Читать книгу Ermordet zwischen Sylt und Ostfriesland: 6 Küstenkrimis - Alfred Bekker - Страница 14

6. Kapitel

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Sie hatten sich für den frühen Abend in einem kleinen italienischen Restaurant verabredet, das ganz in der Nähe der Polizeiinspektion lag. Tjade Winkels hatte früher dort oft eine Kleinigkeit gegessen. Man konnte auch nur auf der Außenterrasse sitzen und seinen Wein trinken.

Dröver war pünktlich

Im Grunde war er kein schlechter Polizist, dachte Winkels zum wiederholten Male. Allerdings fehlte ihm noch der Blick für manche Zusammenhänge.

Er lächelte weise. An seine Erfahrung kam eben so leicht keiner heran.

Dröver setzte sich ächzend und griff sofort zur Speisenkarte. Dann bemerkte er Harm, der zusammengerollt zu Tjades Füßen lag und die Ohren spitzte. Harm kannte den Hauptkommissar gut genug, um zu wissen, dass von ihm keine Leckereien zu erwarten waren.

„Er hat schon sein Stück Fleisch bekommen“, sagte Winkels betont.

„Und? Hat er es gefressen?“

Dröver lachte wiehernd über seinen vermeintlichen Scherz, den Winkels überhaupt nicht lustig fand, da die Küche in diesem Restaurant ausgesprochen gut war.

Sie entschieden sich für Pasta und Salat, dazu einen trockenen Weißwein. Anschließend berichtete Tjade Winkels von seinem Besuch bei Notar Haferkamp.

„Das hat er dir alles erzählt?“ wunderte sich Dröver.

„Das hätte er dir wahrscheinlich auch erzählt, wenn du dir die Mühe gemacht hättest, ihn persönlich aufzusuchen.“

Es klang etwas schärfer als beabsichtigt, und Dröver zog ein beleidigtes Gesicht. Sie schwiegen sich eine ganze Weile an.

Als ihr Essen kam, waren sie vollauf damit beschäftigt, ihre Spaghetti auf die Gabel zu bekommen. Danach war Zeit für eine Fortsetzung des Gesprächs.

Winkels berichtete von den Informationen, die er von Helmut Stolte erhalten hatte, worauf Dröver ihm einen Zettel über den Tisch schob.

„Ich war auch nicht ganz untätig. Hier ist die Liste mit den Namen und Adressen der jeweiligen Erbberechtigten der drei Verstorbenen sowie der drei noch lebenden Mitglieder der Tippgemeinschaft. Wir wissen ja, dass bei einem Mord der Täter meistens in der Umgebung des Opfers zu suchen ist. Nach dem, was du erfahren hast, ist es immer wahrscheinlicher, dass der oder die Mörder in diesem Kreis zu vermuten sind.“

Winkels nahm den Zettel entgegen und studierte ihn.

„Wenn du nichts dagegen hast würde ich gern mit den Erben der noch Lebenden reden. Denn die können wir als Schuldige keinesfalls ausschließen. Sie hätten das größte Interesse an der Gewinnsumme, auch wenn sie darauf noch eine gewisse Zeit warten müssten. Wir brauchen einfach mehr Informationen zu allen betroffenen Personen.“

„Ich kann dich nicht daran hindern, die möglichen Erben privat aufzusuchen. Ich erwarte allerdings, dass ich anschließend alle Einzelheiten erfahre. Du kannst gern helfen, aber ich leite die Ermittlungen. Ich kümmere mich um die anderen Gespräche. Dann können wir die Ergebnisse vergleichen.“

Winkels nickte. „Das geht in Ordnung.“

„Noch etwas. Ich habe die Ergebnisse der Obduktion von Erna Bräker bekommen. Auch in dem Fall hast du richtig gelegen. Sie wurde tatsächlich ermordet. Sie bekam einen heftigen Stoß zwischen die Schulterblätter, der sie über die Brüstung des Balkons geschleudert hat. Dazu passen die Abschürfungen an ihrem Körper. Bei einem freiwilligen Sprung hätte es anders ausgesehen. Der Rechtsmediziner war sich seiner Sache völlig sicher. Wir gehen jetzt also von drei Morden aus.“

„Die vermutlich von einem einzigen Täter begangen wurden, der es eilig hatte, sein Werk zu vollbringen.“

Dröver starrte in sein leeres Weinglas.

„Wie können wir einen weiteren Mord verhindern? Wenn es unter den restlichen drei Rentnern noch einen Toten gibt, haben wir vielleicht den Täter, jedoch um den Preis eines weiteren Lebens.“

Winkels rief den Kellner heran, um die Gläser noch einmal füllen zu lassen.

