Читать книгу Thriller Spannung ohne Ende! Zehn Krimis - 2000 Seiten - Alfred Bekker - Страница 116

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Das Vereinshaus lag mitten in der Anlage. Der Hauptweg verbreiterte sich zu einem kleinen Platz, der ringsum von Hecken eingefaßt war. In der Mitte, unter alten Bäumen, waren mehrere Menschen beschäftigt. Auf der einen Seite gab es eine glatte Fläche, die sicherlich zum Tanzen gedient hatte. Der Rest des Schattenrunds war mit Tischen und Stühlen vollgestellt. Eine junge Frau in Jeans und Bikini-Oberteil räumte Gläser und Aschenbecher zusammen, hielt aber inne, als sie Lewohlt bemerkte. Die Tür und alle Fenster des grau verwitterten Holzhauses standen weit offen. Neben der Tür stapelten sich Bier- und Sprudelkästen; im Haus spülte eine Grauhaarige. Zwei Männer packten Plastikteller und -bestecke in blaue Müllsäcke; ein dritter verstaute leere Weinflaschen in bereitstehende Kartons. Einen Moment glaubte Lewohlt, den fettigen Duft von Bratwürstchen zu riechen. Jemand hatte angefangen, den gemauerten Grill rechts neben dem Haus zu reinigen und die Asche zusammenzukratzen. Zwei vom Ruß schwarze Wischtücher trockneten in der Sonne.

Ein breitschultriger Mann trat ihm entgegen, das Gesicht grau vor Müdigkeit.

«Guten Tag», grüßte Lewohlt höflich. «Mein Name ist Lewohlt, Kriminalpolizei. Ich suche Herrn Harald Wolter.»

«Der bin ich», antwortete der Mann bedrückt. «Guten Tag, Herr Kommissar.»

«Sie wissen, weshalb ich komme?»

«Ja, wir haben’s schon gehört. Wegen der Lei... der Toten in Breckers Garten. Schreckliche Geschichte. Wie konnte das nur geschehen?»

«Das versuche ich gerade herauszufinden», gab er freundlich zurück. «Können wir uns einen Moment unterhalten?»

«Natürlich, bitte, nehmen Sie doch Platz. Etwas zu trinken?»

«Einen Sprudel würde ich gerne nehmen.»

«Ja, sicher. Martha!» rief er ins Haus hinein, und die Grauhaarige, die wie alle zugehört hatte, nickte. «Wir bleiben besser draußen, im Haus ist es entsetzlich stickig. Stört es, wenn wir...»

«Nein. » Er schüttelte zwei Ehepaaren die Hände. Ratjens hieß das ältere Paar, Grimm das jüngere; Ratjens führte die Kasse des Vereins, Grimm bezeichnete sich als Schriftführer. Lewohlt notierte sich ihre Namen und Anschriften und registrierte, daß alle unwillkürlich ernster wurden. Seine Sprudelflasche war vor Kälte beschlagen. Die Männer tranken Bier und sahen auch so aus, als hätten sie es nötig. Die beiden Frauen teilten sich eine Flasche Wein, und er beobachtete schmunzelnd, daß die Grauhaarige erst kleine Zettel für die Kasse schrieb, bevor sie Getränke und Gläser holte.

«Wir hatten unser Sommerfest», entschuldigte sich Wolter. «Es ist sehr spät geworden.»

«Und feucht», ergänzte Helga Grimm. Trotz ihrer luftigen Bekleidung glänzten Schweißperlen auf Schultern und Ausschnitt.

«Das hab ich schon gehört», sagte Lewohlt geduldig. «War’s voll?»

«Und wie. Bestimmt 300 Leute.»

«Alles Mitglieder dieses Kleingarten-Vereins?»

«O nein. Jeder durfte Freunde und Bekannte mitbringen. Oder auch -» er grinste breit - «Freundinnen und Bräute.»

«So können Sie mir gar nicht sagen, wer alles gestern hier gefeiert hat?»

«Nein, leider nein. Zumindest nicht auf Anhieb», verbesserte er schnell. «Wir müßten herumfragen, wer wen mitgebracht hat.»

«Hm. Aber es wäre auch möglich, daß später Wildfremde mitgefeiert haben?»

«Sicher, später schon. Gegen Mitternacht, da hätte dazukommen können, wer wollte.»

«Haben Sie denn fremde Gesichter gesehen?» Alle nickten, und Helga Grimm lachte plötzlich auf, wobei sie Lewohlt zuzwinkerte: «Nicht nur gesehen, auch betanzt.»

«Wann ging’s gestern los?»

«Offiziell um 20 Uhr, aber ich würd' denken, der Hauptschwung kam zwischen neun und halb zehn.»

«Und wie lange hat es gedauert?»

« Also, die Musik hat um drei Uhr aufgehört.» Zwei Mitglieder, so erfuhr Lewohlt, hatten ihre Stereo-Anlagen aufgebaut. Nach drei Uhr bauten sie die Geräte wieder ab und packten sie in einen Lieferwagen.

«Konnten Sie die Anlage nicht über Nacht stehen lassen? Oder in das Haus bringen?»

Ohne zu zögern widersprach Wolter: «Ausgeschlossen, Herr Kommissar. Verstehen Sie, wir können das Gelände ja nicht abschließen, wir haben immer wieder Fremde hier, und das Haus ist schon mehrmals aufgebrochen worden. Wir raten allen unseren Mitgliedern, keine Wertsachen in den Lauben zu lassen. Wir haben auch das eingenommene Geld nicht hier gelassen, nichts von Wert.»

«Sie waren also die letzten?»

«Ja, wir fünf.»

«Und wann sind Sie gegangen?»

«Kurz nach vier Uhr, würde ich meinen.»

Die anderen stimmten zu.

«Um Viertel nach vier waren die Gärten also leer?»

«Nein, gar nicht», meinte Wolter überrascht. «Bei diesem schönen Wetter übernachten viele in den Lauben. Hier ist es angenehmer und vor allem kühler als in dem Backofen von Innenstadt.»

«Ich verstehe», murmelte er und trank den Sprudel aus. «Herr Wolter, wie kommt man eigentlich in die Anlage? Wie viele Eingänge hat sie?»

«Es gibt zwei Haupteingänge, im Westen an der Armhäuserstraße und im Osten an der Walddorfallee. An den beiden Eingängen laufen die beiden Hauptwege zusammen - Sie müssen sich die Anlage wie ein langgestrecktes Rechteck vorstellen, die Schmalseiten im Osten und Westen.»

«Wer dort die Eingänge benutzt, wird nicht kontrolliert?»

«Nein, Sie wissen vielleicht, daß wir nach dem Gesetz die Anlagen öffnen mußten.» Einen Moment funkelte er Lewohlt aufgebracht an, als sei der dafür verantwortlich. «Seitdem treiben sich hier - nun ja, nein, es gibt keine Kontrolle.»

«Andere Aus- und Eingänge gibt es also nicht?»

«Doch, doch. Im Norden können Sie einen Gehweg benutzen, der am Rand der Anlage vorbeiführt. Hinter den Gärten der Häuser an der Nockenstraße vorbei. Den kennen aber die wenigsten.»

«Und im Süden?»

«Da gibt’s einen Ausgang direkt in den Rothenbruch.»

«Haben Sie einen Plan der Anlage? Und eine Liste der Mitglieder, aus der hervorgeht, wer welchen Garten gepachtet hat?»

«Schon, aber nicht hier.» Wolter schien ärgerlich. «In dieser Bruchbude kann ich ja nichts aufheben. Aber in meinem Büro hab ich alles.»

«Gut, das erledigen wir dann morgen.» Leise stöhnend holte er die beiden Bilder aus der Tasche. «Kennt jemand von Ihnen diese junge Frau? War sie gestern auf dem Fest?»

Die Bilder machten die Runde, zögernd nahm sie jeder entgegen, und keiner konnte ein leichtes Erschrecken unterdrücken, obwohl das Gesicht wenig verriet - eine schlafende Frau mit einer Platzwunde unter dem linken Auge, einer kleinen Wunde, die nicht nach Gewalttätigkeit aussah. Als erster schüttelte Wolter den Kopf; die anderen schlossen sich irgendwie erleichtert an, und Frau Ratjens urteilte schließlich: «Ich kann’s natürlich nicht beschwören, aber ich würde sagen, sie war gestern nicht auf dem Fest. Oder was meinst du, Heinz?»

