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2.Kapitel

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Tjade Winkels war früh aufgestanden. Er konnte sich immer noch nicht daran gewöhnen, dass er sich jetzt nicht mehr an seinen Arbeitsplatz begeben musste. Der Fischteichweg, an dem die Polizeiinspektion für Aurich und Wittmund lag, war von seiner Wohnung nur zehn bis fünfzehn Minuten zu Fuß entfernt. Nur wenn es regnete, benutzte er sein Auto, an den übrigen Tagen genoss er den Spaziergang.

Er machte eine unwillige Handbewegung vor dem Spiegel im Badezimmer. Er dachte immer noch, dass die Vergangenheit seine Gegenwart war. Er würde noch einige Zeit brauchen, bis er die neue Situation völlig akzeptiert hatte. Er hatte sein ganzes Leben dem Dienst an der Öffentlichkeit gewidmet und dafür gesorgt, dass die Bürger ruhig schlafen konnten.

Wenn er ganz ehrlich mit sich selbst war, musste er zugeben, dass es allmählich Zeit wurde, der nächsten Generation den Platz frei zu machen.

Prüfend fuhr er mit den Fingerspitzen über die glatt rasierten Wangen. Ein paar Schaumreste waren schnell weggewischt. Er hasste Elektrorasierer und benutzte seit seiner ersten Rasur ein Rasiermesser, wie er es von seinem Vater gelernt hatte.

Ein paar Falten im Gesicht – das störte ihn nicht. Seine immer noch vollen dunkelblonden Haare standen etwas wirr vom Kopf ab. Er griff zu einem Kamm und beseitigte das Problem.

Seine Augen schienen ihm unter den buschigen Brauen leicht eingefallen zu sein. Er hatte nicht besonders gut geschlafen, da er den Mord an Wilhelm Papendieck nicht aus seinen Gedanken bekam.

Am Vorabend hatte er sich gesagt, dass ihn das nichts anging, aber heute Morgen war dieser Vorsatz wie weggeblasen. Dieser Dröver würde doch Spuren nicht entdecken, wenn sie direkt vor seiner Nase lägen.

Er warf einen Blick zu Harm, der schwanzwedelnd hinter ihm saß und darauf wartete, endlich aus der Tür gelassen zu werden.

Am liebsten hätte Winkels ihm einfach die Tür geöffnet, doch dann würde der eine oder andere Nachbar wieder zetern, dass der Hund die kostbaren Blumen ausgegraben hätte oder die Beete verwüstete. Nach der zweiten Beschwerde hatte er widerstrebend zur Leine gegriffen.

Beim Gedanken an Nachbarn fiel ihm ein, dass er vielleicht mal versuchen könnte, mit Papendiecks Nachbarn zu reden. Nach seiner Erfahrung gab es immer einige, die etwas gesehen oder bemerkt hatten.

Denn Neugier war eine zutiefst menschliche Eigenschaft.

Mit neuem Elan zog er sich an, wobei er heute auf die Cordhose verzichtete. Sie war wirklich abgetragen, und er wollte nicht gerade wie ein Penner auftreten.

Er erinnerte sich, dass es noch ziemlich früh war. Es wäre wohl ziemlich unhöflich gewesen, um diese Zeit bei fremden Leuten zu klingeln.

Also erstmal mit dem Hund spazieren gehen, dann frühstücken, in Ruhe die Nachrichten ansehen, und dann...

Wie sollte er eigentlich auftreten? Er musste einen Grund finden. Darüber konnte er nahdenken, wenn Harm sein Geschäft verrichtete.

Beschwingten Schrittes machte er sich anschließend auf den Weg zu Wilhelm Papendiecks Haus. Bei seinem ersten Besuch hatte er gesehen, dass die Nachbarn zu beiden Seiten hinter ihren Zäunen und Hecken standen und herüber glotzten. In der ganzen Straße gab es fast nur Einfamilienhäuser unterschiedlicher Größe, die vor allem in den sechziger und siebziger Jahren erbaut worden waren.

Für heutige Verhältnisse waren die Häuser zu klein und die Gärten zu groß, weil niemand mehr Lust auf Gartenarbeit hatte. Tjade Winkels gab insgeheim zu, dass er auch zu dieser Gruppe gehörte.

Harm schnüffelte unruhig hin und her, da dieser Weg ihm nicht so geläufig war. Also gab es für eine Hundenase viel Neues zu entdecken. Er blieb gern stehen, um besonders interessante Stellen genauer zu untersuchen. Diese Tätigkeit nahm in so sehr in Anspruch, dass er sein übliches Bellen vergaß.

Der Nachbar zur linken Seite von Papendiecks Haus stand am Gartentor und rauchte eine dünne Zigarre. Im Inneren des Hauses durfte er das sicher nicht. Er war in den Sechzigern, also in einem ähnlichen Alter wie Winkels selbst. Das sollte doch für einen Anknüpfungspunkt reichen.

Er blieb stehen und ließ Harms Leine ein ganzes Stück abrollen, so dass der Hund einen größeren Umkreis beschnüffeln konnte.