„Wenn der Schuldige nicht komplett bescheuert ist, wird er wohl in absehbarer Zeit keinen weiteren Mord wagen. Denn das muss ihm ja auch klar sein, dass er sich damit verrät. Es dürfte außerdem eindeutig sein, dass der Täter den geheimen Pakt kennt, den die sechs Gewinner geschlossen haben. Ich weiß nicht, wie hoch die Summe ist, die unter den drei Überlebenden verteilt wird, aber es wird sich für einen Erben offensichtlich lohnen. Der Notar sprach von einem Hauptgewinn.“

„Der Jackpot beim Lotto?“

Winkels nickte. „Sieht ganz so aus.“

„Das hieße…“

„… vermutlich einige Millionen Euro“, ergänzte Winkels.

„Dann könnte der Täter in aller Ruhe abwarten, bis er nach einiger Zeit einen kleinen Unfall oder etwas Ähnliches arrangieren kann.“

„Das müssen wir unbedingt verhindern“, erklärte Winkels.

Er tippte auf den Zettel, den er von Dröver erhalten hatte.

„Ich bin sicher, dass wir keinen Serienmörder suchen, der Rentner umbringt, sondern dass einer dieser Namen der unseres Täters ist.“

*

Als die Tür sich öffnete, erblickte Tjade Winkels eine ungepflegt aussehende Frau in den Sechzigern. Sie war in einen fleckigen Bademantel gehüllt, hatte Lockenwickler im Haar und hielt in der rechten Hand eine glimmende Zigarette.

Nein, keine Zigarette. Er roch den süßlichen Duft des Marihuanas. Ein Joint!

„Ja?“

„Ich würde gern mit Holger Bartels sprechen.“

„Der ist nicht da.“

Aus dem Hintergrund des Hauses drang eine quäkende Stimme. „Wer ist denn da, Mutter?“

„Man kann sich ja mal vertun“, säuselte Winkels und machte einen Schritt nach vorn. Sie funkelte ihn wütend an, gab aber die Tür frei.

Es roch nach abgestandener Luft, Kohl und schmutziger Wäsche. Das Innere des Hauses war nicht gerade verwahrlost, aber kurz davor. Im Laufe seiner langen Karriere hatte Winkels schon viele ähnliche Behausungen gesehen und wunderte sich nicht mehr darüber, wie manche Leute lebten.

Es machte ihm heutzutage nichts mehr aus. Seine Anwesenheit in solchen Wohnungen dauerte nur kurze Zeit, während die Bewohner ihr ganzes Leben in einer solchen Umgebung verbringen mussten.

Im Wohnzimmer erwartete ihn ein weiterer ungewohnter Anblick.

Auf einem zerschlissenen Fernsehsessel mit Fußstütze saß ein Mann in Unterwäsche, in der rechten Hand eine Bierflasche, in der linken ebenfalls einen Joint. Beide Arme waren bis zum Handgelenk tätowiert. An den Füßen trug er Pantoffeln. Er hatte deutliches Übergewicht, doch seine Muskeln sahen nach regelmäßigem Krafttraining aus.

Der Geruch nach Marihuana überdeckte die anderen Gerüche. Im Fernsehen lief eine Sportsendung mit leise gestelltem Ton.

„Herr Holger Bartels?“ fragte Winkels vorsichtig.

„Wer will das wissen?“ kam es aggressiv zurück.

„Mein Name ist Tjade Winkels. Es geht um die Vorgänge in der Senioren-Residenz, in der Ihr Vater lebt.“

„Was ist mit dem Alten?“

Die Stiefmutter kam jetzt in den Wohnraum. Sie hatte ihren Joint ausgedrückt und öffnete ein Fenster, wofür Tjade äußerst dankbar war.

„Mit Ihrem Vater ist nichts. Wir machen uns nur Sorgen, dass nach den Todesfällen auch andere Bewohner des Heimes in Gefahr sein könnten.“

Holger Bartels kippte seinen Sessel nach vorn.

„Was haben wir damit zu tun?“

„Genau!“ mischte sich Frau Bartels ein. „Was geht mich der Kerl an? Wir reden schon lange nicht mehr miteinander. Von mir aus kann er in seiner Residenz“ – sie spuckte das Wort fast aus – „verrecken.“

„An einem möglichen Erbe sind Sie nicht interessiert?“ ließ Winkels einen Versuchsballon los.

Schweigen.

