Читать книгу Krimi Doppelband 2219 - Alfred Bekker - Страница 9
2. Kapitel
ОглавлениеVielleicht haben Scheibenwischer auch eine Seele. So was sagt man ja gelegentlich einem Auto und insbesondere seinem Motor nach. Vorausgesetzt, man hat eine besondere Beziehung dazu. So wie ich zu meinem Sportwagen. Die Scheibenwischer meines roten Renners strengten sich jedenfalls so gewaltig an, als hätten sie kapiert, was auf dem Spiel stand.
Die Regenfluten, die auf der Windschutzscheibe weggeräumt werden wollten, waren es ja nicht allein. Hinzu kam der Fahrtwind. Beides zusammen verlangte den Wischerblättern und ihrem Gestänge Schwerstarbeit ab. Bei jedem Schwenk sah es aus, als würde gleich Schluss sein. Bruch. Materialermüdung oder Überlastung, was auch immer.
Wenn es sie denn gab, diese Seele in menschengemachter Mechanik, dann wurde das mühsame Freischaufeln unseres Blickfelds von Milos und meiner Entschlossenheit befeuert.
Wir mussten Corinna Payne befreien.
Und ‒ verdammt! ‒ wir setzten alles daran, es zu schaffen.
Die Entführer durften nicht mit ihr entkommen.
Die Rückleuchten ihres Wagens sahen wir noch.
Kleine rote Punkte waren es, nicht mehr. Verschwommen flackerten und tanzten sie dort vorn im Wolkenbruch ‒ scheinbar ohne Bodenhaftung. Es war, als würden sie zu einem getauchten U-Boot gehören.
Corinna saß in der Kiste.
Doch sie war nicht freiwillig eingestiegen.
Ihre Entführer hatten sie in den Wagen gezerrt, den wir jetzt verfolgten.
Wir hatten selbst nichts von der Entführung gesehen, aber das zertrümmerte Fenster des Kaminzimmers und die Breitreifenspuren draußen im aufgeweichten Rasen hatten den Kollegen als Hinweis genügt.
Auf dem Weg zum vorderen Teil des Grundstücks waren wir durchgestartet, hatten Thomas Julianos und Frank Lumleys Bericht angehört. Sie waren uns entgegengekommen und dann neben uns hergelaufen, als wir durch den Regen gerannt waren. Sie hatten die Türen für uns aufgerissen, und auf dem Weg in den Keller hatten wir die schweren Umhänge abgestreift. Sekunden später hatten wir auch schon in meinem Sportwagen gesessen.
Rechtzeitig.
Aus der Tiefgarage hatte ich den roten Flitzer nach vorn auf die Straße geknüppelt ‒ über die Service- und Lieferantenzufahrt, denn die Hauptzufahrt war versperrt. Etwa in der Mitte hatten die Gangster einen Jeep Cherokee abgestellt, und die Trümmer des vorderen Tores waren ein unüberwindbares Hindernis für einen Sportwagen.
Thomas und Frank hatten den Wagen der Kidnapper gerade noch gesehen, als er losgejagt war. Ein schwarzer Cadillac Escalade, Maryland-Kennzeichen. Mit dem mächtigen Luxus-Geländewagen waren sie direkt zum Fenster des Kaminzimmers vorgestoßen. Der Angriff der schwarz Gekleideten und der Jeep auf der Hauptzufahrt hatten wohl vor allem als Ablenkung dienen sollen.
Vor uns schwenkten die Rückleuchten des Cadillac nach rechts.
Ich bildete mir ein, dass wir aufgeholt hatten. Wenigstens ein paar Yard. Der Allradantrieb brachte den Fliehenden keinen entscheidenden Vorteil. Und die Good-Year-Reifen meines roten Renners hatten mit der Nässe keine Probleme. Im Gegenteil. Bei Wasser unter dem Profil waren sie erst richtig in ihrem Element.
Ich trieb den Tacho bis auf 80, 90 Meilen hoch, ohne dass auch nur ein Ansatz von Aquaplaning zu spüren war. Lediglich die schlechten Sichtverhältnisse hinderten mich daran, das Tempo noch mehr zu erhöhen.
Was das reine Kräfteverhältnis betraf, war der Sportwagen mit seinen 363 PS klar überlegen. Zwar hatte der Escalade in seiner stärksten Version mit Sechs-Liter-Achtzylinder-Maschine immerhin 345 PS vorzuweisen. Die aber mussten ein Leergewicht von mehr als zweieinhalb Tonnen bewegen. Mein Britenbolide brachte dagegen nur 1.700 Kilogramm auf die Straße.
Der Regen machte die Fahrt zum Ratespiel. Dennoch glaubte ich zu erkennen, dass der Caddy beim Abbiegen leicht ins Schlingern geriet. Aber der Eindruck konnte auch durch das ständige Tanzen der Rückleuchten entstehen. In den herabrauschenden Wassermassen kam man sich tatsächlich vor wie auf Tauchfahrt. Die Scheinwerfer nützten fast gar nichts. Selbst abgeblendet reflektierten sie mehr von dem bindfadenstarken Regen, als dass sie unseren Scharfblick unterstützt hätten.
Einziger Trost war, dass es den Fliehenden keinen Deut besser erging als uns.
Plötzlich verschwanden die Rückleuchten.
Wie ausgeknipst.
Ich hoffte, dass es nur vorübergehend war. Vielleicht gab es einen Damm oder einen Streifen von Buschwerk am Rand der Fahrbahn, die der Cadillac jetzt benutzte. Oder der Regen hatte zugenommen und die Wasserschwaden noch dichter gemacht.
Milo bediente das Funkgerät. Er hatte Verbindung mit Master Sergeant Jasper Barrow, der die Einsatzleitung auf dem Payne-Anwesen übernommen hatte.
»Fluchtfahrzeug verlässt State Highway 225«, sagte Milo ins Mikro. »Neue Fahrtrichtung Süd, auf US Highway 301.«
»Das ist Richtung Newburg«, antwortete Jasper Barrow. »Da gibt's eine gebührenpflichtige Brücke über den Potomac. Und der Fluss ist die Staatsgrenze zwischen Maryland und Virginia. Sollen wir da dichtmachen?«
Mein Freund sah mich fragend an.
Ich nickte und fragte: »Wie viele Meilen haben wir bis zur Brücke?«
Milo gab meine Frage weiter.
»Ungefähr zwanzig«, erwiderte Jasper.
»In Ordnung«, entschied Milo. »Absperrung auf Maryland-Seite. Und die Kollegen in Virginia müssen verständigt werden. Zusätzliche Einsatzkräfte sollen zu uns aufschließen. Aber bis zum Erreichen der Brücke gilt: außer Sichtweite der Entführer bleiben!«
»Verstanden«, antwortete Jasper und wiederholte die Anweisungen in Stichworten. Es war die militärische Art, die ihm vertraute Sprachform. Er fügte hinzu: »Keine weiteren Vorkommnisse.«
Das bedeutete, dass sich seit dem letzten Funkkontakt nichts geändert hatte. Das erwartete Großaufgebot von FBI, Polizei und Rettungsdiensten war auf dem Payne-Grundstück eingetroffen. Eine weiträumige Absperrung war errichtet worden. Ich hatte Anweisung gegeben, keinen Journalisten durchzulassen. Es war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Solange Corinna Paynes Schicksal nicht geklärt war, durften die Medien über den Fall nicht berichten. Die Gefahr für das Leben der Frau wäre einfach zu groß gewesen. Abgesehen davon war es die Angelegenheit der zuständigen Beamten im FBI-Hauptquartier. Elliot B. Payne und seine Direktorenkollegen hatten darüber zu entscheiden, wann und in welchem Umfang die Informationssperre aufgehoben wurde.
Wir erreichten die Einmündung.
Ich wechselte vom Gas auf die Bremse und schaltete die Scheinwerfer aus.
«Bist du verrückt?«, rief Milo. »Was soll das?« Er hatte das Funkmikro eingeklinkt.
Ich zog den Sportwagen nach rechts. »Merkst du einen Unterschied?«, fragte ich.
»Hm«, brummte mein Freund.
Womit er ausdrückte, dass er mir Recht geben musste. Die Sicht hatte sich um keinen Deut verschlechtert. Wie ich schon vermutet hatte, brachte das Scheinwerferlicht nicht den geringsten Vorteil. Dafür hatten wir einen anderen Pluspunkt. Die Kidnapper konnten uns jetzt nicht mehr sehen. Unser Standlicht wurde schon nach wenigen Yards von den Regenmassen verschluckt. Vielleicht nahmen sie an, dass sie uns abgehängt hatten. Im günstigsten Fall gingen sie davon aus, dass sie überhaupt nicht verfolgt wurden.
Während ich noch darüber nachdachte, atmete ich auf.
Sie waren wieder vor uns.
Der vertraute Anblick der tanzenden Rückleuchten wirkte beruhigend auf mich.
Ich nahm die roten Punkte als Orientierungshilfe und gab Gas. Es war wie ein Blindflug. Doch solange der Highway schnurgerade verlief, konnte ich es riskieren.
