihn nur erstaunt an.

Dann deutete Jarmila auf das Amulett, das einem der Männer um den Hals hing.

„Ganesha!“, sagte sie.

„Ganesha“, antworte der Mann. Zumindest konnte man das mit viel Fantasie aus dem heraushören, was er über die Lippen brachte, denn seine Aussprache war völlig anders.

„Was ist Ganesha?“, wisperte Sin.

„Der Elefantengott“, sagte sie. „Der wird überall im Reich des Königs Rajaraja verehrt – und weit darüber hinaus! Es gibt Tempel für ihn und jeder Elefant ist heilig!“

„Und doch wird er gejagt“, meinte Ibn Sina.

„Aber sie würden Elefanten nie töten, sondern sie nur ausbilden. Außerdem sind sie nicht die einzigen heiligen Tiere bei uns und stehen nur in einer Reihe mit Ratten, Kühen, Affen und viele anderen.“

Die Männer begannen wieder zu reden, wovon weder Branagorn noch Jarmila etwas verstanden.

In der Ferne brüllte und trompetete der Elefant.

„Ganesha“, murmelte daraufhin einer der Männer andächtig und berührte das Amulett, dass den Elefantengott darstellte.

Sin bemerkte dabei, dass er an den Handgelenken aufgemalte Zeichen trug, die denen von Jarmila ähnelte.

Vielleicht waren sie ja doch nicht so weit abgetrieben, wie es zwischenzeitlich den Anschein gehabt hatte und der Weg zum Reich des Rajaraja war nicht in unerreichbarer Ferne.

Der Elefant brüllte und trompetete noch ein paarmal und die Blicke der Elefantenjäger wurden etwas sorgenvoller. Einer der Männer rief ein paar Worte, die vermutlich eine Anweisung darstellten. Daraufhin rannte ein Teil der Speerträger los und folgte den anderen. Gut ein Dutzend Mann blieb allerdings zurück und umringten nach wie vor Sindbad den Seefahrer und seine Begleiter.

Die Elefantenjäger schienen zu denken, dass diese Anzahl dazu ausreichte, um sie zu bewachen.

Mit Handzeichen machten die Jäger deutlich, dass man ihnen folgen sollte.

„Ich glaube, wir sollten uns gegen den Wunsch dieser Leute besser nicht sträuben“, meinte Sindbad der Seefahrer.

„Wohin werden sie uns bringen?“, fragte Sin.

„Vermutlich in ihr Dorf.“

„Und was werden sie dann mit uns tun?“

„Nun, ich hoffe nicht, dass sie darüber nachdenken, uns in irgendwelchen blutigen Ritualen ihren Göttern zu opfern. Allah möge uns davor schützen!“

„Es gibt bislang keine Anzeichen dafür, dass wir es mit bösartigen Leuten zu tun haben“, wandte sich Branagorn etwas ärgerlich an Sindbad. „Und davon abgesehen ist es auch wenig hilfreich, völlig ohne Not die Angst zu schüren!“

„Nun, ich habe auf meinen weitläufigen Reisen stets die Erfahrung gemacht, dass man sich am besten das Schlimmste vorstellen sollte, damit einen das, was einen dann wirklich erwartet, weniger schreckt.“

„Es wundert mich, dass du dann nicht vor Angst gestorben bist“, spottete Branagorn.

Sie wurden ins Dorf gebracht. Es bestand aus einfachen Hütten, deren Dächer mit geflochtenen Blättern bedeckt waren. Das erste, was Sin auffiel, waren die angeketteten Elefanten. Diese Tiere warteten offenbar darauf, dass man sie als Arbeitstiere verkaufte.

Ein Mann mit einem lautenähnlichen Saiteninstrument spielte Musik. Ein Junge begleitete ihn mit einer Flöte.

Da sich von den Bewohnern des Dorfes niemand um die beiden Musikanten kümmerte, blieb nur eine vernünftige Erklärung übrig: Die Musik wurde für die Elefanten gespielt!

„Musik beruhigt Elefanten manchmal“, sagte Jarmila dazu, die die Frage zu erraten schien, die Sin beschäftigte. „Gerade wenn sie ausgebildet und gezähmt werden, spielt man für sie.“

Sin starrte nur zu den Musikanten hin und schüttelte verständnislos den Kopf.

„Musikanten spielen für sie und man füttert sie und es scheint ihnen besser zu gehen, als vielen Menschen!“

„Sie sind die Verkörperung von Ganesha, dem Gott der Elefanten“, erinnerte Jarmila. „Jeder einzelne von ihnen. Warum sollte man nicht gut zu ihnen sein und sie versorgen, wie es den Göttern gebührt? Und abgesehen davon zahlen sie das mit ihrer Arbeit zurück!“

Das ganze Dorf lief zusammen und umringte die Ankömmlinge. Eine ganze Zeit geschah nichts anderes, als dass diese unablässig redenden Frauen, Männer und viele Kinder sie ansahen und auf sie einredeten. Zu dumm, dass man kein Wort davon versteht, dachte Sin.

Inzwischen wurde der ausgerissene Elefant zurückgebracht. Er schien sich einigermaßen beruhigt zu haben. Aber seine Rückkehr ins Dorf schien unter dessen Bewohnern im Moment kaum beachtet zu werden. Zu interessant schienen die Neuankömmlinge aus einem fremden Land zu sein. Offenbar kam es nicht allzu häufig vor, dass die Dörfler Fremden begegneten.

Ibn Sina griff jetzt zu einem Beutel, den er am Gürtel trug. Er holte eine Münze hervor, wie sie in Bagdad im Umlauf war. Das Abbild des Kalifen war darauf zu sehen – eine Sitte, die man wohl vom Kaiser in Konstantinopel übernommen hatte. Sin erinnerte sich an die Auftritte von strengen Predigern in wehenden Gewändern. Männer, die aus der Wüste kamen und dagegen wetterten, dass der Kalif sein Abbild anstatt nur seinen Schriftzug in die Münzen prägen ließ und behaupteten, dies sei Sünde und man sollte diese Münzen nicht berühren. Sin erinnerte sich sehr genau daran, als kleiner Junge eine ganze Weile Angst davor gehabt zu haben, Münzen mit dem Bild des Kalifen zu berühren, bis sein Vater ihm schließlich sagte, dass der Prediger sich irren würde. „Die Münzen sind ehrlich erworben worden! Mit meiner Arme Muskeln! Wie kann so etwas Sünde sein?“, hatte Sin die Worte des fleißigen Lastenträgers noch im Ohr. Und seitdem hatte Sin sich über diese Sache keine Gedanken mehr gemacht.

Ibn Sina gab einem der Männer die Münze und der schaute sie sich genau an, hielt sie in die Sonne und gab sie einem anderen, der sie sich ebenfalls sehr genau ansah.

„Darf ich fragen, was du damit bezweckst, junger Gelehrter?“, raunte Sindbad unterdessen Ibn Sina zu. „Ich glaube nicht, dass diese einfachen Menschen so etwas wie Geld überhaupt kennen. Augenscheinlich pflegen sie höchstens einen gewissen Tauschhandel oder dergleichen...“

„Und ich habe gehört, dass es in den indischen Ländern schon Münzen gab, als noch kein Araber wusste, was man damit anfangen soll“, erwiderte Ibn Sina. „Wieso sollte das in diesem Dorf, dessen Männer mit Elefanten Geschäfte machen, anders sein?“

Ibn Sina ging auf die Elefantenjäger zu. Die Kinder wichen scheu zurück oder flüchteten auf die Arme ihrer Mütter und so bildete sich schnell eine Gasse vor dem jungen Gelehrten. Er redete einfach auf die Menschen ein, machte ausholende Handbewegungen und bedeutete ihnen, ihm die Münze zurückzugeben.

Das taten sie schließlich.

Dann zeigte Ibn Sina noch einmal auf den Kopf des Kalifen, der auf der Münze abgebildet war. Anschließend deutete er auf seinen eigenen Kopf.

Das machte er mehrmals hintereinander.

Und dann schien einer der Elefantenjäger zu verstehen, was Ibn Sina von ihm wollte. Er war ein magerer Mann mit grauem Bart. Sein Turban war schneeweiß, ebenso die Tücher, mit denen er sich kleidete und die von einer geflochtenen Kordel zusammengehalten wurde. Unruhe entstand unter den anderen Männern. Es wurden ein paar Worte gewechselt und all das mischte sich mit den schrillen Stimmen einiger Frauen und Kinder, sodass man für kurze Zeit sein eigenes Wort nicht verstehen konnte.

Schließlich lief ein jüngerer Mann zu einer der Hütten und verschwand darin. Er kam wenig später wieder und trug einen Beutel aus Leder bei sich. Diesen reichte er dem graubärtigen Mann, der unter den Jägern große Autorität zu genießen schien. Der Graubärtige öffnete den Beutel und holte etwas hervor.

Eine Münze!

Er legte sie in seine Handfläche, dann tauschten Ibn Sina und der Graubärtige ihre Geldstücke. Beide sahen sich die Münze genau an.

„Seht! Hier ist auch ein Kopf drauf!“, stellte Ibn Sina fest. „Aber ich kann weder die Schrift lesen, noch weiß ich wessen Kopf und Zeichen dies ist... Aber eins steht fest, es muss dieses Landes sein! Denn wer sonst könnte auf einer Münze abgebildet werden!“

„Möglicherweise die Götter dieses Landes“, glaubte Sindbad der Seefahrer.

Aber Ibn Sina schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube der Graubärtige hat genau verstanden, was ich von ihm wollte: Nämlich wissen, welcher Kopf hier in Münzen geprägt wird, denn so können wir herausfinden, in welchem Land wir sind!“

„Lass mal sehen, werter Ibn Sina!“, sagte Branagorn und streckte die Hand aus.

Bereitwillig gab Ibn Sina ihm das Silberstück. Es war fein verarbeitet, das konnte man auf den ersten Blick sehen. Wer immer es angefertigt hatte, verstand sein Handwerk mindestens genauso gut wie die zahllosen Silberschmiede, die in den Straßen von Bagdad überall ihre Dienste anboten. Jarmila konnte ihre Neugier nicht zügeln und ging zu Branagorn, um sich ebenfalls die Münze ansehen zu können.

„Ich nehme an, du hast so etwas schon gesehen“, glaubte Branagorn.

„Ich habe schon solche Münze gestohlen“, sagte Jarmila.

„Nur solche aus Silber – oder auch diejenigen, die denselben Kopf tragen und aus purem Gold sind?“

„Auch die!“

Branagorn lächelte. „Hast du nicht gesagt, du hättest nur gestohlen, um etwas zu Essen zu haben?“

„Ja, ich habe nie gesagt, dass ich nicht gut essen wollte“, erwiderte Jarmila schlagfertig.

„Was ist denn jetzt?“, fuhr Sindbad der Seefahrer dazwischen. „Um wessen Kopf geht es hier – außer vielleicht um unseren, wenn wir uns mit diesen Elefantenjägern nicht gut verstehen sollten? Warum sagst du es nicht einfach und spannst uns stattdessen auf die Folter?“

„Weil er Jarmila prüfen will“, erkannte Ibn Sina. „Oder besser gesagt: Er will den Wahrheitsgehalt der Geschichte prüfen, die bewirkt hat, dass sie nicht einfach wieder über Bord geworfen wurde.“

Jarmila errötete leicht.

Branagorn hob fragend die Augenbrauen. „Nun?“

„Ist es der Kopf des Rajaraja?“, wollte Sin voller Ungeduld wissen.

„Es ist lange her, seit ich so ein Geldstück zuletzt gesehen habe“, sagte Jarmila. „In Hormus findet man sie manchmal in den Taschen der Gewürzhändler, aber schon in Al-Bahrain sind sie so selten, dass man sie kaum je in die Finger bekommt.“

„Du solltest nicht meiner Frage ausweichen“, sagte Branagorn ruhig, aber sehr bestimmt.

Sie erwiderte ruhig den prüfenden Blick des Mönchs.

„Es ist nicht König Rajaraja, der auf der Münze zu sehen ist und dessen Zeichen man hier eingraviert hat“, sagte Jarmila schließlich. „Auf der Münze ist sein Vater, König Rajendra. Es sind immer noch viele Münzen mit dem Bild des alten Königs im Chola-Reich im Umlauf.“

„Das bedeutet, dass wir im Chola-Reich sind!“, stieß Sindbad der Seefahrer erfreut hervor.

Branagorn nickte. „Ja, das denke ich auch.“

„Dies muss das Elefantenland sein“, meinte Jarmila. „Man erzählt sich eine Geschichte. Der Gott Shiva warf eine Axt empor und wo sie zur Erde kam, teilte ihre Klinge das Land, grub eine Furche hinein und schichtete an deren Rand ein Gebirge auf. Und in dem Gebiet zwischen der Küste und dem Gebirge leben besonders viele Elefanten. Das ist überall bekannt.“

„Dann werden wir ja wohl in absehbarer Zeit die Hauptstadt von König Rajaraja erreichen können“, war Ibn Sina überzeugt und wandte den Blick in Richtung von Sindbad dem Seefahrer. „Oder sollte ich mich da irren?“

„Nein, diese Schlussfolgerung ist naheliegend“, bestätigte der berühmte Seefahrer.

DER MANN IN DER SÄNFTE

Aus einer Hütten wurde nun ein Mann in einer Sänfte herbei getragen. Der Grund dafür, dass der Mann auf der Sänfte nicht auf seinen eigenen Füßen stand, war nach dem ersten Blick offensichtlich. Sie waren eigenartig geformt, an Stellen geknickt, an denen sie hätten gerade sein müssen und wirkten insgesamt verkrüppelt.

„Dieser Mann hatte keinen guten Arzt, nachdem ihm seine Beine gebrochen wurden“, meinte Ibn Sina.

„Vielleicht war das ein wütender Elefant, der ihn so zugerichtet hat“, glaubte Sin.

„Durchaus möglich“, stimmte Ibn Sina zu.

Sin atmete tief durch. „Bei Allah!“

Die Sänfte wurde auf den Boden gesetzt. Dann begann der Mann mit den verkrüppelten Beinen zu sprechen.

Sin achtete auf Jarmilas Gesicht. Aber auf der Stirn des Mädchens bildete sich eine so tiefe Furche, dass kein Zweifel mehr bestehen konnte: Sie verstand auch diesmal nichts.

Anders Branagorn. Er begann sich mit dem Mann auf der Sänfte zu unterhalten. Allerdings fiel auf, dass beide sehr viel redeten und es immer eine ganze Weile brauchte, bis der jeweils andere verstanden hatte.

„Er spricht in der Sprache des Chola-Reichs“, sagte der Mönch schließlich zu den anderen, als eine kurze Unterbrechung entstand, weil sich einer der in der Nähe befindlichen Krieger an den Mann auf der Sänfte wandte und auf ihn einredete.

„Aber – wie kann das sein!“, stieß Jarmila hervor. „Dann müsste ich ihn doch verstehen! Schließlich war das die Sprache, die ich von Kindesbeinen an gelernt habe.“

Sie vermied das Wort Muttersprache!, fiel Sin auf. Wahrscheinlich hatte das damit zu tun, dass Jarmila ohne Eltern aufgewachsen war und sich nicht selbst immer wieder an diesen Schmerz erinnern wollte.