„Ich frage deshalb, weil wir annehmen, dass die Todesfälle mit einer möglichen Erbschaft zu tun haben.“

Jetzt drückte auch der Sohn seinen Joint in einem übervollen Aschenbecher aus. „Wer sind Sie überhaupt?“

„Sagte ich doch schon. Ich ermittle im Namen der Polizei von Aurich.

„Polizei?“ wiederholten beide gleichzeitig.

Winkels bewegte sich einen Schritt näher zum Fenster. Er spürte einen frischen Luftzug und atmete tief durch.

Holger Bartels löste seinen Blick vom Geschehen auf dem Bildschirm.

„Wollen Sie damit sagen, wir kriegen jetzt ein Erbe?“

„Red´ nicht so einen Quatsch!“ fuhr seine Stiefmutter dazwischen. „Erben kann man nur, wenn jemand gestorben ist, und dein Alter lebt noch, soweit ich weiß.“

Sohnemann sah von einem zum anderen. Er war nicht der hellste unter der Sonne, das war Winkels klar geworden.

„Er hat doch gesagt, es geht um eine Erbschaft“, quengelte Holger.

„Nicht um Ihre“, stellte Winkels richtig. „Wir vermuten, dass zwei Insassen des Heimes, in dem auch Ihr Vater wohnt, wegen Ihres Vermögens ermordet wurden.“

„Ermordet?“ wiederholten sie unisono. Frau Bartels setzte sich.

„Lesen Sie keine Zeitung?“

Beide schüttelten den Kopf.

„Wozu soll das gut sein?“ maulte Holger. „Ist doch immer dasselbe. Mir reicht der Fußball im Fernsehen. Mehr brauche ich nicht zu wissen.“

Irgendwas ist bei deiner Erziehung schief gelaufen, dachte Winkels, sprach es aber nicht aus.

Er bemerkte, dass die Mutter ihrem Stiefsohn einen merkwürdigen Blick zuwarf, dessen Bedeutung er nicht einordnen konnte. Sie zündete sich eine normale Zigarette an.

Holger ließ seinen Sessel wieder nach hinten kippen und trank sein Bier aus. Winkels hatte das dumpfe Gefühl, das er einer Art Theateraufführung beiwohnte. Er hätte gern den Titel des Stückes gewusst, doch die beiden machten keine Anstalten, weitere Auskünfte zu geben.

„Also, wir haben keine Erbschaft erhalten“, sagte Frau Bartels nach einer ganzen Weile, und es klang endgültig.

Holger kippte nach vorn und schwang sich aus dem Sessel. Er ging aus dem Zimmer und kam ein paar Sekunden später zurück, eine neue Flasche Bier in der Hand.

„Wüsste ich doch, wenn wir Geld hätten, oder Mutter? Würdest du mir doch sagen!“

Er ließ sich wieder in seine Sitzgelegenheit plumpsen und setzte die Flasche an die Lippen

„Sicher“, entgegnete sie einsilbig.

Winkels sah ein, dass er hier nicht weiterkommen würde.

„War nett bei Ihnen“, sagte er und trat den Rückweg an.

*

Seine nächste Adresse lag im Stadtteil Sandhorst, also recht zentral. Tjade Winkels gab den Straßennamen in sein Navi ein und folgte dem vorgeschlagenen Weg.

Die Adresse gehörte Rolf Ahlsen. Der ältere Sohn, wie er dem Zettel entnahm, den er von Hauptkommissar Dröver bekommen hatte. Rolf war geschieden, hatte keine Kinder und ging offensichtlich keiner geregelten Arbeit nach.

Er fand einen Parkplatz nahe an dem Mietshaus aus den sechziger Jahren, in dem Rolf Ahlsen im Erdgeschoss wohnte.

Wilkens klingelte, und zu seiner Überraschung erklang eine weibliche Stimme. „Ja, bitte?“

„Moin.“

„Moin.“

„Ich würde gern mit Herrn Ahlsen sprechen. Es geht um eine Angelegenheit des Seniorenheims, in dem sein Vater lebt.“

Ohne weitere Rückfragen ertönte der Summer, und er betrat den Hausflur. In der geöffneten Wohnungstür stand eine gut gekleidete junge Frau und sah ihm neugierig entgegen. Lange blonde Haare umrahmten ein ovales Gesicht mit einer auffälligen Stupsnase und einem zu stark geschminkten Mund.

Winkels stellte sich vor, wobei er die Unterstützung einer polizeilichen Ermittlung wieder als Grund für seinen Besuch anführte.

Die junge Frau bat ihn ins Wohnzimmer, das völlig anders aussah, als das von Holger Bartels. Sauber, aufgeräumt und mit Geschmack dekoriert. Zweifellos die Hand einer Frau.

