Читать книгу Krimi Doppelband 2219 - Alfred Bekker - Страница 8
1. Kapitel
ОглавлениеIhre Waffen klirrten in der regennassen Finsternis. Die Geräusche ließen sich nicht vermeiden, obwohl die Männer so vorsichtig zu Werke gingen, wie sie nur konnten.
Verschlussteile von Maschinenpistolen schlugen gegen Gürtelschnallen, Patronen klickten beim Befüllen der Magazine, und Granaten gaben beim Stapeln metallische Laute von sich.
Jedes Mal zischte der Anführer eine scharfe Warnung. Die Männer ließen es schweigend über sich ergehen, obwohl sie am liebsten aufbegehrt hätten. Denn es hörte sie garantiert niemand. Kein Mensch. Bestenfalls Füchse und Hasen, die sich gerade gute Nacht sagten.
Immerhin hatten sie ihren Unterschlupf sorgfältig ausgewählt – ihren Bereitstellungsraum, wie es in der Sprache der militärischen Taktiker hieß. Eine alte Jagdhütte war es, am Rand eines Waldes, mitten in der Einsamkeit. Die nächste menschliche Behausung war drei Meilen entfernt, alle anderen noch weiter.
Doch es hatte keinen Sinn, dem Anführer zu widersprechen. Sein Wort war Gesetz, auch wenn er nur ein Unterführer war. Hier, im Einsatz, vertrat er den General. Deshalb war ein Widerwort ein Gesetzesverstoß. Und bei Gesetzesverstößen im Kampfeinsatz war ein Unterführer berechtigt, die Höchststrafe zu verhängen ‒ standrechtliches Erschießen.
Nach dem Vorbereiten von Waffen und Ausrüstung folgte die Verladung auf die bereitstehenden Fahrzeuge. Die Petroleumlampen in der Hütte wurden gelöscht. Der angrenzende Carport bestand nur aus einem Dach und hatte keine Seitenwände.
Nach dem Uhrenvergleich brachen die beiden Einsatzgruppen auf. Gefahren wurde ohne Licht. Die Scheinwerfer und selbst das Standlicht hätten bei dem wolkenbruchartigen Regen ohnehin nicht viel genützt. Jeder der Männer hätte die Fahrtroute auch im Schlaf gefunden. Sie waren alle dabei gewesen, als man die schmalen, abseits gelegenen Wege bei Tageslicht ausgekundschaftet hatte.
Sie hatten sie aus dem Gedächtnis nachgezeichnet, immer wieder, bis der General und seine Ausbilder endlich zufrieden gewesen waren.
Nach einer Meile Fahrt gabelte sich der Weg, und die Gruppen trennten sich.
*
Irgendwo da draußen flammte ein Licht auf. Regen und Dunkelheit ließen es klein und unbedeutend wirken, als ob einer ein Feuerzeug angeknipst hätte. Es erlosch sofort wieder.
Ich machte Milo darauf aufmerksam. Er hatte es ebenfalls bemerkt.
»Das war drüben«, sagte er überzeugt. »Auf der anderen Seite.«
»Weißt du, wie breit der Potomac River hier ist?«, entgegnete ich zweifelnd.
»Zwei Meilen bestimmt.«
»Eben. Ich glaube, es war auf dem Wasser. Ein Lichtsignal wahrscheinlich, für jemanden auf dieser Seite, an unserem Ufer.«
»Mensch, Jesse! Wir sind doch nicht im Kino. Wir befinden uns in Maryland. Das ist die friedlichste Gegend von ganz Amerika.«
»Davon träumst du vielleicht, Milo. Und außerdem ‒ wenn du Recht hättest, wären wir nicht hier.«
»Hm«, lautete Milos Kommentar. Er wusste, dass es so war, wie ich sagte. Aber manchmal reden Menschen die Dinge schön. Mein Freund tat es, um mich ein bisschen auf den Arm zu nehmen.
Wir befanden uns in Maryland, okay, aber im Norden dieses netten Bundesstaats. Und da liegt Washington D.C. nun mal vor der Haustür. Da muss das Verbrechen aus der Hauptstadt einfach herüberschwappen. Denn Washington ist bekanntlich viel schlimmer als New York ‒ rein kriminalitätsstatistisch gesehen.
Ich zupfte das Walkie-Talkie aus der Innentasche, nur so weit jedoch, dass ich meinen Spruch aufsagen konnte, damit es von der Kleidung geschützt blieb.
»An alle«, sagte ich. »Trevellian an alle. Leuchtzeichen auf dem Potomac River beobachtet. Erhöhte Wachsamkeit! Over.« Ich wartete die Bestätigungen ab, dann schaltete ich das Gerät aus, und wir setzten unseren Weg fort.
Wir standen die ganze Zeit schon unter höchster Anspannung. Aber seit dieses verdammte Licht aufgeflammt war, vibrierten meine Nerven. Doch äußerlich blieb ich ruhig. Genau wie Milo. Wir hatten Übung darin, wollten uns nicht gegenseitig verrückt machen. Auf einen unbeteiligten Beobachter hätten wir so locker gewirkt wie zwei coole Naturburschen. Nicht mal das Wetter brachte uns aus dem Takt.
Es regnete in Strömen, und es war stockfinster. Die Kälte kroch einem durch die Klamotten bis unter die Haut. Dieser Oktober war alles andere als golden. Gerade mal zehn Tage hatte er auf dem Buckel, und schon zeigte er sich von seiner übelsten Seite. Fehlten nur noch Eis und Schnee, und sogar ich hätte mich davon überzeugen lassen, dass die globale Klimakatastrophe ihre Vorboten schickte.
Aber das war Milos Thema. Er hing mir in den Ohren damit, seit wir das Haus am Fluss bewachten. Genau genommen war es ein Bungalow, allerdings ein ziemlich großer. Die Gesamtwohnfläche betrug mehr als vierhundert Quadratyard. Außer dem Erdgeschoss gab es lediglich einen Keller, doch der war riesig und umfasste neben den Garagen unter anderem auch einen Luftschutzbunker. Ursache dafür musste die Nähe der Hauptstadt und jener Politiker sein, die immer mal wieder die Gefahr von Interkontinentalraketen heraufbeschworen.
