Читать книгу Krimi Doppelband 2234 - Alfred Bekker - Страница 10
I.
ОглавлениеBis zum Abflug hatte er noch vierzig Minuten Zeit, und deswegen beschloss er, es gleich hinter sich zu bringen. Die Telefonzellen links und rechts waren leer, zum Glück; denn Holger würde wahrscheinlich zu toben anfangen.
Nach dem dritten Läuten hob er ab und knurrte nur „Ja?“ Eine unangenehme Eigenart, an die er sich nie gewöhnen konnte. „Holger? Hier ist Uwe.“
„ Ah ja. Na, wie sieht’s aus?“
„ Sense. Wir kriegen den Auftrag nicht.“
Am anderen Ende blieb es lange still. Er lehnte sich an das Glas und unterdrückte ein Gähnen, die beiden Tage waren heiß und anstrengend gewesen. In der Zelle stank es nach kaltem Schweiß.
„ Und warum nicht?“
„ Sie wollten von Anfang an nicht. Wie ich dir gestern …“
„ Unsinn! Natürlich wollten sie.“
Heimlich holte er Luft. Mit Holger war er noch nie gut ausgekommen, aber wenn sein Chef diese Platte auflegte, verlor er leicht jede Beherrschung. „Nein, sie wollten nicht. Ich bin mit dem Preis bis zur unteren Grenze runtergegangen. Ich habe alle Termine so weit gedrückt, wie wir es vereinbart hatten. Plus Sonderleistungen.“
„ Warum sollten sie nicht wollen?“
„ Weil sie ein anderes Angebot auf dem Tisch hatten.“
„ Von wem?“
„ Ambrosiani.“
„ Glaub ich nicht!“ Glaub doch, was du willst, dachte er erbost und sagte nichts. Wenn sein lieber Boss ohnehin alles besser wusste, hätte er ja selbst verhandeln können. Ambrosiani wollte in der Bundesrepublik Fuß fassen, der Auftrag von Schneider & Sohn bot eine gute Gelegenheit dazu. Dafür würden die Italiener mit dem Preis in den Keller steigen. Schon am ersten Tag hatte er das unbestimmte Gefühl gehabt, dass Vater Schneider und Sohn Schneider von ihm nur erfahren wollten, was sie Ambrosiani abfordern konnten.
„ Verdammte Scheiße! Wir brauchen den Auftrag unbedingt. Das hast du doch gewusst.“
„ Moment mal“, verwahrte er sich, „wir haben gemeinsam die Untergrenze festgesetzt. Ich bin sogar bis zum Selbstkostenpreis gegangen, obwohl wir uns …“
„ Ach, Quatsch. Um jeden Preis – das war die Marschroute.“
So viel unverschämte Verlogenheit verschlug ihm die Sprache, und bevor er sich fassen konnte, klickte es im Hörer. Wenn da draußen die beiden Polizisten nicht vorbeigeschlendert wären, hätte er vor Wut den unschuldigen Apparat demoliert.
Im Warteraum waren alle Stühle besetzt, er lehnte sich an die Wand und kaute noch immer an seiner Wut auf Holger. Seit Tagen hatte er ein schlechtes Gefühl gehabt, schon auf dem Herflug, und jetzt fiel ihm auch wieder ein, dass er sich beim Anblick der Werkshallen gewundert hatte. Das sah nicht so aus, als liefen die Geschäfte von Schneider & Sohn glänzend.
Die Schlange setzte sich in Bewegung, die Könner mogelten sich mit Ellbogen und höflicher Miene nach vorne. Der Airbus war bis auf den letzten Platz gefüllt, er musste lange auf seinen Gin-Tonic warten und ihn dann hinunterschütten, weil die Maschine schon den Sinkflug begonnen hatte. Er kochte noch immer, als er seinen Wagen aus der Garage holte, und hupte sinnlos, weil sich vor der Ausfahrt ein Stau gebildet hatte. Auf der Fahrt Richtung Mertingen musste er mehrere Male scharf bremsen; eine Radfahrerin zeigte ihm erbost das Zeichen für Arschloch, nachdem er ihr die Vorfahrt genommen hatte. Verschwitzt und nervös stoppte er endlich vor der Garage, hielt den Sender für den automatischen Türöffner ins Freie und fluchte erneut. Die saublöde Anlage wollte einfach nicht funktionieren; die Monteure der Lieferfirma behaupteten, es ließe sich kein Fehler finden, aber der Fehler existierte, gerade jetzt zum Beispiel.
Stöhnend wuchtete er die Tür hoch. Melanies Wagen stand nicht an seinem Platz, er würde also in ein leeres Haus kommen. Einen Moment starrte er grimmig in das Halbdunkel, dann zuckte er die Achseln. Besser allein als ein neuer Krach, und bei seiner Stinklaune war ein Streit so gut wie unvermeidlich.
Er duschte und zog sich um, mixte in der Küche den Helmbrecht-Special (viel Eis, viel Tonic, wenig Gin, Lemonenextrakt und Angostura) und strolchte auf nackten Füßen durch das Haus. Für seinen Geschmack war es zu groß und zu bombastisch, aber Melanie hatte darauf bestanden, und weil sie mehr als genug eigenes Geld besaß, hatte er es endlich gekauft. Den Nachmittag hatte sie am Schwimmbecken verbracht. Auf dem Tisch mit dem aufgespannten Sonnenschirm entdeckte er ein leeres Glas, Sonnenbrille und Nasenschützer. Die Handtücher waren halb von der Sonnenliege gerutscht, und ihren nassen Bikini hatte sie achtlos auf die Fliesen fallen lassen. Aufräumen und Ordnung waren noch nie Melanies Stärken gewesen.
Er angelte sich einen Stuhl heran und streckte alle viere von sich. Der Blick über den gepflegten Garten und die niedrige Hecke an den Wald, der gleich hinter der Grundstücksreihe begann, tröstete ihn immer wieder über dieses unsinnig teure und große Haus hinweg, in dem zwei Bewohner so gut aneinander vorbeileben konnten. Um zehn Uhr, als die brütende Hitze nachließ, setzte er sich an seinen Schreibtisch und diktierte den Bericht auf Band. Holgers Verdrehung der Tatsachen beunruhigte ihn doch etwas. Es war schon richtig, sie hätten den Auftrag gut gebrauchen können, aber es stimmte einfach nicht, dass sie ihn „um jeden Preis“ hereinholen mussten. Bis Ende des Jahres war die Fertigung ausgelastet, und sie verhandelten über andere Projekte, die er für aussichtsreicher hielt, als er bei Schneider & Sohn je angenommen hatte.
Melanie kam spät in der Nacht zurück; er hörte ihren Wagen, dann die zukrachende Tür ihres Schlafzimmers und grinste. Aus einem unerfindlichen Grund reagierte sein geliebtes Weib ihre Wut immer an der unschuldigen Zimmertür ab, womit sie – da machte er sich keine Illusionen – auch ihn ärgern wollte, weil ein Stein bei diesem Lärm aufgewacht wäre.
Aber als er am nächsten Morgen um halb acht in die Küche trottete, huschte Melanie schon herum, hatte Kaffee gekocht und den Tisch gedeckt.
„ Guten Morgen, Liebster.“
„ Guten Morgen, Melanie.“ Während des zeremoniellen Morgenkusses schnupperte er ein neues Parfüm, sehr süß, sehr schwer – schwül, wie er fand. Es passte nicht zu ihr.
Sie frühstückten stumm, und er beobachtete sie hinter seiner Zeitung unauffällig. Melanie war 40 Jahre alt, was sie mit großer Geschicklichkeit und noch größerer Dreistigkeit leugnete, auch leugnen konnte: mittelgroß und überschlank, mit geschmeidigen Bewegungen, die für flüchtige Bekannte überdeckten, dass sie nicht stillsitzen konnte. Die aschblonden, glatten Haare fielen ihr bis auf die Schultern; er hatte gelernt, ihre Stimmungen aus den Handbewegungen abzulesen, mit denen sie die Haare aus dem Gesicht strich. Ihre schmalen, länglichen Augen standen etwas zu weit auseinander und waren eigentlich hellgrau, wirkten aber völlig farblos. Deswegen schminkte sie ihre Augenpartie sorgfältig, blau-silber, den Lidstrich mit äußerster Präzision dunkelbraun nachgezogen. Um zu bräunen, lag sie sommers stundenlang nackt am Swimmingpool. Im Herbst und Winter absolvierte sie ein kompliziertes Programm auf der Sonnenliege neben der Sauna im Keller. Im März, vor oder nach ihrem Winterurlaub, quälte sie sich vierzehn Tage auf einer Schönheitsfarm an der Côte d’Azur.
„ Noch Kaffee, Liebster?“
„ Gerne.“
An sich hätte sie ein eigenwilliges Gesicht haben können. Aber sie verwendete viel Zeit darauf, wie ein perfektes Modell auszusehen, halb sportlich, halb sexy, und in dieser Reihe von Titelbild-Schönheiten erschien sie ihm so auffällig wie ein Wassertropfen im Rhein. Vor zwei Jahren hatte sie zum ersten Mal ihren Busen liften lassen; es war eine perfekte Chirurgenarbeit geworden, sodass sie wieder in hautengen Hemdchen herumlaufen konnte. Er hätte sie gern etwas weniger perfekt und dafür etwas liebevoller gehabt, aber diesen Wunsch hatte er zum letzten Mal vor sechs Jahren ausgesprochen, und kurz danach bezogen sie getrennte Schlafzimmer. Heimlich seufzte er. Ihr langer weißer Morgenmantel war so dünn, dass sie auch gleich nackt hätte herumlaufen können.