Vom Wohnungsinhaber war nichts zu sehen.

„Rolf schläft noch“, erklärte sie. „Er ist seit einiger Zeit bei einem Sicherheitsunternehmen angestellt und hatte Nachtschicht.“

Winkels setzte sich auf die angebotene zweisitzige Couch. „Wie lange kennen Sie Herrn Ahlsen schon?“

„Etwa ein halbes Jahr. Ich arbeite in einer Bar hinter dem Tresen. Ich kannte ihn vom Sehen, da er dort ein häufiger Gast war. Irgendwann haben wir uns dann angefreundet, er suchte sich einen vernünftigen Job, und wir konnten zusammenziehen. Das klappt bisher ganz gut.“

Offensichtlich war sie zufrieden mit dem Arrangement, und Winkels wunderte sich, wieviel einfacher manche Dinge heutzutage gehandhabt wurden. Das war zu seiner Zeit ganz anders. Er seufzte und verdrängte die Erinnerungen.

„Sie haben sicher von den Ereignissen im Heim gehört?“

Sie nickte. „Natürlich. Rolf war sehr betroffen und machte sich Sorgen um seinen Vater. Er fürchtete, dass auch ihm etwas zustoßen könnte.“

„Har er dafür einen Grund genannt?“

„Zwei Mordfälle so kurz hintereinander, da kann man schon Angst bekommen. Rolf kam noch nicht dazu, seinen Vater zu besuchen, wegen seiner Arbeitszeiten.“

„Hat er ihn denn vorher oft besucht?“

Sie runzelte die Stirn. „Das weiß ich nicht so genau. Wir reden nicht über seinen Vater oder überhaupt über die Familie. Er hat noch einen jüngeren Bruder, wissen Sie. Thorsten Ahlsen. Doch den habe ich noch nicht kennengelernt. Rolf hält wohl nicht viel von ihm.“

Eine intakte Familie ist doch etwas Wunderbares, dachte Winkels.

„Haben Sie mit Ihrem Freund darüber gesprochen, was die Gründe für diese Morde gewesen sein könnten?“

„Er hat nur gesagt, dass die Seniorenresidenz gut beraten wäre, wenn sie sein Sicherheitsunternehmen engagieren würde. Dann hätte so etwas nicht passieren können.“

„Was hätte nicht passieren können?“ kam eine Stimme von der Tür.

Winkels drehte sich um. Im Türrahmen stand ein großer, breitschultriger Mann mit nacktem Oberkörper und in einer Schlafanzughose. Sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

„Ich habe Stimmen gehört.“

„Rolf!“ rief seine Freundin. „Der nette Herr kümmert sich um die Ermittlungen im Heim deines Vaters.“

Rolf trat näher. Tjade Winkels erhob sich und stellte sich vor.

„Wir möchten uns nur vergewissern, ob den Familien der Insassen des Heimes irgendwelche Dinge aufgefallen sind, die uns helfen könnten, die Morde aufzuklären.“

„Woher sollten wir denn etwas wissen? Kümmern Sie sich lieber um die Sicherheit der Rentner. Meinem Vater geht es gut, ich habe gestern mit ihm telefoniert. Ansonsten geht mich das Heim nichts an.“

Rolf Ahlsen drehte sich um und marschierte zur Tür.

„Ich bin im Badezimmer“, verkündete er.

„Ich kann Ihnen auch nicht mehr sagen“, erklärte die Freundin. „Ich weiß über das Heim noch weniger als er. Ich bin noch nie dort gewesen. Rolf meinte, es sei nicht nötig, dass ich seinen Vater kennenlerne. Das würde nur wieder neuen Streit erzeugen.“

Sie blickte zu Boden. „Ich glaube, die beiden haben kein gutes Verhältnis. Doch daran kann ich nichts ändern.“

Winkels bedankte sich für das Gespräch und stand Minuten später wieder auf der Straße. Viel gebracht hatte dieser Besuch nicht. Jedenfalls war Rolf Ahlsen als möglicher Täter ebenso wenig auszuschließen wie Holger Bartels. Blieb noch der jüngere Bruder.

Er musste unbedingt mit Uwe Dröver sprechen. Es wurde Zeit, unauffällig herauszufinden, wo sich die Verdächtigen zum Zeitpunkt der Morde aufgehalten hatten. Das konnte zunächst im Hintergrund geschehen, ohne dass die Betreffenden davon erfuhren.