In erster Linie bewachten wir Corinna Payne, die Frau, die in dem Super-Bungalow wohnte. Sie war mit einem leitenden FBI-Beamten verheiratet, der in unserem Hauptquartier in Washington arbeitete. Terroristen bedrohten ihn ständig. Das hing mit seinem Job zusammen. Deshalb war auch Corinna hoch gefährdet. Sie galt als mögliche Geisel.
Trotzdem hätte sie uns nicht aus dem Haus geschickt. Nicht bei diesem Wetter. Dazu war sie viel zu weichherzig. Es war unsere eigene Entscheidung. Denn wir bestimmten, was lief. Wir ganz allein. Weil unser Schützling das wahre Ausmaß der Gefahr garantiert nicht abschätzen konnte. Also sahen wir etwa in Stundenabständen nach dem Rechten ‒ draußen, in dem Garten, dessen Größe einem alteuropäischen Renaissance-Fürsten als Sommerresidenz ausgereicht hätte.
»Wenn du jetzt, bei diesem Sauwetter, deinen Hund zum Gassi gehen zwingst«, dozierte mein Freund und Dienstpartner, »erfüllst du bereits den Tatbestand der Tierquälerei.« Er wusste natürlich, dass ich keinen vierbeinigen Mitbewohner zu Hause in Manhattan habe.
»In diesem Land müsste man Hund sein«, folgerte ich. »Dann würde es einem richtig gut gehen.« Ich grinste Milo durch das Regenrauschen an. Sehen konnten wir von uns allerdings nur das Weiße in den Augen.
»Tja, wir sind schlimmer dran als unsere treuesten Freunde«, seufzte mein Freund. »Dabei sind wir genau genommen alle eine große Leidensgemeinschaft ‒ Menschen und Tiere. Mit dem Wetter ist nämlich nicht zu spaßen. Die Zeiten sind vorbei. Wenn du die weltweiten Zusammenhänge siehst ...«
Es folgte ein neues Kapitel aus »Milo Tuckers kleiner Klimakunde«, persönlich vorgetragen vom geistigen Vater dieses mündlich überlieferten Werks ‒ für alle, die es hören wollten oder nicht. Ich war das Zwangspublikum, und Milo genoss es. Er konnte alle Theorien dieser Welt entwickeln, ohne befürchten zu müssen, dass ich weglief. Das ist der Vorteil, wenn man einen Dienstpartner hat.
Womit nicht gesagt sein soll, dass mein Freund mir auf die Nerven ging. Aber ich fragte mich langsam, was ihm wichtiger war ‒ unser Job oder das Wetter. Okay, wenn ich ehrlich war, wusste ich natürlich, dass seine Klimabetrachtungen eine wichtige Funktion hatten. Es war sein Gesprächsthema Nummer eins, und es half ihm, sich zu konzentrieren. Auf die Gefahr. Und die konnte knüppeldick für uns kommen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass wir uns schon bald in diesen rauschenden Wolkenbruch zurückwünschen würden. Denn der war das reinste Vergnügen verglichen mit dem Schlamassel, in den wir jederzeit geraten konnten.
Die Landschaft, durch die wir stiefelten, wurde bei Tageslicht und Sonnenschein oft mit dem Paradies verglichen. Jedenfalls von den Leuten, die hier ein Haus und ein Grundstück ihr Eigen nannten. Nur konnten wir im Augenblick nichts davon sehen; wir sahen ja nicht mal die eigene Hand vor Augen. Auch die Lichtkuppel von Washington D.C., die sonst den nördlichen Horizont erhellte, wurde von dem Dauerguss verschluckt.
In New York sah es nicht besser aus als in Washington D.C., was das Wetter betraf. Das wussten wir von Jonathan D. McKee, unserem Chef. Er hatte es uns am Telefon gesagt. Wir erstatteten ihm regelmäßig Bericht, denn schließlich war er es gewesen, der uns in die Wüste geschickt hatte ‒ sorry, in die Hauptstadt.
Milo und ich trugen schwarze Regenumhänge mit Kapuze. Die Kutten, die den Wolkenbruch von uns abperlen ließen, hatten ein bisschen was von dem klassischen Südwester, wie er im Sturmgetöse auf Fischtrawlern im Atlantik getragen wurde. Unsere Maschinenpistolen, mit schwerem Zubehör bestückt, trugen wir unter dem Umhang. Ebenso den Rest der Ausrüstung.
Wenigstens hatten wir festen Boden unter den Füßen, und der Wind, der über den Potomac River blies, war nicht mehr als eine schlappe Brise. Aber der Rest der äußeren Umstände erweckte die Sehnsucht nach einem prasselnden Kaminfeuer und dem dazugehörigen warmen Zimmer ‒ kurz, nach einem geschlossenen Raum, aus dessen sicherer Trockenheit man den Regen bestaunen konnte, wie er draußen gegen die Fensterscheiben prasselte.
So gemütlich hätten wir es haben können ‒ bei Corinna Payne, unserer Schutzbefohlenen. Ihr Bungalow stand hinter uns, nur einen Steinwurf entfernt, oberhalb des Flussufers. Hätten wir uns umgedreht, hätten wir das anheimelnde warmgelbe Licht der Fenster sehen können. Doch es war nicht unsere Art, im Warmen und Trockenen die Beine hochzulegen und andere den unangenehmen Teil der Arbeit machen zu lassen.
Denn Gefahr kannte nun mal keine Schlechtwetterpause.
Und die Gefahr, die Corinna Payne drohte, konnte in jeder verdammten Sekunde Wirklichkeit werden. Womöglich war das Sauwetter sogar das, was sich unsere unbekannten Gegner wünschten. Wir mussten mit allem rechnen, denn wir wussten, wozu sie bislang fähig gewesen waren.
In New York hatten wir es hautnah erlebt ‒ an jenem Tag, als der tausendfache Tod das World Trade Center heimgesucht hatte.
Ein solcher Schlag sollte Terroristen nie wieder gelingen. Das hatten wir vom FBI uns genauso geschworen wie alle anderen, die für die Sicherheit unseres Landes arbeiteten.