Ihr Mann stimmte zu: «Nein, Herr Kommissar, gefeiert hat sie nicht mit uns. Und sonst ...» Hilflos brach er ab. Auch Helga Grimm verneinte: «Sie wäre aufgefallen.»

Lewohlt sammelte die Bilder ein. «Wenn sie hier nicht gefeiert und sich nicht zufällig in die Anlage verirrt hat, bleibt noch eine dritte Möglichkeit.»

Wolter nickte widerwillig: «Die Freundin eines Mitglieds, nicht?»

«Sie haben selber gesagt, daß bei diesem schönen Wetter viele hier übernachten.»

«Ja.» Ärgerlich hob er die Bierflasche, aber die war leer. «Ja. Wir sehen das nicht gerne, aber verhindern können wir das nicht.»

«Na schön.» Lewohlt klappte sein Notizbuch zu. «Von Ihnen bekommen wir eine Liste der Mitglieder. Unser Fotograf wird bessere Abzüge machen, die wir herumzeigen können.»

«Wenn Sie wollen, hängen wir sie ans schwarze Brett», bot Wolter an. «Wenn sie wirklich häufiger hier war...»

«Danke», murmelte Lewohlt. Es war wirklich unerträglich heiß, selbst im Schatten. Unvermittelt sagte Helga Grimm leise: «Dabei war es so ein schönes Fest.»

«Auf Wiedersehen», grüßte er alle. Was sollte er der jungen Frau schon sagen? Sie zupfte wieder an ihrem Träger und schaute an ihm vorbei. Daß sie um die unbekannte Tote trauern würde, hatte er nicht erwartet. Gewalt verbreitete Unbehagen, selten Mitleid.

Die Neugierigen harrten noch immer aus. Der junge Polizist grüßte übertrieben höflich und schwitzte, nicht nur wegen der Hitze.

Andy stand auf dem Plattenweg und beobachtete stumm die beiden Männer, die gerade die Leiche in die Wanne legten. Zwei Leute von der Spurensicherung maßen noch den Garten aus, die anderen hatten schon eingepackt, die Nummerschilder waren herausgezogen.

Lewohlt stellte sich neben Andy. «Was Neues erfahren?»

«Nichts.» An ihren knappen Sätzen nahmen sie keinen Anstoß, dazu kannten sie sich zu gut. Jenseits der Hecke entstand Bewegung, als die beiden Träger auf dem Weg erschienen; laute Stimmen erhoben sich, der junge Beamte polterte los, bis sich seine Stimme überschlug. Protest, dann herrschte plötzlich Ruhe. Lewohlt träumte vor sich hin; Andy trat vor Ungeduld von einem Fuß auf den anderen, aber wagte nicht, die Techniker anzutreiben, die in aller Gemütsruhe ihr Werkzeug zusammenpackten. Im ganzen Präsidium war Andy bekannt wie ein bunter Hund und in den meisten Abteilungen unbeliebt, weil er ohne Hemmungen herumschimpfte und in Ehren grau und langsam gewordene Kollegen beleidigte.

«So, wir sind fertig», rief der eine herüber; Andy wollte etwas Bissiges antworten, aber Lewohlt räusperte sich rechtzeitig, und deswegen zogen sie ohne Streit ab.

«Was ist mit der Handtasche?»

«Nichts gefunden.»

«Und die Bilder?»

«Keiner kennt sie. Oder will sie kennen. Komischer Verein, diese Wühlmäuse.» Andy rümpfte die Nase.

«Laß das bloß keinen von den Gärtnern hören! Die vergraben dich glatt im Komposthaufen.»

«Damit meine verrottete Seele den schönen Kompost verdirbt?» Andy kicherte und stieß Lewohlt in die Seite. «Komm, gehen wir, bevor wir Wurzeln schlagen und geerntet werden.»

Lewohlt seufzte. «Aus welchem Bett haben wir dich denn geholt?»

«Du kennst sie noch nicht, Chef. Süßer Käfer. War sehr beeindruckt, als ich ihr erklärte, ich müßte eben mal dafür sorgen, daß der Laden läuft und die Leiche richtig verpackt wird.»

«Aha!» Lewohlt hatte sich längst abgewöhnt, die starken Sprüche seines Adlatus ernst zu nehmen. «Ist sie wenigstens volljährig?»

«Will ich doch stark hoffen. Aber sehr geduldig ist sie nicht.»

«Schon gut, ich hab die Glocke läuten hören. Hau ab, du Unverbesserlicher! Aber morgen früh pünktlich!»

«Das hängt nicht nur von mir ab!» Andy konnte noch aus ganzem Herzen lachen, und Lewohlt grinste unwillkürlich. So unbekümmert war er auch einmal gewesen.

Er hatte noch eine gute Stunde zu tun, Namen und Anschriften zu notieren, mit den Polizisten zu sprechen, die sich in der Anlage umgesehen hatten - nichts Auffälliges, kein Hinweis -, und sich selbst einen Eindruck zu verschaffen. Der Fundort der Leiche war nicht der Tatort, aber weit konnte sie nicht getragen worden sein: Bei den vielen Menschen, die sich gestern abend hier herumgetrieben hatten, wäre das für den Täter ein unvertretbares Risiko gewesen. Sie war auch nicht mit einem Auto transportiert worden. Die beiden Hauptwege, die an den Haupteingängen Ost und West zusammenliefen, waren wohl breit genug für einen Personenwagen, aber an der Armhäuserstraße wie an der Walddorfallee durch je drei umlegbare Pfosten gesperrt.

Für alle Fälle ging er noch einmal zum Vereinshaus zurück; die fünf arbeiteten immer noch und richteten sich halb dankbar für die Unterbrechung, halb besorgt auf. Nein, Wolter war sich seiner Sache sicher: Die Pfosten hatten gestanden, fest verschlossen, «den einzigen Schlüssel habe ich in der Tasche», und waren nur ganz kurz umgelegt worden, damit die Lieferwagen hinein- und herausfahren konnten. Ja, weil er seine Pappenheimer kannte, hatte er an der Armhäuserstraße selbst aufgeschlossen und sogar für die kurze Zeit, in der die Autos entladen wurden, den Mittelpfosten aufgerichtet.

«Sehr schön, vielen Dank, Herr Wolter.»

Der Rothenbruch war ein feuchtes, stellenweise sumpfiges Tal, durch das sich der Rothenbach schlängelte. Von den deutlich höher gelegenen Gälten sah er auf Weiden, krumme Birken und graubraunes Schilf; das Tor in den Bruch war verrostet und klemmte.

Im Norden fand er den Ausgang erst nach einigem Suchen. Einen Weg konnte man das kaum nennen, eher eine Lücke zwischen Zäunen und Hecken, höchstens einen Meter breit und stellenweise noch enger. In der Nockenstraße herrschte um diese Tageszeit kein Verkehr. Zwei- und dreistöckige Villen aus den zwanziger Jahren, nicht gerade ärmlich, aber auch nicht glanzvoll, dafür alle auf heute unbezahlbar großen Grundstücken. Von hier bis zu Breckers Garten waren es wenigstens vierhundert Meter. Und wenn er die Leiche nur loswerden wollte, hätte der Täter sie viel früher in einen Garten werfen können. Im Moment sah es so aus, als liege der Tatort innerhalb der Anlage.

Lewohlt gähnte und rieb sich das schlecht rasierte Kinn. Gestern nacht hatte er zu lange gelesen; ausgehen konnte er nicht, weil er freiwillig die Bereitschaft übernommen hatte. Sechs seiner Leute, Familienväter mit schulpflichtigen Kindern, hatten Urlaub. Die Schule begann am Montag wieder, wenn es nicht gleich hitzefrei gab. Für die Rückkehrer hatten sich am Freitag drei andere in den Urlaub verabschiedet. Eigentlich waren nie alle Leute an Deck, aber mehr Planstellen wurden ihm nicht zugebilligt. Zwar jammerte er darüber wie alle Referatsleiter, aber so ganz ehrlich war er nicht dabei: Personalmangel war eine feine Ausrede dafür, dem Schreibtisch zu entfliehen und draußen zu recherchieren. Das gefiel ihm ohnehin besser, und für richtiger hielt er es auch. Manche Hauptkommissare leiteten ihre Referate nur noch vom Schreibtisch aus und hatten seit Monaten keinen Tatort mehr gesehen.