Der Sportwagen beschleunigte willig. In den Spiegeln sah ich das weiße Gischten der Wasserfahne, die wir hinter uns herzogen. Es herrschte kaum Verkehr auf dem Highway. Auf den Fahrspuren Richtung Newburg waren wir allein mit den Entführern. Auf der Gegenfahrbahn tauchte ein einzelnes Scheinwerferpaar auf und flirrte vorüber. Erst nach Minuten kam uns ein weiteres Auto entgegen. Danach blieb es dunkel. Und der Regen schien einfach nicht nachlassen zu wollen.
Der Navigations-Bildschirm zeigte uns, dass wir gerade mal eineinhalb Meilen in der neuen Richtung zurückgelegt hatten. Es blieb also noch Zeit. Wir konnten uns innerlich auf die Konfrontation vorbereiten. Die würde unweigerlich kommen, wenn die Entführer die Absperrung vor der Brücke über den Potomac River erreichten.
Doch würden sie es wirklich darauf anlegen? Wenn sie zwei und zwei zusammenzählen konnten, würden sie wissen, was ihnen blühte. Die Geisel war keine Garantie für sie. Moderne Polizeitechnik ließ Kidnappern wenig Chancen, wenn man sie rechtzeitig erwischte.
Unsere Kollegen hatten genügend Zeit, dort an der Brücke das volle Programm vorzubereiten. Scharfschützen, Anti-Terror-Einheiten, gepanzerte Einsatzfahrzeuge. Von der simplen Blendgranate bis zum hochwirksamen Betäubungsgas konnten die Kollegen überdies alle Register ziehen ‒ je nach Entwicklung der Lage.
Ich rechnete damit, dass die Gangster eine andere Richtung einschlagen würden. Und zwar weit genug vor der Brücke.
Milo hatte sich vorgebeugt. Angespannt spähte er in die graue Wand des Regens. Klar, zwei Augenpaare sehen besser als eines.
Gleich nachdem wir losgejagt waren, hatte uns Jasper Barrow eine erste Bilanz durchgegeben.
Die Jacht, die als Kanonenboot eingesetzt worden war, hieß »Princess« und gehörte einem Bootsverleih in Point Lookout, an der Mündung des Potomac in die Chesapeake Bay. Was die Ermittlungen dort ergeben würden, stand für uns schon jetzt fest. Wer die Jacht auch gemietet hatte, er würde sich ordnungsgemäß ausgewiesen und den vollen Preis im Voraus gezahlt haben. Logisch, dass der Betreffende unauffindbar sein würde. Einen falschen Führerschein oder eine falsche Sozialversicherungskarte konnte man überall im »Gangland«, also in der Unterwelt des Verbrechens, kaufen.
An Bord der »Princess« hatte es vier Tote und einen schwer Verletzten gegeben. Der Letztere war nach Washington gebracht worden, ins St. Elizabeth's Hospital. Er würde durchkommen, doch das bedeutete keineswegs, dass er eine Aussage machen würde.
Der Mann war der einzige Überlebende, von den Entführern Corinna Paynes einmal abgesehen. Wenn er redete, würde er damit sein eigenes Todesurteil aussprechen. Was für eine Organisation ihn auch beauftragt haben mochte, sie würde alles tun, um mögliche Zeugen auszuschalten, die ihr gefährlich werden konnten.
Auch vorn im Haus hatten die Angreifer nicht überlebt. Vier Männer in Schwarz. Der Kugelhagel, mit dem Thomas Juliano und Frank Lumley sie gestoppt hatten, war absolut tödlich gewesen.
Jasper Barrows Kommentar dazu war knapp gewesen.
»Washington-Cops!«
Damit hatte er alles gesagt, was man dazu sagen konnte. Die Kollegen vom MPDC sind genauso zuverlässig wie sämtliche anderen. Aber sie gelten als die schießwütigsten der Nation. Den Grundsatz »Erst schießen, dann fragen« hält mancher wohl eher für ein ungeschriebenes Gesetz der Texaner. Doch die Statistiken der letzten Jahre beweisen etwas anderes.
Es sind die Cops in der Hauptstadt, bei denen der sprichwörtliche Colt am lockersten sitzt.
Damit machen sie regelmäßig Schlagzeilen. Polizeibeamte in Washington D.C. feuern ihre Dienstwaffen doppelt so häufig ab wie ihre Kollegen in New York, Los Angeles, Chicago oder Miami, weshalb der District of Columbia, kurz D.C. genannt, in Gerichtsverfahren regelmäßig zu hohen Schadenersatz und Schmerzensgeldzahlungen verurteilt wird. Im letzten halben Jahr sind es allein acht Millionen Dollar gewesen.
Eine harte Nuss für die knapp 600.000 Steuer zahlenden Einwohner D.C.s, des »Districts«, wie sie ihren Bezirk nennen. Der ist identisch mit dem Stadtgebiet Washingtons ‒ und zugleich eine Ausnahmeerscheinung, weil er keinem Bundesstaat angehört. »Federal City« nennen die Bürger Washingtons auch ihren District, weil sie unmittelbar der US-Bundesverwaltung unterstehen.
»Diese Leute sind zu allem fähig«, sagte Milo aus einen Gedanken heraus.
Wie üblich musste ich den Zusammenhang selbst ergründen. Kein Problem jedoch. Schließlich kenne ich meinen Freund und Partner lange genug, um auch die Überlegungen zurückverfolgen zu können, an denen er mich nicht mit Worten teilhaben lässt.
Natürlich meinte er nicht die Washington-Cops, denen die Medien gern eine mangelhafte Ausbildung und schlechte Dienstaufsicht vorwerfen. Auch an die Einwohner der Hauptstadt hatte Milo wohl nicht gedacht. Und ebenso wenig konnte er Thomas Juliano und Frank Lumley meinen, denn die beiden beherrschten ihr Handwerk. Wäre es anders gewesen, hätten sie den Job bei SECCO gar nicht erhalten. Ambrose Waggoner wusste genau, wen er einstellte und wen nicht.
Ohne den Blick zu wenden, deutete ich mit dem Kinn nach vorn, auf die Rückleuchten im Regen.
»Du sprichst von denen?«, vergewisserte ich mich.
»Von wem denn sonst?« Milo warf mir einen kurzen, kopfschüttelnden Blick zu. Dann spähte er wieder durch die Windschutzscheibe.
»Wir haben sie nicht gesehen«, erinnerte ich ihn. »Also wissen wir nicht, was für Leute es sind.«
»Hör mal. Alle auf der Jacht waren Arabertypen, und alle vorn im Hauseingang auch. Das sagt doch wohl alles. Deutlicher kann man uns ja nun nicht darauf stoßen, mit was für einem Verein wir es zu tun haben.«
»Du meinst, mit welcher Terrororganisation?«
»So kannst du es auch ausdrücken.«
»Menschenskind, Milo!«
»Was?«
»Das ist mir ein bisschen zu einfach.«
»Wovon redest du?«, knurrte Milo.
»Davon, dass man es nicht gleich mit Al-Qaida zu tun haben muss, wenn man mal einem Araber begegnet.«
»Verdammt, die sind weg!«, schrie mein Freund.
Ich sah es im selben Sekundenbruchteil. Vor uns war nur noch graues Rauschen.
Ich nahm Gas weg, wartete eine Sekunde und schaltete die Scheinwerfer wieder ein. Ich ging weiter mit der Geschwindigkeit runter, fast bis zum Schritttempo.
»Nach links!«, rief Milo überzeugt. »Die sind nach links abgehauen!«
Ich brummte zustimmend, blieb locker und zog den Sportwagen langsam in Richtung Mittelstreifen.
Zwar hatte ich es nicht eindeutig erkennen können, aber in meinem Unterbewusstsein war etwas hängen geblieben. Und das bestätigte Milos Vermutung. Ein scharfer Ruck von der Fahrspur weg, im 90-Grad-Winkel fast, und von da an waren die Rückleuchten nicht mehr zu sehen gewesen.
Vielleicht lag es daran, dass sie in der Seitenperspektive weniger rotes Licht abstrahlten. Möglich aber auch, dass der Fahrer des Cadillac meinen Trick abgeguckt und seine Beleuchtung komplett abgeschaltet hatte. Wenn es so war, bedeutete es, dass wir auf der Hut sein mussten. Denn dann wussten sie, dass wir ihnen im Nacken saßen.
Milo hatte das Funkmikro bereits wieder ausgeklinkt. Er rief Jasper Barrow.
Ich kniff die Augen zusammen, beugte mich vor. Doch so sehr ich mich auch anstrengte, ich vermochte nichts anderes zu erkennen als das ewige Prasseln des Regens auf dem Fahrbahnbeton.
»Haben Fluchtfahrzeug verloren«, sagte Milo gerade. Er blickte auf den Bildschirm. »Jetzige Position: 3,4 Meilen ab Einmündung State Highway 225 in US Highway 301, Fahrtrichtung Süd.«
Unvermittelt veränderte sich das helle Meer der kleinen, aufspritzenden Wasserfontänen auf dem Beton. Links, am Rand des Scheinwerfer-Lichtkegels, wurde es dunkler.
Der Mittelstreifen!