„Es ist eine stark abgewandelte Form der Sprache des Chola-Reichs, die der Mann auf der Sänfte spricht“, stellte Branagorn fest. „Aber einigermaßen verständlich - und davon abgesehen scheint dieser Lahme der einzige hier zu ein, der sich überhaupt mit einem von uns unterhalten kann.“

Wahrscheinlich hatte der Mann auf der Bahre seine Sprachkenntnisse erworben, wenn Elefantenhändler zu dem Dorf gelangten und ein oder mehrere Tiere zum Verkauf mitnahmen.

„Und, was sagt er über unseren weiteren Weg zur Hauptstadt des Chola-Reichs?“, fragte Sindbad der Seefahrer.

„Er meint, wir bräuchten nur der Küste zu folgen. Und wenn wir wollen, könnten wir Vorräte bei den Bewohnern dieses Dorfes kaufen. Sie nehmen Silber in jeder Form – gleichgültig, welcher Kopf darauf zu sehen ist!“

Branagorn unterhielt sich noch eine ganze Weile mit dem Mann in der Sänfte. Er war der Einzige, der die Sprache es des Chola-Reichs zumindest notdürftig beherrschte. Die Unterhaltung war auch deswegen wohl ziemlich kompliziert und schwierig.

„Ich verstehe jetzt auch Bruchstücke“, meinte Jarmila.

Ibn Sina mischte sich immer wieder mit Gesten und Handzeichen in die Unterhaltung ein – und manchmal hatte man den Eindruck, dass ihm die Verständigung mit dem Gelähmten und den anderen Leuten des Dorfes sogar leichter fiel als Branagorn.

Am Abend kehrten sie zum Schiff zurück und ein paar Männer aus dem Dorf begleiteten sie dabei.

Diese Männer hielten die ganze Nacht über am Ufer Wache. Aus welchem Grund, war niemandem so recht klar. Ibn Sina glaubte, dass dies eine Geste der Freundschaft war. Branagorn hingegen glaubte verstanden zu gab, dass man die Fremden vor dem Zorn einer in den Ufersümpfen beheimateten Gottheit bewahren wollte, wozu auch die eigenartigen Gesänge dienen sollten, die die Männer aus dem Dorf anstimmten.

Genau würde man das wohl nie herausfinden, zumal die Verständigung wirklich mangelhaft gewesen war.

Das zeigte sich auch am nächsten Tag. Laut Branagorn war abgemacht worden, dass die Männer des Dorfes am Morgen Vorräte zum Ufer schaffen sollten, die dann mit Hilfe der beiden kleine Beiboote der Dau ins Schiff gebracht werden sollten.

Die Leute aus dem Dorf schienen allerdings von der abgemachten Zeit eine ganz andere Vorstellung zu haben. Als es Mittag wurde und kein einziger Träger mit Vorräten aufgetaucht war, begab sich Branagorn an Land, um diejenigen, die dort als Wächter postiert waren, darauf anzusprechen. Inzwischen waren sie durch andere Männer abgelöst worden.

Niemand verstand Branagorns Anliegen.

Das war schon von der Dau aus für alle sichtbar. Es wurde zwar viel und laut geredet und dabei vollführte man weit ausholende Gesten, aber keine Seite verstand die andere.

Ibn Sina, der den Mönch an Land begleitete, versuchte es ebenfalls. Aber sein Talent, sich mit Händen und Füßen bestens verständlich zu machen, schien ihn jetzt im Stich zu lassen.

„Branagorn sollte noch einmal zu dem Gelähmten gehen“, meinte Sin dazu. „Die beiden haben sich doch wenigstens ein wenig verstanden.“

„Ich würde einfach abwarten“, meinte Jarmila.

„Oder wir suchen selbst Nahrung im Ufergebiet“, gab Sin zurück. „Irgend etwas an jagdbarem Wild oder dergleichen wird sich dort doch sicher finden! Und dasselbe gilt für Trinkwasser und essbare Pflanzen!“

„Davon würde ich abraten“, meinte Jarmila.

„Wieso?“

„Viele Tiere sind heilig. Und viele Wasserläufe auch. Und was Pflanzen betrifft...“

„Na wenn du über den Aberglauben dieser Menschen so gut Bescheid weißt!“

„Es ist ihr Glauben, Sin. Nicht ihr Aberglauben. Du glaubst an Allah, Branagorn soweit ich mitbekommen habe an den Gott der Christen. In Hormus gibt es Juden, bei deren Gott ich keinen Unterschied zu Muslimen und Christen erkennen kann, denn bei allen dreien ist Gott unsichtbar und man behauptet, dass alle anderen Götter gar nicht existieren. Aber die Menschen hier glauben nunmal an Shiva, Vishnu, Cali und all die anderen Götter. Willst du beurteilen wer Recht hat, Sin? Stehst du denn über all diesen Göttern?“

„Eine seltsame Frage an den Sohn eines Lastenträgers!“

„Sie beantwortet sich ja wohl von selber!“

„Und da du nicht weißt, wer recht hat, glaubst du der Einfachheit halber an alle!“, stellte Sin fest.

„Kann das verkehrt sein?“

„Da darfst du mich nicht fragen, Jarmila. Aber in Bagdad habe ich Nordmänner mit gelben Bärten gesehen, die das Christenkreuz um den Hals trugen, dazu Amulette ihres hammerschwingenden Donnergottes und außerdem mit ihren rechtgläubigen Handelspartner zusammen in Richtung Mekka beteten. Aber den Predigern ist das ein Graus.“

Jarmila zuckte mit den Schultern. „Wie die Nordmänner halte ich es auch“, lachte sie.

Es dauerte bis zum späten Nachmittag, bis die Dörfler endlich die versprochenen Vorräte lieferten. Aber sie schienen nicht nur andere Vorstellungen von der verabredeten Zeit zu haben, als die Besatzung der 'Flügel des Windes', sondern auch von der Menge des Silbers, die für die gelieferte Ware fällig war.

Vielleicht waren sie der Auffassung, dass Silberstücke mit dem Kopf des Kalifen von Bagdad einfach weniger wert waren als jene, die einen der Könige des Chola-Reichs eingeprägt hatten – mochte es nun der gegenwärtige Herrscher oder aber einer seiner Vorgänger sein.

Vor Einbruch der Dunkelheit wurden sie mit dem Beladen nicht fertig und so konnte die 'Flügel des Windes' erst am nächsten Morgen aufbrechen.

Omar lenkte das Schiff mit einem gemäßigten Wind die Küste entlang, die sich endlos hinzog.

Manchmal glaubte Sin an Land wilde Elefanten sehen zu können. Zumindest konnte man sie hören, wenn sie laut trompeten.

Tagelang ging es die Küste entlang. Es schien nur wenige Siedlungen in diesem Gebiet zu geben. Hin und wieder sahen sie aus der Ferne Fischerboote oder die aufsteigenden Rauchsäulen von Herdfeuern.

Schließlich ragte in der Ferne hinter den Wäldern ein Berg mit gezackter Gipfellinie auf. Abdul aus Cordoba glaubte eine der Landmarken auf den Karten zu erkennen, die man benutzte. Er schaute nach und war danach vollkommen überzeugt.

„Wir sind auf dem richtigen Weg!“, rief er. „Allah sei Dank!“

„Heißt das, wir sind morgen schon am Hof des Königs Rajaraja?“, fragte Ibn Sin. „Ich hoffe, er wird uns reich ausgestattete Gemächer zur Verfügung stellen und es gibt im Palast ein Bad!“

„Wie kommst du darauf, dass all das für uns bereitstehen könnte?“, fragte Abdul stirnrunzelnd.

„Na, ich dachte, du zeigst am Hof einen der Briefe, die der Kalif dir mitgegeben hat und die uns doch an allen Herrscherpalästen im weiten Erdkreis die Türen öffnen sollten!“

Abdul aus Cordoba begegnete dem redseligen Ibn Sina mit einem finsteren Blick. In diesem Moment waren alle Gespräche verstummt und die Blicke aller waren abwechselnd auf den jungen Gelehrten und seinen deutlich älteren und vielleicht auch etwas weiseren Meister gerichtet.

„Ich wusste gar nicht, dass solche Briefe mitgeführt werden“, gestand Sindbad der Seefahrer.

„Eigentlich sollte das auch nicht unbedingt jeder wissen. Auch nicht jeder, der hier an Bord ist“, erklärte Abdul aus Cordoba. „Und davon abgesehen sind solche Briefe und Empfehlungsschreiben des Kalifen etwas, was mit großem Bedacht eingesetzt werden muss – und keineswegs, um jemandem wie dir ein Bad und eine Nacht in einem Bett mit seidenen Vorhängen zu ermöglichen, Ibn Sina!“

„Beim Propheten und all seinen Nachfolgern, ich war vielleicht etwas zu redselig“, gestand Ibn Sina.

„Ja, und ich werde mir ganz sicher beim nächsten Mal genau überlegen, ob ich dich in ein Geheimnis einweihe oder nicht!“

„Die Freude darüber, bald wieder einen zivilisierten Ort zu sehen, hat mich schier übermannt“, gestand der junge Gelehrte.

„Bis wir die Stadt des Rajaraja erreichen wird es aber noch einige Zeit dauern“, dämpfte Abdul die Freude von Ibn Sina und der anderen. Er zeigte auf die Karte und fügte hinzu: „Wir folgen der Küste und werden an einer ganzen Reihe von Häfen vorbeifahren. Zurzeit segeln wir in südliche Richtung. Aber irgendwann wird die Küste uns wieder Richtung Norden führen. Und wenn das geschehen ist, werden wir irgendwann die Hauptstadt des Chola-Reichs zu Gesicht bekommen.“

„Vorausgesetzt, dass sie nicht verlegt wurde“, ergänzte Branagorn.

Die anderen sahen ihn erstaunt an.

Der Mönch zuckte mit den Schultern. „Das könnte doch sein – zumal wir doch von einem Krieg gehört haben!“

„Dann werden wir weiter sehen“, meinte Abdul und rollte die Karte zusammen. Dann wandte er sich an Jarmila. Sie kauerte zusammen mit Sin etwas abseits.

Bei der Besprechung unter gelehrten Männern hatte sie schließlich eigentlich nichts beizutragen.

Aus irgendeinem Grund aber wollte Abdul aus Cordoba sie jetzt doch einbeziehen.

„Heh, Diebin! Komm mal her!“

Jarmila, die die ganze Zeit über nur dem Wortwechsel der Männer zugehört hatte, wechselte einen etwas verunsicherten Blick mit Sin, der genauso erstaunt war wie sie.

Jarmila erhob sich. Der aufkommende warme Wind ließ das Ende ihres Kopftuchs umherflattern und eine verirrte Haarsträhne unruhig auf ihrer Stirn tanzen.

„Was willst du?“, fragte sie.

Sin blickte unterdessen zu Sindbad dem Seefahrer, der am Heck des Schiffes stand und mit einem von Hauptmann Hassans Soldaten sprach. Der Soldat schien ziemlich beeindruckt von Sindbads Erzählung zu sein. Nachdem Sin ein bisschen mehr darauf geachtet hatte, worüber die beiden eigentlich sprachen, stellte er fest, dass es wohl einfach nur Witze waren, wie man sie sich in den Gassen von Bagdad erzählte und darüber lachte. Witze, in denen es immer um Angehörige des Stamms der besonders Rechtgläubigen ging, die als letzte unter den Arabern zur Lehre Mohammeds übergetreten waren und deshalb besonders strenggläubig waren. Man sagte ihnen alle möglichen seltsamen Sitten nach, über die man sich lustig machen konnte.

Wer hätte das gedacht?, ging es Sin durch den Kopf. Sindbad der Seefahrer ist auch noch ein guter Witzeerzähler!

Was den Jungen jedoch wunderte war, dass seinen berühmten Namensvetter es überhaupt nicht weiter zu interessieren schien, wie man nun zur Stadt des Rajaraja gelangen sollte und welchen Seeweg man von dort aus einschlagen müsste, um ins Land der Riesenvögel zu gelangen.

Erst als Abdul aus Cordoba ihn rief, hörte Sindbad der Seefahrer zu erzählen auf und der Soldat musste sein Gelächter mit Mühe unterdrücken.

„Vielgerühmter Sindbad, ich brauche auch deine Hilfe!“, dröhnte Abduls Stimme mit einer Strenge, die man sonst nicht von ihm gewöhnt war.

„Was auch immer es sei, ich bin bereit dazu, alles zu tun, was uns ans Ziel bringt!“, erklärte Sindbad auf seine gewohnt großspurige Weise.

Er trat also hinzu.

Abdul deutete auf Jarmila. „Du hast behauptet, in den Palast des Königs Rajaraja eingedrungen zu sein und Karten gesehen zu haben, die das Land der Riesenvögel zeigten!“, stellte Abdul fest.

„Ja, das ist wahr!“, nickte Jarmila.

„Jetzt kannst du beweisen, ob das du auch die Wahrheit gesprochen hast.“

„Bei Allah und allem, was mir heilig ist, das habe ich!“, versicherte sie. „Nur fürchte ich wird dir König Rajaraja diese Karten niemals zeigen, denn sie sind ein Staatsgeheimnis!“

„Unser junger Freund Ibn Sina hat ein außergewöhnliches Talent im Zeichnen von Tieren und Pflanzen und selbst von Dingen im Inneren eines menschlichen Körpers, die so unappetitlich und unaussprechlich sind, dass es selbst einem Arzt wie mir schwerfällt darüber in klaren und deutlichen Worten zu sprechen. Er soll versuchen, die Vogelbilder, die du au den Karten gesehen hast, nachzuzeichnen so gut er kann. Und unser großer Seefahrer Sindbad wird uns am Ende sagen können, ob das Ergebnis irgendeine Ähnlichkeit zu den Geschöpfen hat, denen er auf seinen Reisen begegnet ist“

„Nun, ich werde versuchen, mich so gut wie möglich zu erinnern“, versprach Jarmila.

So kauerte Jarmila nun über viele Stunden bei Ibn Sina, der mit großer Geduld versuchte, aus den Beschreibungen, die ihm das Mädchen gab, Zeichnungen anzufertigen. Er benutze dabei Stifte aus in Schilf gegossenem Blei, aber er versuchte es auch mit Tinte und einem langen, immer wieder schräg angeschnittenen Federkiel.

Dutzende von Vogelbildern entstanden dabei. Ihnen allen war gemeinsam, dass sie riesenhafte Tiere darstellen sollten, was unter anderen daran sichtbar war, dass sie auf den Karten stets mit einer Menschengestalt gemalt worden waren, sodass man bemessen konnte, wie groß sie waren.

Das Größenverhältnis war ungefähr dasselbe wie zwischen einem ausgewachsenen Mann und einem mittelgroßen Elefanten.

Sin schaute Ibn Sina immer wieder mal über die Schulter, während er zeichnete.

„Du machst mich nervös, wenn du mir zusiehst“, sagte Ibn Sina schließlich. „Ich werde dann nichts zu Stande bringen!“

„Ich bitte um Verzeihung, aber ich bewundere deine Kunst.“

„Das ist keine Kunst, sondern das Wissen um die genau Lage der Dinge und ein gutes Auge. Allerdings bin ich im Moment darauf beschränkt das zu zeichnen, was diese Diebin noch über all die Jahre in ihrer Erinnerung behalten konnte...“

„...und leider zeichnet er die Vögel nicht so, wie ich sie gesehen habe!“, mischte sich Jarmila ein.

Sin warf einen Blick auf die Blätter mit den bisherigen Abbildungen. Bei dem Gedanken, dass es irgendwo auf der Welt tatsächlich elefantengroße Vögel gab, ließ ihn schaudern.

Auch Sindbad der Seefahrer hatte die Bemühungen von Ibn Sina genau verfolgt, aber bisher nicht ein einziges Wort dazu verloren.