Jene Gegner, mit denen wir zu rechnen hatten, vermieden es wie die Pest, uns in einem offenen Kampf gegenüberzutreten. Sie töteten Menschen auf feige und hinterhältige Weise. Mit ferngezündeten Bomben. Mit ferngelenkten Raketen. Oder mit anderen grausamen Mitteln, gegen die man sich nicht wehren kann. Dazu gehörten auch Selbstmordattentäter.
Elliot B. Payne, Corinnas Ehemann, war Assistant Director im FBI-Hauptquartier, Leiter der Counterterrorism Division, der Abteilung für Terrorismusbekämpfung.
Die Agenten seiner Abteilung arbeiteten mit einem weit verzweigten Netz von Informanten zusammen; ihre Verbindungsleute und Kontaktpersonen saßen überall in den Vereinigten Staaten. Außerdem pflegte die Counterterrorism Division des FBI enge Verbindungen zur CIA und zu anderen Diensten, auch außerhalb der USA.
Auf diese Weise flossen Informationen wie ständig neue Puzzleteile in den Nachrichtenpool von Paynes Abteilung. Und so entstanden immer wieder neue Horrorbilder aus der finsteren Welt der Terrororganisationen.
Die Einzelheiten mussten geheim bleiben. Denn die Gegenseite durfte niemals erfahren, wie weit der Wissensstand des FBI und der kooperierenden Dienste ging. Das hätte die Ermittlungen von vornherein zum Scheitern verurteilt, und es hätte das Leben aller beteiligten Kollegen in Gefahr gebracht.
Deshalb klangen die offiziellen Verlautbarungen stets seltsam ungenau.
»In den kommenden Wochen ist verstärkt mit Terroranschlägen auf öffentliche Einrichtungen in den Vereinigten Staaten zu rechnen. Dafür, so das US Justizministerium während einer Pressekonferenz, gebe es konkrete Hinweise.« So oder so ähnlich hört es sich dann an, wenn das Ministerium ‒ als Vorgesetzte Dienststelle des FBI ‒ die Inlands-Medien unterrichtet.
Was hinter den Kulissen läuft, erfährt kein Mensch. Das galt auch für den Einsatz, zu dem Milo und ich abkommandiert waren. Alle Beteiligten hatten absolutes Stillschweigen zu bewahren. Nichts durfte nach außen dringen. Nichts von unseren Maßnahmen, die gerade erst begonnen hatten. Corinna Payne war die Erste, deren Leben wir schützen mussten. Weitere Personen würden folgen, bis hinauf in die höchsten Ämter unseres Staates.
Die Männer, mit denen wir auf dem Payne-Grundstück zusammenarbeiteten, waren gute und zuverlässige Leute. Sie kamen von der privaten Sicherheitsfirma SECCO. Das Kürzel stand für »Waggoner & Partners, Security Company, Incorporated«.
Inhaber Ambrose Waggoner war Police Captain im Ruhestand. Er hatte seine Firmenzentrale an der 3rd Street in Washington eingerichtet. Seine Mitarbeiter waren ehemalige Soldaten der US Army und Polizeibeamte, denen es offiziell erlaubt war, während ihrer dienstfreien Zeit für SECCO zu arbeiten.
Ambrose Waggoner hatte einen guten Namen in der Branche. Deshalb war es ihm gelungen, einen Vertrag mit der Regierung abzuschließen. SECCO-Guards wurden häufig für den Personenschutz eingesetzt ‒ auf amerikanischem Staatsgebiet ebenso wie in den Krisengebieten der Welt.
Milo und ich leiteten den Sicherheitseinsatz für Corinna Payne auf Anordnung des FBI-Direktors. Er hatte uns über Mr. McKee angefordert, weil für den Job nur ortsfremde G-Men in Frage kamen. Eine Aufgabe, die nicht von heute auf morgen erledigt sein würde.
Denn wir hatten es auch mit einem Kampf gegen die Zeit zu tun.
Corinna Payne war zwar nicht die Hauptperson, doch sie konnte zur Schlüsselfigur werden. Dann nämlich, wenn sie entführt und als Geisel genommen wurde. Damit würden unsere noch unbekannten Gegner einen Nebenkriegsschauplatz eröffnen, um von ihrem eigentlichen Ziel abzulenken.
Wenn Elliot B. Payne mit seinen Befürchtungen Recht hatte, war dieses eigentliche Terrorziel der Kongress für Innere Sicherheit, der im November in Washington stattfinden sollte ‒ mit allem, was in der Politik Rang und Namen hatte. Auch der Präsident der Vereinigten Staaten würde an dem Kongress teilnehmen.
Also ein Attentat auf den Präsidenten?
War das der Plan?
Wir mussten das Schlimmste annehmen.
Ein dumpfer Schlag platzte mitten in meine Gedanken.
Milo und ich zuckten zusammen, verharrten.
Etwas zischte ‒ laut und scharf, irgendwo in Dunkelheit und Regen.
Hoch über uns entfaltete sich die Leuchtkugel als Schirm aus taghellem Licht. Es senkte sich herab, durchdrang das Regenströmen und kam in Sekundenschnelle auch bei uns an.
Wir lagen mit der Nase im Dreck.
Eine Sekunde lang rührten wir uns nicht. Immerhin waren wir perfekt getarnt. Unsere schwarze Regenkluft ließ uns mit dem Erdboden verschmelzen.
Mit dem linken Arm stemmte ich meinen Oberkörper hoch ‒ nur ein Stück, damit ich an das Walkie-Talkie herankam.
Milo knirschte einen Fluch zwischen den Zähnen hervor.
Ich wusste, was er meinte.
Wenn wir geglaubt hatten, die Leuchtkugel würde auch das aus der Dunkelheit reißen, was da auf dem Fluss herannahte, dann hatten wir uns gründlich getäuscht.
Eine dichte grauschwarze Nebelwolke lag auf dem Wasser. Unheilvoll, haushoch und groß wie ein Football-Feld. Ein ausgewachsenes Schlachtschiff konnte sich darin verbergen.
Doch es geschah nichts.
Ich wusste, es war die Ruhe vor dem Sturm.
Sie hatten es auf unsere Nerven abgesehen ‒ für den Anfang. Später würden sie mehr wollen.