Er stieg in seinen Wagen und beschloss, zunächst nach Hause zu fahren. Der Hund musste unbedingt auf die Straße. Harm war zwar gut erzogen, aber wenn der Drang zu stark wurde…

*

Er war rechtzeitig gekommen. Harm hatte brav gewartet. Doch jetzt genoss er den Spaziergang. Winkels wunderte sich immer wieder, mit welcher Inbrunst ein Hund an immer den gleichen Stellen schnüffeln konnte als wäre es das erste Mal.

Jetzt war noch genügend Zeit für einen weiteren Besuch.

Tjade Winkels überprüfte die Adresse auf Drövers Liste und gab sie in den Navi ein. Eine kleine Straße, die noch zum alten Stadtkern gehörte.

Die körperlose Frauenstimme leitete ihn sicher an seinen Bestimmungsort. Eine Parkuhr war frei.

Auch dieses Mehrfamilienhaus stammte aus den sechziger Jahren und hätte einen Anstrich vertragen können.

Thorsten Ahlsen wohnte im Gegensatz zu seinem Bruder im obersten Stockwerk. Winkels klingelte. Es rührte sich nichts. Noch zwei Versuche. Nichts.

Im Erdgeschoss auf der rechten Seite ging ein Fenster auf, und ein weiblicher Kopf mit einer strubbeligen Frisur erschien. Die Dame hatte die siebzig wohl bereits überschritten, musterte den ehemaligen Hauptkommissar aber mit scharfem Blick.

„Zu wem wollen Sie denn?“

„Ich würde gern mit Herren Ahlsen sprechen. Er wohnt doch hier?“

„Schon“, antwortete sie gedehnt. „Seit über einer Woche hat ihn niemand gesehen. Also ich jedenfalls nicht.“

Und du siehst hier alles! dachte Winkels.

„Weiß vielleicht jemand, wo er ist?“

„Wahrscheinlich im Urlaub“, vermutete die alte Frau.

„Glauben Sie?“

„Na, ja. Er stieg mit zwei Koffern in ein Taxi. Es sah so aus, als ob er verreisen wollte. Er war wie für einen Urlaub gekleidet. Sie wissen schon, Jeans, buntes Hemd, Baseballkappe und so.“

„Lebte er allein?“ führte Winkels die Unterhaltung zwischen Haustür und Fenster fort.

„Er hatte eine Freundin, aber sie ist wohl weggelaufen. Es gab immer Krach zwischen den beiden. Hat mir eine Nachbarin erzählt.“

Gut, dass ich allein in einem Haus lebe, dachte Winkels. Dann kann die Nachbarschaft sich nicht das Maul zerreißen. Obwohl – Frau Schrader…

„Arbeitet Herr Ahlsen regelmäßig?“

„Er lebt zwischendurch ganz gern von der Stütze, aber im Augenblick hat er wohl eine Arbeit. Bei einer Autowerkstatt hier in Aurich. Er ist Me-cha-tro-niker, wie das heute heißt.“

„Noch eine Frage: hat er ein Auto?“

„Klar, steht direkt hinter ihnen.“

„Haben Sie vielen Dank für die Auskunft.“

Winkels drehte sich um, und das Fenster flog wieder zu.

Am Straßenrand stand ein staubiger Golf.

Immerhin war der Besuch nicht ganz ergebnislos geblieben. Thorsten Ahlsen schied als Täter offenbar aus. Sie würden das Taxiunternehmen prüfen, wohin ihn einer der Fahrer gebracht hatte, und dann würden sie wissen, welches Verkehrsmittel er anschließend benutzt hatte. Da er nicht sein Auto genommen hatte, tippte Tjade auf den Bahnhof als Ziel.

Damit waren es seiner Ansicht nach nur noch zwei Verdächtige, die ein Interesse daran hätten, ihr Erbe zu verdoppeln.

Er musste die Testamentseröffnungen abwarten, dann würde er mehr wissen. Er war neugierig, um wieviel Geld es hier eigentlich ging.

Winkels wagte keine Schätzung. Er wusste aus seiner Erfahrung nur zu gut, dass Menschen schon für lächerlich geringe Beträge ermordet worden waren.

Trotz aller Regeln, die für die Ermittlungen in einem Mordfall galten, konnte er sich nicht ganz von persönlichen Vermutungen lösen.

Doch wenn es keine Beweise gab, nützten die besten Vermutungen nichts.

Gut, sie hatten einen Fingerabdruck. Jedoch nützte auch der nichts, wenn die dazugehörige Person fehlte.

Er musste einfach mehr wissen!

Ermordet zwischen Sylt und Ostfriesland: 6 Küstenkrimis

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