„Was sagst du denn dazu, vielgerühmter Sindbad?“, wandte sich Ibn Sina etwas ungehalten an den Seefahrer. „Hat irgendeines der Blätter, die ich bisher schon bekritzelt habe auch nur entfernte Ähnlichkeiten mit den Vögeln, denen du begegnet bist?“

„Nun, das lässt sich nicht so genau... Also! Doch...“

„Um das zu beurteilen, muss er sie sich wohl wenigstens genau ansehen“, meinte Jarmila und auch Sin war etwas irritiert darüber, dass Sindbad der Seefahrer den Zeichnungen des Ibn Sina bisher lediglich ein paar sehr flüchtige Blicke gewidmet hatte.

„Ich denke schon“, sagte Sindbad.

„Und welche?“, fragte Ibn Sina. „Sie sind sehr verschieden!“

„Nun, ich habe vielleicht vergessen zu erwähnen, dass es auch sehr viele verschiedene Unterarten des Riesenvogels Rock gibt. Sie sind zweifellos alles Geschöpfe, die miteinander verwandt sind, aber sie unterscheiden sich untereinander sehr viel stärker als ein Mensch vom anderen zum Beispiel. Als mich der Riesenvogel Rock zum Beispiel an jenem Strand, an dem man mich zurückgelassen hatte, in die Luft emporhob und in das Tal der Diamanten brachte, da...“

Jarmila verdrehte die Augen, während Sindbad weitererzählte. 'Nicht schon wieder eine Geschichte!', schien ihr Blick zu sagen.

„...jedenfalls waren da offenbar Artgenossen des Vogels Rock, die sowohl kurze wie lange Schnäbel hatten.“

„Auch solche, die vielleicht gar nicht fliegen konnten?“, fragte Ibn Sina.

„Ja, auch solche. Aber was für die Flügel galt, galt natürlich auch für die Schnäbel. Auch sie waren äußerst vielgestaltig.“

Sin hockte sich dazu und hörte mit glühenden Ohren zu, wie Sindbad der Seefahrer erzählte. Es war fast so wie in Bagdad, wenn er ein Publikum unter den vielen Menschen in den Gassen seine Zuhörer erobern und fesseln musste und das wie kein zweiter auch stets geschafft hatte.

Aber als Sindbad der Seefahrer schließlich geendet hatte, da versuchte er sich den Vogel Rock in allen Einzelheiten vorzustellen. Er stellte fest, dass er es nicht konnte. Die Bilder vor seinem inneren Auge verschwammen und schienen sich andauernd zu verändern.

Was hat er dir über den Vogel gesagt?, ging es ihm durch den Kopf.

Nichts!, lautete die Antwort, die in Sins Kopf widerhallte, wie der Ruf des Predigers unter der Kuppel einer Moschee. Gar nichts!

DER DIEBISCHE AFFE

Die 'Flügel des Windes' legte in einem kleineren Hafen an. Dort sprach man die Sprache des Chola-Reichs. Branagorn und Jarmila konnten sich daher sehr gut dort verständigen. Außerdem lag im Hafen eine arabische Dau, die unter den anderen Schiffen sofort auffiel. Ein Händler hatte hier angelegt. Sein Name war Mohammed, wie bei so vielen Gläubigen. Mohammed aus Muskat nannte er sich und Kapitän Firuz lud ihn an Bord der 'Flügel des Windes'.

„Es freut mich, Menschen zu treffen, die dieselbe Sprache spreche und zu Allah beten!“, sagte Mohammed aus Muskat. „In diesem Land der heiligen Tiere gibt es mehr Götter als andernorts Gläubige! Ich kann euch nur davor warnen, irgendeinem Tier etwas zu leide zu tun! Es könnte als heilig angesehen werden und schon hat man einen großen Frevel in den Augen dieser Leute begangen. Allah ist mein Zeuge, ich übertreibe nicht! Und schon ist es aus mit dem guten Geschäft! Denn niemand wird dann noch mit dir Handel treiben!“

„Wir sind nicht des Handels wegen hier“, sagte Kapitän Firuz nüchtern.

„Was kann einen denn sonst noch in ein Land führen, in dem es keine Moschee gibt, man auf den Straßen vom Dung der Elefanten stecken bleiben kann und es in den Tempeln nach dem Urin Tausender heiliger Ratten stinkt!“

„Wir sind im Auftrag des Kalifen unterwegs“, erklärte Firuz.

Mohammed aus Muskat nickte leicht.

„Ach deswegen habt ihr keine Ladung an Bord, die in diesen Ländern euch irgendjemand abkaufen würde.“

Der Reihe nach stellte Firuz nun einige Besatzungsmitglieder der 'Flügel des Windes' vor. Natürlich nur die wichtigsten. Abdul aus Cordoba und Ibn Sina waren natürlich darunter – und Hauptmann Hassan. Als dann Sindbad der Seefahrer an der Reihe war, veränderte sich das zuvor eher gelangweilt wirkende Gesicht des Händlers. „Man hört in vielen Häfen von deinen Geschichten Sindbad! Kaum ein Seefahrer dürfte berühmter sein, als du es bist!“

„Gewiss haben viele meine Erlebnisse weitererzählt und dabei maßlos übertrieben“, erklärte Sindbad mit einer Bescheidenheit, die so gar nicht zu ihm passen wollte.

Der junge Sin, der zusammen mit Jarmila etwas abseits stand und dem Gespräch aufmerksam lauschte, fand es trotzdem beeindruckend, wie zurückhaltend dieser große Mann doch war. Er spielt sich gar nicht in den Vordergrund, dachte er. Warum sollte man also annehmen, dass er vielleicht nur ein Angeber war, der sich durch erfundene Geschichten aufzuspielen und wichtig zu machen versuchte?

„Selbst wenn nur die Hälfte von dem wahr ist, was man sich über dich erzählt, Sindbad, dann bist du der tollkühnste Seefahrer, den die Welt je gesehen hat.“

„Nun, Allah hat mir ein furchtloses Wesen gegeben“, erklärte Sindbad. „Und das hat mir gewiss in manch schwieriger Lage geholfen!“

„Nachdem, was man so hört, könntest du in Bagdad ein glückliches und sorgloses Leben führen und den Reichtum genießen, den du auf deine Fahrten erworben hast“, sagte Mohammed aus Muskat. „Aber irgend etwas muss doch trotz allem wohl immer wieder auf die See hinaus ziehen und dazu treiben, zu fremden Ländern zu segeln.“

„Gewiss! Ein Drang, den ich nicht zu widerstehen vermag“, sagte Sindbad der Seefahrer.

„Wohin geht es diesmal? Zu den Schätzen des Diamantentals im Land des Riesenvogels Rock vielleicht, wohin er dich brachte, nachdem man dich schmählich am Strand zurückließ?“

„Diamanten bedeuten mir nichts“, sagte Sindbad. „Und auch Gold und Silber nicht. Daher...“

„Ah, ich verstehe“, unterbrach ihn Mohammed. „Natürlich! Der Segen Allahs und deine Kühnheit haben dich so reich gemacht, dass du es dir leisten kannst, den Schätzen nicht mehr nachzujagen, habe ich recht? Und wo immer auch die Ziel diesmal liegen mag, du solltest meine Warnung hören?“

„Warnung?“, fragte Sindbad.

„Es herrscht Krieg zwischen den Reichen auf den Inseln und dem König Rajaraja. Sagt dir der Name Sri Vijaya etwas?“

Sindbad nickte. „Ich habe davon gehört. Ein Reich auf einer der östlichen Inseln.“

„So ist es.“

„Es liegt mit König Rajaraja im Krieg. Die Krieger von Sri Vijaya und ihre Verbündeten von den anderen Inselreichen haben die Seestraßen gesperrt. Kein Handelsschiff erreicht noch die Länder der Menschen mit den geschlitzten Augen.“

„Du meinst das Reich der Mitte?“, mischte sich Branagorn ein, der die Unterhaltung der beiden aufmerksam verfolgt hatte.

„Aus dem Reich der Mitte gelangen sowieso kaum Schiffe hier her“, meinte Mohammed. „Allenfalls ein paar bekehrungswütige Wandermönche. Nein, ich spreche vom Reich der Khmer, mit dem es sonst viel Handel gab. Auch ich warte schon seit Wochen auf eine Lieferung Jade, von der ich befürchte, dass ich wohl ewig darauf warten werde...“

„Wir werden uns vorsehen“, sagte Sindbad. „Aber bisher war Allah auf all meinen Reisen an meiner Seite und hat seine barmherzige Hand über mich gehalten. Und ich denke, das wird auch in Zukunft so sein.“

„Dein Gottvertrauen in allen Ehren – aber ich würde mich nicht alleine darauf verlassen!“, meinte Mohammed aus Muskat. „Und noch etwas! Legt euch nicht mit der Gewürzhändlergilde an! Wenn die den Eindruck haben, dass ihr eine Konkurrenz für sie seid und vielleicht heimlich Gewürzsäcke mit euch führt, dann kann das böse enden. Man sagt, dass sie manchmal Piraten beauftragen, um solche Schiffe aufzubringen...“

Die 'Flügel des Windes' segelte am nächsten Tag weiter. Hin und wieder tauchten jetzt am Ufer blühende Siedlungen auf. In der Ferne begegneten ihnen manchmal Schiffe von einer Bauart, wie Sin sie nie zuvor gesehen hatte.

Omar hielt die 'Flügel des Windes' stets in möglichst großer Entfernung zu anderen Schiffen. Selbst zu Fischerbooten hielt er den größtmöglichen Abstand. „Das Piratentum ist eine Seuche, die leider überall zu grassieren scheint“, meinte der Steuermann dazu.

Niemand konnte schließlich mit Sicherheit ausschließen, dass die Besatzung von so manchem harmlos erscheinenden Fischerboot in Wahrheit nur darauf wartete, ein vorbeisegelndes Handelsschiff zu kapern.

Und dann tauchten aus der Ferne schließlich die Zinnen jener Stadt auf, die König Rajaraja zum Sitz seines Königshofs gemacht hatte. Abdul aus Cordoba verglich das, was er sah, mit den Angaben auf seine Karten und auch Branagorn war sicher, dass dies die Hauptstadt des Chola-Reichs sein musste.

Türme von imposanter Schönheit ragten in die Höhe.

Den jungen Sin erinnerten sie an die Minarette der Moscheen in Bagdad. Sie waren nicht minder grazil und kunstvoll gestaltet. Im Gegenteil. Bei manchen dieser Bauwerke fragte sich Sin, wie sie überhaupt stehen bleiben konnten, denn seinem Gefühl nach hätte sie eigentlich sofort in sich zusammenbrechen oder umstürzen müssen.

Doch die Baumeister schienen die Gesetze der Natur durch ihre Baukunst überlistet zu haben.

„Du kannst den Mund wieder zumachen!“, hörte Sin Jarmilas Stimme wie aus weiter Ferne.

„Ich...“ Der Rest seiner Worte blieb ihm im Hals stecken. Zu überwältigt war er, um irgend etwas sagen zu können.

„Ich dachte, du kommst aus Bagdad, der größten Stadt der Welt! Wie kann dich da die Stadt des Rajaraja beeindrucken?“, fragte sie lachend.

„Ist das die Stadt, in der du aufgewachsen bist?“

„Ja. Aus der Ferne betrachtet hat sie auch kaum verändert. Es scheinen nur einige Türme und Tempel hinzugekommen zu sein. Aber der Rajaraja ist ein außerordentlich reicher Herrscher und reiche Herrscher haben es nun einmal an sich, dass sie große Gebäude bauen lassen, weil sie glauben, dass dann etwas von ihnen ihre Zeit überdauert.“

„Allah straft den Hochmut“, murmelte Sin. „Aber schön sieht es trotzdem aus!“

Die 'Flügel des Windes' erreichte schließlich den Hafen. Unzählige Schiffe wimmelten hier durcheinander. Die Segel wirkten wie die Flügel unzähliger Schmetterlinge. Mit Katapulte ausgerüstete Kriegsschiffe waren ebenso darunter wie bauchige Handelsschiffe, die so überladen waren, dass die Reling nur wenig über der Wasserlinie lag und man Sorge haben musste, dass sie kenterten. Aber die Schiffsleute steuerten sie dennoch mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit, was angesichts der großen Zahl um so schwieriger war.

Am Ufer waren Molen aus Stein, in die großäugige Gesichter vielarmiger Gottheiten hineingemeißelt waren.

„Schiffsjunge! Spring an Land!“, rief Kapitän Firuz Sin zu. Er wusste inzwischen ganz genau, was seine Aufgabe war. Mit einem Tau in der Hand sprang er als erster an Land und schlang es anschließend um eine der steinernen Molen. Wenig später sprangen noch einige weitere Seeleute von Bord der 'Flügel des Windes' und taten dasselbe.

Innerhalb weniger Augenblicke war das Schiff zumindest provisorisch vertäut.

Dass sich überall dort, wo Schiffe anlegten, schnell eine Traube von Menschen bildete, war Sin gewöhnt. Das schien an jedem Ort der Welt gleich zu sein.

Händler, Diebe und Angehörige der Seeleute – die Mischung variierte manchmal etwas, schien aber überall ungefähr die gleiche zu sein.

Hier, im Hafen der Stadt des Rajaraja kam allerdings noch eine Sorte von Geschöpfen hinzu, die Sin noch nie in der Nähe eines Schiffsanlegers gesehen hatte. Zumindest nicht in dieser überwältigend großen Zahl.

Affen!

Dutzende von ihnen tummelten sich unter den Menschen am Hafen, mit so großer Selbstverständlichkeit, dass man nur annehmen konnte, dass sie daran gewöhnt waren.

Sie hatten keinerlei Scheu und schienen sich nicht im Mindesten vor den Menschen zu fürchten. Ganze Affenfamilien samt an ihren Müttern hängenden Kleinkindern hatten sich eingefunden.

Während das Schiff weiter vertäut wurde, scheuchte Sin einen dieser Affen fort. Er hatte sich nämlich auf eine der Steinmolen gesetzt und störte den Schiffsjungen dabei, ein weiteres Tau um den Steinpflock zu schlingen.

Mit einem ärgerlichen, kreischenden Laut sprang der Affe davon und rannte zu einer Gruppe seiner Artgenossen.

Weitere wütende Kreischlaute drangen aus seinem Maul und man konnte fast den Eindruck bekommen, dass er sich auf seine Weise über die Vertreibung beschweren wollte.

„Das war ein Fehler“, sagte Jarmila, nachdem auch sie an Land gestiegen.

„Wieso?“

„Na, warum wohl?“

„Sind diese Plagegeister etwa auch heilig?“

„Und ob! Sie sind Erscheinungen des Affengottes Hanoman. Überall gibt es Tempel, die ihm gewidmet sind. Manche Legenden sagen, dass er ein Sohn Shivas ist!“

„Dann hätte ich warten sollen, bis die Erscheinung dieses Affengottes sich gnädigerweise erhoben hätte, sodass ich endlich das Tau hätte festbinden können?“ Sin schüttelte grinsend den Kopf. „Das ist nicht ein Ernst, Jarmila!“

„Ich werde für dich beten, damit dich Hanoman nicht straft“, sagte Jarmila auf eine Weise, die deutlich machte, dass sie das wirklich ernst meinte.

„Und ich werde für dich zu Allah beten, damit er doch nicht straft, weil du an falsche Götzen glaubst“, gab Sin zurück.