Unser Leben.
Und die Frau, die wir zu schützen hatten.
Ich schaltete das Walkie-Talkie auf Senden und gab meine Anweisungen durch, so knapp wie möglich. Vom im Haus durften sie Corinna Payne keine Sekunde mehr aus den Augen lassen. Außerdem mussten sie einen Rundruf absetzen. An sämtliche Nummern, die in unserem Alarmplan enthalten waren. FBI, Polizeibehörden einschließlich Flusspolizei, Rettungsdienste und Notfallstationen der umliegenden Krankenhäuser. Logisch, dass wir Verstärkung brauchten.
Aber unten am Potomac würden wir sofort zur Sache kommen. Ich hatte nicht vor, tatenlos abzuwarten. Die Kerle im Nebel brauchten Wind von vorn, und zwar so schnell wie möglich. Nur das konnte sie aus dem Konzept bringen.
SECCO hatte zwei Doppelposten für den Personenschutz auf dem Payne-Grundstück abgestellt. Für den Bereich hinter dem Haus, bis zum Flussufer, waren zwei Ex-Marines zuständig: Master Sergeant Jasper Barrow und Private First Class Mark Ferguson. Beide waren im Irak leicht verwundet worden und hatten nach Ende ihrer regulären Dienstzeit vor zweieinhalb Jahren ihren Abschied von der Army genommen.
Den vorderen Teil des Grundstücks und das Haus kontrollierten zwei Beamte der Municipal Police aus Washington, die Police Officers Thomas Juliano und Frank Lumley. Bei ihnen war alles ruhig, wie sie uns über Funk wissen ließen. Thomas bewachte die Hausherrin im Kaminzimmer, das gleich neben der Eingangshalle im Erdgeschoss lag. Er hatte Blickkontakt mit Frank, der im Sicherheitsraum saß und die Bildschirme beobachtete. Die dazugehörigen Kameras waren technisch auf dem neuesten Stand, einschließlich Restlichtverstärkung. Die Objektive erfassten jeden Winkel des Grundstücks.
Bei dem Wetter allerdings konnte auch die teuerste Kameratechnik keine Wunder vollbringen. In dem Punkt machte ich mir nichts vor. Die Überraschungen hatten gerade erst begonnen. Wir würden mehr davon erleben. Garantiert.
Das Gleißen der Leuchtkugel begann zu versiegen. Aber noch immer war nichts zu sehen. Und der Regen rauschte unvermindert heftig. Etwa hundert Yard trennten uns vom Flussufer.
Ich gab das Startsignal.
»Ab die Post!«, sagte ich.
Milo machte den Anfang, während ich das Walkie-Talkie wegsteckte.
Er schnellte hoch. Geduckt wie in einem flachen Sprung sprintete er los.
Es erinnerte mich an die alten Schwarz-Weiß-Filme über den Ersten Weltkrieg.
Ein scharfer Befehl, ein schmetterndes Hornsignal, und die Mondlandschaft aus verbrannter grauschwarzer Erde erwachte zum Leben. Männer in wallenden grauen Mänteln krochen aus Gräben und Bombentrichtern. Sie trugen schwer an ihren Karabinern mit den aufgepflanzten Bajonetten. Mühsam und eckig waren ihre Bewegungen in dem künstlichen Schneeregen, den das zerkratzte Zelluloid verursachte.
Einen furchtbaren Atemzug lang befürchtete ich, Milo so sehen zu müssen wie die armen Kerle von damals ‒ jäh gestoppt von etwas Unsichtbarem in der Luft, in die Gegenrichtung geschleudert als lebloses Bündel Mensch ‒ zurück in das Grau der Erde, die dieses Bündel gerade erst hervorgebracht hatte.
Doch bei uns blieb das tödliche Unsichtbare aus.
Kein Vollmantelblei und keine Granatsplitter durchschnitten die Luft am Potomac River.
Ich sprang auf, als Milo seine zehn Yard unbeschadet hinter sich gebracht hatte und wieder flach lag.
Rechts, im Regengrau, glaubte ich, die beiden Ex-Marines zu erkennen, nur schemenhaft, wie sie das gleiche Wechselspiel abzogen. Der eine stürmte vorwärts, der andere war bereit, Feuerschutz zu geben. Jasper und Mark mussten es bei ihrer Erfahrung besser drauf haben als wir.
Fünf Yard schaffte auch ich.
Da geschah es.
Eine zweite Leuchtkugel platzte auf, hoch oben unter den Regenwolken.
Wir legten Tempo zu, kamen noch ein paar Yard voran. Im Laufen holte ich die MPi unter dem Umhang hervor. Auch Milo und die beiden Ex-Marines machten ihre Waffen schussbereit. Ich sah sie jetzt deutlicher, schattenhaft huschend, am Rand meines Blickfelds.
Und dann, als sich neue Helligkeit ausbreitete, kriegten wir es mit voller Wucht. Schlag auf Schlag.
Aus der künstlichen Nebelbank auf dem Fluss zuckte ein Glutstrahl. Das dumpfe Krachen des Abschusses war erst im nächsten Sekundenbruchteil zu hören.
Es folgte ein Heulen, das mir durch Mark und Bein ging
»Vorwärts!«, brüllte ich. Es war unsere einzige Chance.
Ich sprang auf. Rannte. Sah, dass Milo das Gleiche tat.
Noch vor dem ersten Einschlag orgelte die nächste Rakete los. Hinter uns bebte die Erde. Die erste Ladung hieb einen Trichter in den Rasen ‒ dort, wo wir eben noch gelegen hatten.
Die Druckwelle schleuderte uns vorwärts. Ich sah meinen Freund fliegen, als auch ich abhob. Granatsplitter zischten über uns hinweg. Die rasiermesserscharfen Geschosse lagen zu hoch. Es war der aufgeweichte Boden, der das bewirkte. Der schlanke Flugkörper war ein beträchtliches Stück eingedrungen, bevor der Zünder ausgelöst hatte.
Der Rasen fühlte sich an wie ein Wasserbett, als wir landeten.
