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Kapitel 3 Die Königstochter

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Sie folgten Demris Gon und seiner vollkommen aufgelösten Gemahlin durch mehrere Korridore in die Privatgemächer der königlichen Familie. Der Herrscher Gryphlands wünschte ausdrücklich, dass ihn sowohl der Heiler Aarad als auch die anderen Ordensangehörigen begleiteten.

Unterwegs versuchte Aarad vergeblich, der Königin nähere Angaben über dem Zustand ihrer Tochter zu entlocken, doch sie war völlig außer sich.

„Sie ist um einiges jünger als ihr Gemahl, aber das leidvolle Schicksal ihrer Tochter hat sie schnell altern lassen“, empfing Gorian einen Gedanken Sheeras.

Für einen Moment glaubte er wieder jene dunkle Magie zu spüren, die ihm bereits aufgefallen war, als er die Greifengondel verlassen hatte.

Schließlich gelangten sie in das Gemach der Königstochter.

Bleich und kränklich lag sie auf ihrem Bett, Schweiß perlte auf ihrer Stirn, und schwarzes Blut quoll ihr aus Augen, Ohren und Nase. Eine Dienerin versuchte vergeblich, den Blutfluss mit Tüchern zu mindern.

Der Blick der Königstochter war starr auf einen imaginären Punkt konzentriert. Sie stieß Laute aus, die vielleicht unverständliche Worte waren, vielleicht auch nichts weiter als ein letztes Aufstöhnen unter einem schier unermesslichen Schmerz.

Ein großköpfiger Zahlenmagier und ein Priester des Verborgenen Gottes standen neben dem Bett. Von dem Zahlenmagier hatte Gorian schon gehört, Aarad hatte ihn erwähnt. Er hieß Ptembros und war als Arzt tätig, denn er behauptete, mit der Hilfe der Zahlenmagie nicht nur marode Geschäfte von ihrer Misswirtschaft, sondern auch Kranke von ihrem Leiden befreien zu können. Die Packleute am Hafen von Gryphenklau erzählten sich, Ptembros sei durch den Einfluss der Königin an den Hof gelangt und genieße dort hohes Ansehen, auch wenn die Wirksamkeit seiner Heilmagie von nahezu allen Ärzten der Stadt angezweifelt wurde.

Der Mann mit dem übergroßen, ballonartigen und von zahllosen sich verzweigenden Adern überzogenen Kopf stand da, hob die dürren, langfingrigen Hände und murmelte eine Abfolge von Zahlen, die auf Gorian völlig willkürlich wirkte. Dass er dabei den heiligreichischen Dialekt von Baronea benutzte, ließ die Prozedur auf gryphländische Ohren vielleicht etwas geheimnisvoller wirken.

Der Priester wirkte einfach nur entsetzt. Er schien die Kranke bereits aufgegeben zu haben und es nicht mehr für lohnend zu erachten, die Hilfe des Verborgenen Gottes zu erflehen.

„Zur Seite! Lasst Heiler Aarad sein Werk tun!“, rief der König, während seine Gemahlin laut schluchzte.

„Sieh hin, was geschieht, Gorian“, raunte Thondaril seinem Schüler zu. „Schließlich willst du ja in allen fünf Häusern den Meistertitel erringen, also auch den der Heiler.“

„Ja, diesen Plan habe ich in der Tat noch nicht aufgegeben“, bestätigte Gorian, dann flüsterte er: „Spürt Ihr es auch, Meister Thondaril?“

„Was?“

Gorians Augen wurden schwarz, und er fühlte, dass da etwas Dunkles, abgrundtief Böses unmittelbar unter ihnen war. Im ersten Moment dachte er, es wäre wieder der Totenalb, aber da war eine Nuance, die nicht zu diesem Wesen passte, dafür aber zu jenem, das über das Meer gekommen sein musste. Es war dieses bedrückende Gefühl, von dem Sheera geglaubt hatte, es wäre eine Widerspiegelung des Schattenbringers.