Sie lächelte amüsiert. „Na, dann haben wir uns ja nach allen Seiten abgesichert und es dürfte keinem von uns irgendein Unglück geschehen.“

Sin erwiderte den Blick ihrer großen, dunklen Augen. Und weil ihm im Moment nichts Besseres einfiel, er aber das Gefühl hatte, irgend etwas sagen zu müssen, murmelte er schließlich: „Ich bin froh darüber, dass du an Bord bist.“

Sie schluckte. „Ich auch.“

„Aber es wäre schön, wenn du mir etwas versprechen könntest.“

„Was?“

„Du bist ja eine Diebin...“

„Das ist ja nun wirklich kein Geheimnis mehr, Sin.“

„Es wäre nett, wenn du mir versprechen könntest, dass du mich nie beklaust!“

Sie lachte wieder und Sin lachte ebenfalls. „Das ist einfach zu versprechen“, meinte sie.

„Warum?“

„Weil du ja nichts hast außer...“ Sie sprach nicht weiter. Stattdessen starrte sie an ihm vorbei. „Vorsicht!“, rief sie. Aber es war zu spät.

Der Affe, den Sin kurz zuvor noch davon gejagt hatte, kam mit einer schier unglaublichen Geschwindigkeit auf ihn zu. Noch ehe Sin ihn bemerkt hatte, schnellte Jarmila nach vorn, um das heilige Tier abzuwehren. Dass sie sich dadurch vielleicht die Gunst des Affengottes Hanoman verscherzte, schien sie dabei in diesem Moment nicht weiter zu kümmern.

Aber der Affe war zu schnell.

Zielgerichte griff er an Sins Hals.

Dort hatte der Junge an einem Lederband eine einzelne Münze hängen. Es war nur eine Münze aus Kupfer und sie hatte in der Mitte ein Loch, durch die das Lederband gezogen worden war.

Ein Vater hatte sie ihm einst gegeben. „Es war die erste Münze, die ich je als Lastenträger verdient habe“, hatte er ihm dabei gesagt. „Sie hat mir Glück gebracht – und von nun an soll sie dir Glück bringen. Viel mehr zu vererben habe ich dir ohnehin nicht, außer die Mahnung, dein Leben stets mit ehrlicher Arbeit zu bestreiten, so wie es Allah gefällt! Dann wirst du vielleicht nicht reich, aber immer ruhig schlafen können, denn du weißt, dass du das Richtige getan hast!“

Seitdem hatte Sin diese Münze um den Hals getragen und niemals abgelegt.

Um keinen Preis der Welt hätte er sie ausgegeben. Der Hunger hätte noch so übermächtig sein können, so wäre es ihm doch unter keinen Umständen einfallen, sich davon etwa ein Stück Brot zu kaufen. Dafür hätte diese Münze gerade gereicht.

Und nun griff dieser Affe blitzschnell danach, riss sie ihm vom Hals und war innerhalb eines Augenblicks auch schon fort damit.

Mut einem triumphierenden Schrei auf den Lippen rannte er zu einer Gruppe seiner Artgenossen, die sich dieses Schauspiel mit großem Interesse ansahen. Diese Affen saßen fast so andächtig und gebannt von den Geschehnissen da, wie das Publikum in den Straßen Bagdads, wenn Sindbad der Seefahrer es mit den Berichten über seine Erlebnisse zu fesseln wusste.

Einen Moment lang stand Sin wie erstarrt da. Er war vollkommen fassungslos. Und fasste sich an den Hals.

„Er hat nur diese wertlose Münze“, hörte er Jarmila wie aus weiter Ferne sagen. „Wenn du willst besorge ich dir fünf Münzen – mit Löchern und ohne, aus Silber oder...“

Ihre Worte wurden undeutlich. Sie schienen sich in unverständliche Laute einer fremden Sprache zu verwandeln. In Sins Kopf rasten die Gedanken nur so. Nein, das war keine Münze von geringem Wert! Jedenfalls nicht für ihn! Es war der größte Schatz, den er je besessen hatte und alles in ihm sträubte sich dagegen, sich den von einem dahergelaufenen Affen einfach so wegnehmen zu lassen!

Dass die Menschen dieser Stadt sich offenbar bereitwillig von ihm bestehlen ließen, weil er als Verkörperung eines Gottes galt, war ihm in diesem Augenblick vollkommen gleichgültig.

Sin fasste einen Entschluss.

Diese Münze gehört mir!, dachte er. Und ich werde sie mir wiederholen! Wie könnte ich sonst je wieder meinem Vater unter die Augen treten, wenn wir nach Bagdad zurückkehren?

Und so rannte Sin los. Jarmila versuchte ihn noch an der Schulter zu halten, denn sie schien zu ahnen, was plötzlich in ihn gefahren war.

Aber es gab wohl nichts, was Sin jetzt hätte aufhalten können.

Er rannte auf den Affen zu, der damit begonnen hatte, auf der Kupfermünze herumzukauen und auszuprobieren, ob man sie nicht vielleicht mit Hilfe seiner spitzen Eckzähne etwas verformen konnte.

Die anderen Affen kreischten und stoben auseinander.

Der diebisch Affe wurde auf den heranstürmenden Jungen aufmerksam, stieß jetzt ebenfalls ein erschrockenes Kreischen aus und rannte davon – geradewegs in die Menschenmassen hinein, die sich am Hafen tummelten. Händler, Seeleute, Träger, Bettler – all das Volk, das man auch in Bagdad, Basra, Al-Bahrain oder Hormus an den Anlegestellen finden konnte, gab es hier auch – nur dass hier die meisten Menschen ein Bindi mitten auf der Stirn trugen wie Jarmila.

Sin folgte dem Affen, drängte einen fliegenden Händler mit seinem Bauchladen so sehr zur Seite, dass er um ein Haar zu Boden gefallen wäre und hetzte weiter hinter dem Affen her.

Um keinen Preis durfte er dessen Spur verlieren.

„Sin! Warte!“, hörte er Jarmilas Stimme hinter sich, die sich mit den aufgeregten Rufen von Passanten und dem Gekreische der anderen Affen mischte.

Auf einer breiten Straße folgte Sin dem Affen. Er wich ein paar schwer beladenen Arbeitselefanten aus, die es offenbar nicht schätzten, wenn ihnen jemand so unvorhersehbar über den Weg lief. Sie trompeteten ihn an, was durch die empörten Rufe der Elefantentreiber begleitet wurde.

Jenseits der massigen Elefantenkörper sah Sin den Affen einfach über einen Handkarren hinwegklettern, der von einem hageren Mann mit weißem Turban gezogen wurde und der mit Früchten überladen war. Die Früchte waren in offenen Holzkisten verpackt. Der Affe brachte sie ins rutschen, während er den Karren überkletterte. Mehrere dieser Kisten landeten daraufhin auf der Straße.

Der Mann vor dem Karren reagierte empört.

Aber seine Empörung richtete sich nicht gegen den Affen, sondern gegen Sin, der hinter ihm herhetzte.

Ein Schwall von Beschimpfungen schleuderte der hagere Mann dem Jungen entgegen. Sin verstand natürlich nicht ein Wort davon. Aber was der Hagere sagte, brauchte man auch gar nicht zu übersetzen. Stimmlage und Tonfall sagten schon mehr, als man wissen wollte.

Sin achtete nicht weiter darauf, umrundete den Karren.

Er sah gerade noch, wie der Affe eine Treppe hinaufhetzte. Sie führte zu dem Säulenportal eines hohen, erhaben und sehr alt wirkenden Gebäudes.

Ein Tempe1, ging es Sin unwillkürlich durch den Kopf.

Kurz bevor der Affe in dem Tempel verschwand, drehte er sich noch einmal um, so als wollte er sich vergewissern, ob sein Verfolger ihm immer noch auf den Fersen war.

Die Münze hielt er offenbar noch immer in der Hand. Sin sah das zerrissene Lederband herabhängen.

Ein kreischender, durchdringender Laut drang aus dem Maul des Affen, der außerdem seine Eckzähne bleckte, wie Sin es eher von verwilderten Hunden gewöhnt war, die in manchen Gegenden Bagdads durch die Gassen streunten und nach Abfällen suchten.

Im nächsten Moment war der Affe zwischen den Säulen des Tempelportals verschwunden.

IM TEMPEL DES AFFENGOTTES

Sin stieg zögernd die Stufen empor.

„Geh da nicht hinein!“, hörte er hinter sich Jarmilas Stimme. Das Mädchen hatte ihn offenbar inzwischen fast eingeholt und drängelte sich zwischen den Leuten hindurch.

Sin drehte sich allerdings nicht nach ihr um. Durch nichts und niemanden würde er sich davon abhalten lassen, sich die Münze zurückzuholen – auch nicht durch Jarmila. All das Gerede von der Macht irgendwelcher Gottheiten und heiligen Tiere war ihm im Augenblick vollkommen gleichgültig. Kein Tier konnte heilig genug sein, als dass er ihm gestattet hätte, ihm diese Münze zu stehlen, die für ihn eine so besondere Bedeutung hatte.

Er betrat den Tempel.

Ein Mönch in orangefarbenem Gewand sprach ihn an. Aber Sin konnte natürlich kein einziges Wort verstehen. Er ging einfach an dem Mönch vorbei ins Innere des Tempels.

Eine von Säulen gestützte Halle öffnete sich vor ihm. An den Wänden waren Reliefs, die die zahllosen Götter zeigten, die hier verehrt wurden. Aber eine affenköpfige Gestalt tauchte immer wieder auf. Das, so vermutete Sin, musste wohl Hanoman sein, der Schutzgott der Affen.

Auf einem Steinaltar befand sich ein riesiges Standbild, das wohl ebenfalls Hanoman darstellte. Es ragte fast drei Mannlängen in die Höhe. Durch hohe, zum Teil offene, zum Teil mit Alabaster verhängte Fenster drang Licht ins Innere der Tempelhalle. Und dieses Licht schien geradewegs auf den Kopf des Affengottes, sodass er wie erleuchtet wirkte.

Hunderte von Affen befanden sich in diesem Tempel. Sie kletterten die Balustrade empor, setzten sich manchmal auf den erleuchteten Kopf des Hanoman oder tobten um den Altar herum. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, sie daran zu hindern. Einer der Mönche stand einfach nur da und sah den Tieren mit einem versonnenen Lächeln bei ihrem Treiben zu. Pilger hatten den Affen Schalen mit Früchten hingestellt. Die Auswahl schien so reichhaltig zu sein, dass sie gar nicht alles essen konnten. Diese gut genährten Tiere schienen gar keine Verwendung für soviel Futter zu haben. Deshalb ließen sie nicht nur einen Großteil der Früchte stehen, sie fingen auch an, damit zu spielen, warfen sie herum, ließen sie über den Boden rutschen oder entfernten die Schalen, um dann lustlos nur ein paar Bissen zu nehmen und des Rest achtlos wegzuwerfen. Sie verließen sich wohl darauf, dass die Mönche den Dreck hinter ihnen fortschafften.

Sin wandte suchend den Blick.

Irgendwo unter all diesen heiligen Affen musste derjenige sein, der die Münze gestohlen hatte.

Und dann entdeckte er ihn.

Er hatte in einem der hohen Fenster platzgenommen und ließ dabei ein Bein ins Freie hängen.

Er hielt die Münze in der Hand. Dicht vor seiner Nasenspitze war sie und er starrte sie so intensiv an, bis er schließlich zu schielen anfing. Die Enden des zerrissenen Lederbandes, an dem Sin diese Münze am Hals getragen hatte, baumelten herab. Der Affe versuchte ein paar mal, sie zu entfernen, aber das war wohl nicht ganz so einfach. Das Lederband führte durch das Loch in der Mitte und auf beiden Seiten hatte Sin Knoten gebunden, die deutlich dicker als das Loch waren, sodass sich das Band nicht einfach herausziehen ließ.

Wie, so fragte sich Sin, sollte er diesen Dieb nur zur Rechenschaft ziehen, der sich offenbar einen besonders hohen und schwer zugänglichen Platz mit Bedacht ausgesucht hatte. Das Fenster, auf dessen Sims er fast rittlings platzgenommen hatte, schien mit Bedacht als Fluchtort gewählt worden zu sein. Du denkst, dass ich dich dort nicht erwische, dachte Sin bitter und wütend. Aber ich werde dich trotz allem kriegen, ganz egal, wo du dich auch immer verkriechen magst!

Der Affe hatte Sin inzwischen scheinbar bemerkt.

Er interessierte sich plötzlich kaum noch für die Münze, sondern blickte stattdessen in Sins Richtung.

Zwischenzeitlich schnitt er eigenartige Grimassen und kreischte. Mehrfach so laut, dass trotz des ohnehin ohrenbetäubenden Krachs, der im Tempel des Affengottes herrschte, auch die anderen auf ihn aufmerksam wurden.

Es wirkte fast so, als würde er die anderen Affen um Hilfe rufen.

Einer von ihnen näherte sich Sin scheu, aber als dieser eine abrupte Bewegung machte, jagte der Affe sofort wieder davon und verbarg sich hinter dem Steinaltar.

Doch schon im nächsten Moment schaute der Affe vorsichtig dahinter hervor und kreischte laut, als er feststellte, dass Sin immer noch an der selben Stelle stand.

Der Affe, der die Münze gestohlen hatte, beobachtete das von seinem erhöhten Standpunkt aus, bleckte die Zähne und stieß ein Geräusch aus, das fast wie ein menschliches Gelächter klang.

Ohnmächtige Wut stieg in Sin auf.

Er konnte nichts tun, das lag auf der Hand. Und die Affen schienen das genau zu wissen.

Einige von ihnen versammelten sich jetzt zu einer Gruppe, die sich zusammensetzte. Sie sahen aufmerksam erst zu ihrem Artgenossen auf dem Fenstersims und dann zu Sin hinüber, so als warteten sie nur darauf, dass irgend etwas Dramatisches, Unvorhergesehenes geschah. Etwas, dass sie aus der Langeweile erlöste, die ein Leben mit übervollen Früchteschalen für sie offenbar bedeutete.

„Sie warten darauf, dass du ihnen ein Schauspiel lieferst und dich dabei blamierst“, hörte Sin hinter sich eine Stimme sagen.

Es war Jarmila, die da zu ihm sprach. Er hatte nicht bemerkt, dass sie den Tempel betreten und ihm bis hier her gefolgt war.

Sin würdigte die Affengruppe nur eines kurzen Blickes. Ansonsten hielt er die ganze Zeit über den Dieb seiner Münze im Auge.

„Wie bestiehlt man einen diebischen Affen?“, fragte Sin. „Oder kennst du dich nur damit aus, arglose Geschäftsleute um die Früchte ihrer Arbeit zu bringen?“

„Musste ich dir nicht versprechen, nicht mehr zu stehlen?“

„Du hast mir versprochen, MICH nicht mehr zu bestehlen“, korrigierte Sin. „Ein kleiner aber feiner Unterschied.“

„Ich weiß nicht, ob Allah barmherzig genug ist, um diesen Unterschied anzuerkennen“, meinte Jarmila. „Und du hast keine anderen Götter, die dich vor ihm beschützen können!“

Er drehte sich um. „Ich?“, fragte er verwundert.

„Hast du mir nicht gerade gewissermaßen den Auftrag zu einem Diebstahl gegeben? Und bist du damit nicht eigentlich selbst ein Dieb, der um seine Hände fürchten sollte?“

„Du machst dich über mich lustig! Aber die Sache mit dieser Münze ist mir ernst!“

Sie begegnet einen Moment lang seinem Blick. „Ich verstehe dich schon richtig“, behauptete sie, aber Sin war sich da nicht so sicher. Er kam sich im Augenblick eher etwas veralbert vor.