Und die nächste Detonation ließ nur eine halbe Sekunde auf sich warten. Ein Raketenwerfer stimmte sein Höllenkonzert an. Dumpfe Abschüsse, das Heulen der Geschosse und das Wummern der Explosionen wechselten einander ab. Die Nebelwand auf dem Fluss färbte sich blutig rot von den Starts der RPGs, wie sie bei den Militärs hießen ‒ Rocket Propelled Grenades, raketengetriebene Granaten.
Ohne zu zögern, setzten wir unsere Flucht nach vom fort. Ich wusste, dass Jasper und Mark das Gleiche taten. Es gab keine andere Möglichkeit. Hinter uns wurde umgepflügt. Rasen, Beete und Buschgruppen flogen in Fetzen. Fontänen aus Erde, Gras und Wurzelwerk stiegen empor wie Schlammgeysire.
Aber die Kalkulation unserer Gegner ging nicht auf. Sie hatten darauf gebaut, uns in Stücke zu bomben ‒ und zwar dort, wo uns die Schrecksekunde nach der ersten Leuchtkugel erwischt hatte. Doch eben diese Schrecksekunde hatten wir schneller überwunden, als es die Unsichtbaren auf dem Fluss erwartet hatten.
Raketen orgelten und donnerten unablässig.
Nach wie vor beharkten sie das Zielgebiet, das wir längst verlassen hatten. Bei dem wütenden Feuerzauber, den sie veranstalteten, hatten die Angreifer offenbar nicht damit gerechnet, dass wir noch Land gewinnen würden.
Das Licht wurde erneut schwächer.
Milo und ich erreichten die Böschungskante oberhalb der Uferbefestigung fast gleichzeitig. Wir warfen uns hin, brachten die MPis in Anschlag.
Nachtsichtgerät und Zielfernrohr lieferten ein brauchbares Bild. Es nahm einen starken Grünstich an, je mehr die Helligkeit der Leuchtkugel nachließ. Auch der künstliche Nebel schwächte sich ab, wurde dünner. Die roten Flächenblitze des Raketenwerfers taten ein Übriges.
Umrisse schälten sich aus der Regen-Nebel-Suppe, weiß und wuchtig. Es war der breite und doch schnittige Rumpf einer Motorjacht. Glas und Edelstahlteile der Aufbauten schimmerten im Raketenfeuer.
Noch war der Anblick verschwommen. Aber es reichte.
Verdammt, es reichte, um uns die Lage klar zu machen.
Uns blieben noch Sekunden ‒ im günstigsten Fall.
Dann, wenn sie uns erst mal richtig im Visier hatten, würden sie uns in Stücke schießen. Atomisieren. In den Himmel blasen. Dazu brauchten sie nur noch eine neue Leuchtkugel. Das nötige Waffenarsenal hatten sie.
Das private Kriegsschiff der Angreifer war seetüchtig, wie es aussah. Ihr Fluchtweg sollte Richtung Atlantik führen, ganz klar. Sie hatten den oberen Ruderstand bemannt, wegen der besseren Übersicht bei Dunkelheit, Regen und Kunstnebel.
Die Positionslichter waren ausgeschaltet. Das »Lichtzeichen«, das wir gesehen hatten, war weiß gewesen. Wahrscheinlich hatte jemand kurz eine Taschenlampe angeknipst, um sich auf dem Weg zum Ruderstand zu orientieren.
Zwei Silhouetten vermochte ich dort auf der Kommandobrücke auszumachen. Den Raketenwerfer erspähte ich auf dem Achterdeck, unmittelbar vor dem Niedergang zur Kajüte. Weitere zwei Mann bedienten das Geschütz. Es arbeitete unablässig in seinem mörderischen Rhythmus aus dumpfen Abschussgeräuschen und roten Flächenblitzen.
Ich nahm die erste der Silhouetten ins Visier. Milo und die anderen hatten ihre Ziele ebenfalls erfasst. Ich wusste es.
Auf einmal sträubten sich mir die Nackenhaare.
Grellrot zuckte es in der Nähe der Heckreling auf.
Nur eine kurze Serie war es, fünf oder sechs Mündungsblitze. Im Vergleich zu dem Wummern des Raketenwerfers wirkte das dazugehörige Hämmern unbedeutend. Doch der Eindruck trog.
Die Kugeln hieben in die Uferbefestigung knapp unter uns. Splitter und Staub wurden aus den algenbewachsenen Steinen gerissen. Kleine Wolken pufften in den Dauerregen.
Ich senkte die MPi mit dem Zielfernrohr ein Stück, entsicherte, schaltete auf Dauerfeuer.
Und da sah ich es.
Ein Maschinengewehr thronte auf seinem Dreibein. Ein Mann bediente es. Er musste uns gerade erst erblickt haben. Den vorderen Teil des Laufs hatte er durch das Gestänge der Reling geschoben. Mit gespreizten Beinen lag er hinter dem mächtigen Kolben der Waffe. Ohne einen Helfer würde er Schwierigkeiten bekommen, wenn er den Patronengurt wechseln musste.
Doch das würde uns nichts mehr nützen. Denn das klobige Ding, das der Mann auf dem Kopf trug, konnte nur ein Nachtsichtgerät sein. Deshalb reichten die Geschosse des einen Gurts, um uns allesamt vom Ufer zu fegen.
Er stieß den linken Arm hoch, brüllte etwas. Keine Frage, dass er die Raketenschießer auf uns aufmerksam machen wollte. Kurz darauf brachte er den Lauf des MGs höher.
Ich zog durch.
Milo feuerte im selben Moment.
Auch weiter rechts hämmerten die Maschinenpistolen.
Wir hatten keine andere Wahl. Es gab nur noch diese eine Entscheidung, kein Wenn und kein Aber.
Sie oder wir.
Ihr Leben oder unseres.
Dazwischen war nichts. Nichts, das die Juristen als Ermessensspielraum bezeichnet hätten.
Unsere Kugelgarben kamen schnell und präzise ‒ und überraschend genug.