Und dann sah er es plötzlich.

Es hatte Flügel und sah aus wie eine hässliche Kreuzung aus Fledermaus und Waldhyäne. Fast regungslos hockte die Kreatur auf der Brust der Königstochter, und Gorian glaubte ihr triumphierendes, meckerndes Gelächter zu hören.

Ein Schattenmahr, durchfuhr es ihn.

Den Erzählungen nach waren diese Wesen die Begleiter der Totenalben. Sie folgten ihnen wie Hunde und ernährten sich vom Seelenaas – dem, was die Totenalben verschmähten.

Außer Gorian schien niemand den Schattenmahr zu bemerken, denn im Gegensatz zu Totenalben waren sie meist unsichtbar. Weshalb aber Gorian das geflügelte Wesen zu sehen vermochte, darüber machte er sich zunächst keine Gedanken; die Legenden gaben auch dafür eine Vielzahl von Erklärungen.

Er sah, wie das Wesen sein hyänenartiges Maul weit aufriss und sich anschickte, die wolfsartigen Reißzähne in den Hals der Kranken zu schlagen.

Da stürzte Gorian nach vorn, zog Sternenklinge hervor und stieß den im Weg stehenden Priester zur Seite, einen Kraftschrei auf den Lippen.

Sternenklinge fuhr durch den Körper des Schattenmahrs und teilte ihn in Hüfhöhe in zwei blutige Hälften, aus denen, ebenso wie bei der Königstochter, schwarzes Blut quoll. Blitze zuckten aus dem Schwert und tanzten für einige Augenblicke über die beiden Hälften des Schattenmahrs, dessen meckerndes Gelächter sich in einen schrillen Laut wandelte, der so hochtönend war, dass menschliche Ohren ihn nicht zu hören vermochten. Die Hälfte mit dem Kopf und den Vorderpranken bewegte sich noch, der Unterleib mit den Flügeln hingegen lag regungslos auf der Brust der Königstochter und zerfiel zu einer zähflüssigen schwarzen Masse.

Im nächsten Moment sprang die obere Körperhälfte des Ungetüms auf Gorian zu, das Maul weit aufgerissen.

Gorian wollte sich mit einem Schwertstreich schützen, aber eine unsichtbare Kraft ließ den Hieb abprallen und zur Seite gleiten. Das Wesen traf ihn an der Schulter, an der er während seines Kampfes am Speerstein so schwer verwundet worden war, und er stürzte zu Boden, während der Schattenmahr zubiss.

Gorian riss seinen Dolch aus Sternenmetall hervor und ließ die Klinge aufwärts fahren. Eine Welle des Schmerzes raste von der Schulter durch seinen ganzen Leib, aber das hielt ihn nicht davon ab, seine Magie einzusetzen.

Der Rächer stieß durch den halbierten Schattenmahr, spießte ihn förmlich auf, und Gorian riss ihn von seiner Schulter und schleuderte ihn mitsamt dem Dolch von sich.

Der Rächer nagelte die verbliebene Oberhälfte der Schreckenskreatur an einen mannsgroßen geschlossenen Gebetsschrein, in dessen Holz die Klinge zitternd stecken blieb. Das grausige Wesen gab keinen Laut mehr von sich. Seine Augen waren erstarrt, schwarzes Blut troff aus seinem offenen Leib, dort, wo Gorian ihn mit dem Schwert durchtrennt hatte. Innerhalb weniger Augenblicke zerfiel der Schattenmahr zu einer zähflüssigen schwarzen Masse.

Gorian erhob sich. Ihm war schwindelig. Diese Kreatur hatte seine Schwachstelle genau gespürt und ihm in die Schulterwunde gebissen.

Er vernahm seinen Namen wie aus weiter Ferne und fragte sich, ob es vielleicht ein Gedanke Sheeras war, die er mit einem Blick vergebens suchte.