Wie auf vielen unserer Highways gab es auch hier keine Leitplanken. Ich hatte meine Vermutung noch nicht weitergedacht, als ich es sah. Es war nichts, das ich schon genau beschreiben konnte. Aber es war da. Eine Veränderung in dem dunklen Streifen.
Reflexartig wechselte ich vom Gas auf die Bremse. Bei der geringen Geschwindigkeit, die wir draufhatten, stand der Sportwagen sofort.
Jasper Barrow war noch nicht mal zu einer Antwort gekommen.
»Warte mal«, sagte Milo.
Wir versuchten, die Regensuppe mit Blicken zu durchbohren und drückten unsere Nasen an die Windschutzscheibe.
Unsere Mühe wurde belohnt.
Ich hatte mich nicht getäuscht.
Tatsächlich, da waren Reifenfurchen.
Von der Fahrbahn weg hatten sie sich in den durchweichten Boden gedrückt. Die Tiefe der Furchen erzeugte eine starke Schattenbildung im Scheinwerferlicht. Nur deshalb sahen wir sie so deutlich.
Ich tastete mich weiter heran, holte ein Stück nach rechts aus und schwenkte dann zur Mitte des Highways.
In dem gut kniehohen Buschwerk des Mittelstreifens klaffte eine Lücke.
Reifen hatten das Zweigwerk platt gewalzt. Zwischen den beiden Furchen hatte das Bodenblech des Wagens die Sträucher lediglich umgeknickt.
Milo gab es an Jasper Barrow durch, während ich die rote Raubkatze auf die Fährte setzte. Auf der Gegenfahrbahn waren keine Scheinwerfer zu sehen. Doch das konnte sich bei den miserablen Sichtverhältnissen schnell ändern. Deshalb beeilte ich mich mit der Suche.
Die Erdspuren aus dem Reifenprofil des Cadillac Escalade waren gerade noch zu sehen. Der Regen hatte bereits angefangen, sie aufzulösen und wegzuspülen. Milo und ich vermochten eben noch zu erkennen, wohin die Reise ging. Die Entführer waren nicht etwa in die Richtung gefahren, aus der wir gemeinsam gekommen waren.
Nein, ihre Route führte geradeaus weiter, quer über die Gegenfahrbahn des Highways. Und auf der anderen Seite setzten sich die Reifenabdrücke im freien Gelände fort.
»Jetzt haben wir ein Problem«, sagte Milo und erklärte Jasper die Lage.
»Du meinst, euch fehlt ein Offroader unterm Hintern?«, entgegnete der ehemalige Master Sergeant.
»Exakt«, bestätigte Milo, während ich auf den Seitenstreifen zuhielt.
»Da läuft eine Provinzstraße parallel zum Highway«, informierte uns Jasper. »Abstand nur zwanzig, dreißig Yard. Das Gelände müsste eben sein. Jedenfalls ist da kein Bach, in den ihr reinfallen könntet.«
»Wir versuchen es!«, rief ich.
Und gab Gas.
Milo hielt sich fest.
Noch hatten wir Beton unter den Reifen. Die Antriebsräder packten zu, katapultierten uns in das Regengrau wie einen Kampfjet beim Start. Der Vortrieb presste uns in die Sitze. Dabei gab der Achtzylinder nicht mehr als ein sonores Grollen von sich. Ich hielt das Lenkrad mit eisenhartem Griff.
Es rumpelte unter uns. Der sonst so komfortable Flitzer schüttelte uns durch. Ein paar Mal hob es uns an, und jedes Mal folgte ein krachendes Aufsetzen, als wären wir mit unserem Jet in Turbulenzen geraten. Dann, plötzlich, schüttelte sich der Sportwagen ein letztes Mal, und es folgte seidenweicher Gleitflug. Wir glitten vorwärts wie in eine Schönwetterzone. Nur der Regen passte nicht dazu.
Sofort bremste ich ab, beugte mich vor und kniff die Augen zusammen. Da waren sie wieder, die Erdspuren, diesmal auf asphaltiertem Untergrund. Ich lenkte den Sportwagen in die neue Richtung, die die Entführer eingeschlagen hatten.
»Jetzt fahren sie doch nach Norden«, gab Milo den aktuellen Stand der Dinge durch. »Wohin geht's da?«
»Der nächste Ort liegt mehr nordwestlich«, erklärte uns Jasper. »Newtown, nicht Newburg. Aber die ganze Gegend ist bebaut. Weit auseinander gezogene Wohngrundstücke. Gehobene Luxusklasse.«
»Soll uns nicht schrecken«, erwiderte mein Freund. »Wie sieht es mit Unterstützung aus?«
»Ist im Anmarsch. Die ganze Meute. Ich schicke sie hinter euch her, in die neue Richtung. Die Brückensperre lassen wir vorerst bestehen. Okay?«
Milo bestätigte und beendete das Gespräch.
Ich beschleunigte ein wenig, nahm die linke der allmählich verwaschenden Erdspuren als Mittellinie zwischen die Räder des Sportwagen. Es kam mir vor, als hätte der Regen nachgelassen. Aber das konnte ebenso gut Einbildung sein, aus Wunschdenken geboren.
Die Sportwagen-Schnauze fraß die linke Erdspur zügig in sich hinein. Fast fünf Minuten lang. Dann, plötzlich, wieder ein Schwenk, nach rechts diesmal.
Milo hob das Funkmikro. Im Payne-Bungalow hatte ein Kollege vom FBI die Einsatzleitung übernommen. Special Agent Wilbur de Leon, direkt aus dem Hauptquartier. Wir kannten uns. Wilbur war in Ordnung, ein prima Kerl. Er strafte alle Legenden von den arroganten Schnöseln aus der Führungsriege Lügen.
Ich zog den Sportwagen in die neue Richtung. Der Rechtsschwenk des Scheinwerferlichts änderte die Lage schlagartig. Denn nun bekamen wir richtig was zu sehen. Reflexartig trat ich auf die Bremse.
Hinweistafeln glänzten im Regen.
Ein ansehnlicher kleiner Schilderwald war es sogar ‒ lackiert, emailliert, koloriert. Große Schrift und Kleingedrucktes, Schlichtes und Verschnörkeltes.
Und mittendrin eine Schranke.
Ein einfacher rot-weißer Rundbalken, links aufliegend, rechts mit einem Gegengewicht versehen. In der Mitte unter dem Rundholz hing ein weiteres Schild, passend zu den Schrankenfarben, mit feuerroter Schrift auf weißem Grund:
No Trespassing Beware Of The Dogs
Der Grund für das Durchfahrtsverbot und die Warnung vor den Hunden war auf einem Schild links neben der Schranke zu lesen:
Private Road Closed
Eine Privatstraße, gesperrt also. Neben diesem großbuchstabigen Hinweis befand sich ein größeres Schild mit mehreren Spalten Kleingedrucktem. Es handelte sich um den Gesetzestext über den rechtlichen Status von Privatstraßen im Bundesstaat Maryland.
Rechts von der Schranke warnte eine Holztafel:
Private Property Keep Out!
»Privateigentum, draußen bleiben«, las Milo vor. »Wie kommen die bloß darauf, dass sich jemand hier eingeladen fühlen könnte?«
»Du meinst den oder die Eigentümer?«, entgegnete ich. »Wahrscheinlich sind die von ihrer Finanzlage überrollt worden, bevor sie hier alles abbauen konnten.« Ich zeigte auf das vierte Schild, das größte von allen.
For Sale
3.000 sq ft Mansion ‒ 5 acres Property
Information:
Adamson, Kershaw & Partners Real Estate Agents 5388,12th St, Washington D.C. Phone 614567
Milo nickte nachdenklich. Er gab die Einzelheiten an Wilbur de Leon durch und fügte hinzu: »Falls du dich für eine neue Hütte interessierst, könntest du hier vielleicht fündig werden. Hier gibt's ein Herrenhaus von rund 1000 Quadratyard Wohnfläche zu kaufen. Plus ‒ warte mal ‒ runde 24.000 Quadratyard Grundstück, für den Fall, dass du einen privaten Golfplatz anlegen möchtest.«
»Genau das, was ich suche!«, lachte Wilbur. »Hast du eine Telefonnummer?«
»Der Immobilienmakler ist Adamson, Kershaw«, antwortete Milo und las den Rest vor.
In meinem Kopf bauten sich unterdessen die wildesten Schlussfolgerungen auf. Was hatten wir hier? Einen Terroristen-Schlupfwinkel? Die geheime Einsatzzentrale einer Truppe von Killern und Entführern?
Ein Zentrum von Staatsfeinden vor den Toren unserer Hauptstadt?
Mach jetzt bloß keinen Fehler!, malmte mein innerer Ratgeber, der besonnene Teil von mir. Bleib auf dem Teppich. Warte die Verstärkung ab. Kein Alleingang jetzt, auch nicht zu zweit. Ihr wisst beide nicht, was da auf euch zukommt.
Okay, konterte der Part meines Wesens, der mich zum FBI-Agenten gemacht hatte, und was ist mit Corinna Payne? Jede Sekunde, die wir warten, kann ihr Leben kosten!
Dazu fiel dem schlauen Mahner in mir nichts mehr ein.
Ich zog die Handbremse an, stieß die Tür auf und sprang hinaus in den Regen.