Nachdenklich schaute er sich um. Es mußte unbedingt bald regnen.

Über das Polizeipräsidium ärgerte sich Lewohlt jedesmal, wenn er in die Tiefgarage fuhr: ein moderner Hochbau, gerade sechs Jahre alt, viel Glas und noch mehr Beton, im Sommer heiß und im Winter kalt. An der Fassade bröckelte es bereits sichtbar. Aufgeteilt war dieses Prachtwerk, an dessen Entwurf kein Polizist mitgearbeitet haben konnte, in winzige Zimmerchen nach dem Fenster-Achsen-Prinzip. Eine Sekretärin hatte zum Beispiel Anspruch auf eine Achse, ein Sachbearbeiter (Gruppe IV, vorwiegend selbständig arbeitend) auf zwei, er als «Referatsleiter» auf vier. So oder so blieben es entsetzliche Schläuche mit grau gestrichenen Betonwänden (Bilder mußten geklebt werden), Einbauschränken mit scharfen Kanten neben den Türen und Neonleuchten. Natürlich gab es keine Verbindungstüren, nach dem Motto: Jeder für sich in seiner Klause, und der zu schmale Flur für uns alle. Der allgemeine Protest hatte wenigstens in diesem Punkt gefruchtet: Noch während des Baus begann der Umbau, wurden einige Verbindungstüren durchgestemmt. Nicht ändern ließ sich freilich der Geburtsfehler dieses Bastards, die vielen Innenräume ohne Tageslicht, in denen die Klimaanlage pausenlos rauschte. In einem ebenso hartnäckigen wie beschimpfungsreichen Streit mit der Belegabteilung hatte Lewohlt durchgesetzt, daß seine Mitarbeiter alle Zimmer mit Fenstern bekamen und daß sich diese Fenster tatsächlich auch öffnen ließen. Dafür wurden die Vernehmungszimmer nach innen verlegt, und das Gefühl des Eingeschlossenseins hatte manchen hartnäckigen Kunden zermürbt. Die mit mattweißen Blechen verkleideten Innenwände züchteten Klaustrophobien. Optimal untergebracht waren von Anfang an nur die Computer und Terminals; das ganze Haus steckte voller Elektronik, und nach deren Bedürfnissen hatten sich alle zu richten.

Einige wenige - unter ihnen Lewohlt - taten es nicht.

Im Präsidium hielt sich hartnäckig das Gerücht, eine Schweizer Firma, spezialisiert auf Management-Consulting, habe nicht nur den Bau entworfen, sondern auch das Organisationsschema der Polizei. Daran glaubte Lewohlt nicht: Die Organisation mußte von der Firma stammen, die den gesamten elektronischen Schmutz geliefert hatte. Ihre Monteure waren mittlerweile ein fester Bestandteil des Hauses geworden. Die Systeme stürzten immer noch ab oder produzierten Blödsinn, was auch daran liegen mochte, daß ständig Neues eingebaut und erprobt wurde.

Vom zehnten Stock aus hatte man einen ungestörten Blick auf die ganze Innenstadt, über deren Dächern nun schon seit Wochen die Hitze flimmerte. Wenn er nichts zu tun hatte, stand er oft am Fenster und träumte vor sich hin; das lebhafte Gewimmel war dann weit weg, das ununterbrochene Rauschen des Verkehrs sank herab, bis er es nicht mehr vernahm, und in diesen Minuten gehörte er nicht mehr dazu.

Ein Kaffee wäre gut. Er brauchte jetzt unbedingt einen Kaffee!

Jürgen Fischer kam eine halbe Stunde später in das Zimmer gehinkt. Er sah älter aus als fünfundvierzig. Vor sieben Jahren war er bei einer irrsinnigen Verfolgungsfahrt schwer verunglückt; die Ärzte amputierten ihm das linke Bein unterhalb des Knies und die linke Hand. Sein immer noch volles Haar war restlos ergraut, sein Gesicht zerfurcht. Personalabteilung, Vertrauensärztlicher Dienst und die allmächtige PK, die sich überall einmischende Personalkommission, wollten ihn vorzeitig pensionieren. Mehrere Wochen mußte Lewohlt kämpfen, um ihn zu seinem Stellvertreter zu machen. Sie verstanden sich seitdem ohne viele Worte. Fischers einzige Tochter war wenige Monate nach seinem Unfall tot in einer Bahnhofstoilette aufgefunden worden, neben ihr das zerbrochene Spritzbesteck, mit dem sie sich den goldenen Schuß verpaßt hatte. Der schweigsame Fischer wurde wortkarg. Er war ein gläubiger Katholik, der sich in seiner knappen Freitzeit um straffällige Jugendliche kümmerte. Seine Frau mochte Lewohlt nicht leiden und haßte die ganze Polizei.

«Was ist los, Richard?»

Er berichtete kurz, und Fischer stellte keine Fragen.

«Wer kommt noch?»

«Pedder und Heppel.»

«Gut, dann koche ich mal Kaffee.» Fischer lächelte nur kurz. Überall wurde Personal eingespart, die Kaffee-Küche blieb über das Wochenende geschlossen, und eine Sekretärin für den Sonntagsdienst stand jenseits aller Möglichkeiten.

Jens Peter Peddersen war eine Marke für sich. Bis heute blieb es Lewohlt ein Rätsel, wie Pedder die diversen Prüfungen geschafft hatte, wie er überhaupt zum Polizeidienst angenommen worden war. Die Natur hatte ihn mit 1,95 Meter Körperlänge und jackensprengenden Schultern gesegnet, außerdem mit einer weizenblonden Lockentolle, vor der jeder Friseur kapitulierte, dunkelblauen Augen und einem länglichen, kräftigen Gesicht. Wenn man ihn ansprach, zwinkerte er überrascht, weil man ihn aus anderen Sphären auf die Erde zurückholte. Zehn Sekunden schien er richtig zuzuhören, dann begann er wieder zu träumen. Noch nie hatte es ein Vorgesetzter fertiggebracht, Pedder zur Eile anzutreiben. Auf der Straße war er so unauffällig wie eine Giraffe mit zwei Köpfen, und wenn er dann seine langen Beine vorsichtig, wie auf einem schwankenden Boot, bewegte, drehten sich die Passanten nach ihm um. Nur seine friedlich-verträumte Miene hinderten die Leute daran, ihn nach dem ersten Blick für dumm zu halten, obwohl Pedder alles tat, diesen Eindruck hervorzurufen.

Andy hatte das lange Ende angestaunt: «Mein Gott, ein echter Ostfriese!» worauf Pedder verträumt lächelte. «Willst du etwa bei uns arbeiten?»

«Ich weiß nicht...»

«So, du weißt nicht.» Andy stemmte die Fäuste in die Seite und mußte den Kopf in den Nacken legen. «Du weißt nicht. Is ja prächtig! Wir werden wunderbar Zusammenarbeiten.»

«Meinst du?» Pedder sprach bedächtig und laut, als reiße ihm der Wind die Silben von den Lippen.

«Das meine ich! Weißt du, früher hatte ein ordentlicher Mann seinen Sklaven. Dann seinen Neger. Heute seinen Türken. Ich werde der erste sein, der seinen Ostfriesen hat.»

«Ja?» Pedder war im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen, hatte die See im Alter von achtzehn Jahren zum erstenmal gesehen und wußte nicht einmal genau, wie Lewohlt später herausfand, wo Ostfriesland liegt. Aber er schmunzelte breit und musterte von oben herunter den vorlauten Andy mit sichtlichem Wohlwollen. Und die beiden verstanden sich. Wann immer sie vor Zeugen zusammentrafen, hackte Andy auf ihm herum, kommandierte, schimpfte oder klagte lautstark über die Langsamkeit seines Kollegen. Pedder zwinkerte fröhlich und hob manchmal ehrlich erstaunt die Augenbrauen, wenn sich Andy eine neue Beschimpfung ausgedacht hatte. Er redete nicht gerne und selten in vollständigen Sätzen. Alles in allem schien er das Musterbeispiel dafür abzugeben, wie ein Kriminalbeamter nicht beschaffen sein sollte, doch hinter dieser Teddybären-Gemütlichkeit verbarg sich etwas, das vielen fehlte, nämlich die Fähigkeit, sich in die Gedanken anderer Menschen hineinzu versetzen. Schon mancher ihrer Kunden hatte geglaubt, das todsichere Versteck oder die unschlagbare Masche gefunden zu haben, bis Pedder nachzusinnen begann.