Den MG-Schützen erwischte es als Ersten. Er schaffte es noch, seinen zweiten Feuerstoß höher zu setzen. Ich sah, wie die kleinen Steinstaubwolken zu mir heraufwanderten, vermischt mit Fetzen vom Algenbewuchs. Dann sank der Mann vom MG-Kolben weg. Die schwere Waffe verstummte sofort. Die trichterförmige Mündungsbremse richtete sich schräg in den Nachthimmel, als wollte sie so viel Regen auffangen wie möglich.
Ich atmete auf, schwenkte meine Waffe nur ein Stück herum, nur ein Stück höher. Milo und die Security Kollegen feuerten noch immer. Und erst jetzt wurde mir bewusst, dass der Raketenwerfer verstummt war. Die Optik des Zielfernrohrs, gekoppelt mit dem Nachtsichtgerät, lieferte mir ein deutliches Bild von der klobigen Abschussvorrichtung.
Die Bediener waren auf die Decksplanken gesunken. Beide rührten sich nicht mehr.
Ich beobachtete, was die Geschossgarben der Kollegen bewirkten. Glassplitter flogen aus den Kajütfenstern, Holzfaser von Rahmen und Türen wirbelten durch den Bindfadenregen.
Oben, im offenen Kommandostand, duckte sich der Schiffsführer tief hinter das Steuerruder. Sein Komplize musste sich hingeworfen haben, denn jetzt kam er plötzlich hoch. Die Maschinenpistole in seinen Händen spie Feuer. Doch er hatte keine Zeit zum Zielen. Seine Kugeln rasten in die Höhe.
Bevor er seine Visierlinie korrigieren konnte, erwischten ihn unsere Feuerstöße. Die Wucht der Einschüsse schleuderte ihn zurück. Er prallte auf den krummen Rücken des Mannes am Ruder.
Die Wirkung zeigte sich sofort.
Die Jacht legte sich bedrohlich krängend auf die Backbordseite, drehte sich fast auf der Stelle. Gleichzeitig brüllte die Maschine los. Es hörte sich an wie ein Ungeheuer, das von den entfesselten Naturgewalten geboren wurde.
Einen Atemzug lang sah es aus, als würde die Jacht kentern. Doch unvermittelt, aus ihrer wilden Wende heraus, rauschte sie mit voller Kraft auf das Ufer zu. Der Bug hob sich steil, und das Maschinendröhnen schwoll weiter an.
Milo und ich sprangen auf, warfen uns herum.
Rechts von uns ergriffen auch Jasper Barrow und Mark Ferguson die Flucht.
Das weiße Schiff wurde größer und größer. Der scharfkantige Bug war höchstens noch zwanzig Yard vom Ufer entfernt. Und welche Stelle er sich als Ziel aussuchen würde, ließ sich schwer vorhersagen. Nichts konnte den mächtigen Rumpf jetzt noch stoppen ‒ nicht mal mehr volle Kraft zurück.
Doch es gab niemanden, der so ein Kommando noch hätte geben können. Denn im Ruderstand war niemand mehr zu sehen. Da war keiner, der auch nur imstande gewesen wäre, das Steuerruder herumzureißen.
Wir rannten so schnell wir konnten. Zehn, zwölf Schritte hatten wir geschafft, als es krachte. Mit ohrenbetäubendem Getöse bohrte sich der Bug der Jacht in die Uferbefestigung. Der Boden unter unseren Füßen wackelte wie Pudding. Eine Sprengladung hätte keine gewaltigere Wirkung gehabt.
Zentnerschwere Steine flogen hoch wie Kiesel ‒ einige zerbröckelt, die meisten aber vollständig, mit dem glitschig-grünen Überzug aus Algen. Im Mittelalter, in Europa, hatte man so was auf Burgmauern geschleudert, um sie zu zertrümmern.
Ein paar von den Brocken verfolgten uns. Jeder einzelne hätte gereicht, um uns unangespitzt in den Boden zu rammen. Das dumpfe Klatschen, mit dem die Riesengeschosse hinter uns auf die weiche Erde schlugen, ging mir durch Mark und Bein.
Etliche der Ufersteine flogen aber zurück und krachten auf die Jacht, zertrümmerten Aufbauten und hieben klaffende Löcher in die Decksplanken.
Dann ‒ endlich ‒ kehrte Stille ein.
Wir beeilten uns, die Jacht zu entern. Wir taten es mit der gebotenen Vorsicht. Aber keiner der Menschen an Bord hätte uns noch gefährlich werden können.
Police Officer Frank Lumley musste grinsen. Sein Dienstpartner Thomas Juliano drüben im Kaminzimmer fühlte sich ganz als der väterliche Beschützer ‒ und das mit seinen fünfundzwanzig Jahren.
Er sagte Sachen wie: »Machen Sie sich keine Sorgen, Madam.« »Wir haben die Lage unter Kontrolle, Mrs. Payne.« oder »Sie sind so sicher wie in Abrahams Schoß. Weil wir bei Ihnen sind.«
Dabei klopfte Police Officer Thomas Juliano beileibe keine Sprüche. Er meinte jedes Wort von dem, was er sagte. Er war hundertprozentig überzeugt davon.
Frank kannte ihn lange genug, um das zu wissen. Er konnte ihn die ganze Zeit sehen, wie er da drüben auf und ab stelzte, kerzengerade wie ein West-Point-Offizier, die Daumen unter das Lederkoppel gehakt. Die Finger der Rechten hielt er dabei abgespreizt über dem Pistolenkolben.
Groß und breitschultrig wie Thomas war, wirkte er wie eine Mischung aus John Wayne und General Patton. Im matten Schein der Wandlampen erzeugten die Bügelfalten seines dunkelblauen Uniformhemds messerscharfe Schattenrisse. Wie angegossen saß auch seine schwarze Uniformhose, und die roten Biesen bogen sich säbelförmig bei jedem Schritt.
Auf dem roten Ärmelabzeichen prangte das schwarz gestickte SECCO-Logo mit zwei gekreuzten Peacemaker-Colts, dem Symbol für das Recht des amerikanischen Bürgers, seine Freiheit mit der Waffe in der Hand zu verteidigen.
Frank Lumley, blond und ein eher schlaksiger Typ, trug die SECCO-Uniform mit dem gleichen Stolz wie sein Partner. Der Inhaber der Security Company, Ambrose Waggoner, legte großen Wert darauf, dass sich die Cops bei ihm wohl fühlten. Ein wichtiger Teil dieser Wohlfühl-Strategie war es, dass die SECCO-Uniform deutlich schicker aussah als die der städtischen Polizeibehörde von Washington D.C.