Aus dem Funklautsprecher hörte ich noch Wilbur de Leons Stimme. »Wartet, um Himmels willen, bis die Verstärkung da ist! Haltet euch zurück, okay? Wer weiß, was da auf euch zukommt!«
»Werden wir euch sagen, sobald ihr hier seid«, antwortete mein Freund.
Es schüttete in solchen Mengen, dass es mir vorkam, als sollte ich in die Knie gezwungen werden. Ich stemmte mich gegen die Wassermassen von oben, rannte, öffnete die Schranke und kehrte im gleichen Tempo zurück.
Wäre ich von Manhattan nach New Jersey geschwommen, vollständig bekleidet, quer durch den Hudson River ‒ ich hätte nicht anders ausgesehen als jetzt. Der kurze Weg vom Sportwagen zur Schranke und zurück hatte gereicht, mich bis auf die Haut zu durchnässen. Mein Einsteigen hörte sich an, als würde jemand einen triefnassen Wischlappen auf den Fahrersitz klatschen.
»Ob das gut fürs Leder ist?«, gab Milo zu bedenken und runzelte die Stirn. Er hatte das Funkgespräch unterbrochen. Die Verbindung stand noch.
»Mach dir keine Sorgen«, erwiderte ich, riss die Tür zu und fuhr an. »Wozu gibt's Versicherungen?«
»Dafür, dass sie dir das Blaue vom Himmel herunterversprechen und dann, wenn es drauf ankommt, die Zahlung verweigern.«
Milo hatte seine pessimistische halbe Stunde. Dabei hätte ich einen echten Grund gehabt, mich unwohl zu fühlen. Meine Klamotten fühlten sich an, als hätte mich jemand in nasskalte Umschläge gewickelt ‒ von der Halskrause bis zum Hosenaufschlag. Nur in den Schuhen war es noch trocken.
Ich ließ den Sportwagen durch die Schrankenöffnung rollen. Mit einer Kopfbewegung wies ich auf die Asphalttrasse, die im Regen andeutungsweise zu erkennen war. »Erzähl mir lieber, wo wir ankommen, wenn wir uns nicht verirren.«
»Beim Haus. Der Eigentümer war Clarence B. Tracey«, erklärte Milo voller Respekt.
»War?«
»Ja. Er ist gestorben. Vor acht Monaten.«
Ich glaubte es nicht. Jetzt hatte er auch noch diesen Untertanen-Ton drauf. Erschütterung in der Stimme, Ergriffenheit im Ton. Ersteres, weil Mr. Tracey das Zeitliche gesegnet hatte. Letzteres, weil der Verblichene ein überragender Mensch gewesen sein musste.
»Ein tragischer Tod?«, erkundigte ich mich.
»Nein. Er war dreiundneunzig. Aber eine bedeutende Persönlichkeit.«
»Sorry, nie von ihm gehört.« Ich behielt das bisschen, was ich von der schmalen Asphaltpiste sah, im Blickfeld. »Ist das jetzt eine Bildungslücke?«
»Kann man wohl sagen«, tadelte Milo. »Der Mann war schließlich Senator. Ist allerdings schon ein paar Jahre her.«
»Welche Rolle spielt das?« Es reizte mich, meinen Freund herauszufordern. Entweder lag es an seiner Obrigkeitsverehrung, an meinen nassen Klamotten oder an der zunehmenden Anspannung. Deshalb sagte ich betont wegwerfend: »Ich kann mir doch nicht jeden Einzelnen von diesen Typen merken, die irgendwann mal in Washington saßen.«
Milo sprang darauf an. »Hör mal!«, erwiderte er mit gebremster Empörung. »Tracey war nicht irgendein Hinterbänkler. Der hatte einen erstklassigen Ruf. Und er hat sich in der Entwicklungshilfe einen Namen gemacht.«
Ich zog anerkennend die Mundwinkel nach unten. »Mit Klimaforschung hat er sich nicht zufällig auch befasst?«
»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Milo spitz. »Meines Wissens war er nie in der Regierung, nur ein gewöhnlicher Abgeordneter, aber eben ein sehr engagierter. Und danach war er Industrie-Lobbyist.«
»Aha«, sagte ich.
»Was soll das heißen?« Mein Freund sah mich vorwurfsvoll von der Seite an.
»Na ja, er könnte ja die armen Entwicklungsländer mit den Segnungen unserer Zivilisation versorgt haben. Zum Beispiel mit den Produkten unserer Rüstungsindustrie.«
»Nicht Tracey. Da sieht man, dass du keine Ahnung hast«, ereiferte sich Milo. Er schnaufte, und nach kurzem Überlegen gab er es auf, mich weiter zu belehren.
»Wie auch immer, Tracey hat bis zum letzten Tag hier gewohnt, in seinen bescheidenen vier Wänden. Ist dreiundneunzig geworden, der Mann, und war noch topfit.«
Ich pfiff anerkennend durch die Zähne. »Lass mich schätzen. Dreimal verheiratet?«
»Viermal.«
»Siehst du. Das hat ihn jung gehalten.«
»Was heißt hier >Siehst du<? Sollen wir ihm etwa nacheifern?«
»Tun wir doch. Nur ohne Trauschein und eheliche Wohngemeinschaften. Ich glaube, wenn wir unsere weiblichen Beziehungskisten zusammenzählen, stechen wir deinen tollen Senator sogar noch aus.«
Diesmal musste Milo grinsen. »Wie auch immer, seine Erbengemeinschaft besteht aus vier noch lebenden Ex-Frauen und zehn ehelichen Kindern.«
»Du lieber Himmel! Was für eine Armee von Rechtsanwälten muss da aufmarschieren, wenn die in Streit geraten.«
»Also sind wir doch besser dran«, resümierte mein Freund. »Keine Erben, kein Streit, keine Rechtsverdreher.«
Ich schaltete die Scheinwerfer aus. Meiner Schätzung der Grundstücksgröße nach, konnten wir vom Haus nicht mehr weit entfernt sein.
Milo löste seine MPi aus der Halterung unten vor dem Sitz, lehnte sich zurück und spähte durch das Zielfernrohr. Das dazugehörige Nachtsichtgerät half auch bei Regen, wie ich wusste.
»Unglaublich«, murmelte er kurz darauf. Und verstummte daraufhin.
Ich nahm Gas weg, trat auf die Bremse und machte Anstalten, nach meiner eigenen MPi zu greifen. Mein genuschelter Kommentar dazu lautete: »Muss wohl selber nachsehen ...«
»Fahr weiter!«, rief Milo. »Du hörst gleich, was Sache ist.« Er ließ die MPi auf die Knie sinken und hob das Mikro. »Wilbur!«
»Milo«, antwortete der G-Man aus Washington prompt.
»Wir haben jetzt ...«, Milo blickte auf den Bildschirm, »knapp fünfhundert Yard auf der Grundstückszufahrt zurückgelegt. Noch mal dreihundert Yard vor uns sehe ich ein kleines Gebäude mit einem großen betonierten Platz. Keine Menschenseele zu sehen, nirgendwo brennt Licht. Die Bude hat Erdgeschoss und Dachgeschoss, Satteldach, Außenmauern aus hellroten Ziegelsteinen. Kleine Fenster, kleine Türen. Was ist das? Ein Nebengebäude? Die Hausmeisterwohnung?«
»Nein, das ist Traceys Palast.« Wilburs knappes Lachen drang scheppernd aus dem Funklautsprecher. »Adamson, Kershaw & Partner haben mir die Baubeschreibung gemailt. Eingangstür und Fensterrahmen sind dunkelrot, richtig?«
»Ja, stimmt«, staunte Milo. »Und das soll ein Herrenhaus sein?«
»Es ist wie ein Eisberg, von dem du nur die Spitze siehst. Das meiste ist unter Wasser ‒ in diesem Fall unter der Erde. Garage, Schwimmbad, Fitnessraum, Privatkino, mehrere Salons und sogar ein Schießstand.«
»Kein Golfplatz?«
»Den gibt's ausnahmsweise überirdisch.« Wilbur räusperte sich. »Kein Auto zu sehen?«
»Nein. Der Betonplatz ist leer. Keine Büsche und Bäume, nur Rasen.«
»Freies Schussfeld für Mr. Tracey«, bestätigte der Special Agent aus der Hauptstadt. »Auf seine alten Tage hat er noch so was wie Verfolgungswahn entwickelt. Er wollte in der Lage sein, sich gegen Angreifer zu verteidigen. Mit der Waffe in der Hand.«
»Altersstarrsinn in seiner gefährlichsten Form, was?« Milo stieß die Atemluft durch die Nase aus. »Wir können also davon ausgehen, dass die Kidnapper in die Tiefgarage gefahren sind. Das bedeutet, dass sie Schlüssel haben. Oder den Code für die Einfahrt.«
»Am besten geht ihr von gar nichts aus. Wir sind in spätestens zehn Minuten bei euch. Dann stürmen wir die Burg mit vereinten Kräften.«
»Für euch bleibt noch genug Arbeit, wenn ihr erst mal hier seid.«
»Milo!«, protestierte der Kollege.