„ Vergiss nicht, dass wir heute Abend bei Holger eingeladen sind. Punkt sieben Uhr.“
„ Nein.“ Er seufzte wieder, diesmal laut. „Das wird ein Vergnügen, bei dieser Affenhitze.“
„ Dala hat gestern noch einmal angerufen. Entweder Badesachen oder dünne Sporthose und kurzärmeliges Hemd. Wer mit Krawatte aufkreuzt, wird nicht reingelassen.“
„ Na, wenigstens etwas.“ Danach vertiefte er sich in die Zeitung; sie rauchte und rührte zwischendurch lustlos in ihrem Müslibrei. Sie fragte nicht, wie es in München abgelaufen war, und er erkundigte sich nicht, wo sie gestern Abend gewesen war.
Punkt acht Uhr setzte er seinen Wagen aus der Garage. Bis zur Firma im Norden der Stadt brauchte er normalerweise fünfzehn Minuten, und die Viertelstunde, die er später als die Mehrzahl der 250 Mitarbeiter sein Zimmer betrat, zählte er bewusst zu seinen Privilegien als Abteilungsleiter. Schließlich durfte er nur davon träumen, Punkt 16.30 Uhr das Gebäude zu verlassen. Im Gegenteil, ungestört und konzentriert konnte er erst nach dem allgemeinen Büroschluss arbeiten.
Er legte Engelchen die Kassette auf den Schreibtisch und schüttelte nur leicht den Kopf, als sie einen fragenden Blick auf Erika warf. Erika, zwanzig Jahre jung, fleißig, flink und flott auf der Schreibmaschine, zählte zu den lebhaften Gemütern, die pausenlos plappern mussten. Man konnte ihr einfach nicht böse sein, man durfte ihr nur keine Sachen zum Tippen geben, die vertraulich behandelt werden sollten. Sie schwärmte für ihren Chef und löcherte Engelchen zwei, dreimal pro Tag, ob der Chef sie wohl auch leiden möge. Ihr fester Freund arbeitete als Spitzendreher in der Halle II und träumte davon, einmal als Libero beim 1. FC zu spielen.
Nach einer dreiviertel Stunde kam Engelchen in sein Zimmer, schloss die gepolsterte Tür sorgfältig hinter sich und fragte direkt: „Was ist los, Chef? Kriegen Sie Ärger wegen Schneider & Sohn?“
„ Ich fürchte, ja.“
„ Behauptet der schöne Holger jetzt, Sie hätten den Auftrag um jeden Preis an Land ziehen müssen?“
„ Jetzt – ja.“ Auf Engelchen konnte er sich verlassen. Martha Engel, seit Ewigkeiten Engelchen gerufen, hatte die Fünfzig ebenso endgültig überschritten wie ihr Idealgewicht. Seitdem färbte sie ihre grauen Haare nicht mehr. Zu Anfang waren sie nicht gut miteinander ausgekommen. Er stammte aus Schleswig–Holstein, war an der dänischen Grenze aufgewachsen und konnte sich mit ihrer rheinischen Frohnatur nur schwer anfreunden. Doch sein erster Eindruck, sie nehme alles auf die leichte Schulter, täuschte gewaltig. Engelchen wurde unglaublich laut, unfreundlich und fies, wenn ihr etwas nicht in den Kram passte. Seit ihrem ersten Krach, bei dem er den Kürzeren zog, hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel.
„ Ich hab schon so was läuten gehört“, murmelte sie. „Der schöne Holger ist in letzter Zeit sehr nervös. Wissen Sie, wer das Feuerchen unter seinem Arsch angezündet hat?“
Über das Bild musste er schmunzeln: „Keine Ahnung.“
„ Schade. Passen Sie bloß auf, der Kerl ist so vertrauenswürdig wie ein Dreißigmarkschein.“
Daran musste er denken, als er sich im Sitzungszimmer auf seinen angestammten Platz setzte. Mit den meisten Kollegen vertrug er sich gut, sie waren alle zehn Jahre oder länger bei Rittlinger Scheren und hatten gemeinsam die Firma hochgebracht. Selbstverständlich gab es die üblichen Schwierigkeiten; die Herstellung verlangte immer spätere Termine, als der Verkauf zubilligen wollte; die Konstruktion geriet sich mit der Kalkulation regelmäßig in die Wolle; die Finanzabteilung war mit allen unzufrieden. Einige Ehrgeizige veranstalteten regelrechte Hahnenkämpfe, aber die Mehrheit absolvierte nur ihre Beschimpfungsrituale und einigte sich dann schnell und gütlich. Nur Holger Bornemann, der schöne Holger, und Werner Danckus, die beiden Geschäftsführer, fielen aus dem Rahmen. Danckus war ein verkniffen schweigsamer, sehr penibler und entscheidungsscheuer Endfünfziger, der an Magengeschwüren zu leiden und die Monate bis zu seinem Ruhestand zu zählen schien. Seine weißen Haare, zu einem akkuraten Mittelscheitel gekämmt, waren dünn geworden.
Nicht hineingefunden hatten sich die vier Neuen, die seit wenigen Jahren die von Holger Bornemann durchgeboxten Forschungsabteilungen leiteten. Irgendwie verstanden sie es nicht, den Hochmut der Theoretiker gegenüber den Praktikern zu unterdrücken, und obwohl es allgemein hieß, sie leisteten gute Arbeit, waren sie mit den anderen nie warm geworden. Kein Zufall, dass sie sich gern separierten oder, wie jetzt, am unteren Ende des Tisches stumm nebeneinander hockten. Vom Geschäft begriffen sie jedenfalls nichts, in puncto Geld hatten sie alle schon atemberaubende Unkenntnis offenbart. Seit die ersten in ihren Labors entwickelten Patente angemeldet und verkauft worden waren, verbesserte sich die Stimmung ihnen gegenüber etwas, wozu auch beigetragen hatte, dass Holger inzwischen die Kunst beherrschte, Subventionen, Fördermittel und Programmbeihilfen aus allen möglichen, staatlichen und halbstaatlichen Töpfen heranzuschaffen – eine Fähigkeit, die Danckus mit demonstrativer Verachtung strafte.
„ Guten Tag, meine Damen und Herren“, eröffnete Holger die Sitzung wie immer laut, energisch und eine Spur arrogant. „Ich darf Ihnen zuerst Dieter Ritter vorstellen. Herr Ritter hat gerade seinen Wehrdienst abgeleistet und will vor seinem Maschinenbaustudium bei uns ein Praktikum absolvieren.“ Der hochaufgeschossene junge Mann erhob sich, verbeugte sich linkisch und wurde rot, als die anderen zur Begrüßung auf den Tisch klopften.
‚ Bei uns‘, dachte er amüsiert. Holger stellte gern die Verhältnisse klar. Rittlinger Scheren war ein Familienbetrieb gewesen, als die Firma tatsächlich noch Papier und Stoffscheren herstellte, gegründet von August Ritter und Hermann Lingen vor mehr als hundert Jahren. Vom Handwerk verstanden Ritter und Lingen bestimmt eine Menge, vom Geschäftlichen weniger. Das Unternehmen krebste vor sich hin, die Familien wuchsen mit biblischer Fruchtbarkeit, und die Firmenchronik zum 100. Geburtstag stellte keck fest, dass am Ende des Zweiten Weltkriegs die Zahl der Miteigentümer die Zahl der Beschäftigten überstieg. Mitte der fünfziger Jahre hatten die Familien, wahrscheinlich auf Druck der Banken, die komplizierten Besitzverhältnisse geordnet und sich von der Leitung zurückgezogen. Seitdem gab es zwei Geschäftsführer, die sich von den Ritters, Lingens und wie sie alle heißen mochten, nicht hereinreden ließen. Ob der junge Ritter Holgers Unverschämtheit mitgekriegt hatte?
Eine knappe Stunde hakten sie die übliche Tagesordnung ab. Dann richtete sich Holger auf: „Das waren sozusagen die guten Nachrichten. Nun die schlechten. Wir bekommen den Auftrag von Schneider & Sohn nicht.“
Alle Köpfe drehten sich zu Helmbrecht.
„ Ich habe zwei Tage mit Schneider senior und Schneider junior verhandelt“, begann er ruhig. „Beide haben mich von der ersten Minute an hingehalten. Sie waren nicht an einem Abschluss interessiert, sondern wollten nur drei Dinge erfahren. Erstens, bis zu welchem Preis wir heruntergehen würden. Zweitens, wie unsere Termine und Serviceleistungen aussehen. Drittens, und das finde ich besonders bemerkenswert, kamen sie immer wieder auf die Fragen zurück, welche Toleranzen wir bei welchem Profilschnitt garantieren, wie hoch das Material aufgeheizt werden muss und wie viel Zeit zwischen Schnitt und Verschweißen oder Verkleben wir veranschlagen.“
„ Ambrosiani.“ Das war Jolles von der Marktforschung. Er hatte eine Stimme wie ein verrostetes Dampfhorn.
„ Wie bitte?“ Holger gab sich keine Mühe, seinen Ärger zu verbergen.
„ Das sind Ambrosianis Sorgen.“
„ Könnten Sie das näher erklären?“
„ Aber gern!“ Jolles dröhnte ungerührt. „CK 106 ist bei Normaltemperatur so spröde und hart, dass es splittert, wenn Sie versuchen, ein Profil reinzuschneiden. Deswegen heizt unsere Schere die Platte auf und schneidet erst dann. Aber wenn man 106 auf ideale Schnitt-Temperatur erwärmt, dehnt es sich aus und beginnt zu arbeiten. Diese Ausdehnungen und diese Spannungen müssen sehr genau gemessen werden, ein Rechner steuert danach die Schere, die Heizung und die Kühlanlage.“
„ Das ist alles bekannt.“
Wenn Jolles reden wollte, hinderte ihn auch ein Holger nicht daran. „Wir haben den Trick heraus, nur soweit abzukühlen, dass der Kleber gerade schön haftet, und dann das andere Stück, ebenfalls noch warm, so zu schneiden und zu verkleben, dass sich beim Abkühlen beide Teile gegensinnig entspannen, also schön zusammenpappen, aber zum Schluss nicht unter Spannung stehen.“
„ Was hat das mit Ambrosiani …“
„ Das können die Spaghettis noch nicht. Die Schere und die Scherensteuerung sind vergleichsweise simpel, aber die Elektronik und die Messsonden haben’s in sich. Können Sie sich nicht mehr erinnern, welchen Ärger wir mit Hagman’s Processors hatten?“
„ Was für einen Ärger?“ wollte jemand wissen.