Kriminaloberinspektor Heppel meldete sich zum Dienst, ein unauffälliger, etwas dicklicher Enddreißiger, der sich gerne in seinem Zimmer mit den Terminals, Bildschirmen und sonstigen Geräten vergrub.

Lewohlt brummte: «Wollen Sie einen Kaffee?» und schob ihm seine Notizen hin.

Eine halbe Stunde geschah gar nichts. Die Routine war angelaufen, und zur Routine gehörten auch die langen Pausen. Dann steckte Pedder den Kopf ins Zimmer und gab in seiner silbensparenden Art bekannt: «Alles eingegeben - gleich.»

Widerwillig stand Lewohlt auf, nahm seinen Kaffeetopf mit und schlich in Heppels Zimmer, der sofort murmelte: «Es dauert noch.»

Lewohlt blies geistesabwesend auf seinen heißen Kaffee und döste vor sich hin. So viel friedliche Ruhe gab es selten, und mit jeder Minute kroch die Müdigkeit höher. Dann blinkte ein hellgrünes Viereck auf dem Bildschirm. Heppel tippte eine Zahlenkombination, drückte eine Taste und sagte halblaut: «Es kommt.» Sekunden später erschienen die Daten auf dem Bildschirm, und in solchen seltenen Momenten war auch Lewohlt bereit, die Elektronik gut zu finden.

«Größe 171 cm - Gewicht 58 Kilogramm - geschätztes Alter: 18-20. Blut gr. o pos. - Obdkt. Term. Mont., io.3oUhr, Raum 1, Staatsanw. benachricht. - rieht. Erlbns. beantr.»

«Sieh mal an», brummte Lewohlt, «sie sah älter aus.»

Heppel nickte stumm, hielt mit einer neuen Zahlenkombination die von der Medizinischen Aufnahme übermittelten Daten fest, tippte erneut und fugte damit die Liste der äußeren Merkmale hinzu, die er nach Lewohlts Notizen bereits in den Computer eingegeben hatte, drückte neue Tasten, die Angaben verschwanden, eine Zieladresse tauchte auf, blinkte kurz, bevor sie sich auflöste, ein winziges «wait» erschien links oben, und dann starrten sie auf das dunkle Glas. Im Moment verglich der zentrale Rechner ihre Angaben mit den gespeicherten Daten der als vermißt gemeldeten Personen - zuerst aus der Stadt, dann aus dem Land, zuletzt bundesweit.

«Wir haben sie, Chef.» In Lewohlts Gegenwart sprach Heppel immer leise, aber das war keine Schüchternheit, sondern gegenseitige Abneigung, und weil sie beide darum wußten, behandelten sie sich höflicher als sonst unter Kollegen üblich. Neue Reihen wurden blitzschnell von links nach rechts geschrieben: «Kleinmann, Martina. Hessenstraße 13...» Der Drucker begann zu rasseln, und Lewohlt lehnte sich wieder an die Fensterbank. Der Kaffee vertrieb die Müdigkeit nicht.

Ein anderer Bildschirm wurde hell. Mit Elektronik waren sie phantastisch ausgerüstet, konnten Bilder digital abspeichern und jederzeit abrufen, seit einigen Monaten sogar in Farbe, konnten elektronisch Ausschnitte vergrößern und über einen Apparat, dessen Technik Lewohlt nie kapiert hatte, in Sekundenschnelle als fertige Bilder auf den Tisch zaubern. Neugierig schaute er hin. Ja, das war die junge Frau aus der Kleingartenanlage Rothenbruch.

«Brauchen Sie Positive?»

«Nein, danke.»

Das Drucker-Protokoll beschäftigte ihn. Martina Kleinmann, siebzehn Jahre alt - verblüfft rieb er sich über das Kinn -, kaufmännischer Lehrling. Am Samstag, also gestern, von den Eltern Herbert und Anna Kleinmann als vermißt gemeldet, weil sie in der Nacht von Freitag auf Samstag nicht nach Hause gekommen war. Abgezeichnet vom Revier 18, um 17.15 Uhr. Unterwegs mit einem weißen Damenfahrrad, Marke Ferrier, Gestellnummer 16 A 534. Bekleidet mit weinroten Jeans, einer weißen Bluse und hellbeiger Strickjacke. Hellbraune Lederhandtasche mit langem Tragriemen. Zuletzt gesehen am Freitag gegen 19.10 Uhr, als sie die elterliche Wohnung verließ, um zu einer Freundin zu fahren, Roswitha Zoller, Hohe Fuhre 26. Dort laut Aussage der Eltern, die sich erkundigt hatten, gegen 19.35 Uhr eingetroffen und kurz nach 20 Uhr wieder abgefahren. Seitdem vermißt.

Er nahm das Protokoll und ging quer durch das Sekretariatszimmer in Fischers Raum. «Wir haben sie», knurrte er verlegen, und Fischer warf ihm ein schräges Lächeln zu, während er mühsam aufstand. «Danke, Jürgen. »

Das war etwas, was er nie gelernt hatte: Angehörigen eine Todesnachricht zu überbringen. Keiner tat das gern, auch Fischer nicht, aber Fischer wußte aus leidvoller Erfahrung, was Eltern empfanden, und konnte die richtigen Worte finden. Er und Pedder, der über seine seltsame Hellsichtigkeit für die Gedanken und Gefühle anderer Menschen verfügte.

Lustlos bummelte er nach Hause. In seine Zwei-Zimmer-Wohnung zog ihn nichts, aber er hatte auch keine Lust, sich allein in eine Kneipe zu hocken. Vor neun Wochen war er umgezogen, in ein Hochhaus, und die meisten Kisten standen noch immer unausgepackt in der Wohnung. Die Spedition schrie inzwischen Zeter und Mordio und drohte mit Säumnisgebühren. Zwei-, dreimal die Woche nahm er sich vor, endlich seinen Kram auszuräumen, aber jedesmal packte ihn ein lähmender Ekel vor dieser Aufgabe. Dann schob er die Kisten wieder zur Seite, ließ sich in den zart quietschenden Ohrensessel fallen und begann zu lesen. Das Fernsehgerät war immer noch nicht angeschlossen, das zweite Telefon stand auf einem Kistenstapel; das erste war schon am dritten Tag heruntergefallen und zersplittert. Einen Teil der Diele bedeckte ein Haufen schmutziger Wäsche; wenn sich die Tür des Geraderobenschrankes nicht mehr aufziehen ließ, brachte er alles zur Wäscherei. Wer die Wohnung hätte sehen können, würde sofort die Diagnose stellen: Richard Lewohlt, 46 Jahre alt, geschieden, Kriminalhauptkommissar und Leiter des Fachreferats (FR) in, verkam. Aber bis jetzt hatte noch kein Fremder die Wohnung betreten, selbst Andy nicht, der geduldig unten auf der Straße wartete, wenn er seinen Freund und Chef abholte.

Aber «verkommen» war der falsche Ausdruck. Er verkam nicht, obwohl ersieh mit dem Junggesellenleben immer noch schwertat. Er hatte einfach keine Lust mehr, zu nichts, und flüchtete sich in die Welt von Biographien und Romanen. In der Filiale der Stadtbücherei gleich um die Ecke kannte man ihn mittlerweile gut, und die Große .mit den aschblonden Haaren und dem korrekten Mittelscheitel störte sich wenig an seinem mürrischen Ton.

Er schaffte einen ganzen Band der «Memoiren des Herzogs von Saint-Simon» und lebte einige Stunden in der Welt des französischen Hofes. Seit er sich zufällig in einem historischen Roman festgelesen hatte, war er fast süchtig nach dieser Art Lektüre geworden.