»Over und Ende!«, sagte mein Freund nur. Er schaltete das Funkgerät aus und klinkte das Mikro ein.
Ich hatte den Fuß auf dem Gas. Der Sportwagen beschleunigte zügig. Allmählich gewöhnte ich mich an die U-Boot-Fahrweise. Damit, dass es je wieder zu regnen aufhören würde, war wohl nicht zu rechnen.
Erdspuren, von den Reifen des Cadillac verursacht, konnte ich nicht entdecken. Der Regen hatte alles weggespült. Davon konnten wir ausgehen.
Die Umrisse des Hauses schälten sich aus dem Grau.
Die Sachen, die ich brauchte, lagen griffbereit vor dem Fahrersitz, unter meinen Beinen. MPi mit Zielfernrohr und Laservisiereinrichtung, ein Helm mit integriertem Nachtsichtgerät, außerdem das Walkie-Talkie, ein Futteral mit Reservemagazinen, eines mit Spezialladungen und ein weiteres, in dem zwei Blendgranaten steckten. Das alles schnappte ich mir, nachdem ich den Sportwagen zum Stehen gebracht hatte.
Den Helm stülpte ich auf den Kopf und zurrte den Riemen fest. Dann klappte ich das Nachtsichtgerät nach unten und schaltete es ein. Die Welt um mich herum wurde grünlich hell.
Milo hatte seine Ausrüstung bereits aus dem Fußraum vor seinem Sitz geholt. Den Helm auf dem Kopf, sah er mich an und stellte den Daumen senkrecht. Zeitgleich verließen wir den Wagen. Mein Freund fluchte unterdrückt. Ich hatte es besser. Mit meinen nassen Sachen fühlte ich mich wie in meinem Element. Wie ein Seehund, der endlich ins Meer zurückkann.
Wir machten keinen Umweg, sondern schritten direkt auf das Haus zu.
Die Tür war verschlossen. Ich pappte zwei Hohlladungen dorthin, wo die Riegelsysteme sitzen mussten. Milo wich nach rechts weg, nahm die MPi in den Hüftanschlag. Ich betätigte die Zünder und brachte mich zur anderen Seite hin in Sicherheit.
Ein dumpfer Doppelschlag folgte.
Außerhalb des Hauses verschluckte der Regen die Detonationen schon nach wenigen Yards. Drinnen hallte es länger, fielen Metallteile zu Boden. Schrundige Löcher klafften im Holz.
Der Patriots Act, die Patriotengesetze, verabschiedet nach dem 11. September 2001, erlaubten uns dieses gewaltsame Eindringen. Wenn Verdacht auf terroristische Aktivitäten besteht, dürfen wir seitdem so ziemlich alles machen, bis Klarheit besteht, was abläuft. Seit Inkrafttreten der so genannten Patriotengesetze werden wir in unserem Handeln nicht mehr von sinnlosen Paragraphen behindert, andererseits gebe selbst ich zu, dass diese neue Gesetzgebung erheblich in die Bürgerrechte eingreift. Man kann die Sache aus zwei Blickwinkeln betrachten, und ich tue es regelmäßig als der FBI-Agent Jesse Trevellian, dessen Arbeit seitdem enorm leichter ist, und als der Privatmensch Jesse Trevellian, der seine Probleme hat mit diesem einschneidenden Eingriff in unsere Verfassung.
Ich versetzte der Tür einen Fußtritt.
Noch während sie nach innen flog, war Milo zur Stelle, machte einen Satz an mir vorbei und verschwand nach rechts aus meinem Blickfeld. Das gehörte zu unseren einstudierten Zugriffsmustern.
Ich wählte die Gegenrichtung, sprang nach links, in einen kahlen Vorraum, dessen Originalfarbe vermutlich weiß war. Ich prallte mit der Hüfte gegen eine Kommode und verharrte. Die Tatsache, dass wir uns im Trockenen befanden, war mir noch nicht einmal richtig bewusst geworden. Es gab Wichtigeres, jetzt, in diesen Sekunden.
Zum Beispiel die Frage, ob die Entführer wirklich in dem Haus steckten. Und wenn ja, wo.
Ich hob die Maschinenpistole in den Hüftanschlag und suchte den Raum mit Blicken ab. Milo auf der anderen Seite tat es mir gleich. Ich wunderte mich nicht erst darüber, dass wir keine Alarmanlage ausgelöst hatten. Wahrscheinlich gab es keine. Denkbar, dass Clarence B. Tracey, der Starrkopf, sich auf seine persönliche Art der Selbstverteidigung verlassen hatte. Die Cops von Washington D.C. waren offenbar nicht die einzigen Schießwütigen in der Gegend.
Wir brauchten nur Sekunden, um uns zu orientieren. Ein Nebenflur verlief geradeaus, mit abzweigenden Türen auf beiden Seiten. Eine Treppe führte ins Dachgeschoss; bei der Tür darunter musste es sich um den Zugang zur Garage handeln.
Diesmal brauchten wir keine Gewalt anzuwenden. Der Knauf ließ sich drehen. Wir verharrten beiderseits der Öffnung, als die Tür aufschwang.
Der heiße Empfang blieb aus. Kein Geschossblei zwitscherte uns entgegen. Kein Licht flammte auf. Nicht mal ein kühler Kellerhauch wehte uns entgegen.
Und noch immer rührte sich keine Alarmanlage. Dabei hätte es uns nichts ausgemacht, wenn im nächstgelegenen Polizeirevier eine Warnleuchte aufgeflammt wäre. Sämtliche Cops im Umkreis von fünfzig Meilen wussten über unseren Einsatz Bescheid.
Und für mich stand fest, dass die Entführer hier mit Corinna Payne Zuflucht gesucht hatten. Weiter durch das Gelände zu kurven wäre für sie viel zu riskant gewesen. Die Straßen konnten sie kaum noch benutzen, da sie überall mit Polizeisperren rechnen mussten. Sie bauten vermutlich darauf, dass wir sie hier nicht aufspüren würden, dass wir sie aus den Augen verloren hatten.
Ich wechselte einen Blick mit Milo. Wir verständigten uns mit einem Nicken. Diesmal übernahm ich die Führung.
Die Treppe hinunter.
Ich beeilte mich, über wand die Stufen so schnell und so leise wie möglich. Die MPi an der Hüfte, huschte ich in das kühle Kellergrün hinab. Milo folgte mir mit zwei Yard Abstand.
Unbehelligt kamen wir unten an, wichen nach beiden Seiten vom Treppenabsatz weg.
Vor uns weitete sich ein Tanzsaal – von der Größe her jedenfalls. Der Einrichtung nach war es eher ein Salon, mit flauschigem Teppichboden, mächtigen Polstermöbeln, Tischen, einer Bar und sogar einem Kamin. Da hingen kristallene Leuchter und Ventilatoren unter der Decke, und großflächige Spiegel hingen an den Wänden. Beiderseits des Kamins hing je ein Gemälde von Frederick Remington. Beide waren fast wandhoch und zeigten Kavallerieszenen aus den Indianerkriegen. Später stellten unsere Experten fest, dass es Originale waren.
Es gab zwei offene Durchgänge, einen gleich bei der Treppe, einen anderen im entfernten Winkel des Kellersaals. Ich zeigte mit dem MPi-Lauf auf den Durchgang in meiner Nähe. Milo nickte und hielt seinen Seitenabstand, als ich mich langsam vorwärtsbewegte.
Vor mir öffnete sich ein breiter Korridor, die Wände glatt und nahezu schmucklos. Nur ein paar Wandlampen aus Messing gab es. Und ein paar kleinere Spiegel.
Doch nach wie vor war keine Menschenseele zu sehen.
Deshalb kam der Schock wie aus dem Nichts.
Es krachte.
Ohrenbetäubendes Hämmern setzte ein ...
Ein Sengen zischte über mein Gesicht, und der scharfe, heiße Luftzug glich einem Peitschenhieb.
Meine Reflexe schlugen sofort an. Ich warf mich zurück. Zum Begreifen blieb keine Zeit. War ich getroffen? Ich spürte keinen Schmerz, doch das besagte gar nichts. Manchmal spürt man eine Kugel erst, wenn sie einem herausoperiert ist.
Hart prallte ich auf den Boden, rollte mich ab und wunderte mich, dass es funktionierte. Der Helm saß fest auf meinem Kopf. Mein grünliches Sichtfeld wackelte nur ein wenig.
Das Hämmern hielt an, doch ein trockenerer Klang mischte sich hinein.
Während ich auf der Seite lag, sah ich Milo. Er hatte seine MPi im Schulteranschlag und zielte genau. Trotz des harten, ruckenden Rückstoßes der Waffe wanderte sie meinem Freund nicht für den Bruchteil einer Sekunde aus der Visierlinie.
Im nächsten Moment wurde es still.
Milo ließ die Waffe sinken, hielt sie jedoch schussbereit, während er sichernd nach allen Seiten spähte. Gleichzeitig kam er auf mich zu.
»Alles okay?«, erkundigte er sich besorgt.
»Komischerweise ja«, antwortete ich und rappelte mich auf. Dass ich dazu problemlos in der Lage war, konnte ich noch immer nicht ganz fassen.