„ Na, die Sonden und Temperaturfühler und die Rechner dazu stehen auf der Sperrliste, Cocom, verstehen Sie? Gilt als strategisches Material, kriegswichtig oder so. Die Amis möchten es am liebsten überhaupt nicht ins Ausland liefern.“
„ Na schön“, übernahm Holger wieder die Regie. „Ambrosiani kann das alles nicht. Warum haben wir dann den Auftrag nicht gekriegt?“
Helmbrecht lächelte schmal: „Weil die Italiener eine Methode und eine Maschine anbieten, die zwar sehr viel mehr Schnittzeit braucht, aber auch nur die Hälfte unserer Schere kostet.“
„ So ist es!“ Jolles grollte, dass die Tassen auf dem Tisch leise zitterten. „Schneider Vater ist ein Geizkragen, Schneider Sohn noch feucht hinter den Ohren. Sie investieren billig und produzieren teuer. Mit Ambrosiani sind sie gut bedient.“
Holger schwieg eine Minute, die Stirn gerunzelt. Ihm lag noch etwas auf der Zunge, aber dann schluckte er es herunter und ging zum nächsten Punkt über. Die Fähigkeit, seine Laune zu verbergen, beherrschte er perfekt – wenn er wollte.
Kurz vor seinem Zimmer zupfte jemand an seinem Ärmel. „Hast du einen Moment Zeit, Uwe?“
Er schmunzelte breit. Christine Marbach war eine Frau nach seinem Geschmack, patent, witzig und resolut. Aus ihren 43 Jahren machte sie kein Hehl; sie hatte Fältchen um die dunkelbraunen Augen, die mehr vom Lachen als vom Alter herrührten, ein energisches Kinn und Grübchen, wenn sie ihren großen Mund vergnügt verzog. Nur zu gern fuhr sie mit beiden Händen durch ihre kupferroten Haare, um ihrer Verzweiflung über die menschliche Begriffsstutzigkeit Ausdruck zu geben. Die Sommersprossen auf ihrer Nase leuchteten dann im selben Rotton.
„ Für dich immer“, gelobte er feierlich.
„ Aha. Na, dann wollen wir das mal testen.“
Doch in seinem Zimmer wurde sie ernst, faltete beide Hände über den Knien und erkundigte sich: „Hast du Ärger mit Holger?“
„ Ich?“ Vor Erstaunen fiel ihm der Unterkiefer herunter. „Wie kommst du denn darauf?“
„ Ich dachte nur – wegen Schneider & Sohn – na ja. Heute Morgen ist die Fritzen bei mir gewesen, um zu beichten.“ Marianne Fritzen – er erinnerte sich, Sachbearbeiterin in der Personalabteilung. Ein hübscher Feger mit langen Beinen und kurzen Röckchen. „Sie hat vor zwei Wochen wieder mal einen neuen Supermann kennengelernt. Großes Auto, kleines Hirn, dicke Brieftasche – sage ich, sie sieht das wohl anders. Jedenfalls konnte sie morgens nicht spät genug kommen und abends nicht früh genug gehen. Gestern ist mir das sauer aufgestoßen, sie musste bleiben, um nachzuarbeiten, es wurde wohl recht spät – na, wie auch immer, so gegen zwanzig Uhr kommt der schöne Holger zu ihr ins Zimmer geschlichen und raunzt sie an, er müsse mal an das Gerät, sie solle eine Pause machen. Natürlich gehorcht sie, er setzt sich ans Terminal und lässt sich was ausdrucken.“
„ Ja, und?“
„ Deine Personalakte.“
„ Was?“
„ Ja, die Fritzen schwört, dass sie deinen Namen auf dem Schirm gelesen hat. Und die typischen Rubriken aus dem Personalaktensatz. Dann legte der Drucker los, und sie verzog sich lieber, bevor Holger sie bemerkte. Behauptet sie.“
„ Merkwürdig!“ Verständnislos starrte er sie an. Warum sollte sich ein Geschäftsführer abends spät den Datensatz seines Verkaufsleiters ausdrucken lassen? Sie zuckte die Achseln: „Ich wollt’s dir nur gesagt haben.“
„ Danke, ja, aber ich kann mir darauf keinen Reim machen.“
„ Ich auch nicht. Das habe ich auch der Fritzen gesagt. Worauf sie ganz komisch wurde und eine noch verrücktere Geschichte erzählte. Vor drei oder vier Wochen habe sich ein Ausländer an sie herangemacht. Einer von der großzügigen Sorte, also ganz nach ihrem Geschmack, aber der habe nichts von ihr gewollt, wenigstens nichts – na, du verstehst schon, aber ausgefragt habe er sie. Nach Strich und Faden. Über das Geschäft, die Scheren und dann über bestimmte Mitarbeiter. Und ganz besonders habe er sich für dich interessiert.“
„ Ach, Blödsinn“, schnappte er. „Die Fritzen spinnt doch.“
„ Na ja“, stimmte sie halbherzig zu. „Sie hat schon eine blühende Phantasie. Aber ich weiß nicht …“ Den Rest des Satzes ließ sie in der Luft hängen, und er betrachtete sie geistesabwesend. Vor gut einem Jahr hätte es zwischen ihnen fast gefunkt. Die Halle auf der Hannover-Messe war heiß, laut und so stickig, dass er kaum Luft bekam und fürchtete, jede Sekunde würde sein Kopf zerspringen. Den beiden Franzosen schien es dagegen prächtig zu gehen. Stundenlang hatten sie sich nach allen Einzelheiten erkundigt; sein Französisch war mäßig, Christine hatte ausgeholfen, und danach waren sie fluchtartig aus der Halle gestürzt und ins Hotel gerast. Nach drei Whiskys lockerte sich der Ring um seine Stirn, den vierten tranken sie auf ihrem Zimmer, und wenn dann nicht das Telefon geklingelt und die anderen Mitarbeiter vom Stand sich beschwert hätten, wäre er geblieben. Wie auf Verabredung erwähnten sie die Stunden nie mehr, aber behandelten sich seitdem als alte Freunde.
Ihr Gesicht wurde ernst, fast abweisend, während ihr Blick abirrte, und einen Moment hatte er den Eindruck, als ränge sie mit sich, ob sie ihm etwas anvertrauen sollte. Doch dann klingelte das Telefon, sie atmete erleichtert durch und sprang mit einem fröhlichen „Bis dann!“ auf.
Den restlichen Vormittag diktierte er Briefe auf Band. Für den Verkauf kam es in erster Linie darauf an, die Firmen zu finden, die an einer Schere interessiert sein könnten – wobei „Schere“ ein irreführendes Wort war. Papier- und Stoffscheren stellten sie schon lange nicht mehr her; die Maschinen zur Fabrikation von medizinisch-chirurgischen Scheren hatten sie vor sechs Jahren verkauft; im Moment überlegten sie, ob sie wegen der steigenden Hobbynachfrage die Produktion von Handscheren für Kunststoff aufnehmen sollten. Aber in der Regel waren ihre „Scheren“ zimmergroße Maschinen, in der größten Ausführung über zweihundert Tonnen schwere Monster, die Edelstahlbleche von vierzig Millimeter Dicke und zwanzig Meter Breite in weniger als dreißig Sekunden zerteilten. Auf Rollen glitt das Blech unter einen Bogen, von dem sich hydraulische Stempel herabsenkten. Sie pressten das Blech fest auf die Unterlage. Blitzende Messerräder fraßen sich von links und rechts durch den Stahl wie geschärfte Fleischermesser durch ein zartes Steak, hin und zurück, die Stempel lösten sich, das abgeschnittene Teil lief auf Rollen weiter, während auf der anderen Seite das Großblech schon in die neue Schnittposition geschoben wurde. Sie schnitten Stahl, Eisen, Kupfer, Aluminium, Zink und Zinn, gerade, schräg oder mit Profil, sie bogen beim Schnitt die Bleche oder knickten sie, verarbeiteten dickes und dünnes, großes und kleines Gut. Andere Scheren bewegten das zu schneidende Material, sodass Rund- oder Parabelschnitte entstanden. Schnittkanten wurden gefräst, geglättet oder aufgeraut. In den letzten Jahren waren Scheren für Kunststoff hinzugekommen; sie hatten bereits die ersten Modelle für keramische Werkstoffe, glasfaserverstärkte Kunststoffe und kristalline Platten ausgeliefert; sie experimentierten mit exotischen Verbindungen.
Der schöne Holger betonte immer wieder, die Ära der Blechscheren neige sich dem Ende zu, was die meisten, wenn auch widerwillig, anerkannten. Aber dass ausgerechnet Rittlinger Scheren jetzt mit Laser oder Hochfrequenz oder Ultraschall Versuchsreihen laufen hatten, dass in einer Abteilung Schnitttechniken für Mikrochipsilizium und Germanium erprobt wurden, erschien der Mehrheit doch etwas übertrieben. Stillstand konnten sie sich auf Dauer nicht leisten, okay, aber mit so viel Eifer und Macht auf neue Märkte zu drängen, das hielten viele für eine Marotte, mit der Holger nur seine Dynamik beweisen wolle. Laut sprach das allerdings keiner aus.