Dunkle Schlieren umgaben ihn auf einmal, und er bemerkte, dass es sein Blut war, das aus seiner Schulterwunde und durch sein aufgerissenes Hemd quoll und sich in diesen dunklen Rauch verwandelte.

„Ein braves Haustier, das seinen Auftrag bis zur Selbstaufopferung erfüllt“, dröhnte plötzlich eine Gedankenstimme in seinem Kopf. „Ich werde mir einen anderen Schattenmahr zulegen und abrichten müssen. Wer weiß, vielleicht genügt ja das, was von deiner Seele übrig bleibt, um einen neuen zu erschaffen.“

Gorian sprang auf, wirbelte herum. Der schwarze Rauch war verflogen, und seltsamerweise befand sich von den anderen niemand mehr im Höhlengemach. Er war allein. Von der Königstochter war nur ein großer dunkler Fleck eingetrockneten schwarzen Bluts geblieben, der ihre Körperform ungefähr nachzeichnete.

Er blickte zu dem geschlossenen Gebetsschrein, streckte die Hand aus und wollte den Rächer zu sich rufen. Aber das gelang ihm nicht. Irgendetwas schien die Magie aus ihm herauszusaugen, wann er sie anzuwenden versuchte, denn auch sein zweiter Versuch schlug fehl.

„Verunsichert? Ohne das, was du für deine besondere Fähigkeit hältst, bist du ein Nichts. An dem Ort, an dem du dich nun befindest, wirken deine Kräfte nicht mehr in gewohnter Weise, und auch die meisten Regeln, die du für unumstößlich hältst, gelten hier nicht.“ Ein höhnisches Gelächter dröhnte in Gorians Kopf.

„Wer bist du?“, rief er und wirbelte erneut herum, weil er glaubte, im Augenwinkel einen Schatten gesehen zu haben, der aber nur von einer der flackernden Öllampen erzeugt worden war. Das Licht, dass sie spendeten, wurde im nächsten Moment erheblich schwächer, denn drei der sieben Lampen verloschen.

Anders als im Thronsaal gab es in dem Höhlengemach auch keine Leuchtsteine, die das Sonnenlicht speicherten und abgaben. Dafür befand sich an der Decke ein großes Mosaik, das eine Sonne auf einem blauen Himmel mit wenigen Wolken zeigte.

Ein Bild der Hoffnung für die dahinsiechende Königstochter, so schien es, das Gorian an jenen Augenblick erinnerte, als er im Alter von zweieinhalb Jahren auf dem Boot seines Vaters erwacht war. Einen gravierenden Unterschied gab es allerdings: Die von dem Mosaik abgebildete Sonne hatte keinen Schatten, der sie immer mehr bedeckte.

Eine weitere Öllampe erlosch.

Der Rächer begann im Holz des Schreins zu zittern. Dessen Tür schlug auf, und der Doch wurde mittels Magie durch die Luft geschleudert, drehte sich dabei auf eine völlig chaotische, nicht zu kalkulierende Weise, zog einen Halbkreis durch den Raum und schoss dann mit der Spitze voran auf Gorian zu.

Der hielt in der Rechten noch immer Sternenklinge, hob blitzschnell die Linke und schnappte den Griff des Dolchs, bevor dessen Klinge ihm in jene Schulter dringen konnte, an der er bereits verletzt war. Für einen kurzen Moment spürte er noch eine fremde Kraft in dem Dolch, dann war sie verschwunden.

Wenigstens über die unmittelbare Voraussicht, mittels der ein Schwertmeister die Handlungen seines Gegners zu erahnen vermochte, schien er noch in gewohnter Weise zu verfügen.

Der Schrein stand halb offen und gab den Blick auf ein fratzenhaftes Götzengesicht frei. Es war aus Holz geschnitzt und mit grellen Farben angemalt.