Die Woche begann mit einem Treffen aller Referats-Mitarbeiter, offiziell «Konferenz» genannt, in Wahrheit eher ein letzter Versuch, sich bei Kaffee und Klatsch vor der anstehenden Arbeit zu drücken. Die zurückgekehrten Urlauber zeigten demonstrativ ihre Bräune und bewiesen mit Farbfotos, wo sie gewesen waren und was sie gesehen hatten. Es wurde viel herumgealbert und geflaxt, bevor die laufenden Fälle besprochen wurden, Urlaubspläne, Termine für Lehrgänge, Probleme, Schwierigkeiten. Lewohlt schwieg meistens und achtete höchstens darauf, daß auch die Sachbearbeiter zu Wort kamen. In diesen dreißig oder vierzig Minuten durfte und mußte jeder offen reden. Über das, was tagsüber passiert war, verständigten sich die Chefs der Gruppen am späten Nachmittag, kurz vor dem offiziellen Dienstschluß. Aber im FR m gab es keine festen Dienstzeiten, und keiner, der darauf bestanden hätte, wäre länger als einen Monat in diesem Haufen geblieben.

Ruhender Pol dieser Runde war Jürgen Fischer, dem nach einem ungeschriebenen Gesetz Lewohlts Schreibtisch-Sessel zustand. Lewohlt saß auf der Fensterbank und war mehr Zuhörer als Chef. Jeder wußte, daß Fischer - wegen seiner Behinderung fast immer an seinem Schreibtisch zu finden - die wichtigen Entscheidungen traf und daß Lewohlt seinem Stellvertreter unbesehen vertraute, daß Fischer auf der anderen Seite nie etwas tun würde, dem Lewohlt nicht zustimmen konnte. Aber wer Ärger mit Lewohlt hatte, was nicht selten vorkam, weil Lewohlt viel zu mürrisch und ungeduldig war, um immer gerecht zu sein, wandte sich an Fischer. Und Fischer, unbestechlich, geduldig und gerecht, kümmerte sich darum. Seit er Lewohlt dazu gebracht hatte, sich öffentlich in dieser Montagsrunde bei Mitgliedern des FR 111 zu entschuldigen, herrschte Vertrauen. Und seit sich herumgesprochen hatte, daß Lewohlt nach außen diejenigen seiner Leute kompromißlos verteidigte, die er intern gerüffelt hatte, gab es über das gegenseitige Vertrauen hinaus so etwas wie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. «Lewohlts Bande», wie sie im Präsidium durchaus nicht wohlwollend bezeichnet wurde, hielt durch Dick und Dünn zusammen.

Lewohlt gähnte verstohlen und betrachtete Karin Rösch, die wie immer in der entferntesten Ecke saß. «Assistentin zur Anstellung» war ihre Dienstbezeichnung, richtiger wäre gewesen: Lehrling. Persönlich hatte er nichts gegen sie, ihn störte nur, daß seinem Referat eine solche Stelle zudiktiert worden war. Ausgerechnet in der Mordkommission sollte ein Anfänger ausgebildet werden, in einer Kommission, die früher stolz darauf gewesen war, die besten Kriminalisten zu versammeln. Wer dorthin berufen wurde, hatte sich anderswo schon ausgezeichnet und besaß das, was er nun blutigen Anfängern beibringen sollte: Menschenkenntnis, Erfahrung, Zähigkeit, Geduld und die Fähigkeit zu kombinieren. Mit ihr kam er noch halbwegs aus, weil sie ein wenig schüchtern war - oder farblos, wie er oft fand dagegen hatte es mit anderen z. A.’s schon einigen Zirkus gegeben.

In einer melancholischen Stunde hatte er sich gestanden, daß ihn am meisten ärgerte, wie wenig sie aus sich machte, äußerlich und im Umgang mit ihm. Denn sie war weder unansehnlich noch dumm, mit 28 Jahren auch zu alt, ihre Fähigkeiten falsch einzuschätzen.

Über den Fall Kleinmann wurden nicht viele Worte verloren. Alle Fälle begannen schwierig, und die Bande war stolz darauf, daß ihre Aufklärungsquote weit über 90 Prozent lag.

Jeden Montag um neun Uhr versammelten sich die Referatsleiter der Fachdirektion I (Kriminalpolizei), der Direktor und die Abteilungsleiter im Großen Sitzungssaal. Ständige Gäste waren die Vertreter der FD ü (Schutzpolizei) und FD üI (Besondere Kriminalität), der Leiter der Abteilung S0K0 (Sonderkommissionen, von denen es nach Lewohlts Geschmack viel zu viele gab), ein Vertreter des Polizeipräsidenten, des Vizepräsidenten, dem dienstrechtlich die «Kriminaltechnische Untersuchung» und der Fachbereich «Elektronik und Dokumentationen» unterstanden, und ein Mitglied der dem Präsidenten direkt zugeordneten Abteilung «Presse und Information» . Wenn Lewohlt diese Menge sah, erfüllte ihn regelmäßige kalte Wut: Offiziere gab’s weiß Gott genug, und von ihren Gehältern hätten die Truppen bezahlt werden können, die ihnen fehlten.

Unter der doppelflügeligen Tür hielt ihn der Krimirat am Ärmel fest: «Gibt’s was Neues, Herr Lewohlt?»

Lewohlt schluckte seinen Ärger hinunter. Mit Dr. Georg Wesseling, Kriminalrat und Leiter der Abteilung «Gewaltkriminalität», verband ihn eine innige Abneigung. Das hatte etwas mit dem Altersunterschied zu tun; der Krimirat - wie sein im ganzen Haus bekannter Spitzname lautete - war zehn Jahre jünger als Lewohlt. Das hatte schon mehr damit zu tun, daß Wesseling äußerlich das genaue Gegenteil seines Untergebenen darstellte - sportlich, muskulös, immer makellos angezogen, lebhaft, energisch und von jener nichtssagenden Freundlichkeit, die Lewohlt völlig abging. Das hing aber vor allem damit zusammen, daß Wesseling hundertprozentig hinter der modernen Organisation, der Elektronik und dem neuen Stil stand, während Lewohlt das alles verabscheute.

«Nein», knurrte er endlich, «nur ein Todesfall gestern. »

«Sehr schön», freute sich der Krimirat. Opfer interessierten ihn nicht, nur der gute Ruf seiner Abteilung, womit in erster Linie sein eigener Ruf gemeint war. In seiner Gegenwart mußte Lewohlt immer die Zähne fest zusammenbeißen.

Wie in neun von zehn Fällen hätte man sich auch diese Konferenz schenken können. Eines der höheren Tiere bedauerte, sie hätten jetzt wohl doch organisierte Schutzgeld-Erpressung im westlichen Teil der Innenstadt. Das hätte Lewohlt ihm schon vor Monaten verraten können, aber auch er huldigte insoweit dem neuen Stil, als er sich nur noch um seine Sachen kümmerte und nichts tat, diese nutzlosen Sitzungen durch Beiträge zu verlängern. Als sich die Runde auflöste, hatte er kein Wort gesprochen.

Fischer hatte eine gute Nachricht fur ihn: «Das Fahrrad ist gefunden worden. Auch über eine Hecke in einen Garten geworfen. Andy und Pedder sind rausgefahren. »

Der Täter besaß anscheinend wenig Phantasie. «Die Handtasche ist noch nicht aufgetaucht?»

«Nein. Andy und Pedder sehen sich noch einmal in den benachbarten Gärten um. »

Karin Rösch las das Protokoll der Vermißtenmeldung, als er zu ihr ins Zimmer polterte. «Interessant, was?» schnappte er in dem mißglückten Versuch, mit ihr einmal freundlich zu reden. Gleichmütig antwortete sie: «Sehr sogar. Die Eltern wissen ungewöhnlich gut Bescheid über den Inhalt der Handtasche. Für eine Siebzehnjährige eigentlich zu gut. »

Das war ihm noch nicht aufgefallen. «Was schließen Sie daraus?»

«Daß sie ihre Tochter scharf kontrolliert haben. Außerdem trauen sie ihr nicht ganz.»

«Wie kommen Sie denn darauf?»

«Sie haben, bevor sie zum Revier 18 fuhren, festgestellt, daß Martina ihren Paß, ihr Postsparbuch und ihre Sparbüchse nicht mitgenommen hatte.»