„Ein trauriges Ende“, bemerkte er und deutete auf das Nebengrundstück, das mit Flatterband abgesperrt war.

„Das hat er nicht verdient“, sagte der andere und nahm die Zigarre aus dem Mund. „Habe ich Sie nicht schon mal gesehen?“

„Ich war gestern hier. Bei dem Toten.“

„Sind Sie von der Polizei? Ich habe denen schon alles gesagt, wissen Sie. Der Herr Kommissar wollte wissen, wie lange ich Wilhelm schon kenne, und...“

„Hauptkommissar!“ unterbrach ihn Winkels.

„Bitte?“

„Sein Titel ist Kriminalhauptkommissar.“

„Ach so.“ Der Nachbar sah Winkels misstrauisch an, der keine Anstalten machte, den Irrtum aufzuklären, dass er nicht mehr zur Polizei gehörte. Vielleicht erfuhr er auf diesem Weg etwas, das Dröver überhört hatte.

„Wie lange sind Sie denn schon der Nachbar von Herrn Papendieck?“ fragte Winkels.

„Wir wohnen beide schon lange hier, mindestens zwanzig Jahre. Er ja nun nicht mehr.“

Der Nachbar schüttelte den Kopf und machte ein betrübtes Gesicht.

„Haben Sie ihn gut gekannt?“

„Eigentlich nicht. Wie man seinen Nachbarn eben kennt. Man grüßt sich, redet gelegentlich miteinander am Gartenzaun. Sie wissen ja, dass wir hier in Ostfriesland nicht gerade zu den geschwätzigen Menschen zählen.“

„Also wissen Sie nicht, was er privat unternahm?“

Der Nachbar zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nur, dass er an vielen Sonntagen im Waldfrieden war.“

„Waldfrieden? Sie meinen das Seniorenheim?“

„Genau. Dort traf er sich mit seinen alten Freunden. Das muss wohl eine ganz verschworene Gemeinschaft gewesen sein. Er hat mir mal erzählt, dass er mit dieser Gruppe einige Ausflüge unternommen hat. Am Sonntagnachmittag gab es dann Kaffee und Kuchen im Heim.“

„Wieso ausgerechnet dort?“

„Ein Teil seiner Freunde lebte wohl dort. Nicht alle, soweit ich weiß. Aber dort trafen sie sich meistens.“

Nach einigem Nachdenken fügte er hinzu: „Vielleicht hatten sie dort mehr Platz als in ihren eigenen Wohnungen.“

Das brachte Winkels auf die nächste Frage. „Hatte Herr Papendieck Familie?“

„Na, ja“, kam die gedehnte Antwort. „Was man so Familie nennt. Er hatte einen Sohn, der mit seiner Familie in Wittmund lebt. Er war nicht oft hier. Wilhelm hat das immer bedauert, aber erst neulich hat er mir erzählt, dass sie sich über ihre Erbschaft wundern würden, wenn es soweit war. Ja, so hat er sich ausgedrückt.“

Winkels wurde beim Thema Erbschaft hellhörig.

„Wie hat er denn das gemeint?“

„Das weiß ich nicht. Ich hatte so den Eindruck, dass ihm der Gedanke Spaß gemacht hat. Er wurde dann ganz aufgekratzt. Aber mehr hat er dazu nicht gesagt. Ich habe nicht weiter gefragt, ging mich auch nichts an. Ich weiß eben nur, dass sein Verhältnis zu seinem Sohn und dessen Frau nicht gut war.“

Winkels nagte an seiner Unterlippe. „Haben Sie gestern jemanden gesehen, der nicht hierher gehört? Hat jemand das Haus beobachtet? Stand ein Wagen in der Straße, den Sie vorher noch nie bemerkt haben?“

„Das hat mich dieser... dieser Hauptkommissar auch gefragt. Doch da war niemand. Allerdings, wenn ich mich richtig erinnere, habe ich da drüben bei den Büschen vor der Hecke ein Geräusch gehört. Ich habe auf der anderen Seite die Blumen gegossen, mit dem Gartenschlauch, und das hat ganz schön geprasselt. Deshalb habe ich nicht weiter darauf geachtet. Hätte ein Tier sein können, eine Katze oder ein Hund.“

Er warf einen langen Blick zu Harm, der am Ende der langen Leine am Boden schnüffelte.

„Können Sie mir die Stelle zeigen?“

Nach kurzem Zögern öffnete der Mann seine Pforte, und Winkels betrat das Grundstück. Sie überquerten den kurz geschnittenen Rasen, bis der Nachbar des Toten vor einer Gruppe Büsche und kleiner Bäume stehen blieb. Dicht dahinter war die nicht sehr hohe Hecke zu erkennen, die die Grundstücke voneinander trennte. Der Zaun bestand aus einem niedrigen Drahtgeflecht, der die Kaninchen fernhalten sollte.

„Was befindet sich hinter Ihrem Grundstück?“ fragte Winkels, da die Sicht auf die Rückseite des Gartens verdeckt war.