Anders als die ehemaligen Soldier Boys arbeiteten die Cops in ihrer freien Zeit für Waggoner, allerdings mit offizieller Genehmigung des MPDC, des Municipal Police Department District of Columbia. Der Chef der Security Company bezahlte seine Leute gut. Dafür war er bekannt. Bei ihm wusste man, was man tat und wofür man es tat.
Frank Lumley hatte den totalen Überblick. Seine Maschinenpistole lag griffbereit auf einem freien Schreibtisch. Zwölf Bildschirme waren im Halbkreis gruppiert. Er hatte sie alle ständig in seinem Blickfeld, und wenn sich auf nur einem der Monitore etwas veränderte, würde er es sofort bemerken. Weit zurückgelehnt in seinem bequemen Drehsessel, konnte er durch die offene Tür auch den größten Teil der Eingangshalle einsehen.
Drüben, auf einem Sideboard gleich neben der offenen Tür zum Kaminzimmer, lag Thomas Julianos MPi bereit. Wie bei SECCO üblich, waren die Waffen mit Doppelmagazinen ausgerüstet. Die beiden Cops hatten nicht umlernen müssen. Ihre Dienstwaffe beim Department war das gleiche MPi-Modell, die MP5 von Heckler & Koch.
Frank Lumley konnte die Hausherrin nicht sehen. Zwei große Ledersessel versperrten den Blick. Aber er hatte Mrs. Payne gesehen, wie sie sich auf dem Bärenfell vor dem Kamin niedergelassen hatte. Dort kauerte sie noch immer, im Schutz der wuchtigen Polstergarnitur. Thomas blickte in ihre Richtung, jedes Mal von Neuem, wenn er ihr Mut zusprach.
Corinna Payne war nicht irgendeine Frau. Sie kannte ihre Gefährdungsstufe, und deshalb wusste sie, dass das Risiko ihr ständiger Begleiter war. Was draußen auf dem Grundstück ablief, konnte sie deshalb nicht aus der Fassung bringen.
Obwohl es Situationen dieser Art nicht jeden Tag gab, wusste man doch, dass man auf keinen Fall seinen Platz verlassen durfte ‒ in diesem Fall das Haus, die Räume, in denen man sich aufhielt.
Frank Lumley und Thomas Juliano wussten, was es bedeutete, eine Frau vom gesellschaftlichen Rang Corinna Paynes bewachen zu dürfen. Es gab präzise Anweisungen für diese Aufgabe, und dazu gehörte, dass die Befehle der G-Men Trevellian und Tucker uneingeschränkt befolgt werden mussten.
Die beiden Polizeibeamten bewahrten Ruhe. Absolute Ruhe. Das war die Voraussetzung dafür, dass sie sich auf ihren Teil des Einsatzes konzentrieren konnten.
Ihr Job war es schlicht und einfach, den vorderen Teil des Grundstücks nicht aus den Augen zu lassen und die Lady zu schützen ‒ ohne Rücksicht auf das eigene Leben.
Im Übrigen war alles getan worden, damit man die Lage in den Griff bekam. Das würde innerhalb von Minuten, wenn nicht Sekunden, geschehen.
»Die Verstärkung muss jede Minute eintreffen«, erklärte Thomas drüben im Kaminzimmer. »Dann marschiert hier die halbe Armee auf, Ma'am. Das da draußen müssen Schwachköpfe sein, so eine Festung anzugreifen!« Er hörte sich tatsächlich beruhigend an, sehr überzeugend.
Frank Lumley war ehrlich zu sich selbst; er hätte nicht so locker reden können wie sein Dienstpartner. Dazu hatte er einfach kein Talent.
»Mit >Festung< meinen Sie unser Grundstück?«, erwiderte Corinna. Ihre Altstimme klang samtweich.
»Ja, Ma'am. Ist doch Selbstmord von diesen Irren, sich mit uns anzulegen. Ich meine, seit dem 11. September 2001 ...«
»... sind wir unbesiegbar?«
Thomas Juliano machte ein verdutztes Gesicht.
Frank Lumley musste schmunzeln. Corinna war nicht nur eine sehr gebildete und intelligente Frau, sie konnte auch verdammt schlagfertig sein. Das hatte er schon mitgekriegt. Außerdem war sie eine Schönheit, schlank und dunkelhaarig, und mit ihren neunundzwanzig Jahren war sie schon so was wie eine richtige Aristokratin. Heute trug sie einen stahlblauen Hosenanzug und einen beige-braunen Rollkragenpullover. Darin sah sie elegant und sportlich zugleich aus.
Frank konnte sich leicht vorstellen, wie sie an Empfängen und allen möglichen gesellschaftlichen Veranstaltungen teilnahm. Da machte sie bestimmt eine gute Figur. Ihr Mann war ja ein hohes Tier, aber an seiner Seite brauchte sie sich nicht zu verstecken. Geistreich wie sie war, konnte sie jedem das Wasser reichen, auch den berühmtesten Politikern.
»Äh, d...doch, eigentlich schon«, stotterte Thomas, zum ersten Mal aus dem Konzept gebracht. Doch er fand schnell zu seiner Selbstsicherheit zurück. »Ja, unbesiegbar ‒ so kann man's nennen.«
»Weil unser Land die stärkste Militärmacht der Welt ist?«
»Genau das, Ma'am.«
»Man bringt uns also Respekt entgegen.«
»Sie sagen, wie es ist, Ma'am.«
»Und der Respekt wirkt bis hierher, nach Potomac Heights in Maryland, Nummer 21 Arlington Lane. Davon sind Sie überzeugt?«
»Hundertprozentig.«
»Obwohl da draußen geschossen wird?«
Frank Lumley achtete nicht mehr auf die Antwort seines Kollegen. Weil seine Aufmerksamkeit schlagartig abgelenkt wurde.
Etwas zuckte auf Monitor eins.
Frank erstarrte.