«Gut», lobte er ehrlich. «Dann mal auf!»

Die Hessenstraße war lang und gesichtslos, weder häßlich noch schön, weder laut noch leise. Die winzigen Bäumchen zwischen den Parkbuchten schienen zu verdursten. Endlose Reihen von vierstöckigen Rotziegel-Häusern erschlugen mit ihrer Monotonie. Die eng beieinander liegenden Haustüren verrieten, daß es sich um winzige Wohnungen handeln mußte.

Herbert Kleinmann öffnete die Tür. Er war ein auffallend großer, hagerer Mann mit einem länglichen Gesicht, in das sich Mutlosigkeit und Verbitterung eingegraben hatten. Seine Mundwinkel hingen nach unten, als habe er das Lachen verlernt. Der überkorrekte dunkle Anzug mit dem weißen Hemd und der schwarzen Krawatte unterstrich seltsamerweise den Eindruck eines unzufriedenen, gescheiterten Mannes.

Lewohlt stellte Karin und sich vor. Sie kondolierten, und Kleinmann schien erleichtert, daß sie gekommen waren. Seine Stimme klang tief und heiser.

Die Wohnung war so klein, wie Lewohlt vermutet hatte, eine winzige Diele, eine noch kleinere Küche, ein Wohnzimmer, in das gerade ein Tisch mit drei Stühlen, eine cordbezogene Couch und ein Sessel paßten. Ein großer, wuchtiger Schrank mit vielen Türen und Glasscheiben nahm die ganze Querwand ein.

Anna Kleinmann hob mühsam den Kopf. Sie hatte das rotbraune Haar und die dunklen Augen ihrer Tochter; unter anderen Umständen wäre sie eine attraktive Frau gewesen, und auch j etzt noch war Lewohlt von ihrer Schönheit angerührt. Sie trug einen dicken, weißen Bademantel und schien zu frieren, obwohl es heiß und stickig war. Ihre Augen blickten durch sie hindurch, und Lewohlt fragte sich einen Moment beunruhigt, ob sie ihren Schock überwunden hatte. «Sollen wir später noch einmal wiederkommen?» erkundigte er sich leise bei Kleinmann.

«Nein, wir sind ... wir können reden.»

Das Zimmer irritierte ihn. Zuerst dachte er, es sei die Enge, aber dann bemerkte er, daß ihn die peinliche Ordnung störte. Es war so aufgeräumt, daß er sich schwer vorstellen konnte, wie Menschen in dieser steifen Nüchternheit lachten. Ärgerlich riß er sich zusammen: «Es tut mir leid, aber wir müssen leider ein paar Fragen stellen.»

Nach einer langen Pause flüsterte sie: «Ja.»

«Erzählen Sie uns bitte, was am Freitag passiert ist.»

Sie sprach wie ein Automat, langsam, jedes Wort wohl verständlich, aber ohne jede Betonung, so, als liefe eine schlechte Bandaufnahme ab. Ihr Blick hatte sich zu Anfang des Gesprächs auf einen Fleck an der Wand gerichtet, an dem sie die ganze Zeit über festhielt, und je länger, desto mehr beschlich ihn der Gedanke, es gebe zwei Anna Kleinmanns - eine, die auf Fragen antworten konnte, und eine andere, die nicht im Zimmer war.

Martina war am Freitag Abend wie immer aus der Firma gekommen. Nein, sie fuhr mit dem Bus, und wenn sie pünktlich aus dem Geschäft kam, erreichte sie den Bus um 18.07 Uhr an der Weigandstraße, der um zwanzig nach sechs hier in der Hessenstraße, vier Häuser weiter, eintraf: Kurz vor halb sieben hatte sie aufgeschlossen, ja, sie besaß eigene Schlüssel. Mit der Mutter unterhielt sie sich nur kurz, das Übliche, ein ganz normaler Tag im Geschäft, nichts Besonderes. Sie ging in ihr Zimmer, dann ins Bad, zog sich um, nein, im Geschäft trug sie selten Hosen, und dann aßen sie gemeinsam zu Abend, bis gegen sieben Uhr.

«Ich war nicht da», sagte Kleinmann dumpf. «Ich habe freitags meinen Kegelabend von der Firma aus, und der dauert immer bis gegen elf Uhr.»

Kurz nach sieben Uhr packte Martina Platten zusammen. Sie wollte ihre Freundin Roswitha besuchen und bei ihr Musik hören. Nein, das war gar nicht ungewöhnlich, sie traf sich oft mit Roswitha, die manchmal auch zu ihnen kam, aber selten. Das Fahrrad, ja. Martina sparte gerne das Fahrgeld für den Bus, außerdem fuhr sie gerne Rad, schon lange, seit ihrem zwölften Lebensjahr. Sie war sehr vorsichtig, noch nie hatte sie einen Unfall gehabt. Wann sie zurückkommen werde, hatten sie nicht besprochen. An Werktagen, das war seit langem ausgemacht, mußte sie um zehn Uhr abends wieder zu Hause sein, und wenn es aus irgendeinem Grunde später werden würde, hatte sie immer angerufen. Elf Uhr war die äußerste Grenze, sie war sehr zuverlässig.

Sie hatte aufgeräumt, abgewaschen, etwas Zeitung gelesen, gestopft, ab und zu auf den laufenden Fernseher geschaut. Herbert Kleinmann kam gegen 23.15 Uhr zurück, da war sie allerdings schon unruhig, ja, und dann ... Sie hatten fast die ganze Nacht aufgesessen.

Kleinmann schüttelte unmerklich den Kopf, und Lewohlt schwieg. Karin Rösch konnte den Blick nicht von Anna Kleinmann wenden.

Ja, gegen 19.10 Uhr hatte sie Martina zum letztenmal gesehen und gesprochen. Ihre Stimme brach nicht, aber sie schien zu ersticken.

Am Samstag morgen hatten sie dann das Revier angerufen. Der Mann hatte versprochen, sich bei den Krankenhäusern umzuhören. Gegen Mittag meldete er sich wieder: Martina sei nirgendwo eingeliefert worden. Lewohlt merkte sich das Wort «einliefern»; der Wachhabende hatte sich also nicht nur auf die Krankenhäuser beschränkt, sondern auch die Wachen und Reviere abgefragt. In der Zwischenzeit hatten die Kleinmanns angefangen, Bekannte und Freunde von Martina anzurufen, bis sie sich am Nachmittag entschlossen, Martina offiziell als vermißt zu melden.

Lewohlt wandte sich Kleinmann zu, der steif neben seiner Frau auf der Couch saß. Er hatte an alles gedacht: Bilder, Fahrradausweis, Inhalt von Martinas Handtasche. Gegen 18 Uhr waren sie in die Wohnung zurückgekommen. Das wußte er alles schon aus dem Protokoll, aber verstörte Zeugen mußte man erst einmal reden lassen.

Martina lernte bei der Firma Eibern & Winkler. Nein, sie war noch nie über Nacht weggeblieben. Nein, sie hatte keinen festen Freund. Nein, sie hatte sich die Woche über normal benommen. Auch am letzten Tag war nichts passiert - jedenfalls hatte sie nichts erwähnt. Wie und warum sie in die Kleingarten-Anlage Rothenbruch gelangt war, konnten sich die Eltern nicht erklären. Sie kannten niemanden, der dort einen Garten besaß. Bis jetzt hatte Martina ihnen nie Kummer gemacht. Anna Kleinmann begann zu weinen.

Lewohlt stand auf. Für Fragen war es noch zu früh, schade, aber nicht zu ändern. In der Diele fragte er Kleinmann halblaut: «Darf ich mal einen Blick in Martinas Zimmer werfen?»

«Bitte, ja.» Das Zimmerchen hatte höchstens zehn Quadratmeter. Ein Bett mit einer bunten Tagesdecke, ein Kleiderschrank, ein winziger Schreibtisch, davor ein Polsterstuhl. Auf dem Boden lag ein weißer Zottelteppich, sonst erinnerte es in seiner nüchternen Ordentlichkeit an den Wohnraum. Keine Poster an den Wänden. Auf dem Kopfbrett des Bettes stand ein Radio mit Cassettenteil; einen Plattenspieler entdeckte er auf dem Boden, unter dem Schreibtisch. Eine persönliche Note verrieten nur die kleinen Kakteen-Töpfchen auf dem Fensterbrett.