„Da gibt es im Moment nur ein unbebautes Grundstück. Die alte Bruchbude, die darauf stand, ist vor kurzem abgerissen worden. Doch jetzt können sich die Erben nicht darauf einigen, wie es weitergehen soll.“

Auf die Nachbarn in Aurich ist doch Verlass, dachte Winkels. Die wissen immer, was in der Nähe vor sich geht. Und schon wieder ein Hinweis auf eine Erbschaft. Das Thema würde ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Er schlug einige Zweige des dichten Gebüschs zur Seite. Direkt vor seinen Augen waren zwei Schuhabdrücke mit einem deutlichen Profil im lockeren Erdreich zu erkennen. Einige schwächere Abdrücke führten zur Rückseite des Grundstücks.

Hier hatte eindeutig jemand gestanden. Direkt hinter dem Stamm eines Apfelbaums. Von hier aus war es nur ein großer Schritt über die niedrige Hecke, um auf Papendiecks Grundstück zu kommen.

Er ließ die Zweige wieder los.

„Ich fürchte, Sie bekommen noch einmal Besuch von der Polizei. Rühren Sie hier bitte nichts an.“

*



Tjade Winkels überkam immer eine gewisse Wehmut, wenn er sein altes Büro betrat. Die Beamten im Eingangsbereich kannten ihn und ließen ihn ohne weitere Formalitäten durchgehen.

Die Polizeiinspektion war in einem großen, modernen Gebäude untergebracht, das nicht direkt an der Straße lag. Immerhin war die Behörde für den ganzen Landkreis zuständig. Sie hatte über vierhundert Mitarbeiter, von denen ein großer Teil in diesem Gebäude tätig war.

Sein Nachfolger Uwe Dröver sah ihn kommen, verzog das Gesicht und klappte rasch seinen Laptop zu. Er ließ sich meistens nichts anmerken, wenn Winkels wieder einmal unangemeldet hereinschneite, doch es war ihm anzusehen, dass er seinen Vorgänger lieber von hinten sah.

Egal – Tjade hatte sich schon soweit mit dem Fall Papendieck beschäftigt, dass es jetzt nicht mehr zurückkonnte. Er musste einfach mithelfen, diesen Mord aufzuklären.

Also informierte er Dröver über die Fußspuren, und der - das musste man ihm lassen – reagierte sofort und rief die Spurensicherung an.

Winkels war erleichtert. Er hatte einen wichtigen Beitrag geleistet, so dass Dröver ihn kaum noch aus der Ermittlung ausschließen konnte.

Während er auf dem Besucherstuhl vor Drövers Schreibtisch saß, hatte er Gelegenheit, die Unterlagen auf der Schreibtischplatte zu studieren, solange sein Gegenüber telefonierte. Winkels verstand sich hervorragend darauf, auf dem Kopf stehende Schriften lesen zu können.

Auf ein Blatt Papier hatte Dröver mit Großbuchstaben zwei Worte geschrieben und unterstrichen:

Seniorenheim Waldfrieden.

Na, sieh mal einer an!

Wenn in so kurzer Zeit zum zweiten Mal ein bestimmter Begriff auftaucht, dann hat er auch eine Bedeutung, und Winkels war klar, wohin ihn sein nächster Weg führen musste.

Das folgende Gespräch entpuppte sich als ziemlich zäh, denn Dröver wollte mit Informationen einfach nicht herausrücken. Er musste jedoch zugeben, dass Winkels mit seinem Verdacht richtig gelegen hatte. Wilhelm Papendieck war ermordet worden.

Ein Rechtsmediziner war noch am gleichen Tag nach Aurich gekommen und hatte beim ersten Blick auf den Toten festgestellt, dass es sich nicht um einen Unfall handelte. Er hatte sich die Leiter angesehen und die gleichen Schlüsse gezogen wie Winkels. Bei näherer Betrachtung der Leiche waren ihm dann die Spuren von Würgemalen am Hals aufgefallen. Die Ergebnisse der Obduktion lagen noch nicht vor, doch der Hergang der Tat war inzwischen recht klar.

Auch die Spurensicherung hatte bestätigt, dass die Leiter nicht von allein umgefallen war.

Es handelte sich jetzt offiziell um einen Mordfall und Uwe Dröver hatte bereits seine Sonderkommission zusammengestellt.

Er hatte sein Gespräch beendet und legte auf. Sein Interesse war wieder auf seinen Vorgänger gerichtet.

„Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“

„Ich würde gern weiter an dem Fall arbeiten. Ich könnte dir einige Laufereien abnehmen. Ich weiß ja, wieviel du hier in der Zentrale zu tun hast. Schließlich lastet die gesamte Verantwortung auf dir. Ich würde dir selbstverständlich sofort mitteilen, wenn ich auf ein wichtiges Detail gestoßen bin. Vor allem würdest du ein eventuelles Lob bekommen...“

Das reicht jetzt, dachte Tjade Winkels. Noch mehr Honig, und Dröver würde misstrauisch werden.

Sein Nachfolger überdachte den Vorschlag. Schließlich nickte er.

„Na, gut. Versuchen wir es.“

Tjade Winkels hatte es jetzt plötzlich eilig und verabschiedete sich.


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