Der Bildschirm zeigte auf einmal nur noch flächiges Grau. Trotz des Regens hatte Frank zuvor wenigstens die Umrisse des Tores, die Außenlampen und den nass glänzenden Asphalt der Zufahrt erkennen können.
Fluchend warf er sich mit dem Drehsessel herum, wollte Kamera zwei schwenken. Die saß auf der Einfriedigungsmauer und ließ sich ebenfalls auf das Tor richten. Doch bevor er das Schaltpult erreichte, war auch Monitor zwei erloschen.
Frank begriff, was da draußen lief. Jemand hatte die Kameras zerschossen, wahrscheinlich mit einer schallgedämpften Waffe.
Auch Kamera drei versagte den Dienst. Das Switchboard gehorchte nicht mehr.
»Thomas, Achtung!«, rief Frank Lumley ‒ energisch genug, um seinen Kollegen zu alarmieren, aber auch behutsam genug, um die Hausherrin nicht in Panik zu versetzen. Gleichzeitig bearbeitete er mit den Fingern der linken Hand die Richtungstasten für Kamera vier, während er sich mit der Rechten das Funkmikro griff und versuchte, eine Verbindung zu den FBI-Agenten herzustellen.
Doch nichts klappte mehr.
Kamera vier, die den erleuchteten Hauseingang zeigte, setzte die Serie fort und gab ihren Geist auf.
Für einen Funkspruch blieb keine Zeit.
Denn jäh dröhnte eine Detonation.
Thomas Juliano war bereits durchgestartet, mit Riesensätzen unterwegs zur Eingangshalle. Er hatte Corinna Payne angewiesen, sich auf den Fußboden zu werfen, sich um Himmels willen nicht vom Fleck zu rühren. Als er die Türschwelle erreichte und sich die Maschinenpistole schnappte, krachte es zum zweiten Mal.
Diesmal war die Explosion näher, ohrenbetäubend laut.
Die Druckwelle schleuderte Thomas zurück ins Zimmer. Er sah noch, wie die zersplitterten Teile der Eingangstür in die Halle wirbelten. Und drüben, im Türrahmen des Kontrollraums, tauchte Frank Lumley auf. Die MPi hatte er schon im Hüftanschlag. Die Druckwelle war bereits vorbei, konnte ihm nicht mehr gefährlich werden.
Frank machte einen Satz in die Halle hinaus. Breitbeinig, in den Kniekehlen nachfedernd, kam er zum Stehen. Blitzschnell verschaffte er sich einen Überblick.
Wo die schwere eichene Eingangstür gewesen war, klaffte ein Loch, groß wie ein Garagentor, ausgefranst, mit zerklüfteten Rändern aus rohem Mauerwerk. Trümmerteile aus Holz, Stein und Mörtel lagen in der Eingangshalle verstreut, wie von einem Hurrikan hereingeblasen.
Draußen blitzte der Chrom eines Kühlergrills, vielleicht zehn Yard entfernt. Ein Geländewagen. Etwa in der Mitte der Zufahrt war er stehen geblieben. Die Scheinwerfer stanzten bläulich weiße Lichtkegel in den Regen.
Irgendwo brannten auch noch Außenlampen. Ihre Lichtausläufer erreichten das zerstörte Tor an der Straße, wo die erste Überwachungskamera zerschossen worden war. Das Tor war auf die gleiche Weise aufgesprengt worden wie die Haustür.
Die Eindringlinge mussten Granaten benutzt haben. Entweder Handgranaten oder solche, die man mit einem Gewehr oder einem Werfer abfeuern konnte.
Die beiden SECCO-Cops wollten losstürmen, auf das Türloch zu. Sie hatten vor, sich gegenseitig Feuerschutz zu geben. Doch sie kamen nur einen Schritt weit.
Jähe Bewegung entstand in den zerborstenen Mauerrändern.
Die beiden Uniformierten warfen sich hin.
Schwarze Gestalten huschten herein. An beiden Seiten des Eingangs tauchten sie auf, und sofort zuckten Mündungsblitze.
Sie feuerten aus der Hüfte heraus. Schallgedämpft. Die Schussgeräusche ihrer Maschinenpistolen hatten Ähnlichkeit mit dem Rhythmusklatschen einer Flamencogruppe.
Frank Lumley und Thomas Juliano reagierten blitzartig. Während die erste Kugelgarbe über sie hinwegsengte, rissen sie ihre MPis an die Schultern, wie sie es tausendfach in ihren Polizeieinsätzen getan hatten. Das heiße Pflaster Washingtons machte selbst aus Anfänger-Cops in kürzester Zeit die hartgesottensten Kämpfer.
Die Angreifer kamen kein zweites Mal zum Schuss.
Ein mörderischer Geschosshagel schlug ihnen entgegen. Das Hämmern der vollautomatischen Waffen wuchs zu einem Höllenlärm in der Halle. Die Security Männer feuerten in rasender Folge, abwechselnd, im Liegendanschlag. Jeweils einer zog durch, während der andere die Stellung wechselte, indem er sich abrollte.
Auf diese Weise hämmerten die Schüsse ununterbrochen. Nicht für den Bruchteil einer Sekunde riss das Dauerfeuer der beiden MPis ab.
Flach über den Fußbodenfliesen rasten die Kugelgarben der Cops der hereinwehenden nasskalten Luft entgegen ‒ dorthin, wo die Angreifer verzweifelt versuchten, Deckung zu finden. Aber die Trümmer reichten dafür nicht aus. Brocken von Mauerwerk und Holz wurden getroffen und zerschmettert, und Staub und Splitter stiegen vor den schwarz Gekleideten auf ‒ vermischt mit der mörderischen Macht der Projektile.
Das tödliche Geschossblei zersägte buchstäblich alles, was in seine Bahn ragte, und es hieb in die menschlichen Körper wie andauernde Schläge eines unsichtbaren Hammerwerks. Das Krachen der rasenden Schussfolge verdichtete sich in der Halle, schwoll an zu einem wahren Donnern.
Deshalb hörten Frank Lumley und Thomas Juliano nicht, was nebenan geschah.
Eine Fensterscheibe zersprang klirrend.
Auch der Schrei und das Aufbrüllen eines Automotors entgingen den beiden Männern.