Jolles von der Marktforschung, trotz seines kumpelhaften Gedröhns ein scharfsinniger Mann, fasste ihre Aufgabe so zusammen: „Wir erfüllen uns einen Kinderwunsch, nämlich etwas kaputtzumachen. Es ist ein ewiger Wettlauf zwischen diesen Erwachsenen, die was Neues erfinden, und uns Kindern, die wir es trotzdem ordentlich kleinkriegen.“
Das ließ Ernst vermissen, war aber eine kluge Beschreibung ihrer Situation. Bevor ein neuer Werkstoff einsatzreif war, mussten sie das entsprechende Schnittgerät parat haben. Deswegen war „Marktforschung“ auch eine sanft euphemistische Umschreibung: Jolles und seine Leute hatten ihre Nasen in vielen Labors- und Entwicklungsabteilungen stecken, nicht immer zur Freude der so Ausspionierten.
Kurz vor Mittag schaute Bodo Sighart, der Leiter der Konstruktion, herein. „Schneider & Sohn lässt mir keine Ruhe, Herr Helmbrecht. Sind Sie sicher, dass die bei Ambrosiani bestellen wollen?“
„ Ganz sicher.“
„ Es hat also nichts mit der Verkürzung der Schere zu tun?“
„ Nein, das ist gar nicht zur Sprache gekommen. Warum fragen Sie?“
„ Wegen des schönen Holgers.“
„ Das verstehe ich nicht, Herr Sighart.“
„ Bornemann blockt ab, wo er nur kann. Wenn’s nach ihm ginge, würden wir nur ein Standardmodell bauen, ohne Variationen und Modifikationen. Kundenwünsche gibt’s für ihn nicht.“
Nachdenklich schaute er den langen Blondschopf an. Sighart war ein exzellenter Konstrukteur, aber auch ein Hitzkopf, und man durfte seine Worte nicht zum vollen Nennwert nehmen, besonders dann nicht, wenn er sich in seiner Ehre als Techniker angegriffen fühlte.
„ Gibt es dafür Hinweise?“ fühlte er endlich vor.
„ Hinweise? Belege habe ich, massenhaft.“
Er zögerte; Sighart blickte ihm fest in die Augen: „Soll ich Ihnen meinen Ordner zeigen?“
‚ So beginnen Verschwörungen‘, schoss ihm durch den Kopf, als er vorschlug: „Das bleibt unter uns?“
„ Selbstverständlich.“ Sighart sprang auf. „Bin gleich wieder da.“
‚ Massenhafte‘ Belege waren es nun gerade nicht, aber Engelchen kopierte für ihn knapp fünfzig Seiten, die drei Fehlentscheidungen des schönen Holgers dokumentierten, und schnappte sich zum Schluss unaufgefordert den Ordner, um ihn zu Sighart zurückzubringen.
Hinterher erkundigte sie sich offen: „Sammeln Sie Munition für einen Angriff oder zur Verteidigung?“
„ Ich weiß noch nicht, Engelchen. Wahrscheinlich eher zur Abwehr.“
„ Halten Sie man bloß die Augen offen!“
Engelchens Warnung ging ihm nicht aus dem Kopf. Er saß mit Rike in der Kantine und beobachtete Christine Marbach, die ihm den Rücken zukehrte und sich drei Tische weiter eifrig mit einem Mann unterhielt, den er nicht kannte.
„ Hören Sie mir eigentlich zu, Herr Helmbrecht?“
„ Entschuldigung, Rike“, sagte er schuldbewusst. Alle Welt nannte sie Rike, weil ihr vollständiger Name Friderike van der Brügge so lang war, dass sie selbst großzügig anzubieten pflegte, es bei Rike zu belassen.
„ Ja, ja, ich merkte schon immer, dass Sie nur Augen für Frau Marbach haben“, neckte sie, und er stimmte schnell zu, um seine Verlegenheit zu überspielen: „Sie verweigern sich ja dem freien Markt.“
Rike lachte fröhlich. Sie lachte überhaupt gern, aber schwieg auch eisern, was vielen erst sehr spät auffiel. Einem Flirt war sie nie abgeneigt, hielt sich jedoch streng an die Devise „Never in the office“, was ihr viele Männer verübelten. Vor zweieinhalb Jahren hatte sie bei Rittlinger Scheren angefangen und knapp vier Monate für Helmbrecht gearbeitet – sogar mit Engelchen hatte sie sich glänzend verstanden –, bis sie wegen ihrer exzellenten EDV-Kenntnisse in eine andere Abteilung wechselte; seit einem Jahr führte sie die gesamte Registratur und Ablage. Sie war groß und kräftig, aber ihre krausen, fast schwarzen Haare, die dunklen Augen und die dunkle Hautfarbe erinnerten an eine Südländerin, was sie damit erklärte, irgendwann müsse ein Zigeuner den Familienstammbaum gekreuzt haben. Einige der abgewiesenen Freier nannten sie daher auch die Zigeunerin, was so abschätzig gemeint war, wie es klang.
„ Sie haben doch etwas auf dem Herzen?“
„ Sieht man mir das so deutlich an?“ Er mochte sie und war davon überzeugt, dass auch sie für ihn Sympathie aufbrachte, und deshalb berichtete er, leise seufzend, von dem Fiasko mit Schneider & Sohn. Sie stocherte in ihrer Salatplatte herum und schaute ihn ab und zu prüfend an. „Ich möchte wissen, wie oft uns so etwas passiert ist. Wie viele Kontakte haben wir hergestellt, wie lange wurde verhandelt, warum hat dann die Konkurrenz den Zugschlag bekommen?“
Übertrieben sorgfältig legte sie den abgenagten Olivenkern auf den Tellerrand. Das Problem war nicht neu, auf dem Verkauf hackten alle gerne herum, wenn es nicht so lief wie gewünscht. Aber Termine, Preise und technische Sonderwünsche des Kunden konnte er nicht allein entscheiden, und wenn aus einem dieser Gründe ein Geschäft platzte, begann das Schwarze-Peter-Spiel: Wem ließ sich die Schuld in die Schuhe schieben?
„ Sie wollen sich absichern?“
„ Sagen wir so – im Fall der Fälle Argumente parat haben.“ Mehr musste er ihr nicht erklären. Rittlinger Scheren stellten schließlich keine Massenartikel her, die durch mehr Werbung oder Rabatte für den Großhandel abgesetzt werden konnten; sie bauten für sehr spezielle Zwecke sehr spezielle Maschinen, und wenn jeder zehnte angebahnte Kontakt zu einem Abschluss führte, war das eine hervorragende Quote.
Rike konnte einem Mann sehr direkt in die Augen sehen: „Geht in Ordnung, Herr Helmbrecht.“
„ Danke, Rike.“
„ Keine Ursache.“
„ Dann ist da noch etwas. Sie kennen doch die Fritzen, Marianne Fritzen?“ Mit gedämpfter Stimme berichtete er, was die Fritzen mit Holger Bornemann erlebt haben wollte, und Rike musterte ihn aus schmalen Augen. Die EDV war ihr Reich, und sie schätzte es gar nicht, wenn andere daran herumspielten. „Können Sie sich das erklären, Rike?“
Nach einer langen Bedenkpause sagte sie gedehnt: „Nein, einen Sinn ergibt das nicht. Nein, das nicht.“
„ Sie erfahren doch eine Menge aus den anderen Abteilungen?“
„ Unvermeidlich“, stimmte sie trocken zu und grinste.
„ Ist Ihnen schon mal zu Ohren gekommen, dass Mitarbeiter von fremden Leuten ausgehorcht werden? Über andere Angestellte, aber auch über geschäftliche Dinge?“
Darauf atmete sie tief durch: „Ja, so was habe ich läuten gehört. Aus verschiedenen Quellen.“
„ Haben Sie eine Ahnung, wer dahintersteckt?“
„ Nein, ich weiß nichts.“
„ Aber Sie vermuten doch etwas?“
„ Sicher – die Geschäftsleitung.“ Sie konnte ihre Augenbrauen drohend zusammenziehen. „Und wenn mich nicht alles täuscht – aber ich werde leugnen, jemals so was angedeutet zu haben –, ist zwischen Holger Bornemann und Werner Danckus der Krieg ausgebrochen.“
Überrascht blinzelte er, aber mehr wollte oder konnte sie nicht sagen, sondern schob rasch ihren Stuhl zurück und lief mit einem flüchtigen „Bis dann!“ aus der jetzt fast leeren Kantine.
Bis zum Dienstschluss hatte er gut zu tun. Um halb fünf bummerte Engelchen gegen die Tür, beide Hände beladen mit einem zerschrammten Blechtablett, auf dem seine Abendration stand – Tee, Rechaud, Sahne, Zucker, Zitrone und ein massiver Henkelbecher.
„ Schönes Wochenende, Chef.“
„ Ebenso, danke, Engelchen. Trocknen Sie nicht aus bei dieser Hitze.“
Mit der CK 106-Schere waren sie zu spät auf den Markt gegangen; die Konkurrenz hatte nicht geschlafen und neun Monate früher ein Modell angeboten, das nach übereinstimmender Meinung der Techniker nicht so gut war wie ihre Maschine, aber eben zur Verfügung stand, als alle Welt den neuen Faserverbundstoff CK 106 entdeckte. Jolles hatte rechtzeitig darauf hingewiesen, dass sich da ein neuer Markt auftat, und auch er hatte, nachdem er von mehreren Firmen auf CK 106 angesprochen worden war, drei ausführliche Memoranden an die Geschäftsleitung gerichtet. An den Durchschlägen der beiden letzten Schreiben hefteten Zettelchen mit Engelchens Krakelschrift: Entgegen dem normalen Dienstweg hatte er zusätzliche Kopien direkt an die Abteilung Konstruktion und Forschung geschickt.
Die Verspätung erklärte, warum sie jetzt bei Firmen wie Schneider & Sohn strampeln mussten.