»Lichtschranke«, erklärte Milo und zeigte auf das Ding, das er in Stücke geschossen hatte.
Ein kleiner weißer Kasten an der Wand war es, in Hüfthöhe angebracht, rechts, im Durchgang zum Korridor. Das Gegenstück befand sich auf der anderen Seite.
In Kopf und Schulterhöhe hatte sich automatisch eine Klappe geöffnet. Waffenstahl schimmerte dahinter im Halbdunkeln. Ein Kreis von sechs Laufmündungen war zu erkennen, als hätte man eine altertümliche Gatling Gun ins Mauerwerk gesteckt.
»Eine Selbstschussanlage!«, stöhnte ich. Bei der Erinnerung an den peitschenden Luftzug im Gesicht wurde mir nachträglich schlecht. Ich hob meine MPi, um aus der Hüfte feuern zu können, wenn die nächste Überraschung nahte.
»Du hast verdammtes Glück gehabt«, sagte mein Freund halblaut. »Diese Lichtschranken-Technik ist Steinzeit. Wäre es ein modernes Lasersystem ...«
Er überließ es meiner Fantasie, mir den Rest auszumalen.
»Also weiter!«, sagte ich, um solche Gedanken gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Mit dem gebotenen Sicherheitsabstand drangen wir in den weiten weißen Kellergang vor. Meine Sinne standen auf Alarmstufe eins. Wenn sich die Kidnapper tatsächlich hier unten verkrochen hatten, hatten sie uns spätestens jetzt bemerkt. Der Lärm der Schüsse konnte ihnen nicht entgangen sein.
Am Ende des Korridors befanden sich Türen, je eine auf beiden Seiten und eine dritte in der Stirnwand. Sie waren weiß und hoben sich nur durch dünne Linien von den Wänden ab, denn die Rahmen waren gleichfalls weiß gestrichen. Clarence B. Tracey musste im hohen Alter eine Vorliebe für klinisches Ambiente gepflegt haben.
Ich kniff die Lider zusammen, hielt meine Augen in Bewegung, um alle drei Türen möglichst zeitgleich im Blick zu haben.
Und dann kriegten wir es knüppeldick!
Licht flammte auf, strahlende Helligkeit flutete in den Gang – und blendete uns wegen unserer Nachtsichtgeräte.
Und zwei der Türen flogen auf.
Ich ließ mich fallen, schlug das Nachtsichtgerät hoch.
Ich rechnete mit Schüssen.
Doch es war ein Rumpeln, das im selben Sekundenbruchteil einsetzte.
Reaktionsschnell machte ich eine Umdrehung nach rechts, und aus der Bewegung heraus stieß ich die MPi nach vorn. Am Rand meines Blickfelds sah ich noch, dass Milo die gegenüberliegende Wand erreicht hatte, schräg hinter mir.
Doch was ich dort vorn sah, am Ende des Korridors, ließ meinen Atem stocken.
Das Rumpelding kam aus der Tür zur Rechten. Es kam auf Hartgummirädern. Eine Riesenkiste. Ungefähr fünf Fuß hoch und mehr als doppelt so lang. Die Wandungen aus dunkelrot lackiertem Sperrholz, Ecken und Kanten aus silberfarbenem Metall. Ein Stage-Case – ein Transportbehälter, mit dem Teile von Soundanlagen und Bühnenausrüstung befördert wurden.
Größer als ein Sarg war diese Kiste.
Nur andeutungsweise waren die Umrisse der Gestalten dahinter zu erkennen. Zwei, vielleicht sogar drei Kerle nutzten den Kasten als Deckung. Er war mittlerweile fast auf ganzer Länge hereingerollt.
Mich durchlief es eiskalt.
Und meine Ahnung wurde zur grausamen Gewissheit.
»Sie da drin!«, brüllte einer. Er hatte eine raue, holprige Aussprache. »Ihr feuern, Frau tot. Also weg mit Waffen! Und hoch Hände!«
Corinna Payne lag also in der Kiste. Gefesselt und geknebelt vermutlich. Wehrlos den Kugeln ausgeliefert, die durch das dünne Holz schlagen würden.
So kalkulierten sie. Sie schätzten unsere Schießkünste verdammt niedrig ein. Andererseits war die Gefahr von verirrten Geschossen nicht auszuschließen, vor allem nicht bei Feuerstößen aus einer Maschinenpistole.
Milo und ich dachten trotzdem nicht daran, die Aufforderung zu befolgen. Aufgeben gab's nicht. Wir hatten uns geschworen, Corinna zu retten. Nichts anderes zählte.
Ich löste den Kinnriemen, zog den Helm mitsamt Nachtsichtgerät vom Kopf – behutsam genug, um kein verräterisches Geräusch zu verursachen. Denn noch riskierten es die Kerle nicht, hinter ihrer Deckung hervorzuspähen.
Ohne Helm konnte ich den Kopf besser in den Nacken legen, während ich flach auf dem Boden lag und mit dem Kinn die kalten Fliesen berührte. Ich schob den linken Arm vor, drehte die Handfläche nach oben und bettete den Lauf der MPi darauf, die ich auf die Seite kippte. Auf diese Weise würde jede Kugel, die ich abfeuerte, flach über den Boden dahinsausen.
Ich schaltete die Waffe auf Einzelfeuer.
Der Stage-Case stand vor der Stirnwand. Ich schätzte die Entfernung auf zwanzig Yard. Um Milo konnte ich mich nicht kümmern, doch ich wusste, dass er das Richtige tun würde. Als Zweier-Team waren wir perfekt aufeinander eingespielt. Dazu waren nicht mal Worte erforderlich. Einer reagierte auf den anderen. Wir arbeiteten lange genug zusammen.
»Waffen weg!«, ließ sich der Brüller erneut vernehmen. »Oder es knallt!«
Es war nicht als Frage gemeint, er hatte nur die Wörter verdreht. Und wenn wir gehorchten, waren wir tot.
Deshalb handelte ich ...
Ich zielte sorgfältig, hatte die MPi eisenhart im Griff.
Und zog durch.
In das Krachen des Schusses mischte sich ein Schrei.
Sofort feuerte ich das zweite Mal. Auch diesmal raste die Kugel einen knappen Inch über dem Fußboden dahin, und wieder fand sie zwischen den Hartgummirädern ihr Ziel.
Den zweiten Kerl riss es von den Füßen. Er stimmte in die Schmerzensschreie seines Komplizen ein.
Der dritte wollte es so weit nicht kommen lassen.
Mit einem wilden Angriffsschrei schnellte er links von der Kiste weg. Breitbeinig, in den Knien federnd, ließ er seine MPi aus der Hüfte hämmern.
Milos Job.
Mehr als einen Feuerstoß schaffte der Mann nicht.
Milo hatte sich abgerollt, von der Wand weg. Dort, wo er eben noch gelegen hatte, zogen die Projektile Furchen in die Fliesen. Zwei, drei Abpraller stiegen schrillend empor. Drüben im Salon schlugen sie in die Decke. Der Schießer kam nicht mehr dazu, seine Visierlinie zu korrigieren. Als er den Lauf herumschwenkte, malte sich grenzenloses Erstaunen in seine bärtigen Züge.
Schläge wie von unsichtbaren Hämmern trafen seinen Oberkörper, schüttelten ihn durch, stießen ihn zurück. Eine Garbe aus seiner MPi sägte senkrecht in die Decke des Korridors.
Milo stellte das Feuer ein, als der Mann zu Boden sank.
Doch wir konnten noch nicht aufatmen. Die beiden, denen ich in die Füße geschossen hatte, wälzten sich hinter der Transportkiste. Sie schrien nicht mehr, stöhnten und wimmerten aber zum Herzerweichen.
Ich ließ mich nicht beeindrucken und wechselte meine Position um einen Yard nach rechts.
Gerade noch rechtzeitig.
Plötzlich kippte einer der Wimmerer hinter der Kiste hervor. Er machte es raffiniert, denn es sah nur so aus, als ob er lang hinschlug. In Wahrheit landete er gezielt auf dem linken Oberarm, und der Lauf seiner MPi ruckte in meine Richtung.
Reaktionsschnell warf ich mich noch einmal herum. Ich sah das blassrote Aufblühen des Mündungsfeuers, und ich spürte, wie die Kugeln an mir vorbeisirrten. Es war der Sekundenbruchteil, in dem ich durchzog. Die Maschinenpistole rüttelte an meiner Schulter, beendete die Blütezeit der Feuerblumen drüben.
Als ich den Finger vom Abzug nahm, hämmerte es weiter.
Es war Milo. Er hatte den dritten Mann rechtzeitig bemerkt, wie er hinter seinem toten Kumpan in Deckung gegangen war und das Feuer eröffnet hatte.
Ich sprang auf. Geduckt und bereit, blitzartig auf jegliche Bewegung zu reagieren, lief ich auf die Transportbox zu. Milo stellte das Feuer ein und folgte mir ebenso wachsam. Doch unsere Vorsicht erwies sich als überflüssig.
Von den drei Entführern drohte keine Gefahr mehr. Dennoch kickten wir ihre Waffen außer Reichweite, bevor wir die Verschlüsse der Rollkiste öffneten. Gemeinsam hoben wir den Deckel an. Das Licht der Deckenleuchten fiel hinein.