Einer der Priester kam jetzt auf die beiden zu. Er sprach einige Worte.

„Was sagte er?“, wollte Sin wissen, der natürlich nichts verstand. Nichts, bis auf ein einziges Wort, das er herauszuhören glaubte, aber selbst da war er sich nicht vollkommen sicher. Hanoman. Der Priester schien den Namen des Affengottes mehrfach zu erwähnen. Er sprach mit ruhiger, tiefer und sehr melodiöser Stimme, deren Klang Sin an eine Art Singsang erinnerte und eigenartigerweise einen beruhigenden Einfluss auf ihn hatte.

„Was sagt er?“, fragte Sin erneut.

„Er möchte dich bitten, später zu beten.“

„Wie bitte?“

„Deine Anwesenheit scheint die heiligen Affen zu beunruhigen, sagt er“, übersetzte Jarmila. „Er sagt auch, du hättest eine unruhige Seele ohne Frieden!“

„Ich habe sofort wieder eine ruhige friedliche Seele, wenn ich meine Münze zurückbekomme“, meinte Sin.

„Sin, im Moment ist das unmöglich!“

„Aber...“

Der Priester begann wieder zu reden. Sin sah ihn dabei an und hörte seine singsanghaften Worte an.

„Die Kraft Shivas ist zu stark in dir“, übersetzte Jarmila. „Er ist der Gott der Zerstörung, der mit Brahma, dem Gott der Schöpfung und Vishnu, dem Gott der Erhaltung eine Dreiheit bildet.“

„Bei Allah, er soll nicht versuchen, mich zu seinem Heidentum zu bekehren!“

„Das würde er nie versuchen“, erwiderte Jarmila. „Er spürt nur deine Unruhe und deinen Ärger und versucht sich das zu erklären. Du solltest durch Meditation mehr vom erhaltenden Einfluss Vishnus in dein Leben lassen, damit Shiva und der Zorn, den du empfindest nicht die Oberhand gewinnt, damit Gleichgewicht herrscht.“

„Der einzige euer Götter, mit dem ich Schwierigkeiten habe, ist anscheinend Hanoman...“, murmelte Sin.

Jarmila berührte ihn am Oberarm. „Komm jetzt. Du störst einen heiligen Ort. Und wenn du jetzt versuchen solltest, die Wand emporzuklettern, um einen Affen zu verfolgen, dann machst du dich und diesen Tempel lächerlich und begehst einen großen Frevel.“

Widerstrebend verließ Sin zusammen mit Jarmila den Tempel. Natürlich hatte sie recht. Es war vollkommen aussichtslos, sich die Münze zurückholen zu wollen. Nicht einmal eine gelernte Diebin wie Jarmila wäre dazu in der Lage gewesen. „Alle Affen gehören in die Wälder – und nicht in eine Stadt, in der Menschen zu Hause sind!“, stieß er ärgerlich hervor. „Und schon gar nicht sollte man ihnen auch noch einen Tempel errichten!“

„Sei froh, dass er dir nichts wirklich Wertvolles gestohlen hat“, meinte Jarmila.

„Nichts wirklich Wertvolles?“, rief Sin so empört, dass einige Pilger, die die Treppenstufen des Tempelportals emporstiegen, sich nach ihnen umdrehte, ohne dass sie etwas von seine Worten verstehen konnten. „Ich dachte, du hättest begriffen, was diese Münze für mich bedeutet.“

„Die Lehre des Buddha sagt, Besitz bedeutet Schmerzen und man soll sich davon lösen.“

„Dann fügst du dir also absichtlich Schmerzen zu, wenn du stiehlst, in dem du deinen Besitz vergrößerst?“, gab Sin spöttisch zurück.

Jarmila seufzte. „Im Moment kann man wohl nicht mit dir reden.“

„Nein, mit dir kann man nicht reden, denn du suchst dir aus allen Lehren, von denen du etwas gehört hast, das passende heraus, um zu erklären, wieso das was geschieht oder das, was du tust, richtig ist! Ich aber werde es nicht hinnehmen, dass ein Affe mir den einzigen Besitz wegnimmt, den ich je hatte!“

Da sie beide zu dem Schluss gekommen waren, dass man zurzeit nicht mit dem anderen reden konnte, redeten sie eine ganze Weile überhaupt nicht, auch nicht, als sie zurück zum Schiff gelangt waren.

Sin wandte sich an einen der Soldaten unter dem Kommando von Hauptmann Hassan. Er hieß Ahmad und war Bogenschütze.

„Würdest du einen dieser Affe treffen, die hier dauernd am Hafen herumlaufen und sich nehmen, was ihnen gerade gefällt?“, fragte Sin den Bogenschützen.

„Gewiss würde ich das!“, versicherte Ahmad. „Ich habe nur am Rande mitbekommen, dass du wie vom Skorpion gestochen hinter diesem Affen hergerannt bist...“

Sin fasste ihm kurz zusammen, was es damit auf sich hatte und Ahmad hörte stirnrunzelnd zu. „Der Affe sitzt jetzt in einem Tempel und wird die Münze wahrscheinlich achtlos wegwerfen, wenn sie ihm langweilig geworden ist und er nichts mehr mit ihr anzufangen weiß.“

„Gut möglich“, sagte Ahmad. „Ich war mal auf einem Schiff, dass weiter nach Süden unterwegs war, zu den Ländern der schwarzen Menschen. Da gibt es auch viele Affen, aber eins ist besser dort: Sie gelten nicht als heilig!“

„Dann sind diese schwarzen Menschen, von denen du sprichst wohl vernünftiger, als man es hier ist!“

Ahmad sprach in gedämpftem Tonfall weiter. „Ich habe sogar gesehen, wie man Affen gebraten und gegessen hat. Aber so unterschiedlich können die Sitten und Gebräuche sein!“

Sin seufzte. „Ja, so unterschiedlich können die Sitten und Gebräuche sein. Hier wäre es wohl das schlimmste Verbrechen, das man sich denken könnte, ein heiliges Tier umzubringen und an anderen Orten genießt man sie als Mahlzeit!“

„Mir hat man auch etwas davon angeboten“, meinte Ahmad. „Aber ganz ehrlich, ich habe nichts genommen.“

„Warum nicht?“, fragte Sin.

„Der Hunger war mir plötzlich vergangen. Ich glaube, es liegt daran, dass diese Affen selbst in gebratenem Zustand noch Ähnlichkeit mit kleinen Kindern haben! Es macht mir nichts aus ein Schaf oder eine Ziege zu schlachten und ich esse beide hinterher mit Genuss. Aber bei so einem Affen...“ Er schüttelte den Kopf. „Bei Allah, die sehen uns Menschen einfach zu ähnlich!“

„Da magst du wohl recht haben.“

„Du wirst deine Münze verloren geben müssen, Sin!“, sagte Ahmad schließlich klar und deutlich. „Ich kann da jedenfalls nichts für dich tun. Oder erwartest du wirklich, dass ich einen Bogen nehme und in diesem Tempel auf Affenjagd gehe? Dann sitzen wir am Ende alle im Kerker – und das nur wegen einem Glücksbringer! Und der Kalif muss sterben, weil wir – wenn überhaupt – nicht rechtzeitig zurückkehren, um ihm das Heilmittel zu bringen, dass er so dringend braucht“

„Ich könnte diesem Affen den Hals umdrehen!“, meinte Sin wütend. „Gleichgültig, ob er nun heilig ist oder nicht! Vom Bogenschießen verstehe ich ja leider nichts.“

„So kühn, den Affen zu jagen, wäre höchstens dein Namensvetter Sindbad“, sagte Ahmad. Allerdings zwinkerte er dabei mit dem rechten Auge, so als wollte er deutlich machen, dass er diese Bemerkung nicht so recht ernst meinte.

Später schimpfte der Kapitän mit Sin, denn er war eine ganze Weile fort gewesen, ohne dass Firuz der Perser oder sonst jemand an Bord darüber Bescheid gewusst hatte, wo er steckte.

„Bist du nun Schiffsjunge oder nur blinder Passagier?“, herrschte ihn der Perser an. „Du kannst nicht einfach machen, was dir gerade einfällt! Es gibt schließlich eine Menge an Bord zu tun. Und wenn wir das alles alleine machen wollten, dann hätten wir keinen Schiffsjungen mitnehmen brauchen!“

„Ja, Herr, das soll nicht wieder vorkommen“, versprach Sin.

„Und wo ist eigentlich die Diebin, die dir gefolgt ist?“

„Kapitän, ich...“

„Abdul und Ibn Sina suchen sie nämlich! Es geht um diese Vogelzeichnungen, an denen die beiden schon eine ganze Weile sitzen... Ich bin ja nur ein einfacher Seemann und verstehe von diesem gelehrten Zeug nichts, aber es muss wohl wichtig sein, um in das Land des Vogels Rock zu gelangen!“

„Also ich... vielleicht... kann sein, dass...“ Sin stotterte etwas vor sich hin und je länger er sprach, desto unzusammenhängender wurden seine Worte.

Er ließ den Blick über das ganze Schiff schweifen – aber Jarmila konnte er nirgends entdecken. Sie musste sich irgendwie wieder davongestohlen haben.

„Du willst damit sagen, dass du keine Ahnung hast, wo sie ist?“, meinte Firuz der Perser mit strengem Tonfall.

„Tut mir leid, Kapitän, aber das trifft leider zu.“

An den Zeichnungen waren noch kleinere Korrekturen gemacht worden. Auch Branagorn versuchte sich diesmal daran, während Abdul aus Cordoba und Ibn Sina kritische Anmerkungen machten.

Branagorn fiel auch auf, dass Sindbad der Seefahrer sich dazu bisher kaum geäußert hatte.

„Du hast dich bisher so bescheiden zurückgehalten, vielgerühmter Seefahrer“, sagte Branagorn. „Aber siehst du denn überhaupt eine Möglichkeit, dass die Vögel auf der Landkarte, die das Mädchen gesehen hat, tatsächlich Abbildungen des Vogels Rock sind?“

„Nun die kleine Diebin hat die Karten mit den Abbildungen ja vor Jahren gesehen, als sie noch sehr jung war“, gab Sindbad zu bedenken. „Ob sie sich wirklich in jeder Einzelheit exakt zu erinnern vermag, will ich doch bezweifeln. Denn obwohl ich ja nun sogar mit dem Vogel Rock geflogen bin, sind manche Einzelheiten aus meinem Gedächtnis wie ausgelöscht. Wenn man mich zum Beispiel nach der genauen Farbzeichnung seiner Federn fragen würde oder der Farbe seiner Augen – ich wüsste es nicht zu sagen.“

„Zu dumm, dass dieses dahergelaufene Straßenkind schon wieder verschwunden ist“, schimpfte nun Abdul aus Cordoba etwas ungehalten. „Da haben wir einen Plan und er gerät ins Stocken, weil dieses Mädchen, das von den Eseln und Elefanten auf der Straße erzogen worden sein muss, einfach macht, was es will!“

Sin, der das mitanhörte, horchte auf.

Ein Plan?

Er hatte nicht mitbekommen, was für ein Plan das hätte sein können und zu fragen, wäre ihm reichlich aufdringlich erschienen.

Die Gespräche zwischen Branagorn, Ibn Sina und Abdul aus Cordoba waren oft so lang und ausufernd, dass man ihnen nicht andauernd zuhören konnte, ohne dass einem dabei der Kopf zu schwirren drohte. Aber nun, so schien es Sin, hatte er anscheinend etwas Wichtiges verpasst. Einen Plan, den die drei vielleicht auch schon gefasst haben, während ich auf meiner erfolglosen Affenjagd war!, ging es Sin durch den Kopf und er beschloss, um so aufmerksamer die Ohren zu spitzen.

Aber Sin erfuhr nichts mehr darüber.

Stattdessen meldete sich Kapitän Firuz zu Wort und meinte: „Wozu haben wir denn einen Schiffsjungen! Soll der doch zusehen, dass er die Kleine zurückbringt!“

So wurde Sin ausgeschickt, um Jarmila zu suchen. Irgendwo in all diesen verwinkelten Straßen musste sie sein. Zwar prägten aus der Ferne die großen Paläste und Tempel das Antlitz der Stadt des Rajaraja – aber aus der Nähe betrachtet bestand sie in Wahrheit vor allem aus recht einfachen Häusern der einfachen Leute. Lastenträger wie mein Vater zum Beispiel!, erkannte Sin. Oder die Familien der unzähligen Soldaten und Elefantentreiber, Seeleute, Handwerker, Steinmetze, Bildhauer und Gärtner, die König Rajaraja in seinen Diensten hatte.

Niemand hatte Sin gesagt, wo sich der Palast des Königs befand – aber das war auch gar nicht notwendig. Jeder, der sich in der Stadt befand, konnte dies eigentlich auf den ersten Blick erkennen. Denn so groß die Verehrung der Menschen hier für Brahma, Shiva, Vishnu und die unzähligen anderen Götter auch sein mochte – ihre Tempel wurden vom Palast des Königs überragt.

Daran, so dachte Sin, konnte man wohl sehen, wer die allergrößte Verehrung für sich einforderte. Der Palast war so riesig, dass man ihn überhaupt nicht übersehen konnte. Die Türme ragten so fein und gerade in die Luft empor, dass man den Kopf in den Nacken legen musste, um zu sehen wo sie endeten. Ansonsten hatte man den Eindruck, sie würden geradewegs in den Himmel hineinreichen.

Etwas ziellos irrte Sin durch die Straßen, ganz egal, wohin er sich auch immer wandte, so befand er sich doch stets auf die eine oder andere Weise im Schatten des Palastes.

Sin sah den Elefantentreibern bei ihrer Arbeit zu, verweilte etwas vor einem Turm, der aus Abertausenden von Göttergesichtern bestand und vor dem immer wieder Menschen beteten.

Er beobachtete die Bettler in den Straßen und Mönche, die mit Almosen versorgt wurden.

Nur von Jarmila sah er nicht einmal einen Zipfel ihres Gewandes.

Aber sie unter all den Menschenmassen zu finden, war wohl auch ohnehin kaum möglich, so fand er. Er ärgerte sich darüber, dass Kapitän Firuz ihm diesen Auftrag gegeben hatte – einen Auftrag, der offensichtlich unerfüllbar war. Jemand wie Jarmila hatte es schließlich gelernt, sich zu verbergen, wenn sie es für nötig befand. Wie sonst hätte sie all die Jahre als Diebin über die Runden kommen und ihre Hände behalten können?

Wenn sie nicht gefunden werden will, werde ich wohl der Letzte sein, der zu finden vermag, wo sie sich befindet, dachte Sin.

Viel lieber hätte er jetzt Branagorn und den anderen gelehrten Männern zugehört, um zu erfahren, welcher Plan jetzt ausgeheckt worden war.

Beklag dich nicht, du bist nur der Schiffsjunge, wies ihn eine innere Stimme zurecht. Und nun sag bloß nicht, du hättest nicht gewusst, was da auf dich zukommt! Vielleicht hattest du noch nie den endlosen Ozean oder die Stadt des Rajaraja gesehen – aber dass ein Schiffsjunge etwas anderes als ein Kapitän ist, wird dir ja wohl klar gewesen sein!

Immer noch dachte er mit ziemlich großem Grimm darüber nach, dass er sich die Münze an seinem Hals von einem Affen hatte stehlen lassen. Und dass er das einfach so hinnehmen sollte, war für ihn noch längst nicht ausgemacht. Vielleicht waren es diese Gedanken, die ihn irgendwann in Richtung des Hanoman-Tempels trieben.