Kleinmann beobachtete sie düster, und Lewohlt hätte viel für seine Gedanken gegeben. «Ihre Tochter wirkte sehr erwachsen», begann Lewohlt beiläufig.

«Sie war nicht meine Tochter, Herr Kommissar. Anna - meine Frau, hat sie mit in die Ehe gebracht. Ich habe sie später adoptiert.»

«Wußte Martina das?»

«Natürlich.»

Er lauschte dem Tonfall nach. Rechthaberisch und - was? Nörgelnd? «Wohin könnte sie gefahren sein, am Freitag Abend?»

«Wir wissen es nicht. Wir zerbrechen uns schon die ganze Zeit den Kopf, aber wir wissen es einfach nicht.»

«Hatte Ihre Tochter Geheimnisse vor Ihnen?»

«Muß sie ja wohl, nicht wahr?» Jetzt hörte er sich verbittert an, mehr noch, beleidigt. «Aber bis zum Freitag hätte ich geschworen, daß Martina ehrlich und aufrichtig war.»

«Wie hielt Ihre Tochter es mit dem Geld? Gab sie viel aus? Oder sparte sie?»

« Sie war sehr sparsam. Was sie verdiente, durfte sie behalten, und das meiste hat sie gespart.»

«Eine häßliche Frage, Herr Kleinmann, die ich aber leider stellen muß: Ist Martina jemals mit Rauschgift in Berührung gekommen?»

«Nein, nie. Sie rauchte nicht, sie trank nicht. Sie war ein ordentliches Mädchen.»

Bei diesem Ton fröstelte es ihn, aber er ließ sich nichts anmerken. «Wir müssen leider noch einmal wiederkommen, Herr Kleinmann. Aber im Moment wäre es für Ihre Frau zuviel.»

«Ja, ich verstehe.»

Vor der Haustür sagte Karin erleichtert: «Uff.» Weil er sie neugierig anschaute, setzte sie hinzu: «Ich habe da oben keine Luft mehr bekommen.»

«Komisch, dasselbe Gefühl hatte ich auch.»

«Diese Enge. Und alles aufgeräumt, richtig steril. »

«Das hat mich auch gestört. Aber wenn sie sich wohl darin fühlen ... Glauben Sie, daß die Eltern noch mehr wissen?»

Unschlüssig wiegte sie den Kopf: «Er war sehr entschieden.»

«Etwas zu sehr für meinen Geschmack. Ein ordentliches Mädchen.»

Schweigend fuhren sie zum Hauptbahnhof.

Das Non-Stop-Kino lag auf einer Galerie in halber Höhe der Halle, und hinter der Kasse buchstabierte ein alter Mann, der sich dringend hätte rasieren müssen, Zeile für Zeile seine Zeitung. Ohne hochzuschauen schob er zwei Eintrittskarten durch den Ausschnitt der Glasscheibe. «He, Sie», klopfte Lewohlt hart gegen das Fenster. Der Alte drehte widerwillig den Kopf und bleckte eine Reihe schwarz-gelber Zähne. «Wat soll...»

Lewohlt hielt ihm den Ausweis hin: «Kriminalpolizei. Wir brauchen eine Auskunft.»

«Häh? Wat denn?»

«Wann ist diese Eintrittskarte verkauft worden? Und an wen?» «Weiß nicht», schnaubte der Alte, ohne einen Blick auf die Karte zu werfen, die Martina in der Brusttasche ihrer Bluse gehabt hatte. Lewohlt holt tief Luft: «Okay, machen Sie sich fertig, jawohl, sofort, Sie müssen mit aufs Präsidium.»

«Häh, dat geht nicht. Und wer kassiert hier?»

«Machen Sie die Bude dicht. Los, beeilen Sie sich, ich habe nicht ewig Zeit.»

«Moment, Moment!» Jetzt wurde der Alte richtig lebhaft. «Nu meckern Sie nich rum, ich guck ja schon.» Dabei hielt er sich die Karte so dicht vor die Augen, daß Lewohlt seufzte. Bei dieser Kurzsichtigkeit hätte er ein Mädchen mit zwei Köpfen nicht wahrgenommen. Mürrisch vor sich hinblubbernd holte er ein schwarzes Buch unter dem Kassenbrett hervor, schlug es ächzend auf und suchte mit dem Finger in einer Spalte. Endlich sagte er, immer noch empört über die Zumutung: «Muß am Samstag gewesen sein. Am Vormittag. So zwischen acht und zehn etwa.»

«Können Sie sich an dieses Mädchen erinnern?» Er schob ein Bild von Martina hin, aber der Alte winkte sofort ab: «Schaue nie nach den Kunden. Geld - Karte - mehr nicht. Weiß nicht mehr.»

«Trotzdem danke!» blaffte Lewohlt ihn an, doch der Alte schlug schon wieder seine Zeitung auf.

«Lassen Sie ihn kein Protokoll unterschreiben?» fragte sie neugierig und wurde verlegen, als er die Stirn runzelte. «In der Ausbildung hieß es, es müsse alles schriftlich ...»

«Lassen Sie mich bloß mit diesem Schwachsinn in Ruhe!» fauchte er. «Papier, Papier, Papier. Was wollen Sie mit so einem Zeugen?»J

Eingeschüchtert zuckte sie die Schultern.

Für junge Frauen wie Roswitha Zöller benutzte Lewohlt gerne das Wort «Brechmittel», aber weil Karin Rösch, Assistentin z. A., stumm neben ihm stand, benahm er sich anständig. Roswitha Zöller, 19 Jahre alt, wie sie mit einem schelmisch-verlegenen Augenaufschlag gestand, flötete. Irgendwie, dachte er grimmig, war sie so sehr auf den Mann dressiert, daß sie in Gegenwart eines männlichen Wesens automatisch neckisch wurde. Jedes Löckchen der blond gefärbten Haare lag so akkurat an seiner Stelle, als sei es nicht gesprayt, sondern geklebt, und das ganze, hübsch-nichtssagende Gesicht pries die Vorzüge der Kosmetik-Produkte, die sie in der Parfümerie Linglau verkaufte. Der dünne, hellblaue Kittel reichte gerade bis über die Knie, und er hatte den schweren Verdacht, daß Roswitha für ihre Figur hungerte.

Sie unterhielten sich in einem kleinen Büro mit ihr. Martina und sie hatten sich am Donnerstag abend telefonisch verabredet - nein, Martina und sie kannten sich von der Schule. Ja, und weil sie doch mit Personalrabatt einkaufen konnte, hatte sie für Martina Parfüm und Lippenstift und andere Kosmetika besorgt. Am Freitag abend wollten sie Platten hören; Martina war auch pünktlich gekommen, so kurz nach halb acht, aber noch bevor die erste Platte beendet war, verabschiedete sie sich schon; die Mutter schaute im Wohnzimmer noch die Tagesschau.

«Hat sie etwas gesagt, wohin sie noch wollte?»

«Nein.» Roswitha errötete gekonnt. «Aber ich vermute, sie wollte sich mit j emand treffen.»

«Haben Sie eine Ahnung, mit wem?»

«Nein, sie ist - sie war sehr - also, sie erzählte nie sehr viel.» Weil er sie ungläubig anstarrte, vertiefte sich ihre Röte. «Ihre Eltern sind - sehr streng. Wenn sie mal - also, sie sagte dann immer, sie führe zu mir.»

«Dann ist sie kurz nach acht Uhr wieder gegangen.»

«Ja, etwa viertel nach acht. Mutter - im Fernsehen lief gerade die Wetterkarte.»

«Hat sie sich noch einmal bei Ihnen gemeldet? Telefoniert?»

Roswitha schüttelte den Kopf, und kein Löckchen bewegte sich.

«Hat Sie nicht verwundert, daß Martina die Nacht über weggeblieben ist?»

«Doch, sehr sogar.» Sie war wirklich erstaunt, vielleicht sogar etwas verwirrt. «Das sah Tina gar nicht ähnlich. Sie war - also, mit Männern - das hätte ich ...»

«Was heißt das: mit Männern?» unterbrach er sie rüde.

«Wie bitte?»

«Wie kommen Sie auf einen Mann?»