Der Kopf schien einer grotesken Mischung aus Tier und Mensch zu gehören und erinnerte mit seinen hervorstehenden Hauern an einen Orxanier. Im Gegensatz zu diesem hatte dieses Wesen jedoch zwei Paare übergroße Ohren.

Der König von Gryphland und seine Gemahlin hatten sich bei der verzweifelten Suche nach Hilfe für ihre Tochter nicht nur auf den Verborgenen Gott verlassen, sondern wohl auch noch zu einem jener Götzen gefleht, die man in der Zeit vor der Verbreitung des einzig wahren Glaubens in den meisten Ländern Ost-Erdenrunds verehrt hatte. Sicher handelte es sich nicht um ein Abbild einer der so genannten Alten Götter, deren Anbetung nicht nur im Heiligen Reich bei strengster Strafe verboten war, sondern auch in allen anderen Gebieten, in denen der Bischof von Atrantia als geistliches Oberhaupt aller Gläubigen anerkannt wurde, also auch in Gryphland.

Vermutlich stellte der Kopf also eher einen der örtlichen Naturgötzen da, deren Verehrung zwar verpönt war, aber in den Ländern des Südens und Westens nie ganz ausgerottet werden konnte. Immerhin hatte man den Schrein anstandshalber geschlossen gehalten, wenn der Priester des Verborgenen Gottes bei der Kranken gewesen war.

Gorian betrachtete die Klinge des Rächers. Das schwarze Blut daran bildete einen dunklen Belag, der bereits abbröckelte, so als wäre er schon seit langem getrocknet.

Er steckte die Waffe zurück in die Scheide an seinem Gürtel und wirbelte erneut herum, als eine der letzten drei Öllampen erlosch, woraufhin nur noch Halbdunkel in dem Gemach herrschte – und plötzlich wurde auch ein Teil des Sonnenmosaiks an der Decke von einem großen dunklen Schatten verdeckt.

„Warum zeigst du dich nicht?“, rief Gorian und stellte in diesem Moment fest, dass seine Stimme der einzige Laut war, der noch an seine Ohren drang. Alle anderen Geräusche, die normalerweise eine Art klanglichen Hintergrund bildeten und einem aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit und Allgegenwart kaum auffielen, waren verstummt, selbst das Meeresrauschen, das ansonsten unablässig in allen Wohnhöhlen Gryphenklaus mehr oder weniger stark widerhallte.

Auch die vorletzte Öllampe verlosch.

„Es ist amüsant, in deine Seele zu sehen“, vernahm er erneut die Gedankenstimme. „Ich erkenne darin Furcht und Verwirrung. Und dass du kaum noch in der Lage bist, dein erlerntes Wissen auf diese völlig veränderte Situation anzuwenden.“

Wie von selbst schloss sich der Schrein wieder, wurde sogar mit großer Kraft zugeschlagen, wobei allerdings kein Geräusch entstand. Der kleine Riegel, der die Schreintür verschloss, bewegte sich ebenfalls lautlos. Die schwarze Substanz, zu welcher der Schattenmahr zerflossen war, bildete nur noch einen Fleck im Holz, der aussah, als wäre er schon viele Jahre alt.

In was für eine eigenartige Existenzebene war Gorian nur geraten? Dann fiel ihm der schwarze Rauch ein, und er fragte sich, ob er auf irgendeine Weise ins Zwischenreich der Schattenpfade gelangt war, das die Schattenmeister des Ordens zur Überwindung großer Entfernungen innerhalb von wenigen Augenblicken nutzten.

„Deine Ausbildung im Ordenshaus der Schatten scheint wirklich noch nicht weit fortgeschritten, dass du so lange für diese Schlussfolgerung gebraucht hast.“ Triumphierendes Gelächter folgte.

„Du bist der Totenalb, der vom König Besitz ergriffen hatte“, sagte Gorian laut und stellte erschrocken fest, dass sich auch der Klang seiner Stimme verändert hatte. Sie hörte sich stumpf an, ohne Echo, als würde er sich beim Sprechen ein Kissen vor den Mund halten.