Jedenfalls stellte er irgendwann fest, dass er sich genau vor jenem Säulenportal befand, durch das er dem Affen letztlich vergeblich gefolgt war.

Auf einer der Stufen sah er den Affen, der ihm die Münze gestohlen hatte.

Zumindest glaubte Sin ihn wiederzuerkennen, denn sicher sein konnte er in dieser Hinsicht nicht. Die Affe sahen für ihn letztlich all gleich aus. Jedenfalls hatte er die Münze zwischen einen Fingern. Er kaute darauf herum, versuchte vergeblich die Lederbänder zu lösen, fasste dann mit zwei Fingern eines der Enden des Lederbandes und schleuderte die Münze in die Luft. Klirrend kam sie zu Boden und landete auf dem Stein. Der Affe stieß einen quietschenden Laut aus und hob die Münze wieder auf, um sie gleich ein zweites Mal hochzuschleudern und wieder aufzuheben.

Vielleicht hatte der Dieb ja inzwischen seine Beute an einen anderen Affen verloren, aber als er die Art sah, wie er sich bewegte, war sich der Schiffsjunge sicher. Das war der Dieb und er hatte offenbar die Freude an seinem Spielzeug die ganze Zeit über behalten.

Eins muss man dir lassen! Ausdauernd bist du ja!, dachte Sin. Aber du solltest mich nicht unterschätzen! Ich bin es auch!

Als einer der anderen Affen sich näherte – ein kleines Jungtier – stieß der Dieb ein lautes Kreischen aus. Der Kleine schnellte davon – geradewegs auf sein Mutter zu, an deren Rücken er sich dann festklammerte.

Jetzt erst bemerkte der Dieb auch Sin.

Er sah ihn auf eine Weise an, die die letzten Zweifel des Jungen beseitigte. Das war derselbe Affe. Die Münze hatte nicht ihren Besitzer gewechselt.

Und mochte Sin auch Schwierigkeiten gehabt haben, sein Gegenüber gleich wiederzuerkennen, so hatte der diebische Affe dies offenbar nicht.

Er wirkte einen Augenblick wie erstarrt. Dann verzog er sich ins Innere des Tempels.

––––––––


DER SIEBTE SOHN EINES SIEBTEN SOHNES

Sin musste leider schließlich unverrichteter Dinge zum Schiff zurückkehren. Von Kapitän Firuz bekam er zu hören, dass er zu nichts nutze sei – nicht einmal dazu, eine Diebin aufzutreiben. „Da wünscht man sie sich zur Hölle und ausgerechnet, wenn sie gebraucht wird, ist sie nicht da“, knurrte der Perser.

„Ich bin sicher, Sindbad hat sein möglichstes getan“, meldete sich dann eine Stimme zu Wort. „Und dafür, dass dieses Mädchen sich alle Mühe gegeben hat, zu verschwinden, kann er nichts.“ Es war Sindbad der Seefahrer, der sich da einmischte. Und die Tatsache, dass er Sin bei seinem vollen Namen genannt hatte, musste etwas bedeuten.

Der Kapitän schimpfte etwas vor sich hin, was weder Sin noch Sindbad zu verstehen vermochten, denn er verfiel dabei in seine persische Muttersprache. Aber dass es sicherlich keine freundliche Erwiderung war, konnte man schon am Tonfall und der finsteren Mimik des Kapitäns überdeutlich erkennen.

„Auch du ist nicht als großer Kapitän geboren worden, Firuz“, gab Sindbad der Seefahrer daraufhin zu bedenken. „So wenig wie ich als der weitgereiste Mann von legendärem Ruf auf die Welt kam. Wir alle beginnen klein und unwissend. Und nur, weil wir uns vielleicht hundert- oder tausendmal wie Narren verhalten haben, wissen wir schließlich, wie man sich weise verhalten sollte!“

Die Auge des Persers wurden schmal. „Dann möchte ich zu gerne wissen, als was für ein kleiner Wurm du eines fernen, vergangenen Tages das Licht der Welt erblickt hast! Nein, ein Wurm warst du wohl nicht! Eher eine kleine Schlange mit gespaltener Zunge!“

„Mich kannst du ruhig beleidigen“, sagte Sindbad daraufhin. „Wessen Taten schon Legende sind, der braucht sich nicht zu verteidigen, den sein Ruhm spricht für sich selbst. Aber einen Schiffsjungen zu schinden, nur weil er eine Aufgabe nicht erfüllt hat, die er wahrscheinlich gar nicht erfüllen konnte, das ist schäbig, Kapitän Firuz! Es ist eines Rechtgläubigen unwürdig.“

Firuz wurde dunkelrot.

Gerade Sindbads letzter Satz hatte ihn offenbar tief getroffen, wo er doch ansonsten so großen Wert darauf legte, seine Rechtgläubigkeit herauszukehren. Aber er erwiderte nichts, denn er schien erkannt zu haben, dass er sich mit Sindbad dem Seefahrer nicht messen konnte. Zumindest nicht, was den gewandten Gebrauch der Worte anging. Hinsichtlich von Sindbads Qualitäten als Seefahrer hingegen, fühlte sich Firuz dem berühmten Mann inzwischen haushoch überlegen.

Sindbad der Seefahrer legte Sin eine Hand auf die Schultern, nachdem der Kapitän ein Stück fortgegangen war und meinte: „Mach dir nichts daraus! Dieser Mann lässt seinen Ärger über alles und jeden gerne an jemandem aus – und ehrlich gesagt, kann ich so etwas nicht leiden!“

„Wahrscheinlich wird mich sein Zorn zu einem späteren Zeitpunkt treffen“, glaubte Sin.

„Nein, das glaube ich nicht“, sagte Sindbad der Seefahrer daraufhin. „Es mag sein, dass der Kapitän mich nicht besonders leiden kann...“

„Sicher, weil er nur neidisch auf deinen Ruhm ist!“

„Gut möglich, aber das soll mich nicht weiter kümmern. Und doch ist sein Respekt vor mir und meinem Ruhm so groß, dass er dich sicherlich in Zukunft in Ruhe lassen wird!“

„Du hast etwas sehr Bedenkenswertes vorhin gesagt.“

„So? Nun, ich bin mir meiner Klugheit manchmal gar nicht bewusst“, erklärte Sindbad.

„Sie rührt sicher durch die Erfahrungen in so vielen fernen Ländern her, die du gesammelt hast“, meinte Sin daraufhin.

Sindbad nickte flüchtig. „Ja, das wird es wohl sein“, murmelte er.

„Du hast gesagt, dass jeder mal klein angefangen hat. Was mich interessieren würde: Wie waren denn deine Anfänge? Die Geschichten über deine Reisen berichten niemals davon, wie du noch ein Schiffsjunge warst oder unter welchen Mühen du überhaupt all das erlernt hast, was ein Seemann wissen muss!“

„Ja, das ist wahr“, nickte sein berühmter Namensvetter. Sin hatte einen Augenblick den Eindruck, als würde sein Gegenüber geradewegs durch ihn hindurchsehen. Ein versonnenes und leicht gequält wirkendes Lächeln erschien um seine Mundwinkel. „Ich war der siebte Sohn eines siebten Sohnes, dessen Vater, Großvater, Brüder, Cousins und Onkel allesamt herausragendes erreicht haben. Wenn ich ihre Namen nennen würde, so würdest du sie kennen, aber die Bescheidenheit verbietet es mir.“

„Ist es nicht ein besonderes Zeichen des Glücks, der siebte Sohn eines Sohnes zu sein?“, fragte Sin.

„Nein, überhaupt nicht“, sagte Sindbad. „Es ist ein Fluch, zumal dann, wenn deine Brüder alles erreicht haben, was man erreichen kann und du dich fragst, was du tun müsstest, dass dein Vater und deine Mutter beeindruckt sein könnten! Wenn deine Brüder zu großen Befehlshabern, berühmten Gelehrten oder Kaufleuten von beispiellosem Erfolg heranwachsen und man selbst von Allah nur die Gaben eines ganz gewöhnlichen Menschen bekommen zu haben scheint, dem es nie vergönnt sein kann, auch nur etwas im entferntesten vergleichbares zu erreichen, dann ist das kein Glück, sondern ein Fluch.“

„Aber jetzt dürften sie stolz auf dich ein! Schließlich bist du der berühmteste Seefahrer von Bagdad und wahrscheinlich der berühmteste im ganzen Reich des Kalifen und darüber hinaus! Die ganze Welt scheint von dir zu wissen und selbst im Land des Vogels Rock wird man sich an deinen Namen erinnern, denn schließlich dürfte es auch dort nicht alle Tage vorkommen, dass ein Mann sich von einem Riesenvogel ins Tal der Diamanten tragen lässt! Zumindest hast du in deinen Erzählungen nie erwähnt, dass dies vielleicht eine gewöhnliche Methode der Fortbewegung gewesen wäre!“

Sindbad lächelte nachsichtig. Zusammen gingen sie zur Reling des Schiffs. Es war die dem Meer zugewandte Seite der 'Flügel des Windes'. Sindbad stützte sich auf die Reling, beugte sich etwas vor und sein Blick glitt auf eine sehr nachdenkliche Weise in die Ferne. „Ich war damals der Verzweiflung nahe“, gestand Sindbad. „Zu ungeschickt und einfältig erschien ich mir selbst, als dass ich die Hoffnung hätte aufrecht erhalten können, dass jemals etwas wirklich Großes und Bedeutungsvolles aus mir werden könnte!“

Sin seufzte.

„Ich kann dich gut verstehen. Mir geht es oft genauso“, sagte er.

„Ja, wenn ich dich sehe, dann musste ich oft an meine eigene Vergangenheit denken“, sagte sein berühmter Namensvetter.

„Aber du hast dich nicht einschüchtern lassen, bist zu deinen Reisen aufgebrochen und trotz allem heute ein viel gerühmter Seefahrer, der so weit gereist ist wie wohl kein zweiter!“, stellte Sin fest.

„Ich habe damals meinen Namen abgelegt und mir den Namen Sindbad gegeben, weil ich seinen Klang schön fand. Aber vor allem wollte ich nicht, dass mich irgend jemand länger mit den sieben Söhnen eines siebten Sohns in Verbindung bringt und es dann immer nur heißt, ich sei der kleine, ungeschickte, wenig begabte Bruder von sechs herausragenden Männern, die alle Prüfungen mit Bravour bestanden haben, die ihnen von Allah gestellt wurden. Der Zufall wollte es, dass auf einem Schiff die Stelle eines Schiffsjungen frei war und ich an Bord ging und mitfuhr.“

„So war das deine erste Reise!“, entfuhr es Sin etwas lauter, als er eigentlich beabsichtigt hatte.

Sindbad legte einen Finger auf die Lippen, denn einige der anderen sahen schon zu ihnen ihn. Selbst Branagorn schien aus seinem Gespräch mit Abdul aus Cordoba aufgeschreckt worden zu sein und blickte auf eine Weise in die Richtung der beiden Sindbads, als hätte er jedes Wort verstanden – was natürlich vermutlich pure Einbildung war. „Nicht so laut“, wies Sindbad seinen jungen Namensvetter zurecht. „Das, was ich dir erzählt habe, ist für niemanden sonst bestimmt. Es ist ein Geheimnis, dass ich nur dir offenbare, weil du mir so ähnlich bist und dein Vater mich bereits bei deiner Geburt zum Essen eingeladen und gesagt hat: Ich nenne diesen Jungen nach seinem Vater. Er soll Sindbad heißen wie ich, Sindbad der Lastenträger. Aber genauso könnte ich sagen: Er wird nach Sindbad dem Seefahrer, meinem besten und einzigen Freund benannt, der sich nie scheute, in meinem ärmlichen Haus zu essen, obwohl er doch zu denen gehört, die Allah so über die Maßen mit Ruhm gesegnet hat, dass sie gewöhnlich für einfache Menschen wie mich weder einen Blick noch ein Ohr haben.“

Sin nickte und flüsterte: „Ich werde mich beherrschen und leiser sprechen. Und was dein Geheimnis angeht – es ist bei mir gut aufgehoben!“

„Davon bin ich überzeugt“, sagte der große Sindbad.

„Aber trotzdem: Du hast von dieser ersten Reise niemals etwas erzählt!“

„Diese erste Fahrt damals war nur ein paar Meilen den Fluss entlang.“

„Bis Basra?“

„Nicht einmal bis Basra. Wir fuhren bis zu einem Hafen, der heute versandet ist und den im Laufe der Jahre die wuchernden Pflanzen überwachsen haben. Der Fluss hat sein Bett ein wenig verändert und heute kann sich niemand mehr vorstellen, dass dort, wo jetzt Sumpfland ist, mal ein Hafen war. Und da diese Fahrt nur so kurz gewesen ist, zähl ich die auch nicht zu meinen Reisen... In so fern bleibt deren Nummerierung, wie ich sie in meinen Erzählungen verwendet habe, gültig.“

„Ich verstehe“, sagte Sin.

Und der Schiffsjunge spürte in diesem Augenblick ein so tiefes Gefühl der Verbundenheit mit dem berühmten Sindbad, wie nie zuvor. Welch eine Erkenntnis hatte Allah ihm da gewährt! Der große Held war nicht nur der größte Seefahrer aller Zeiten und ein Mann, den an Wagemut und Erlebnissen zu übertreffen wohl schier unmöglich war! Er war darüber hinaus auch ein ganz normaler Mensch, so unvollkommen wie Allah ihn eben geschaffen hatte. Und wenn aus ihm, dem unscheinbaren und in den Schatten gestellten siebten Sohn eines siebten Sohnes, ein so berühmter Mann hatte werden können, so war es doch sicher auch möglich, dass Sin, der Sohn von Sindbad dem Lastenträger, zumindest einmal ein Steuermann oder Kapitän werden konnte!

Einige Augenblicke schwiegen sie. Und Sin nutzte den Moment, um diesen Gedanken einfach nur zu genießen. Dabei malte er sich eine Zukunft aus, in der er am Ruder eines Schiffes stand. Vielleicht sogar eines Schiffes, das er befehligte. Und wenn Allah gnädig war, vielleicht sogar auf einem Schiff, das ihm gehörte. Und wenn Allah es wirklich gut mit ihm meinte, dann war dieses Schiff vielleicht sogar Teil der Flotte eines Handelshauses, das ihm gehörte und selbst die Händler der Gewürzgilde aus dem fernen Reich des Königs Rajaraja kamen zu ihm, um ihn um seinen Rat zu fragen, wie Schiffe zu beladen seien, damit sie nicht kenterten.

Sin seufzte, erfüllt von diesen schönen Gedanken.

Er drehte sich halb herum, weil seine Ellenbogen davon schmerzten, dass er sich zwischenzeitlich auf der Reling der 'Flügel des Windes' aufgestützt hatte.

Da wurde er plötzlich aus seinen angenehmen Gedanken herausgerissen.

Jarmila war wieder aufgetaucht und stieg gerade an Bord.

Sie wandte ihm nur einen kurzen Blick zu, denn anschließend musste sie sich das Geschimpfe von Kapitän Firuz anhören.