«Ja, warum sonst sollte sie die Nacht über weggeblieben sein?»

Etwas gefiel ihm nicht an ihrem Ton, aber ihre Gegenfrage war logisch. «Hatte Martina denn einen Freund?» fragte er barsch.

«Einen Freund? - Nein, ich glaube nicht.» Weil sie wieder sittsam die Augen niederschlug, verstand er sie, und sein Schnaufen verkündete, daß ihm gleich der Kragen platzen würde. Unvermittelt griff Karin freundlich ein: «Fräulein Zöller, könnten Sie uns einmal aufschreiben, welches Parfüm und welche Kosmetika Martina benutzte?»

«Ja, gerne.»

Aus einer Brusttasche ihres Kittels nahm sie einen winzigen Block und einen noch winzigeren, goldfarbenen Kugelschreiber und begann zu schreiben; jeder Buchstabe wie gemalt, und unwillkürlich fuhr ihre Zungenspitze über die perfekt roten Lippen hin und her. Karin sah ihr ernsthaft zu, bedankte sich für den Zettel und beugte sich vertraulich vor, ganz von Frau zu Frau: «Wie war das eigentlich mit Martina? Nahm sie die Pille?»

Roswitha schnappte nach Luft: «Nein ... nein ... ich glaube nicht.»

Vor der Parfümerie knurrte er sie an: «Was soll dieser Quatsch mit den Kosmetika?»

Sie zögerte, streckte dann den Kopf kampflustig vor und gab im gleichen Ton zurück: «Haben Sie Kinder?»

«Nein. Aber was ...»

«Das merkt man. Sonst würden Sie nämlich wissen, daß eine Siebzehnjährige nicht soviel Geld für so viele Sachen ausgibt. Das ist nicht nur das Beste vom Besten, sondern auch so ziemlich das Teuerste, das leiste ich mir nur zu Weihnachten.» Wütend knüllte sie den Zettel zusammen und feuerte ihn in den nächsten Gully.

«Na fein», beschwichtigte er sie, «ich hab was dazugelernt, und Sie dürfen mit dieser Lockenpuppe ein formgerechtes Protokoll aufnehmen.» Das heimliche Schmunzeln unterdrückte er lieber, sie schnaufte ohnehin schon wütend.

Gegen fünf Uhr rief Herbert Kleinmann im Präsidium an: «Herr Kommissar, ich muß ... es ist mir schrecklich peinlich ... könnten Sie noch einmal zu uns kommen? Wir haben etwas von Martina gehört.»

Im Berufsverkehr brauchten sie 45 Minuten, und Kleinmann empfing sie an der Wohnungstür mit einer Mischung aus Ungeduld und Zerknirschung. Noch in der Diele begann er nervös: «Eine Nachbarin hat mich auf der Treppe angehalten, um ihr Beileid - und dabei fragte sie, was Martina am Nachmittag hier gesucht habe, und zuerst dachte ich, es sei ein Mißverständnis, aber dann stellte sich heraus, daß sie den Samstag meinte, an dem .., an dem....»

«Vielen Dank, Herr Kleinmann. Wie heißt Ihre Nachbarin?»

«Frau Doleff, im Parterre. Da ist... da ist aber noch etwas?»

Fragend schaute er den Hageren an, dem das Sprechen sichtlich schwer fiel: «Das muß - Martina muß hier gewesen sein, als wir zur Polizei gefahren waren.»

«Ja? Was meinen Sie mit: hier?»

«Sie ist in der Wohnung gewesen, sie hatte ja Schlüssel.»

«Woher wollen Sie das wissen?»

«Es fehlt etwas, was vorher noch da war.» Er schluckte, um die Kehle freizubekommen. «Ihr Postsparbuch, ihr Paß und ihre Sparbüchse.»

Anna Kleinmann saß nicht mehr im Wohnzimmer. Kleinmann bemerkte Lewohlts Blick und erklärte halblaut: «Ich habe ihr zwei von meinen Schlaftabletten gegeben. Sie mußte einfach schlafen.»

«Stören wir?»

«Nein, sie schläft schon seit Stunden sehr fest.»

Weil Karin Rösch ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, fiel ihm jetzt auf, wie genau der Vater Bescheid wußte. Der Paß war 17 Monate alt. Auf dem Postsparbuch befanden sich mindestens 7800 Mark. Die Spardose, ein kleiner blauer Plastiktresor, enthielt schätzungsweise 480 Mark.

«Haben Sie eine Vorstellung, warum Martina sich diese Sachen nachträglich geholt hat?»

Statt einer Antwort biß Kleinmann die Zähne fest zusammen und schwieg.

Inge Doleff stellte sich als eine muntere Enddreißigerin heraus, robust und energisch. Am Samstag Nachmittag war das gewesen, doch, da war sie ganz sicher. Vom Küchenfenster aus hatte sie gesehen, wie die Kleinmanns ins Auto stiegen und wegfuhren. Natürlich hatte sie sich nichts dabei gedacht. Vielleicht zwei Minuten später wollte sie in den Keller gehen, da öffnete sich die Haustür, und Martina kam herein, grüßte, «und da hab ich ihr gesagt: «Deine Eltern sind eben weggefahren. Und sie sagt: «Ja, ich weiß, ich hab nur was vergessen.) Na schön, etwas kurz angebunden war sie ja immer, ich bin also in den Keller, hab die Kartoffeln geholt, und dann seh ich vom Küchenfenster aus, wie sie wieder wegradelt.»

«Wie lange war Martina oben in der Wohnung?»

«Na, drei Minuten? Oder vier? Wirklich nur ganz kurz.»

«Und wann war das am Samstagnachmittag?»

«Also, das dürfen Sie mich nicht fragen. Bestimmt nach drei Uhr Kann aber auch nach vier Uhr gewesen sein.»

«Ist Ihnen etwas an Martina aufgefallen?»

«Nei... nein. Eigentlich war sie wie immer.»

Lewohlt bestellte sie ins Präsidium, um dort ihre Aussage zu unterschreiben, was ihr nicht paßte. Bevor er losbollerte, ging Karin dazwischen, und er gestand sich widerwillig ein, daß sie über mehr diplomatisches Geschick verfugte als er.

Martina hatte also ihre Eltern wegfahren sehen. Hieß das: Sie hatte so lange gewartet, um ihnen nicht zu begegnen? Denn Krach hätte es bestimmt wegen der aushäusigen Nacht gegeben. Und wie genau Kleinmann wußte, was seine Tochter aus der Wohnung mitgenommen hatte!

Karin Rösch stimmte zu: «Verflixt viel Kontrolle, Chef.»

Andy und Pedder hatten nichts erreicht. Das Fahrrad war in der KTU, die Handtasche bisher nicht aufgetaucht. Die Fundstellen der Leiche und des Fahrrads lagen über i io Meter Luftlinie auseinander, fast 200 Meter, wenn man den kürzesten Weg einschlug. Im Kleingarten-Verein hatte sich der Fall wie ein Lauffeuer herumgesprochen, aber zur Aufklärung konnte keiner etwas beitragen.

«Für euch beide habe ich eine wunderschöne Aufgabe, die so rechten Spürsinn erfordert», befahl er heimtückisch. «Ihr nehmt Bilder von Martina, fahrt jetzt zu dem Vorsitzendendes Vereins, holt euch die Liste der Gartenpächter und klappert die alle ab. Ob sie ...»

«... beim Fest waren, und wenn ja, wen sie mitgebracht haben.

Ob sie einen Fremden gesehen haben außerhalb des Festes, und wenn ja, wie er aussah. Ob sie Martina gesehen haben. Und so weiter. Wir gehen schon, Chef, aber daß du ein Ekel bist, kann man dir nicht häufig genug unter die Nase reiben. » Andy schnaubte und funkelte den unschuldigen Pedder an, der ihn von oben herab betrachtete. «Komm, du Ostfriese, leisten wir unsere Beinarbeit.»

«Nicht Bein», murmelte Pedder, «Auto.»

«Ach du meine Güte, noch ein Besserwisser. Also gut, Auto!»

Als die meisten Mitarbeiter des m schon gegangen waren, studierte Lewohlt den Stadtplan. Martina war lange Strecken geradelt, aber einen Sinn konnte er dahinter nicht entdecken. Noch nicht.

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