Der Angriff des Schattenmahrs hatte offenbar nur dem einen Zweck gedient, ihn in dieses lautlose Zwischenreich zu holen – eine Nebenwelt, in der Bedingungen herrschten, die es dem Totenalb erleichterten, seinen ursprünglichen Auftrag auszuführen und Gorian zu töten.

„Ich hasse das Licht und liebe die Dunkelheit“, sagte die Gedankenstimme.

Dann bildete sich aus dem Schatten, der das Sonnenmosaik bedeckte, eine Gestalt aus purer Finsternis.

Gorian wich ein paar Schritte zur Seite. Seine Tritte verursachte dabei auf dem Steinboden der Wohnhöhle keinerlei Geräusch.

Die Gestalt sprang lautlos von der Decke und landete auf dem Boden, um sich dann aufzurichten. Ihre Umrisse ähnelten dem eines Menschen. Innerhalb weniger Augenblicke veränderte sie sich, gewann mehr und mehr an Substanz, und Gorian erkannte, dass die Kreatur in einer dunkle Kutte steckte, die bis zum Boden reichte. Sie streckte den Arm aus, der sich auf groteske Weise verlängerte, und Augenblicke später verstofflichte sich eine monströse Axt mit zwei Klingen. Das metallische Blinken der Schneideblätter stand in starkem Kontrast zu der Finsternis, die insbesondere unter der Kapuze herrschte und offenbar von keinem Lichtstrahl erhellt werden konnte.

„Du wirst doch sicher Verständnis dafür haben, wenn ich kein Risiko eingehe und die Kampfbedingungen so verändere, dass ich meinem zum Jähzorn neigenden Herrn mit Sicherheit einen Erfolg werde vermelden können.“

Mit diesen Worten hob der Alb den freien Arm, und eine Wolke aus schwarzem Rauch drang unter dem weiten Kuttenärmel hervor, schwebte auf die letzte noch brennende Öllampe zu und ließ sie verlöschen.

Nur noch Finsternis umgab Gorian, und das höhnische, siegesgewisse Lachen des Totenalbs dröhnte auf schmerzhafte Weise in seinen Gedanken.

Es ist der Geist, der sieht, nicht das Auge, erinnerte sich Gorian an eines der Axiome des Ordens. Die Sinne sind nur schwache Hilfsmittel des Geistes, dem allein die Erkenntnis vorbehalten ist ...

Gorian bewegte sich nicht, stand wie erstarrt in der Dunkelheit, hielt den Griff von Sternenklinge mit beiden Händen umfasst, und wieder fiel ihm die völlige Geräuschlosigkeit in dieser absoluten und undurchdringlichen Finsternis auf.

Für das Auge undurchdringlich – aber nicht für den Strahl des Geistes, ging es ihm durch den Kopf.

Es gab nichts, was ihm seine Sinne in diesem Augenblick hätten vermitteln können. Und irgendwann würde die Axt, von der Dunkelheit verborgen, auf ihn zuschnellen, ihm den Schädel spalten, ohne dass ihm noch Zeit für einen Gedanken blieb.

Gorian fragte sich plötzlich, weshalb das eigentlich noch nicht geschehen war.

Dann aber rief er sich ins Gedächtnis, was er über die Natur der Totenalben gehört und gelesen hatte. Zum Beispiel, dass sie sich an der Furcht ihrer Opfer weideten. Ein düsteres, abartiges Vergnügen, das ihnen zusätzliche und ganz besondere Kräfte zuführte und nach dem sie süchtig werden konnten wie manche Menschen nach gegorenen Getränken, Rauchwerk oder den Säften der Mohnblüte.