Eine Stunde las er konzentriert den firmeninternen Briefwechsel, weil Jolles und Sighart ihn heute Morgen auf eine Idee gebracht hatten, und zum Schluss rieb er sich nachdenklich die Stirn. Sie hätten sechs Monate vor der Konkurrenz auf dem Markt sein können, wenn der schöne Holger nicht gebremst hätte. Die Techniker hatten andere Messsonden und als Steuerungselektronik eine deutsche Entwicklung vorgeschlagen, nicht so elegant wie die amerikanischen Teile, aber nach ihrem Urteil genauso brauchbar. Und sehr viel reparaturfreundlicher. Doch Holger hatte auf Hagman’s Processors und Baltridge P&H bestanden, wodurch sie fast ein ganzes Jahr wegen der Lieferschwierigkeiten verloren hatten; die amerikanischen Firmen hatten außerdem wenig Interesse an dem Auftrag von Rittlinger Scheren bekundet, weil sie bis zur Halskrause mit der Forschung für das amerikanische Star-Wars-Programm eingedeckt waren. Kein Wunder, dass Holger jetzt der Arsch auf Grundeis ging, dachte er schadenfroh.
Er schnappte sich den dünnen Ordner „Entwicklung“ und blätterte, bis er seine handschriftlichen Anmerkungen wiederfand. Mit der Titanschere war es nicht viel anders verlaufen. Holger hatte die Versuchsserie nach dem Sandwichverfahren abgebrochen, bei der die Titanplatte zwischen zwei andere Bleche eingespannt und spanfrei geschnitten wurde. Der für die Konstruktion zuständige Ingenieur hatte unter Protest gekündigt. Und in Japan funktionierte das System offenbar, auf dem schmalen Markt für Titanwerkzeuge hatten Rittlinger Scheren jedenfalls nichts mehr zu vermelden.
Ob Holger deswegen so nervös war? In der Konferenz hatte er allerdings nicht mehr behauptet, sie hätten den Auftrag von Schneider & Sohn um jeden Preis kriegen müssen … Schief grienend holte er sich einen leeren Ordner aus dem Vorzimmer und sortierte alle Schriftstücke hinein, die sich mit der Titan- und der CK 106-Schere befassten, dazu Sigharts Kopien und seine privaten Unterlagen. Man konnte nie wissen, und zu Hause war das Zeugs genauso sicher aufgehoben wie im Büro.
Selbst jetzt war die Hitze noch unerträglich. Obwohl er das Schiebedach weit aufgeschoben hatte, schwitzte er, als er vor der Garage bremste. Die Schließanlage des Garagentors führte eine neue Variante vor: Das Tor hob sich bis zur halben Höhe, und als er noch einmal den „Auf“-Knopf drückte, donnerte es plötzlich nach unten, dass er um den Rahmen fürchtete.
Fluchend und ächzend wuchtete er es von Hand hoch. Als Maschinenbauer verstand er nicht viel von Elektronik, aber doch genug, um diese beiden besserwisserischen Clowns in die Garage zu zerren und nach oben auf die Steuerungsanlage zu deuten: „Da, schauen Sie hin! Das sind unverkleidete, schwarze Ziegel. Können Sie sich vorstellen, wie heiß es da oben wird, wenn die Sonne den ganzen Tag auf die Ziegel geknallt hat?“
„ Moderne Elektronik verkraftet Temperaturen von minus 50 bis plus 120‑Grad, Herr Helmbrecht. Daran liegt’s nicht.“ Aber woran es lag, hatten sie nicht herausgefunden. Flotte Sprüche und nichts im Kopf.
Melanie war schon fort; in der Diele fand er einen Zettel: „Dala hat angerufen, ich soll früher kommen. Badehose nicht vergessen!“
Auch das noch! Vor dem Duschen schloss er den Ordner in den kleinen Tresor ein, der sich im Bücherregal hinter einer harmlosen Fachtür befand. Er hatte ihn einbauen lassen, nachdem Melanie ihr eigenes Schlafzimmer bezogen hatte und zum ersten Mal allein in den Urlaub gefahren war. Bis jetzt wusste sie nichts davon, da war er ziemlich sicher; sein Arbeitszimmer kümmerte sie so wenig wie seine Arbeit. Und in puncto Privatsphäre hielt sie es wie er: Auch in ihrem Zimmer, Parterre neben dem Wohnraum, besaß sie ein Fach, das immer abgeschlossen war, dessen Inhalt er nicht kannte und auch gar nicht kennen wollte.
Vor Holgers Haus hatte er Mühe, einen Parkplatz zu finden, obwohl er sich nur eine halbe Stunde verspätet hatte. Die Haustür stand weit auf, niemand achtete auf ihn, und mühsam ein heiteres Gesicht aufsetzend mischte er sich unter die gut hundert Leute, die alle Zimmer, die Terrasse und den Garten belegt hatten. Holgers Partys waren berühmt oder auch berüchtigt ob ihrer Zwanglosigkeit. Das Krawattenverbot war unterschiedlich ausgedeutet worden. Wer es sich leisten konnte – oder es wenigstens glaubte, lief in Badehose oder Badeanzug herum; andere hatten sich wie er in Freizeithosen und Polohemden gezwängt. Er schenkte sich einen Whisky mit Soda ein, schlenderte ziellos umher, grüßte, wurde gegrüßt und vermied jede längere Unterhaltung. In einem Zimmer dudelte Tanzmusik, kaum zu hören hinter dem lauten Gerede und Gelächter; das einzige Paar nutzte den Tanz auch nur als Vorwand für eine heftige Umarmung. Man amüsierte sich prächtig, und er begann sich zu langweilen. Trotz des Durchzugs schien die Luft im Haus zu stehen; er schob sich auf die Terrasse und suchte sich einen stillen Platz, von dem aus er ungestört die Menge beobachten konnte.
„ Na, Uwe, wie geht’s dir? Bist du nicht auch begeistert von dieser wunderbaren, stilvollen, vergnügten Party?“
Christine Marbach stieß ihn kräftig in die Seite und lachte leise. Bei ihrem Anblick hob sich seine Laune: „Bin ich. Vor allem, weil ich endlich mal Gelegenheit habe, dich im Bikini zu bewundern.“
Sie schielte an sich herunter; die dünne, hüftlange Leinenjacke war in der Tat nur ein Alibi. „Etwas knapp, das teure Stück.“
„ Knapp ist relativ.“
„ Du meinst, ich kann mir so viel Exhibitionismus leisten?“
„ Noch mehr, liebe Christine.“
„ Wunderschön. Dann wollen wir mal ein Glas unter vier Augen trinken – wenn du nichts dagegen hast.“
„ Ich fiebere danach.“ Wieder lachte sie und boxte ihm in die Rippen. Sie füllten ihre Gläser, aber so leicht war es nicht, ein ungestörtes Plätzchen zu finden; andere waren schon vor ihnen auf dieselbe Idee gekommen. Schließlich landeten sie im entferntesten Winkel des Gartens, zwinkerten sich zu und hoben die vollen Gläser.
„ Dein Weib macht Furore, lieber Uwe.“ Sie deutete zum Haus, auf eine große Gruppe, die sich um Holger und Melanie gebildet hatte.
„ Anders wäre sie auch unglücklich.“
„ Aber macht es dich glücklich?“
„ Nein“, versetzte er trocken, „aber auch nicht unglücklich.“
„ Soso“, meinte sie nachdenklich. „Wenn ich dich richtig verstehe, denkt sie dasselbe.“
„ Anzunehmen.“
„ Dann könntest du mich ja mal abends besuchen, privat.“
Damit überraschte sie ihn nun doch, er schluckte und wusste nicht, was er erwidern sollte.
„ Verwundert, lieber Uwe?“ Sie gluckste.
„ Angenehm überrascht – sagen wir’s so.“
„ Es freut mich, dass du dich noch für alte Frauen erwärmen kannst.“
„ Alte Frauen ist gut!“ Er lachte erheitert. „Melanie ist nur drei Jahre jünger als du.“
„ Nein!“ staunte sie, und er grummelte vergnügt: „Doch. Der Rest ist harte Arbeit, strikter Hunger und teure Chemie.“
„ Wirklich? Ich kann’s nicht glauben.“
„ Wirklich!“ Er stellte das Glas auf dem Rasen ab, schob die Jacke zur Seite und spannte beide Hände um ihre Taille: „Ich weiß schon gar nicht mehr, wie sich eine natürliche Frau anfühlt.“
„ Oha! Bist du immer so eilig?“
„ Nein, nicht immer, nur manchmal – wenn’s lohnt.“
„ Etwas Geduld wirst du noch aufbringen müssen“, mahnte sie, bückte sich nach seinem Glas und kniff ihm ein Auge zu, schüttelte aber den Kopf, als er ihr folgen wollte.
Eine halbe Stunde vertrödelte er am Schwimmbecken, in dem sich seriöse Herren albern und alberne Mädchen damenhaft benahmen. Zwei Serviermädchen eröffneten das kalte Büfett, und vom Grillplatz zog der Geruch glühender Holzkohle und brutzelnder Steaks herüber. Trotz der vorgerückten Stunde war es noch immer unmenschlich heiß, und am fast dunklen Himmel ballten sich dicke Wolken, die verdächtig nach Gewitter aussahen. Der Champagner floss in Strömen, und weil er viel Zeit hatte, begann er zu rechnen. Holger liebte es großzügig, aber Dala Bornemann hatte ja auch genug mit in die Ehe gebracht.