Am nächsten Tag ging eine Abordnung von Bord der 'Flügel des Windes' zum Palast des Rajaraja. Angeführt wurde diese Gruppe von Abdul aus Cordoba, der vom Kalifen mit Briefen ausgestattet war, die ihn als dessen Botschafter auswiesen. Natürlich waren Ibn Sina und Branagorn dabei. Letzterer war wohl schon am Vortag im Palast gewesen, um ein Schreiben zu übergeben und um eine Audienz beim König zu bitten. Branagorn konnte sich schließlich in der Sprache des Landes verständlich machen und so war seine Anwesenheit schon aus diesem Grund vollkommen unverzichtbar.

Kapitän Firuz war auch dabei. Er war schließlich der Kapitän des Schiffes und obwohl Abdul aus Cordoba zunächst nicht einsehen wollte, weshalb Firuz unbedingt dabei zu sein hatte, machte Branagorn ihm klar, dass es weithin bekannt sei, dass König Rajaraja eine Vorliebe für alles Persische hätte. „Es heißt sogar, dass er in der Lage ist, persische Schriften zu lesen“, behauptete Branagorn.

Jarmila gehörte einerseits wegen ihrer Sprachkenntnisse zu der Gruppe, die den Palast aufsuchte. Und dass Sindbad der Seefahrer dabei war, verstand sich von selbst. Abdul hoffte, dass sich die Kunde von den Heldentaten dieses größten Seefahrers im Reich des Kalifen auch bis ins Reich des Rajaraja herumgesprochen hatten. Die Wahrscheinlichkeit dafür war gar nicht so gering. Schließlich fuhren immer mehr Kauffahrer aus den Ländern der Araber nach Indien und sie brachten neben ihren Handelswaren auch die Geschichten mit, die man sich in Bagdad, Al-Bahrain oder Hormus erzählte. Und Sin – er verdankte seine Teilnahme an dem Besuch im Palast nur der Fürsprache seines berühmten Namensvetters. Sindbad der Seefahrer bestand nämlich darauf, dass Sin dabei war.

„Präg dir alles ein, was du siehst“, raunte er dem Jungen später zu. „Du wirst noch deinen Enkeln davon erzählen! Glaub mir!“ Und dabei zwinkerte Sindbad seinem jungen Namensvetter aufmunternd zu.

Abdul war jedenfalls überzeugt davon, dass das Erscheinen des berühmten Seefahrers auf den König Eindruck machen würde und ihn vielleicht dazu bewegte, auf den Vorschlag einzugehen, den Abdul dem Herrscher machen wollte.

Einen Vorschlag, der irgendwie zu dem geheimnisvollen Plan gehörte, den die drei gelehrten Männer an Bord der 'Flügel des Windes' gefasst hatten und von dem Sin bisher noch immer nicht so recht begriffen hatte, worum es dabei eigentlich ging.

Nur Bruchstücke waren dem Schiffsjungen bisher zu Ohren gekommen und daraus konnte er sich noch kein Gesamtbild machen. Und davon abgesehen schien niemand bereit zu sein, ihm Näheres darüber zu sagen. Nicht einmal Sindbad der Seefahrer, den Sin darauf direkt ansprach.

Aber vielleicht wusste der Seefahrer selbst nicht alle Einzelheiten dieses geheimnisvollen Plans...

Nachdem Branagorn am Vortag ein Empfehlungsschreiben des Kalifen von Bagdad im Palast abgegeben hatte, schien der Herrscher des Chola-Reiches tatsächlich bereit zu sein, die Fremden zu empfangen.

„Wir können das gar nicht hoch genug schätzen!“, meinte Branagorn mehr als einmal. „Schließlich befindet sich das Reich von König Rajaraja im Krieg und ein Herrscher dürfte zu solchen Zeiten ganz gewiss andere Sorgen haben, als irgendwelche Seefahrer zu empfangen, die der Wind an die Küste seines Landes gespült hat!“ In Branagorns blassem Gesicht erschien ein hintergründiges Lächeln, dass Sin aufmerken ließ, als er es sah. Denn einen ähnlichen Gesichtsausdruck hatte Sin bei dem Mönch bisher noch nie gesehen, dessen Mimik ansonsten eher gleichförmig wirkte – um nicht zu sagen ausdruckslos. „Ich bin allerdings guter Hoffnung, dass es mir gelungen ist, den Wesir, dem ich den Brief übergab, davon zu überzeugen, dass wir König Rajaraja in seinem Krieg gegen Sri Vijaya unter Umständen wertvolle Hilfe leisten könnten.“

Sin runzelte die Stirn, als er das hörte. Was sollte das nun zu bedeuten haben?

Die 'Flügel des Windes' war zwar eine Dau von robuster Bauweise und dafür gemacht, auch längste Seewege unter ungünstigsten Umständen und schwierigsten Verhältnissen zu überstehen. Aber sie war ganz gewiss nicht dafür geeignet, um sie in einer Seeschlacht einzusetzen. Schon die Auseinandersetzung mit den Piraten in der Nähe der Seestraße von Hormus hatte das eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Es also sollte ein Schiff und seine Besatzung in einem Krieg eine entscheidende Rolle spielen können, das doch dafür offensichtlich ungeeignet war? Noch dazu gab es an Bord ja nur eine Handvoll Soldaten – Hauptmann Hassans Männer nämlich. Und die hatten nahezu all ihre Pfeile während es Gefechts mit den Piraten verschossen.

Ob sie sich inzwischen möglicherweise auf den Märkten der Stadt dafür Ersatz besorgt hatten, konnte Sin nicht genau sagen.

Trotzdem – eine richtige Streitmacht war das nun wirklich nicht!

Sie gingen zum Palast. Abdul aus Cordoba führte die Gruppe an, wie es sich für den offiziellen Botschafter des Kalifen auch gehörte. Ihm zur Seite ging Sindbad der Seefahrer, so als sollte dessen Ruhm schließlich auf alle abstrahlen, sobald sie dem König gegenübertraten.

Sin und Jarmila gingen ganz am Schluss.

Aber welch anderer Platz wäre auch für einen Schiffsjungen und eine Diebin schon passender gewesen?

Auf dem Weg zum Palast sprachen sie zunächst nicht miteinander. Sin hatte den Eindruck, dass Jarmila noch viel weniger als er darüber Bescheid wusste, was die gelehrten Männer ausgeheckt hatten.

„Wo bist du eigentlich gewesen?“, fragte Sin schließlich, weil er seine Neugier kaum noch im Zaum halten konnte.

„Weg“, sagte sie nur. Sie sahen sich einen Moment lang an, aber mehr schien sie zu dem Thema einfach nicht sagen zu wollen.

Na gut, dann eben nicht, dachte Sin.

Aus dem Weg zum Palast kamen sie an dem Affentempel des Hanoman vorbei. „Du wirst deine Münze wiederbekommen“, sagte sie leise zu Sin.

„Was?“

„Hast du Dreck in den Ohren?“

„Nein, aber...“

„Ich sagte, du wirst deine Münze wiederbekommen.“

„Und wie sollte das geschehen? Bist du etwa eine geschicktere Affenjägerin als ich?“

„Warte es ab, Sin.“ Sie lächelte zum ersten Mal wieder, seit sie zurückgekehrt war. Dabei hob sie ihre Hände, so dass Sin die Glückszeichen sehen konnte. „Ich verlass mich darauf. Hanoman wird dir helfen.“

„Ausgerechnet der? Das glaube ich nun wirklich nicht.“

„Warte es ab!“

IM PALAST VON KÖNIG RAJARAJA

Sie erreichten den Palast. Nachdem Branagorn ein paar Worte mit den Wächtern gewechselt und außerdem ein Schriftstück vorgezeigt hatte, wurden sie ins Innere des imposanten Bauwerks gelassen. Ein Hofbeamter erwartete sie und führte sie durch hohe Säulengänge.

König Rajaraja empfing sie jedoch nicht in seinem Thronsaal, so wie Sin es eigentlich erwartet hätte. Stattdessen brachte der Hofbeamte sie in einen Garten, der ganz von den Palastmauer umschlossen war.

Der Herrscher trug ein schneeweißes Gewand. Er ließ sich gerade von einem der Gärtnermeister die neuen Anpflanzungen erläutern. Unterbrochen wurden diese Anpflanzungen immer wieder durch Statuen von Göttern. Sie ragten daraus hervor und blickten die Ankömmlinge mit ihren großen Augen an – darunter ein gewaltiger, überlebensgroßer Stier, der blau angemalt war.

„Das ist Nandi, der Stier von Shiva“, flüsterte Jarmila Sin zu. „Firuz scheint sich ja richtig zu fürchten, wie er dreinschaut! Dabei sollte man doch erwarten, dass gerade er auf die Kraft von Allah vertraut!“

„Mach dich nicht über ihn lustig“, wisperte Sin zurück. „Schließlich ist er der Kapitän und wenn er will, nimmt er dich nicht mehr mit...“

„Wer sagt dir, dass ich überhaupt weiter mit euch fahre?“

„Du bleibst hier?“

„Ich komme von hier, Sin.“

„Ja, aber...“

„Sag bloß, du würdest mich vermissen.“

Sin zuckte mit den Schultern. Dann nickte er. „Doch, ich glaube schon.“

In diesem Moment begann der Herrscher zu sprechen und das war natürlich der Augenblick, in dem alle anderen zu verstummen hatten. Selbst eine vorlaute Diebin und ein Schiffsjunge.

Da alle sich in diesem Augenblick hinknieten, tat auch Sin dies. Jarmila hielt den Kopf dabei gesenkt und Sin tat es ihr gleich.

König Rajaraja sprach mit tiefer, melodiöser Stimme. Und auch wenn Sin natürlich nicht ein einziges Wort zu verstehen vermochte, so klang es doch angenehm.

Branagorn übersetzte seine Worte, sodass alle sie verstehen konnten.

„König Rajaraja sagt, dass wir unserem Herrn, dem Kalifen Grüße ausrichten sollen.“

„Dem Kalifen geht es sehr schlecht“, eröffnete Abdul und Branagorn übersetzte dies sogleich in die Sprache des Chola-Reichs. „Er braucht dringend eine Medizin, die aus den Eiern des Riesenvogels Rock gewonnen wird. In dieses Land müssen wir segeln und hoffen rechtzeitig zurückzukehren, um unserem kranken Herrscher noch helfen zu können.“

„Die Götter mögen eurem Herrscher zur Seite stehen“, übersetzte Branagorn die Worte von König Rajaraja. Sin musste sich Mühe geben, ein Grinsen zu unterdrücken, da das in diesem Moment wohl kaum angemessen gewesen wäre. Wie absurd war das denn! Der Herr aller Rechtgläubigen und Nachfolger des Propheten Mohammed sollte auf das Glück irgendwelcher fratzengesichtiger Götzen angewiesen sein! Das Gesicht des strenggläubigen Kapitäns Firuz zeigte einen Ausdruck des Entsetzens. Aber glücklicherweise enthielt er sich irgendeiner Bemerkung, sodass es nicht zu einer diplomatischen Katastrophe kam.

„Es tut mir leid, dies zu hören“, sagte König Rajaraja.

„Und uns tut es leid zu hören, dass Euer Reich in einen Krieg verwickelt ist“, sagte Abdul.

Rajaraja lächelte. „Das braucht dir nicht leid zu tun. Ich habe diesen Krieg schließlich begonnen, um zusätzliches Land zu erobern. Inseln, die wichtig sind, um die Seestraßen zu kontrollieren. Leider stoße ich auf erheblichen Widerstand.“

„Die Meeresstraßen zu den Ländern der Menschen mit den geschlitzten Augen sind angeblich von den Kriegern von Sri Vijaya versperrt worden“, sagte Abdul. „Zumindest haben wir das gehört.“

„Zumindest gilt dies für unsere Schiffe“, nickte Rajaraja. Er zuckte mit den Schultern. „So wird man in meinem Reich eine Weile ohne Seide und Jade auskommen müssen. Auch wenn die Händlergilden darüber nicht erfreut sind, wird das nicht dafür sorgen, dass ich vor der Zeit graue Haare bekomme. Aber das heißt nicht, dass ich nicht Verbündete gebrauchen könnte!“

„Wir werden Euren Wunsch bei unserer Rückkehr gerne dem Kalifen vortragen“, sagte Abdul aus Cordoba. „Möglicherweise schickt er Euch eine Kriegsflotte, wenn Ihr dazu beitragt, sein Leben zu retten.“

Der Herrscher des Chola-Reichs schien einen Augenblick darüber nachzudenken. Auf seiner bis dahin vollkommen glatten Stirn erschien eine tiefe Furche. Aus irgendeinem Grund schien ihm der Gedanke nicht zu behagen, eine Flotte des Kalifen in seine Gewässern zu wissen.

Und Sin fragte sich, wie Abdul aus Cordoba überhaupt so ein Versprechen unterbreiten konnte! Nicht einmal die Piraten bei Hormus ließen sich doch offenbar von der Macht des Kalifen beeindrucken, wie sich gezeigt hatte. Große Teile des Reiches regierten sich selbst und erkannten nur noch die Oberhoheit des Herrn aller Gläubigen an – aber wären wohl kaum bereit gewesen, ihm Schiffe und Männer für eine Kriegsflotte zu stellen!

Doch Abdul schien darauf zu setzen, dass man im Reich von König Rajaraja nicht so genau über diese Dinge informiert war.

Der König rieb sich das Kinn.

Er dachte in diesem Moment wohl darüber nach, wie glaubwürdig das Versprechen von Abdul aus Cordoba war. Und zudem wog er ab, was schlimmer war: Eine Flotte von Arabern, die man vielleicht schlecht wieder los wurde und die gewiss noch weitere Gegenleistungen verlangen würden, wenn sie für das Chola-Reich kämpften oder die Dinge einfach so treiben zu lassen und für eine Weile hinzunehmen, dass kein Chola-Schiff mehr die Seestraßen zwischen den Inseln passieren konnte.

„Ich bin ein großer Bewunderer des Kalifen“, sagte er. „Und ich bewundere die Gelehrsamkeit und die Wissenschaft in seinem Reich!“ Er sprach ein paar Worte auf Persisch, um das zu unterstreichen. Offenbar glaubte er, dass Persisch die Sprache des Kalifenreiches war – und nicht Arabisch. Dass viele Bücher auf Persisch verfasst waren, stimmte schon. Und dass Persisch die bevorzugte Sprache der Gelehrten zwar auch. Das war selbst Sin, dem Sohn eines Lastenträgers bekannt, der sich noch gut daran erinnerte, wie sein Vater davon erzählt hatte, zusammen mit zwei Dutzend anderen Lastenträgern in Bagdad eine Bibliothek mit ausschließlich persischen Schriften eingeräumt zu haben. Es waren so viele Bücher gewesen, dass die Wände eines großen Hauses gefüllt und nicht ein einziges Wandstück freigelassen hatten. Und Sin erinnerte sich auch noch daran, dass die Gelehrten, die diese Bibliothek eingerichtet hatten, sich untereinander auf Persisch unterhalten hatten. Und er war das Gefühl nicht losgeworden, dass sie in allen, die diese Sprache nicht verstanden, lediglich dumme Untergebene sahen. Arabisch-sprechende Beduinenabkömmlinge, die gut genug dafür waren, Lasten zu tragen, dass Schwert zu führen oder Schafe und Ziegen zu hüten. Vielleicht auch noch, um eine Dau zu segeln – aber ganz bestimmt nicht dafür bestimmt, Bücher zu lesen und Gelehrte zu sein.

Der König machte ein Zeichen, womit er Abdul erlaubte, sich von den Knien zu erheben. Die anderen mussten aber weiterhin auf ihren Knien verharren.