„Ah, wie sehr sich der mächtige Morygor vor dir fürchtet – und als was für ein erbärmlicher Hund stehst du nun vor mir!“, verhöhnte ihn der Totenalb, der seine Freude schließlich nicht mehr für sich behalten konnte. „Ich muss gestehen, dass ich selten die Endlichkeit allen Seins und insbesondere eines Opfers so bedauert habe wie in diesem Fall. Aber kein Genuss wehrt ewig. Und im Übrigen bin ich meinem Herrn verpflichtet ...“

Plötzlich riss Gorian sein Schwert empor, und hart krachte es mit der Klinge der Streitaxt zusammen, die der Totenalb schwang.

Auch das geschah völlig geräuschlos.

Ein paar Funken sprühten, als das Sternenmetall gegen die Axtklinge prallte.

Ein weiterer Hieb des Totenalbs folgte, doch auch den wehrte Gorian ab. Der dritte Hieb war so heftig, dass er ihm beinahe das Schwert aus der Hand prellte.

Er taumelte zurück und versuchte abzuschätzen, wie viel Raum wohl noch zwischen seinem Rücken und der Wand der Wohnhöhle lag.

Ein Schwall wütender und nicht mehr in Worte zu fassender Gedanken traf ihn. Der Totenalb schien die Erkenntnis nur schwer verdauen zu können, dass sein Opfer seine Angriff vorhergesehen und pariert hatte.

Lass den Geist sehen und vergiss Augen und Ohren!, ging es Gorian durch den Sinn. Unter den besonderen Bedingungen dieser Schattenwelt, in die ihn der Totenalb gezwungen hatte, war es zwecklos, sich in herkömmlicher Weise mit Magie und Schwert zur Wehr zu setzen. Er musste einen anderen Weg finden.

Er schloss die Augen. Drei Angriffen hatte er standhalten können ...

Wieder attackierte ihn der Totenalb, genauso lautlos und unsichtbar wie zuvor. Aber diesmal begegnete ihm Gorian bereits mit sehr viel mehr Sicherheit. Es erinnerte ihn an die ersten, noch sehr spielerischen Kampfübungen, die sein Vater Nhorich mit ihm durchgeführt hatte. Übungen, bei denen er jene Kunst der Schwertmeister hatte erlernen sollen, sich geistig in den Gegner hineinzuversetzen und seine Handlungen vorauszuahnen.

„Stimmt es, dass einige Schwertmeister mit geschlossenen Augen kämpfen können?“, hatte Gorian seinen Vater damals gefragt.

„Von tausend Schwertmeistern vermag es nur einer“, hatte Nhorich geantwortet. „Meister Erian, dein Großvater, gehörte zu den wenigen. Ich habe ihm darin leider nie nacheifern können, obwohl er versucht hat, mir auch das beizubringen.“

„Stand Großvater denn besonders viel von der Alten Kraft zur Verfügung?“

„Auch das. Aber darauf kommt es nicht an.“

„Worauf dann?“

„Auf die Fähigkeit zur Erkenntnis. Darauf, sein inneres Auge auf eine Weise zu benutzen, die mir niemals möglich war.“ Und dann hatte Nhorich seinem Sohn auf die Schulter geklopft und hinzugefügt: „Wenn der Schattenbringer eines Tages nicht einmal mehr genug Licht zur Erde lässt, dass man ein Schwert führen kann, lohnt sich der Kampf ohnehin nicht mehr, denn dann wird die Welt zu einem gefrorenen toten Brocken in der unendlichen Kälte des Polyversums. Ein Ort, an dem keine Existenz möglich ist ...“

An diese Worte erinnerte sich Gorian, während er den nächsten Angriff seines Gegners erwartete. Von Hieb zu Hieb wurde es für ihn leichter vorherzusehen, wie sein Gegner als nächstes die Axt führen würde. Er konnte den Totenalb und sein Tun trotz Finsternis und Geräuschlosigkeit genau erahnen, und schließlich spürte er sogar, wo sich sein Feind gerade im Raum befand.

Wieder erfolgte ein Angriff.