Wie herbei gedacht stand sie plötzlich neben ihm. „Du bist so schweigsam, Uwe.“ Er grinste und legte einen Arm um ihre Schultern, antwortete aber nicht. Dala sah genauso aus, wie sich ein Südländer eine Skandinavierin vorstellen mochte. Groß und kräftig, er musste sich jetzt recken, um wenigstens zwei Zentimeter Höhenunterschied herzustellen, weizenblond und blauäugig, eine Walküre, aber eine überaus ansehnliche und kurvenreiche Ausgabe, mit finnischen, schwedischen und russischen Vorfahren. Vielleicht war sie deswegen auch ein Sprachgenie; sie beherrschte sieben Sprachen perfekt und krönte alle mit demselben, leicht kehligen Akzent, der Assoziationen an frostklirrende Polartage unter der Mitternachtssonne wachrief.
„ Lähmt dich die Hitze?“
„ Die anderen machen Lärm genug.“
„ Da hast du vollkommen recht.“ Ihr Blick ruhte auf ihrem Ehemann Holger, der wie zufällig eine Hand auf Melanis Hüften gelegt hatte, während er eifrig mit einem großen, dicken Glatzkopf schwätzte, dem die Badehose weit unter dem Äquator hing. „Ich hab’s auch lieber ruhig und friedlich.“
Er brummelte etwas Unverständliches, worauf sie kicherte: „Vielleicht können wir einmal gemeinsam schweigen.“ Ein listiges Blinzeln streifte ihn, bevor sie fortglitt; sie hatte einen königlichen Gang. ‚Junge, Junge‘, dachte er amüsiert. Noch ein Angebot! Das musste an der Schwüle liegen!
Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er den Abend lieber allein verbracht, Füße hoch und ein Buch vor sich. Dieser Lärm ging ihm auf die Nerven, und am meisten hasste er es, wenn Leute meinten, sie müssten mit Gekreisch und Gelächter demonstrieren, wie wohl sie sich fühlten. Zwei Stunden hatte er sich als Frist gesetzt und merkte schon nach sechzig Minuten, dass ihm das Lächeln immer häufiger gefror.
Am Büfett stieß er mit einem kleinen, beleibten Mann zusammen, der ihm erfreut die Hand hinstreckte: „Herr Helmbrecht, das ist schön, dass ich Sie hier treffe.“
„ Herr Reckel, guten Abend. Wie geht’s Ihnen?“
„ Ach, wie soll’s sein. Irgendwie bin ich schon zu alt für solche Vergnügen.“ Er seufzte melancholisch. „Artet in Arbeit aus, der Spaß.“
„ Suchen wir uns ein ruhiges Plätzchen?“
„ Das wollt ich Ihnen gerade vorschlagen.“
Sie landeten in der menschenleeren Küche und schwangen sich auf die Hocker an der Frühstückstheke. Die Fenster standen weit auf, und jetzt war auch ein leichter Zug spürbar.
„ Zum Wohl, Herr Helmbrecht.“
„ Danke.“ Er mochte den alten Reckel gut leiden. Ihm und seinem Bruder Karl gehörte die Siegerländer Metallbau, Simebau abgekürzt, von der sie eine Menge Material bezogen, hauptsächlich Rollen und Gelenke. Otto und Karl Reckel, beide hoch in den Fünfzigern, waren begabte und geradezu verbissen fleißige Techniker, aber sauschlechte Geschäftsleute, die unbedingt einen starken Mann für Finanzen und Verkauf benötigten. Der einzige Erbe hatte sich ebenfalls als Tüftler entpuppt, der am Zeichenbrett brillierte, aber gegenüber Geld eine erstaunliche Hilflosigkeit an den Tag legte. Vater, Sohn und Onkel bildeten schon ein Trio, das die gesündeste Firma ruinieren konnte.
„ Eigentlich ist es unfein“, begann Reckel unvermittelt.
„ Was, Herr Reckel?“
„ Als Gast zu versuchen, dem Gastgeber einen Mann abzuwerben – hm, ja, also, Herr Helmbrecht, Sie kennen mich ja, mit dem Diplomatischen ist’s bei mir nicht weit her, Süßholz raspeln kann ich auch nicht, und dass wir einen Mann fürs Geschäftliche brauchen, wissen Sie ja selbst, Sie wären schon der rechte Mann für uns.“
Unwillkürlich lachte er: „Das kommt aber verdammt plötzlich, Herr Reckel.“
„ So?“ Sein Gegenüber errötete sacht und rieb sich über die Stirn. „Ja, das wird wohl richtig sein. Ich hätt mich auch nicht so plötzlich – nun gut, ich vertrau darauf, dass wir uns so lange kennen und Sie mir’s nicht übelnehmen werden, wenn ich offen bin. Der Karl, der Hartmut und ich tun uns schwer mit fremden Menschen, und wenn Bornemann nicht erwähnt hätte, dass Sie auf dem Absprung sind, hätte …“
„ Wie bitte? Was hat Holger Bornemann behauptet?“
Reckel wand sich regelrecht vor Verlegenheit. „Dass Sie Rittlinger Scheren verlassen wollen.“
„ Das hat der schöne Holger behauptet?“ Sein Ton fiel schärfer aus als beabsichtigt, und Otto Reckel wäre am liebsten unter den Hocker gekrochen. Mit beiden Händen umklammerte er das Glas, als müsse er sich daran festhalten; er wagte nicht mehr, Helmbrecht direkt anzuschauen. „Hat er, hat er wirklich!“ krächzte er und trank sofort einen viel zu großen Schluck, hustete und schnappte nach Luft. „Wir haben uns gestern unterhalten, erst über die nächste Lieferung, und dann so allgemein, na, Sie wissen schon, und da hat er beiläufig erwähnt, dass Sie auf dem Absprung sind.“
„ Das darf doch nicht wahr sein!“ murmelte er entgeistert, aber nicht leise genug; Reckel richtete sich auf: „Stimmt das denn nicht?“
„ Nein. Klipp und klar: Nein, Herr Reckel.“
Eine lange Minute herrschte ein ungemütliches Schweigen, bis Reckel, jetzt tiefrot, sich räusperte: „Entschuldigen Sie bitte, das ist mir schrecklich peinlich …“
„ Kein Grund für Sie, sich zu entschuldigen, Herr Reckel“, unterbrach er ihn heftig. „Im Gegenteil, ich möchte mich bei Ihnen bedanken – ja, das ist die volle Wahrheit, ich danke Ihnen.“
„ Und … und wofür?“
„ Dass ich von Ihnen die Bestätigung eines alten Verdachts bekommen habe.“
Der alte Reckel mochte ungeschickt und linkisch sein, aber er war nicht auf den Kopf gefallen. „Bornemann?“ fragte er.
„ Ja.“ Mehr antwortete er nicht, sondern trank nachdenklich. Wie vielen Leuten hatte der schöne Holger ähnliche Andeutungen gemacht? Und dieser Vorwurf wegen Schneider & Sohn passte genau dazu: Ihm auf der einen Seite die Firma zu vermiesen und andererseits auf diese linke Tour dafür zu sorgen, dass er aus heiterem Himmel Angebote erhielt. Helmbrecht schnaufte jämmerlich, er lachte leise und sagte halblaut: „Bis jetzt habe ich noch nie daran gedacht, von Rittlinger Scheren wegzugehen. Und noch nie mit einem Menschen darüber gesprochen. Aber wenn es soweit sein sollte, rufe ich Sie als ersten an und erkundige mich, ob der Job noch zu haben ist. Einverstanden?“
„ Herr Helmbrecht, ich warte auf Ihren Anruf.“ Feierlich tranken sie sich zu.
Eine halbe Stunde strich er noch von Gruppe zu Gruppe und vermied es, sich in ein Gespräch ziehen zu lassen. Holger hatte, wie er fand, merkwürdige Freunde, alle eine Spur zu laut, zu prahlerisch und zu eitel, und von einigen der jungen Damen, die er düster begutachtete, hätte er doch zu gern gewusst, wie sie ihr Geld verdienten. Nichts gegen eine lockere Stimmung, er hasste diese steifen Stehkonvente, auf denen immer nur über Geschäft, Steuern oder Personalmangel getratscht wurde, aber diese halbseidene Vergnüglichkeit behagte ihm nun auch nicht. Spontan entschloss er sich zum Gehen. Melanie befreite sich wie zufällig von Holgers Hand, als er auf die Gruppe zumarschierte: „Tut mir leid, ich muss noch einmal weg. Kannst du nachher allein nach Hause fahren?“
Etwas zu schnell stimmte sie zu, und Holger bedauerte etwas zu dick aufgetragen, dass Uwe nicht länger bleiben könne; genauso übertrieben bedankte er sich für die Einladung und die gelungene Party. Doch unter der Haustür fing ihn Dala ab: „Du verdrückst dich schon?“
„ Ich muss, Dala.“
Ihre hochgezogenen Brauen sagten deutlicher als Worte, dass sie ihm nicht glaubte, aber dann lächelte sie kurz: „Ich hatte den Eindruck, dass dir die Gäste nicht gefallen.“
„ Einige – das stimmt. Du weißt doch, ich gebe nichts auf diese Art von Vergnügen.“
„ Vielleicht ein Fehler“, bemerkte sie beiläufig, runzelte die Stirn und sagte ernsthaft: „Und was diese jungen Damen betrifft – ich habe sie nicht eingeladen. Holger angeblich auch nicht. Kein Mensch weiß, zu wem sie gehören.“
„ Dann setze sie doch vor die Tür.“
„ Das würde ich am liebsten tun.“ Mit den Gedanken war sie aber bei ganz anderen Dingen; er wartete einen Moment, ob sie das Gespräch fortsetzen wollte, und als sie keine Anstalten machte, küsste er sie formell auf die Wange und verzog sich, bevor sie ihn festhalten konnte. Fröhlich pfeifend fuhr er nach Hause. Holgers Partys endeten immer mit Nachfeiern im kleinen Kreis oder, wie er mit pfiffiger Vertraulichkeit verriet, im intimen Zirkel. Melanie würde also sehr spät heimkehren – ob sich Dala Bornemann auch vor diesen Nachfeiern drückte? Eigentlich konnte er sich schlecht vorstellen, dass Dala daran Gefallen finden sollte. Überhaupt konnte man sich kaum ein gegensätzlicheres Ehepaar als Holger und Dala Bornemann denken.