»Verdammt!«, stieß Milo hervor.
Ich presste die Lippen zusammen.
Der Behälter war halb voll mit Hanteln, verchromten Stangen und Zubehörteilen von Fitnessgeräten.
Wir verloren keine Worte, wirbelten herum und holten unsere Helme. Vorsorglich. Dann stürmten wir los – in den Raum, aus dem die Kerle mit der Kiste gekommen waren.
Ein Wald von metallisch blitzenden Geräten empfing uns. Clarence B. Traceys privates Fitnessstudio. Es wunderte uns schon nicht mehr, dass auch dieser Raum die Größe eines Saals hatte. Beim nächsten Mal würden wir es wohl kaum noch zur Kenntnis nehmen.
Ein sonores Dröhnen setzte ein.
Der typische Achtzylinder-Sound.
Es musste das Motorgeräusch des Cadillac Escalade sein. Unmöglich jedoch, zu ergründen, woher es kam. Das lag an dem Nachhall in dem riesigen Gewölbe.
Wir wären gut beraten gewesen, uns eine Bauzeichnung überspielen zu lassen – auf Handy oder Palmtop. Doch die Zeit hatte zu sehr gedrängt. Und – verdammt! – sie drängte noch immer. Vielleicht mehr denn je. Ich mochte mir nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn die Entführer jetzt mit ihrem Opfer losjagten und draußen in der Landschaft verschwanden. Es konnte durchaus sein, dass sie einen Fahrzeugwechsel vorbereitet hatten. Und wenn der ihnen gelang, sahen wir alt aus.
Hölle und Teufel, ich hatte das Gefühl, dass uns die Zeit unter den Fingern zerrann. Meine Nerven begannen zu vibrieren.
»Das könnte eine Falle sein«, flüsterte Milo. »Das Motorgeräusch verändert sich nicht. Hörst du das?«
Ich bestätigte mit einem Handzeichen. Was mein Dienstpartner meinte, war klar. Die Kerle konnten überall lauern. Möglich immerhin, dass sie schon mal hier gewesen waren. Dann kannten sie die Kellersäle besser als wir.
Während wir durch die Gassen zwischen Hantelbänken, Rudergeräten, Ergometer-Fahrrädern und Laufbändern vordrangen, drehten wir uns abwechselnd um die eigene Achse, ohne das Tempo unserer Schritte zu verlangsamen. Die Visierlinie der Maschinenpistolen hielten wir unablässig und genau in der Blickrichtung – ehernes Gesetz in einem solchen Einsatz. Einen bewaffneten Gegner zu erblicken muss bedeuten, auch sofort auf ihn feuern zu können.
Überdies mussten wir in jeder Sekunde damit rechnen, dass jemand das Licht ausknipste. Ob sie es wirklich taten, war eine andere Frage. Denn ich vermutete, dass sie keine Nachtsichtgeräte bei sich trugen.
Noch bevor wir den nächsten offenen Durchgang erreichten, wussten wir, was uns dahinter erwartete.
Chlorgeruch wehte uns entgegen. Das Schwimmbad war ebenfalls hell erleuchtet. Nach ein paar Schritten konnte ich das schillernd blaue Wasser sehen. Die Oberfläche war leicht gekräuselt, vermutlich durch den Luftstrom der Klimaanlage. Alles in dem Haus und dem unterirdischen Palast kam mir so vor, als ob es gestern zuletzt benutzt worden wäre. Okay, das konnte allerdings auch daran liegen, dass die Maklerfirma den Bau jederzeit vorführbereit halten wollte.
Milo signalisierte mir mit einem Blick, dass ich ihm den Vortritt überlassen sollte. Ich nickte. Mein Freund ging schneller, bereit, gleich hinter dem Durchgang nach links zu weichen.
Doch unmittelbar davor erstarrte er.
Mir erging es nicht besser.
Ich war wie schockgefrostet.
Sie standen einfach da – auf der anderen Seite des Beckens, wie aus dem Nichts aufgetaucht.
Corinna Payne und ein Mann mit schwarzem Vollbart!
Der Betonbogen des Durchgangs rahmte sie ein, und das Schillern des Wassers verlieh dem Bild etwas Surreales – so, als würden sie auf einem durchscheinenden Material schweben.
Mit dem linken Arm hielt der Bärtige den Oberkörper der Frau umklammert. Die Waffe in seiner Rechten sprach eine grauenhaft deutliche Sprache.
Es war ein Anblick, den Milo und ich in unserer Laufbahn beim FBI nicht zum ersten Mal zu sehen bekamen. Denn leider gab es immer wieder Verbrecher, die unschuldigen Menschen eine Pistolenmündung an den Kopf hielten, um damit ihre Forderungen durchzusetzen.
Um Lösegeld ging es in diesem Fall bestimmt nicht.
Nur um freien Abzug?
Das ergab keinen Sinn. Es konnte nur eines dahinter stecken: Sie wollten Milo und mich ausschalten, wollten endlich einen echten Vorsprung. Und nachdem die Aktion mit der Kiste nicht geklappt hatte, versuchten sie es jetzt auf diese Weise.
Die Augen des Schwarzbärtigen funkelten hasserfüllt.
Er schrie nicht, drohte nicht, stellte keine Forderungen. Nur den Anblick ließ er wirken. Das reichte, um uns zu stoppen. Er wusste es.
Und die Sekunden dehnten sich zu zeitlupenhafter Endlosigkeit.
Corinna war totenbleich.
Ein erschreckender Kontrast zu der grausamen Härte des schwarzen Waffenstahls. Die scharfkantige Mündung lag knapp unter ihrem Wangenknochen und verursachte dort eine Einbuchtung, die sich noch weißer von ihrer blassen Gesichtshaut abhob. Ihre Augen waren ausdruckslos, ins Nichts gerichtet.
Ich wusste, es war die Todesangst, die das bewirkte.
Milo und ich hatten Corinna Payne als eine starke, selbstbewusste Frau kennen gelernt. Doch wer würde in ihrer Lage auch nur einen Hauch von diesen Eigenschaften bewahren können? Nichts zerstört die Würde des Menschen nachhaltiger als die Angst. Es bereitete mir einen körperlichen Schmerz, Corinna so sehen zu müssen. Und es kostete mich fast übermenschliche Anstrengung, mich von der Wut auf diese menschenverachtenden Killer nicht übermannen zu lassen.
Wut ist menschlich, okay.
Aber für einen G-Man kann sie tödlich sein. Vor allem für den Menschen, den er schützen soll. Denn Wut bedeutet Kontrollverlust, und der wiederum kann alle Beteiligten ins Verderben reißen.
Ich überwand den Schock. Ich merkte, wie meine alte Entschlossenheit zurückkehrte – kühl und kalkuliert, Chancen abwägend. Doch im selben Moment erfasste mich etwas anderes.
Ein seltsames Unbehagen.
Noch bevor ein klarer Gedanke daraus wurde, wusste ich, was es war. Wir hatten die Lage nicht im Griff. Der Geiselnehmer hatte uns gestoppt, bevor wir den vollen Überblick bekommen konnten. Im Schwimmbad, links und rechts hinter dem Durchgang, konnten weitere Killer auf uns lauern. Der laufende Motor des Cadillac sollte uns wahrscheinlich nur irritieren. Und im Rücken hatten wir einen Dschungel von Fitnessgeräten.
Das alles war mir noch nicht voll bewusst, als ich einen Impuls verspürte. Es war weniger als der Hauch einer Luftbewegung, eher dieses Gefühl, dass einem jemand in den Nacken stiert.
In der Hundertstelsekunde, in der ich herumwirbelte, nahm ich das Unfassbare noch wahr.
Corinna schrie!
Ehr Kopf ruckte nach vorn, sie riss die Arme hoch und gleichzeitig auseinander, sprengte damit den Griff des bärtigen Killers und schlug seinen Waffenarm zur Seite.
Auch Milos Reaktion bekam ich noch mit.
Seine Waffe spie Blitze.
Dann sah ich die Gefahr aus dem Gerätewald.
Gleichzeitig brach das Inferno los!
Schüsse krachten, schwollen zu Donner in der Weite der Räume. Auch ich feuerte – aus der Hüfte.
Eine Tapetentür war aufgeklappt, linker Hand, fünf Yard entfernt. Der Mann, der herausgeschnellt war, trug einen dichten schwarzen Vollbart. Er kam noch dazu, den Zeigefinger um den Abzug seiner MPi zu krümmen. Da erwischte ihn schon meine erste Kugelgarbe.
Der Geschosshagel fuhr durch das Gewirr des chromblitzenden Gestänges auf ihn zu. Serien von Querschlägern entstanden, vereinten sich zu einem Chor von heulenden Dissonanzen.
Doch die Mehrzahl der Kugeln fand ihr Ziel, schüttelte den Bärtigen durch und stieß ihn zurück. Daher wanderten die Projektile aus seiner Waffe zur Decke und zersägten einige der Leuchtstoffröhren. Dünne weiße Glasscherben regneten herab.