Mit einer ins Unermessliche gesteigerten Wut hieb der Totenalb auf ihn ein. Nie zuvor hatte Gorian ein Wesen in derart rascher Folge Hiebe mit einer vergleichsweise großen Waffe austeilen sehen, wie es sein unsichtbarer Gegner nun tat.

Trotzdem brachten ihn diese Hiebe nicht einmal ansatzweise in Gefahr. Er lenkte ihre Kraft geschickt ab, parierte die furchtbaren Schläge mit immer größerem Geschick.

Wut ist die Tochter der Unsicherheit und die Schwester der Furcht, fiel ihm ein weiteres der Ordens-Axiome ein.

Als ihn der Totenalb erneut attackierte, wagte es Gorian sogar, einen eigenen Schlag anzutäuschen. Ein gleichermaßen ungestümer wie unvorsichtiger Hieb verfehlte ganz knapp seinen Kopf. Gorian tauchte darunter hinweg und stieß dann mit Sternenklinge zu.

Aber er rief dabei keinen Kraftschrei, der in dieser geräuschlosen Welt ohnehin von niemandem gehört worden wäre. Er konzentrierte seine angesammelte Kraft auch nicht auf das Schwert, damit seine Kraft in seinen Gegner überströmen und ihn vernichten konnte.

Er tat genau das Gegenteil.

In dem Moment, als die Klinge aus Sternenmetall in den unsichtbaren Körper des Totenalbs schnitt, sog er alle Kraft aus seinem Gegner, und Blitze tanzten am Schwert entlang.

Ein Gedankenschrei raubte Gorian fast die Besinnung. Dann öffnete er die Augen.

Dunkler Rauch stieg vom Boden auf und verflüchtigte sich innerhalb weniger Herzschläge. Dann blendete ihn das flackernde Licht von Öllampen, das ihm für einen Moment fast unerträglich hell erschien, und Schwindel erfasste ihn.

„Gorian!“, hörte er Sheeras Stimme und dann Meister Thondaril, der eine magische Formel murmelte; sie war Gorian unbekannt, sorgte aber offenbar dafür, dass sein Schwindelgefühl verschwand.

Er war zurück. Zurück aus der Zwischenwelt der Schattenpfade, die auf geheimnisvolle Weise neben jener Welt existierte, die für alle wahrnehmbar war. Eine geisterhafte Zwillingsschwester der Wirklichkeit ohne Geräusche.

Vor ihm lag ausgestreckt der Totenalb in seinem kuttenartigen Gewand. Schwarzes Blut quoll aus der Wunde, die Gorian ihm beigebracht hatte.

Dann zerflossen der Körper und das Gewand zu einer zähen, dunklen Flüssigkeit, die von dem schwarzen Blut nicht zu unterscheiden war, und Gleiches geschah mit seiner Axt. Kurz war das sonst im Schatten der Kapuze verborgene Gesicht zu sehen, doch es war nur noch ein Totenschädel.

Die Flüssigkeit drang in den Boden ein, versickerte, und nur noch ein dunkler Fleck mit den ungefähren Umrissen der Gestalt blieb zurück.

Gorian konnte sich einen Moment lang nicht von diesem Anblick lösen, bis er Sheeras Hand sacht auf seiner Schulter spürte.

„Dem Verborgenen Gott sei Dank, du bist zurückgekehrt!“, erreichte ihn ihr Gedanke. „Es hätte eine Schattenpfadreise ohne Wiederkehr werden können.“

Gorian sah auf und blickte in Sheeras grünlich schimmernde Augen. Sie berührte seine Schulter, wo er von dem Schattenmahr gebissen worden war. Aber es schmerzte nicht mehr. „Du hast dich selbst geheilt? Mir war für einen Moment, als ...“ Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. „Aber in der Welt der Schattenpfade ist so einiges möglich ...“

Gorian wollte etwas sagen, aber ein Kloß steckte ihm im Hals. Zu überwältigend war das, was er soeben erlebt hatte. Er war dem Tod sehr nahe gewesen – oder vielleicht sogar einem noch schlimmeren Schicksal. Und nicht für alles, was geschehen war, hatte er eine Erklärung. Noch nicht ...