In dieser Nacht hörte er Melanie nicht heimkommen, doch als er sich gegen neun Uhr Frühstück machen wollte, fuhrwerkte sie schon in der Küche herum. Der Kaffee stand bereits auf dem Rechaud. Sie sah müde aus, schien aber gute Laune zu haben. „Guten Morgen, Uwe. Sag mal, bist du nächsten Freitag da?“
„ Ja“, bestätigte er verwundert.
„ Fein, dann ist der Abend gebucht. Wir geben eine Party – doch, Uwe, wir müssen auch wieder einmal einladen. Also vergiss nicht: Freitagabend, neunzehn Uhr.“ Sie wirkte richtig fröhlich. „Hoffentlich bleibt das Wetter so gut.“
Er nickte nur. Melanie liebte Partys, und je mehr Personen sie einladen konnte, desto begeisterter stürzte sie sich in die Vorbereitungen. Nicht, dass sie selbst eine Hand dafür gerührt hätte, aber sie organisierte – Getränke, Büfett, Musik, Bedienung, Einladungen, Fahrgelegenheiten für Betrunkene. Ein Ringbuch auf den Knien haltend saß sie stundenlang am Telefon und bestellte, dirigierte, drohte oder schmeichelte, wie ausgewechselt, lebhaft, energisch und zielstrebig. Sie war ein Telefongenie, von jener Bestimmtheit, die Zweifel gar nicht erst aufkommen ließ, und mit dem Talent begabt, nach zwei Anrufen genau die Servicefirma zu erreichen, die ihren Wünschen entsprach. Außerdem konnte sie handeln und besaß feste Vorstellungen von angemessenen Preisen; sie knauserte nicht, ließ sich aber auch nicht ausnehmen oder übers Ohr hauen.
An solchen Tagen vergaß sie ihre schlechte Laune und mürrische Schweigsamkeit.
Um die Kosten hatte er sich nie gekümmert. Sie besaß genug eigenes Geld, sich solche Extravaganzen zu leisten, und während ihrer Ehe hatte er gelernt, dass sie mit Geld umgehen konnte, ja, manchmal drängte sich der Eindruck auf, dass sie regelrecht geldgierig war. Es gab eine lebhafte Korrespondenz mit ihrer Bank und Börsenmaklern, genauer: eine einseitige Korrespondenz; sie schrieb nicht gern und erledigte ihren Teil lieber telefonisch. Weil sie auf Gütertrennung und einem Ehevertrag bestanden hatte, konnte er nicht einmal schätzen, wie viel sie wirklich besaß, und um die Steuererklärungen machte er einen großen Bogen – was ihr nur recht war: Er unterschrieb, ohne hinzuschauen, und sie führte Prozesse mit dem Finanzamt.
Etwas Geld hatte sie wohl von ihrem Vater geerbt, das hatte sie ihm vor der Trauung einmal beiläufig erzählt, doch die genaue Summe nie erwähnt. Als er sie kennenlernte, arbeitete sie als Sekretärin in einer Import-Export-Firma und verdiente anscheinend nicht schlecht; jedenfalls gab sie ihr Geld großzügiger aus als er, der nach dem Studium mit einem recht bescheidenen Gehalt angefangen hatte. Erst sehr viel später stellte er voller Unbehagen fest, dass Geld sie faszinierte, und in den ersten Jahren, als er noch glaubte, ihre Ehe retten zu können, fiel ihm auf, dass sie viel unterwegs war und immer wieder mit einer Miene heimkam, die ihn an seine Katze erinnerte: undurchschaubar, aber schnurrend vor Behagen, weil sie das neue Versteck des Rahmtopfes gefunden hatte.
Sie kannten sich drei Jahre und hatten genauso lange ein lockeres Verhältnis. Er war, was er von Anfang an durchschaute, nicht ihr einziger Liebhaber, aber aus irgendeinem Grunde der treueste oder geduldigste oder auch gutmütigste, was sie nach einiger Zeit wohl registrierte. Denn als ihm der Posten bei Rittlinger Scheren angeboten wurde, er Frankfurt also verlassen musste, schien sie ehrlich betroffen. Das wiederum verblüffte ihn, er hatte nie vermutet, er bedeute ihr wirklich etwas. Sie heirateten sehr rasch, und sie kappte rigoros jede Erinnerung an ihr früheres Leben, verbot ihm sogar, den alten Kosenamen zu verwenden. Geändert hatte sie sich freilich nicht, nur er brauchte einige Zeit, um ihre vorgebliche Diskretion als Heimlichtuerei zu erkennen.
„ Hast du jemanden, den wir einladen müssen?“
Er fuhr zusammen, weil er mit den Gedanken weit weg gewesen war, und zwinkerte: „Aus der Firma? – nein, ich wüsste nicht, wen.“ Engelchen und Rike fielen ihm ein, aber Melanie vertrug sich nicht mit Engelchen, was auf Gegenseitigkeit beruhte, und bei Rike würde sie spitz fragen, was ihn an dieser Kollegin so fasziniere, dass er sie in sein Haus einladen müsse.
„ Gut, ich hab schon genug Leute aus der Firma auf meiner Liste. Es soll ja eine Party werden, keine Abteilungsleiterkonferenz.“ Bei diesen Worten grinste sie boshaft in sich hinein. Durch das offene Fenster drang die Wärme wie eine Drohung herein. Sie wedelte mit dem Ärmel ihres durchsichtigen Morgenmantels und verabschiedete sich bald: „Ich fahre zu Karin.“
„ Wann kommst du zurück?“ Es interessierte ihn nicht wirklich.
„ Sicher nicht vor dem Abend.“
„ Viel Spaß!“ wünschte er verlogen. Um Karin Szesseny schlug er einen großen Bogen. Nach Aussehen, Anmalen und Auftreten hätte sie Melanies Zwillingsschwester sein können, und eine Version reichte ihm völlig. Er freute sich auf einen ungestörten Samstag mit Schwimmen, Basteln und geruhsamer Schreibtischarbeit.
Einmal hielt er inne und überlegte. Viele Freunde hatte er nie gehabt, aber auch die wenigen blieben jetzt weg, genau wie seine früheren Bekannten, die ihn mittlerweile zu meiden schienen. Wenn das Haus einmal voll war, handelte es sich immer um Melanies Freunde und Bekannten. Als ob sie es darauf angelegt hätte, seine Vertrauten zu vergraulen. Oder ihn zu isolieren; dieser Gedanke beschäftigte ihn immer häufiger, und deswegen würde er nie jemanden in sein Haus einladen, auf den er wirklich Wert legte.
Gegen Mittag öffnete er in der Küche gerade eine Dose Würstchen, als ein Wagen vorfuhr. Dala rief laut: „Hallo, Melanie, Uwe!“, und widerwillig antwortete er: „In der Küche.“
Mit großen Augen schaute sie auf die Dose: „Dein Sonntagsbraten?“, und als er nickte, fuhr sie neugierig fort: „Melanie ist nicht da?“
„ Nein, zu einer Freundin gefahren.“
„ Holger trifft sich mit einem Freund.“
„ Welch ein Zufall“, murmelte er ironisch und kümmerte sich weiter um sein Essen. Sie saß stumm am Tisch und rauchte hastig, was er zum ersten Mal an ihr bemerkte; Melanie wusste, dass er nie freiwillig bei Karin Szesseny anrufen würde, und wahrscheinlich durfte Holger dasselbe von Dala und seinem „Freund“ vermuten. Senf, Essiggurken, Meerrettich, eine Scheibe Brot – „Hast du Hunger?“ bot er ihr einen Teller an.
„ Nein, das alles schlägt mir auf den Magen“, lehnte sie zornig ab. „Regt dich das nicht auf?“
„ Was soll mich aufregen?“
„ Das mit Holger und Melanie.“
Weil er gerade mit vollem Mund kaute, konnte er sich die Antwort überlegen. „Nein“, erwiderte er endlich vorsichtig, „dass Melanie es mit der ehelichen Treue nicht genau nimmt, vermute ich schon lange. Dass sie aber etwas mit Holger hat, kannst du nicht beweisen.“
„ Beweisen!“ stieß sie heraus. „Ich weiß es einfach.“
„ Hast du sie in flagranti erwischt?“
„ Nein, aber ich bin doch nicht blind, ich kenn doch meinen Holger.“
Darauf antwortete er nicht. Natürlich wollte Dala ihn einspannen, um sich an ihrem Holger zu rächen, aber er verspürte nicht die geringste Lust, sich wegen Melanie zusätzlichen Ärger aufzuladen. Und so attraktiv Dala auch war – ins Bett würde sie ihn nicht kriegen, und erst recht nicht mit der Überlegung, es Holger und Melanie mit gleicher Münze heimzuzahlen. Für den Ehekrieg Holger Bornemann gegen Dala Bornemann stand er nicht zur Verfügung. Und wenn er ehrlich war, interessierte ihn an der ganzen Geschichte eigentlich nur, wo sich die beiden heimlich trafen.