Ich fuhr herum, erwartete das Schlimmste. Die Maschinenpistole hatte ich erneut schussbereit. Noch bevor ich meine Kehrtwende vollendet hatte, riss ich die Augen weit auf. Ich wollte nicht glauben, was ich sah.
Corinna stand nicht mehr dort drüben.
Ihr Peiniger lag auf den Fliesen am Beckenrand. Reglos. Eine Blutlache breitete sich um seinen Oberkörper herum aus.
Corinna war ins Wasser gefallen.
Sie trieb noch an der Oberfläche, mit dem Gesicht nach unten. Die Jacke ihres Hosenanzugs hatte kleine Luftpolster gebildet. Wellenschlag ging von ihr aus, schwappte in unsere Richtung.
Mir gefror das Blut in den Adern ...
Ich rechnete damit, dass sich Blut in dem kristallblauen Wasser kräuselte – und damit, dass die Frau langsam auf den Beckenboden sinken würde. Ein Gefühl tiefer Niedergeschlagenheit und Bitterkeit breitete sich in mir aus.
Neben mir hatte Milo seine Waffe sinken lassen.
Alles aus, dachte ich, wir haben versagt. Wir haben es nicht geschafft. Verdammt, es war alles vergeblich. Alles ...
Auf einmal breitete Corinna die Arme aus.
Sie hob das Gesicht, blies prustend das Wasser aus, das sie geschluckt hatte – und schwamm.
Hölle und Teufel, sie schwamm auf uns zu!
»Milo!«, schrie ich, außer mir vor Freude. »Verdammt, wie hast du das gemacht?« Ich nahm die Linke von der Waffe und hieb ihm auf die Schulter, dass er beinahe in die Knie gegangen wäre.
»Sie hat es selbst gemacht«, ächzte er.
Ich sah ihn ungläubig an.
Corinnas Schwimmbewegungen waren schon ganz nah.
»Wenn die Gentlemen mir mal raushelfen würden ...«, sagte sie klar und deutlich. »Dann brauche ich nicht erst zu der Leiter da drüben zu schwimmen.«
Wir überwanden unsere Verblüffung und beeilten uns, ihrer Aufforderung Folge zu leisten. Doch kaum hatten wir sie auf dem Trockenen, wurde uns klar, dass es noch keine Erleichterung gab.
Das Motorgeräusch, eben noch im Leerlauf, schwoll an.
»Durchs Haus sind wir schneller«, sagte Corinna, triefnass zwischen uns stehend. »Die Garage hat eine ziemlich lange Einfahrt.«
Ohne unsere Antwort abzuwarten, lief sie los. Die nasse Kleidung behinderte sie nicht im Geringsten. Uns blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Okay, wir hätten sie ohnehin nicht zurücklassen können, weil wir mittlerweile nicht mehr wussten, wie viele Gegner sich noch in dem Tiefgeschoss aufhielten. In Sicherheit war Corinna vorerst nur in unserer Nähe.
Doch die Verstärkung musste nun auch bald eintreffen.
Auf dem Weg ins Erdgeschoss erfuhren wir, dass ein zweiter, voll besetzter Wagen in der Garage auf die Entführer gewartet hatte. Daher die vielen Gegner, mit denen wir es zu tun gehabt hatten. Corinna war nicht sicher; zwei oder vielleicht auch drei von ihnen mussten noch am Leben sein. Und jetzt ergriffen sie die Flucht.
Corinnas Todesmut aber konnten wir noch immer nicht begreifen, als wir oben im Haus ankamen. Milo hatte es mit eigenen Augen angesehen. Sie hatte mit einer ruckartigen Bewegung ihrer Arme den Griff des Killers gesprengt und gleichzeitig dessen Waffenarm zur Seite geschlagen. Im nächsten Moment hatte sie sich nach vorn fallen lassen, ins Becken. Bevor er noch auf sie schießen konnte, hatte Milos Maschinenpistole ein Ende gemacht.
Wir erreichten den Vorraum. Durch die offene Eingangstür wehte Regen herein. Ich berührte Corinna an der Schulter und zeigte auf den Nebenflur.
»Warten Sie dort!«, bat ich. »Und rühren Sie sich nicht von der Stelle! Milo bleibt in der Nähe. Und es kann nur Minuten dauern, dann trifft Verstärkung ein!«
Sie nickte tapfer.
Sie stand unter Schock, auch wenn sie sich darüber nicht im Klaren war. Milo begleitete mich bis zu der zerborstenen Tür. Während ich hinausstürmte, auf den Sportwagen zu, drehte Milo sich um und nickte Corinna aufmunternd zu. Wir haben die Dinge jetzt im Griff, bedeutete das, Sie brauchen keine Angst mehr zu haben!
Mein Freund wandte sich nach vorn, hängte den Riemen der MPi über die Schulter und zog sein Walkie-Talkie hervor. Er würde Wilbur de Leon verständigen.
Ich nahm den Weg um das Sportwagenheck herum und schwang mich hinters Lenkrad. Wieder hörte es sich an, als würde ein nasser Lappen einsteigen. Ich ließ den Achtzylinder kommen, schaltete die Scheinwerfer ein. Die Zeit des Versteckspiels war vorbei.
Kaum hatte ich die Kupplung kommen lassen, schoss etwas hinter der Hausecke hervor, keine zwanzig Yard entfernt. Im Regen durchströmten Lichtfeld sah ich es deutlich genug.
Schwarz, kantige Umrisse.
Der Cadillac Escalade!
Er jagte in die Richtung, aus der wir gemeinsam gekommen waren.
Ich gab Gas, knüppelte die Gänge hoch und ging auf Verfolgerkurs. Aber noch bevor ich mich ernsthaft auf diesen Job einstellen konnte, war es schon wieder vorbei. Ich wechselte vom Gas auf die Bremse.
Eine Wand von Scheinwerfern flammte plötzlich aus dem Regen hervor.
Die Bremsleuchten des schwarzen Edel-Geländewagens glühten auf. Und erloschen wieder.
Es hatte den Anschein, als wollten die Killer ausweichen, nach rechts oder links, eine neue Fluchtrichtung einschlagen. Doch sie konnten sich nicht schnell genug entscheiden.
Die Scheinwerferwand formte einen Halbkreis, der den Cadillac zu umschließen begann.
Erneut glühten seine Bremsleuchten auf.
Diesmal war es endgültig.
Eine Lautsprecherstimme donnerte den Verbrechern entgegen.
»FBI! Verlassen Sie den Wagen mit erhobenen Händen, einzeln und nacheinander!«
Ich sah, wie neben den Scheinwerfern Elite-Cops in ihren schwarzen Kampfmonturen und Helmen auftauchten. Waffenstahl schimmerte regennass.
Die Gangster riskierten nichts mehr, sie befolgten die Aufforderung. Drei Männer waren es, und auch sie sahen aus wie Araber.
Irgendwie kam es mir unecht vor. Unecht und übertrieben. Dabei fielen ihnen im Regen nicht etwa die Bärte ab. Nein, es war etwas, das ich mir selbst noch nicht erklären konnte. Aber ich würde dahinterkommen. Garantiert.
Ich wendete den Sportwagen und fuhr zum Haus zurück.
Als ich Milo sah, beugte ich mich vor und blinzelte ungläubig. Aber es stimmte, was ich sah. Ich täuschte mich nicht.
Er rannte mir entgegen, ins Scheinwerferlicht hinein, warf die Arme hoch und gestikulierte wie von Sinnen. Seine Augen waren weit aufgerissen, und er schrie irgendetwas.
Ich konnte mich nicht erinnern, ihn je so aufgeregt erlebt zu haben. Gerade noch rechtzeitig stieg ich auf die Bremse und brachte den Wagen zum Stehen. Während ich noch den Zündschlüssel herumdrehte, stieß ich bereits die Tür auf und sprang ins Freie.
»Jesse!«, schrie mein Freund in höchster Alarmstimmung. »Jesse, sie ist weg! Verschwunden! Einfach weg!«
Ich stand wie vom Donner gerührt.
Nur eine Sekunde lang. Dann sprintete ich los, an Milo vorbei, ins Haus.
Er rannte hinter mir her. »Ich habe schon überall nachgesehen!«, rief er verzweifelt. »Oben und im Erdgeschoss!«
»Wann hast du sie zuletzt gesehen?«, entgegnete ich, während ich die ersten Türen aufstieß und durch die Räume raste.
»Vor zwei, drei Minuten. Höchstens! Ich habe mich doch dauernd nach ihr umgedreht. Die ganze Zeit stand sie da, und auf einmal war sie verschwunden!«
»Verständige die Kollegen!«, sagte ich.
»Schon erledigt.«
»Corinna!«, rief ich, als ich in den Korridor zurückkehrte. »Corinna, wo sind Sie?«
Keine Antwort.
Im ganzen riesigen Kellergeschoss, wo uns bereits die Kollegen unterstützten, war es das Gleiche. Auch außerhalb des Hauses fanden wir unsere Schutzbefohlene nicht.
Wir zogen immer mehr Beamte hinzu und vergrößerten die Suchkreise.
Nach einer halben Stunde war das Ergebnis unverändert. Ebenso nach einer Stunde und nach zwei.
Corinna Payne war verschwunden.
Spurlos – im wahrsten Sinn des Wortes.