Der Priester, der Zahlenmagier und die Königin standen ergriffen um das Bett der Königstochter, und König Demris Gon strahlte eine Freude aus wie wohl seit vielen Jahren nicht mehr.

Die Königstochter hatte sich aufgerichtet, saß aufrecht im Bett, und die dunklen Ringe unter ihren Augen waren verschwunden. Es quoll auch kein dunkles Blut mehr aus Mund, Nase, Ohren und Augen.

„Die Genesung Eurer Tochter ist eine Gnade des Verborgenen Gottes“, behauptete der Priester, dann sprach er mit der Königin ein Dankgebet.

Aarad legte der Königstochter nach Art eines Heilers die Hand auf die Stirn und konzentrierte seinen Geist auf die Erforschung ihres Gesundheitszustandes. Sein Urteil stand schon nach kurzer Zeit fest. „Sie trägt keine Anzeichen jener Krankheit mehr in sich, die sie so lange danieder gehalten hat“, verkündete der Gesandte des Ordens.

Der Ältere und der Jüngere Prinz hielten sich etwas abseits. Sie schienen beide noch nicht so recht zu wissen, was sie von der plötzlichen Gesundung ihrer Schwester letztlich halten sollten. Gorian wusste nicht, ob nach dem Hausrecht der gryphländischen Königsfamilie eine weibliche Thronfolge möglich war. Er würde Aarad bei Gelegenheit danach zu fragen.

„Du hast offenbar etwas vollbracht, das sonst niemandem möglich war“, ergriff König Demris Gon das Wort und wandte sich dabei an Gorian. Dabei trat er ganz unköniglich an ihn heran und ergriff seine Hand. „Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll!“

„Erfülle ihm alle Wünsche, die er fordert“, riet die Königin. „Und versichere dich auf Dauer der Dienste dieses jungen Mannes.“

„Das wird leider nicht möglich sein“ entgegnete Gorian freundlich. „Aber ich bitte Euch erneut darum, uns die Reise nach Felsenburg zu gestatten und uns den Zugang zu den dort gelagerten Caladran-Schriften zu gewähren. Außerdem erlaubt uns bitte, zumindest eine dieser Schriften mit zu den Inseln der Caladran zu nehmen, um sie ihren ehemaligen Besitzern zurückzugeben.“

Auf einmal prägte wieder Unentschlossenheit die Züge des Königs. Sein Blick wurde unruhig, und schon an seiner Körperhaltung war abzulesen, wie ihn die innere Zerrissenheit erneut bedrängte. Er ließ Gorians Hand los und machte einen Schritt zurück.

„Ihr solltet zu Eurem Wort stehen, mein Gemahl!“, verlangte die Königin.

„Aber was, wenn ein weiteres dieser Schattenwesen unsere Tochter heimsucht? Etwa, um Rache dafür zu üben, dass ich mich mit dem Orden der Alten Kraft verbündete und seinen Mitgliedern ihre Wünsche gewährte? Ist das denn ausgeschlossen?“

„Sollte dies geschehen, dann sei es so“, mischte sich die Königstochter ein, und ihre Stimme klang überraschend fest, ihr Blick wirkte klar. „Vater, ich schwankte so lange am Rande des Grabes, dass ich den Tod nicht mehr fürchte. Jeden Schrecken, den ich noch erleiden könnte, habe ich in der Vergangenheit bereits erduldet.“

Einige Herzschläge lang sagte niemand ein Wort. Alle Augen waren auf den König gerichtet.

„Gut“, sagte Demris Gon schließlich. „Ruft meinen Sekretär. Ein entsprechendes Dokument soll ausgestellt und besiegelt werden!“



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