Sin taten sie schon weh. Aber das musste man eben in Kauf nehmen, wenn man schon die Gelegenheit bekam, einen Königshof von innen zu sehen. Sin ließ etwas den Blick schweifen. Ja, sein berühmter Namensvetter hatte nicht zuviel versprochen. Die kunstvoll gestalteten Gebäude, die diesen Garten umgaben, waren schon ein einzigartiger Anblick. Und der Garten war von erlesenem Geschmack. Man hatte die Farben der Blumen genau aufeinander abgestimmt und wenn man genau hinsah, dann entdeckte man überall die aus Stein gehauenen Gestalten der vielen Götter, die in diesem Land verehrt wurden. Die meisten von ihnen besaßen viele Arme und viele Gesichter. Aber ist das nicht nur ein Abbild des Lebens?, dachte Sin. Nicht nur Götter haben verschiedene Gesichter, dass es manchmal sehr verwirrend sein kann.

Sin wandte etwas den Kopf und bemerkte, dass Sindbad der Seefahrer mit einem ziemlich verträumt wirkenden Gesichtsausdruck ebenfalls die Gartenanlagen bewunderte.

Den überaus komplizierten Verhandlungen, die Abdul aus Cordoba gerade führte, schien er überhaupt nicht zuzuhören. Warum auch? War nicht Abdul derjenige, den der Kalif mit dem Brief eines Gesandten ausgestattet hatte?

„Wir haben gehört, dass in Eurem Palast wertvolle Seekarten über die Gewässer der weiter östlich gelegenen Länder aufbewahrt werden“, sagte Abdul nun und entweder Branagorn hatte die Worte nicht ganz passend übersetzt, oder aber dem König gefiel es nicht, dass sich die Kunde vom Vorhandensein dieser doch eigentlich geheimen Karten offenbar schon weit herumgesprochen hatte.

„So, davon habt ihr gehört...“, übersetzte Branagorn die nachdenklichen Worte des Königs. „Anscheinend hat mein Palast gute Ohren und ich sollte meine Untergebenen anweisen, die Dienerschaft sorgfältiger auszuwählen. Vielleicht sollte ich sogar nur noch Taubstumme beschäftigen...“

„Wir suchen das Land des Vogels Rock“, fuhr Abdul fort. „Sindbad der Seefahrer hat es einst betreten, als er dort strandete und ihn der Riesenvogel aus seiner Lage befreite. Aber natürlich ist es auch für ihn nicht so leicht, den Weg dorthin zurück zu finden. Und Eure Karten, hoher Herr, können uns dabei von unschätzbarem Wert ein.“

Während er dies sagte, deutete Abdul auf Sindbad den Seefahrer.

König Rajaraja ging nun auf den vielgerühmten Helden der Meere zu. Er machte ein Zeichen, mit dem er nun auch ihm bedeutete, sich zu erheben. „Sindbad der Seefahrer... Ich habe viel von dir gehört.“

„Das ist zuviel des Ruhms für mich“, sagte Sindbad, nachdem er sich erhoben, aber noch einmal vor dem König verbeugt hatte.

„Die arabischen Händler, die unserer Küste anfahren, erzählen von dir. Und in den Häfen werde die Geschichten über dich weiter und weitererzählt.“

„Eines Tages wird sie die ganze Welt kennen, fürchte ich. Aber es war nie meine Absicht, so eitel im Licht der Aufmerksamkeit zu stehen.“

Seltsam, dachte Sin. Als du in Bagdad von deinen Erlebnissen erzählt hast, hatte ich einen ganz anderen Eindruck! Es wirkte vielmehr so, als hättest du gar nicht genug Aufmerksamkeit bekommen können.

Aber Sin kam zu dem Schluss, dass sein berühmter Namensvetter dies vermutlich wohl nur deshalb behauptete, weil er dem großen Herrscher des Chola-Reichs gegenüber bescheiden erscheinen wollte.

Und darin wirkte er vollkommen überzeugend, wie Sin überrascht feststellte.

„Es ist mir eine Ehre, dich kennen zu lernen, Sindbad“, sagte der König. „Du hast ungewöhnliche Dinge erlebt und musst deshalb auch ein ungewöhnlicher Mann sein. Ich würde gerne mehr von deinen Erlebnissen hören...“

„Bedauerlicherweise werden wir nicht lange in Eurer Stadt verweilen können, hoher Herr“, erwiderte Sindbad. „Das einzige, was mir im Moment am Herzen liegt, ist die Gesundheit unseres Kalifen. Seinetwegen sind wir aufgebrochen. Als mich der Riesenvogel Rock davontrug, habe ich mir natürlich nicht alle Einzelheiten und Landmarkierungen merken können. Ich war schon froh, dass er mich nicht fallen ließ und ich zu Tode stürzte.“

„Es ist dein Wunsch, dass ich euch die Karten überlasse, die in meinem Palast aufbewahrt werden?“, fragte Rajaraja. „Wie kommt ihr dazu, anzunehmen, dass ihr ausgerechnet durch meine Karten einen Weg in das Land dieses rätselhaften Vogels zu finden vermögt?“

„Wir vermuten es einfach“, sagte Sindbad. „Und ehrlich gesagt, würden wir jede noch so unwahrscheinlich erscheinende Möglichkeit in Betracht ziehen...“

„Dann seid ihr wohl ziemlich verzweifelt!“

„Verzeiht, wenn ich das Wort ergreife“, sagte nun Abdul aus Cordoba und Branagorn übersetzte seine Worte getreulich. „Aber wir haben Zeichnungen des Vogels Rock angefertigt. Zeichnungen, die Euch vielleicht verdeutlichen, was das für ein Geschöpf ist.“

„So? Mich würde es interessieren, diese Zeichnungen zu sehen“, erklärte König Rajaraja.

Abdul aus Cordoba schien genau diese Antwort erwartet zu haben. Er machte jedenfalls ein zufriedenes Gesicht und nickte Ibn Sina zu, der die Zeichnungen unter seiner Kleidung hervorholte, die nach Jarmilas Angaben angefertigt worden waren.

Etwas ungeschickt und noch immer kniend übergab Ibn Sina die Blätter.

Der Herrscher sah sie sich nacheinander an. Die Furche auf seiner Stirn wurde dabei immer tiefer.

„Das ist Garuda!“, erklärte er. „Der Vogelgott Garuda!“

„Nun, da es in Eurem Land üblich ist, Affen und Kühe zu verehren, so mag es in einem anderen üblich sein, Vögel für heilig zu halten“, sagte Abdul daraufhin.

Der König achtete jedoch nicht weiter auf ihn. Stattdessen rief er ein paar Befehle, die so kurz und knapp waren, dass Branagorn Mühe hatte, die richtige Übersetzung zu finden. Der König rollte die Zeichnungen zusammen und ging - gefolgt von mehreren Wächtern und Dienern schnellen, energischen Schrittes davon.

Weitere Wächter redeten unterdessen auf die mit Ausnahme von Abdul und Sindbad noch knienden Gäste ein.

„Was ist da jetzt los?“, wandte sich Sin an Jarmila. „Was wollen die von uns?“

„Wir sollen ihnen folgen“, erklärte sie.

„Heißt das, wir sind jetzt Gefangene oder so etwas?“

„Das heißt, dass wir jetzt einfach tun müssen, was uns gesagt wurde“, erwiderte Jarmila etwas schroffer, als er es sonst von ihr gewohnt war. Sie wirkte angespannt. Das konnte sich Sin nur so erklären, dass sie die Lage auch nicht so recht einzuschätzen vermochte.

So erhoben sie sich, ließen sich bereitwillig von den Wächtern in die Mitte nehmen und folgten ihnen ins Innere des Palastes.

In einem großen Saal hatte König Rajaraja die Zeichnungen auf einen Tisch gelegt und ausgebreitet.

Diener brachten aufgerollte Pergamente herbei und rollten sie anschließend aus.

„Das sind sie“, flüsterte Jarmila. „Die Karten! Jetzt kann man sehen, dass ich mir nicht einfach nur irgend etwas ausgedacht habe!“

Einer der Wächter bedachte das Mädchen daraufhin mit einem tadelnden, eisigen Blick. Jarmila verstummte. Es war offenbar sehr unhöflich, in einer solchen Situation das Wort zu ergreifen. Zumindest, so lange der König selbst noch nichts gesagt hatte.

„Wer ist dieses Mädchen?“, fragte Rajaraja schließlich. Er wartete gar nicht erst ab bis Branagorn seine Worte übersetzt hatte, sondern wandte sich direkt an Jarmila. „Du verstehst mich doch, oder? Die Bindi an deinen Handgelenken und auf deiner Stirn habe ich sehr wohl bemerkt.“

Jarmila schluckte.

Vielleicht überlegte sie, ob sie sich doch besser unauffälliger verhalten hätte. Aber nun war es zu spät. Der König war auf sie aufmerksam geworden.

„Ein Straßenkind“, erklärte Branagorn. „Sie ist bei uns, weil sie uns hilft, Eure Sprache besser zu verstehen.“

„Sprichst du sie nicht gut genug?“, wunderte sich Rajaraja mit Blick auf Branagorn.

„Gerade wenn es um fremde Worte geht, hören zwei Ohrenpaare mehr als eines“, gab Branagorn zu bedenken.

„Mag sein.“ Der König wandte sich den Karten zu. „Seht her und werft einen Blick auf die Karten, die die Seewege nach Osten beschreiben. Auch in das Land des Vogels...“

Rajaraja deutete mit dem Finger auf einen bestimmten Punkt. „Das ist das Land des Khmer-Volkes. Wie mir Seefahrer berichtet haben, gibt es dort unter anderem Statuen des Vogelgottes Garuda.“

„Aber das ist nicht Garuda!“, entfuhr es Jarmila, obwohl sie eigentlich einen sehr schlechten Standpunkt hatte, um das überhaupt sehen zu können.

„Du scheinst außerordentlich gute Augen zu haben“, stellte König Rajaraja fest. „Aber du hast natürlich recht. Der Vogel Garuda wird in unseren Tempeln anders dargestellt. Zumeist ist er ein Mischwesen aus Mensch und Vogel. Mönche haben die Kunde von unseren Göttern in viele Länder des Ostens getragen und auch unsere Feinde in Sri Vijaya verehren Brahma, Shiva und und Vishnu. Auch das Volk der Khmer hat unsere Lehren angenommen, aber anscheinend haben sie in manchem eine andere Vorstellung vom Aussehen der Gottheiten.“ Rajaraja lächelte. „Muslime, Christen und Juden verbieten ihren Anhängern, sich ein Bild des Göttlichen zu machen. Ich kann sie auf der einen Seite verstehen – aber auf der anderen denke ich manchmal, dass sie es sich nur sehr einfach machen und die Mühen scheuen, das darzustellen, das sich eigentlich niemand vorstellen kann!“

„Wenn das also Euer Vogelgott Garuda ist - heißt das dann, es gibt gar keine Riesenvögel im Land der Khmer?“, fragte Abdul aus Cordoba und seinem Gesicht war das Entsetzen anzusehen.

„Das ist nicht gesagt“, meinte Rajaraja. „Wie gesagt, ich weiß nur, was mir Seefahrer berichtet haben. Und diese Karten stammen von Männern, die zum Hof des Königs der Khmer gesegelt sind, die eine Stadt an einem künstlich angelegten See errichtet haben, die ein einziger Tempel sein soll. Ein Tempel, wie es ihn nirgendwo sonst auf der Welt gibt. Und die ganze Stadt, die angeblich mehr als tausend mal tausend Bewohner hat, von denen die allermeisten dort als Baumeister, Steinmetze, und Handwerker arbeiten, um die Götter zu verherrlichen. Angeblich gibt es drei Ernten Reis im Jahr, und man lässt Flüsse und Seen nach Belieben fließen oder sich füllen, sodass die Erträge so groß sind, wie man es sich kaum vorzustellen vermag.“

„Bei Allah, er muss vom Paradies reden“, murmelte Firuz der Perser. Er sprach diese Worte zu sich selbst und in seiner eigenen Sprache, bedachte dabei aber nicht, dass König Rajaraja diese Sprache zumindest ein wenig beherrschte.

„Angkor heißt diese Stadt – und wenn nicht Männer dort gewesen wären, denen ich absolut vertraue, dann würde ich auch denken, dass es sich um Schilderungen des Paradieses handelt“, sagte Rajaraja.

„Nun, ich glaube nicht, dass Angkor der Ort ist, an dem der Vogel Rock lebt“, sagte Sindbad. „Aber da dieses ja irgendwo bei den östlichen Inseln liegen muss, wie ich annehme, ist es ja durchaus möglich, dass man in Angkor mehr darüber weiß.“

„Ja, das halte ich durchaus für möglich“, sagte König Rajaraja mit einem hintergründigen Lächeln.

Sin bemerkte dieses Lächeln, aber er konnte es sich nicht so recht erklären. Es wirkte auf ihn so, als wäre genau das eingetreten, was er erwartet hatte.

Doch noch konnte Sin sich keinen Reim darauf machen.

„Und es ist auch möglich, dass diejenigen, die die Statue des Garuda gefertigt haben, sich von der Natur eines Riesenvogels inspirieren ließen, der ihnen vielleicht auf einer benachbarten Insel begegnet ist“, meinte Sindbad.

„Auch das halte ich für wahrscheinlich“, bestätigte König Rajaraja und sein Lächeln wurde noch zufriedener und breiter. „Ohne diese Karten werdet ihr jedoch kaum den Weg nach Angkor finden – selbst dann nicht, wenn euch die Herren von Sri Vijaya die Seestraßen passieren lassen, was sie tun werden. Schließlich halten sie nur unsere Schiffe auf – oder Schiffe, die Waren geladen haben, von denen bekannt ist, dass wir sie brauchen.“

„Was müssen wir für Euch tun, dass Ihr uns die Karten überlasst?“, fragte Sindbad, woraufhin das Lächeln des Königs so breit wurde, dass seine makellosen Zähne hervorblitzten.

„Ich sehe, wir verstehen uns, vielgerühmter Sindbad“, sagte der König. „Es ist ganz einfach. Ich möchte den Herrscher von Angkor als Verbündeten gegen Sri Vijaya gewinnen. Er wird eher bereit sein, mir zu helfen, als der Kalif, wie ihr vorgeschlagen habt. Allerdings müsste ihm eine Botschaft überbracht werden, um ihn zu überzeugen. Und da meine eigenen Seeleute nicht bis zum Reich von Angkor vorzudringen vermögen, wäre das eure Aufgabe. Ihr müsstet nur ein Pergament zunächst vor den Augen der Krieger von Sri Vijaya verbergen und später in Angkor dem König übergeben. Dafür bekämt ihr diese Karten.“

„Ein guter Handel, wie ich finde“, sagte Sindbad und wandte sich an Abdul aus Cordoba. „Ich will dir natürlich nicht vorgreifen, Botschafter des Kalifen, aber so wie ich die Dinge sehe, ist nichts dagegen einzuwenden!“

„Natürlich nicht“, meinte Abdul. Und sein Lächeln war fast so breit wie das des Königs.

Der Handel, den König Rajaraja vorgeschlagen hatte, war fast genauso gut wie der, auf den Abduls Plan hinausgelaufen wäre und bei dem Rajaraja das Eintreffen einer großen arabischen Flotte versprochen worden wäre. Einer Flotte, die wahrscheinlich nie eingetroffen wäre, sodass man sich auf viele Jahre hinaus im Chola-Reich nicht mehr hätte blicken lassen können.

Demgegenüber war die jetzt gefundene Lösung sogar vorzuziehen.

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ENDE Teil 2

Das große Buch der Seemänner: 13 Seefahrer-Romane

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