„ Was hast du heute vor?“ wollte sie wissen, und erleichtert, dass er nicht schwindeln musste, gab er Auskunft: „Ich will mich auf die nächste Woche vorbereiten. Und den Schreibtisch abräumen.“
„ Wie aufregend!“ stichelte sie, und er belehrte sie trocken: „Ich bin eben kein Geschäftsführer, sondern nur Leiter des Verkaufs.“
Etwas wie Röte huschte über ihr Gesicht: „Ich koche Kaffee.“
„ Eine gute Idee – wenn er stark wird.“
Nach der zweiten Tasse überraschte sie ihn: „Hast du was dagegen, wenn ich noch etwas bleibe?“
Unbehaglich musterte er sie. Eigentlich wäre er sie gern losgeworden, aber er verstand, dass sie nicht in ein leeres Haus zurückfahren wollte, und sei es auch nur, um ihrem Holger berichten zu können, sie sei den Tag über auch „fort“ gewesen. „Nein“, stimmte er deswegen mit flacher Stimme zu, „aber du musst mich entschuldigen, der Schreibtisch ruft.“
„ Ich weiß. Die wahre Liebe wahrer Männer ist das unschuldige Weiß von Papier.“
„ Nicht ganz, Dala. Das Weiß der Unschuld kombiniert mit dem Schwarz der Sünde.“
Irgendwann klatschte das Wasser, und neugierig trat er auf den winzigen Balkon, der in das Dach eingelassen war. Dala tobte im Becken, dass es nur so spritzte, und winkte ihm zu, als sie ihn bemerkte. Ein prachtvolles Weib. „Willst du nicht kommen? Es ist herrlich!“
Lächelnd schüttelte er den Kopf und kehrte wieder an seinen Schreibtisch zurück. Ohne Badeanzug war sie ihm zu gefährlich, und das wusste sie genau; er hatte ohnehin schon Last, sich ganz auf seine Akten zu konzentrieren. Bei den nächsten Badegeräuschen stand er vorsichtshalber nicht mehr auf.
Um fünf Uhr klopfte sie an seine Tür und balancierte ein Tablett mit Flaschen und Gläsern herein. „Zum Abschluss einen Schluck?“
Sie trug wieder Hose und Bluse und schmunzelte, als sie seinen erleichterten Blick registrierte. Für einen Moment verspürten beide eine ungewohnte Vertraulichkeit und hoben schnell ihre Gläser: „Also dann mal Prost.“
Doch Dala hatte nicht nur Durst gehabt. „Hör mal“, sagte sie mit rauer Stimme, „ich muss dir was ganz Verrücktes erzählen … nein, nein, nicht wegen Holger. Oder Melanie.“
„ Sondern?“
„ Wenn ich das nur wüsste – Uwe, ich werde verfolgt.“
Unwillkürlich grinste er, was sie aber in den falschen Hals bekam: „Ich mache keine Witze. Und du bleibst gefälligst ernst. Seit Tagen werde ich verfolgt, ja, von Männern, die ich nicht kenne.“
„ Vielleicht wollen sie dich kennenlernen.“
„ Knallkopf. Von immer neuen Typen, zu Fuß, im Auto. Wenn ich einkaufe, warten sie an der Kasse, im Kino sitzen sie drei Reihen hinter mir. Beim Spazierengehen habe ich sie hundert Meter hinter mir, mal ist es einer allein, dann zu zweit, oder auch ein Pärchen, das so tut, als müsse es unbedingt schmusen, wenn ich mich umdrehe.“
Weil sie richtig aufgebracht schien, wollte er nicht widersprechen.
„ Es kommt aber noch dicker. Diese Kerle erkundigen sich in der Nachbarschaft nach mir – übrigens auch nach Holger und nach unseren Bekannten. Ganz harmlos. Als Versicherungsvertreter. Einer kam angeblich von einer Zeitung. Eine von den Frauen sucht ein Haus – behauptet sie. Und alle haben furchtbar viel Zeit, um zu quatschen und dumme Fragen zu stellen.“
„ Und seit wann geht das schon so?“
Offenbar war es ihm nicht gelungen, seine spöttische Skepsis vollständig zu unterdrücken. Denn sie schoss ihm einen bitterbösen Blick zu: „Du musst mir ja nicht glauben.“
„ Ehrlich gesagt – es fällt mir schwer, Dala.“
„ Mit anderen Worten – ich spinne, wie?“
Auf einen Streit wollte er es nicht ankommen lassen, deswegen lenkte er ein: „Nein. Das denke ich nicht einmal. Aber kannst du dir einen Grund für diese – für diese Neugier vorstellen?“
Nach einer langen Pause wurde ihre gerunzelte Stirn wieder glatt. „Nein“, gab sie zu. „Ich habe nur manchmal daran gedacht – sag mal, Uwe, es gibt doch Privatdetektive?“
„ Sicher“, bestätigte er.
„ Ob da Privatdetektive hinter mir her sind?“
„ Wer sollte sie bezahlen, Dala?“
Gut eine Minute kaute sie auf ihrer Unterlippe und trank dann geistesabwesend. Richtig schlau wurde er nicht aus ihr, Dala hatte Temperament, aber zählte zu den eher nüchternen Typen, die nicht dazu neigten, Gespenster zu sehen oder zufällige Ereignisse aufzubauschen. Wenn sie überzeugt war, dass Unbekannte sich an ihre Fersen hefteten, dann würde wohl etwas an dieser Aussage dran sein.
Unvermittelt schüttelte sie den Kopf: „Nein, das passt nicht zusammen. Wenn Holger mich überwachen lässt – warum erkundigen sich die Kerle dann zum Beispiel auch nach dir?“
„ Nach mir?“
„ Ja. Und nach Melanie.“
„ Woher willst du das wissen?“
„ Von unseren Nachbarn.“
„ Nun versteh ich gar nichts mehr. Die haben sich bei euren Nachbarn nach mir und Melanie erkundigt?“
„ Wie ich dir sage.“ Dabei schaute sie ihn so fest an, dass er sofort wieder den Gedanken verwarf, sie habe ihn nur auf den Arm nehmen wollen. Dala lachte gerne, aber sie trieb keinen Scherz mit ihren Freunden, und erst recht keine schlechten Scherze.
Als sie fuhr, stand er in der Haustür und schaute ihrem Wagen nach. Keine zehn Sekunden später wurde ein Motor angelassen; ein Kleinwagen gab Gas und raste so schnell an seiner Einfahrt vorbei, dass er keinen Blick auf den Fahrer werfen konnte. Verblüfft starrte er ihm nach und lauschte unwillkürlich, aber außer Dalas Auto und dem Kleinwagen waren keine anderen Fahrzeuge zu hören. Dann ermahnte er sich, aus einem Zufall keine Räuberpistole zu machen. Das war eben das Ärgerliche an Dala: Sie wirkte so schrecklich überzeugend.
Aber später, an seinem Schreibtisch, legte er den Kugelschreiber doch zur Seite und wälzte einige unerfreuliche Gedanken. Wenn es stimmte, dass Dala von unbekannten Leuten beschattet wurde – warum, zum Teufel, hatte sie es dann darauf angelegt, sich einige Stunden allein bei ihm aufzuhalten? Hatte sie gewusst, dass sie ihre Schatten zum Haus von Uwe Helmbrecht führen würde? In dem sie mehrere Stunden verbrachte? Halb gereizt, halb beunruhigt rief er bei den Bornemanns an, aber niemand ging ans Telefon.
Am Morgen hatte Melanie schon das Frühstück gemacht, als er herunterkam. Verwundert schaute er sie an und registrierte die Müdigkeit in ihrem Gesicht. Sie sah schlecht aus, so, als habe sie Kummer oder Sorgen, doch ihr verkniffener Mund verbot jede Frage, und außerdem war er weder so neugierig noch so mitleidig, dieses Anzeichen zu missachten. „Hattest du Besuch?“ fragte sie unvermittelt.
„ Wie kommst du darauf?“
„ Draußen lagen zwei gebrauchte Badetücher.“
Jetzt fiel ihm Dala wieder ein, er griente und nickte nur.
Während er seinen Wagen auf die Straße hinaussetzte, winkte ihm der alte Schmitke aufgeregt zu. Verärgert bremste er und kurbelte das Fenster hinunter. Die Schmitkes waren ihre Nachbarn, beide in den Sechzigern, verkniffen, neugierig und unfreundlich, so selbstgerecht und hagestolz, dass sich ihr nachbarlicher Umgang auf ein mehr oder minder höfliches „Guten Tag“ beschränkte. Das Paar konnte nicht verwinden, dass die jüngste Tochter nach der Geburt ihres zweiten unehelichen Kindes zu ihnen gezogen war und nun, der Sorgen um die Kleinen ledig, ein recht flottes Leben führte, wie allgemein gemunkelt wurde. Melanie hatte sich mehr als einmal beschwert, dem alten Schmitke quellen hinter der Hecke die Augen aus dem Kopf, wenn sie ihre Sonnenbäder nehme, und die Schmitke hatte ihr einmal vorgeworfen, eine anständige Frau führe sich nicht so schamlos auf. Melanie hatte kräftig zurückgezahlt, und seitdem wandte Frau Schmitke den Kopf ab, wenn sie einem der scham- und taktlosen Helmbrechts begegnete. Ab und zu gab es auch Ärger wegen des Hundes, den das alte Paar herumlaufen ließ, nachdem bei ihnen eines Nachts eingebrochen worden war, was Melanie, für Klatsch immer empfänglich und über andere Menschen stets beängstigend gut informiert, nachdrücklich bestritt: Ein Liebhaber der Sandra Schmitke habe Hals über Kopf türmen müssen, als die Alten unerwartet heimkamen.
„ Guten Morgen, Herr Helmbrecht.“
„ Guten Morgen.“ Er bemühte sich um einen kurz angebundenen Ton, aber der Alte ließ sich nicht abschrecken: „Ich wollte Sie nur mal fragen, ob das seine Richtigkeit hat mit den drei Männern.“
„ Mit welchen drei Männern?“
„ Die sich abends auf Ihrem Grundstück herum – hm – dort sind, wenn Sie nicht zu Hause sind.“
„ Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“
Schmitke legte einen Arm aufs Wagendach. Sein Gesicht glänzte vor Selbstgefälligkeit, als er sich in die Brust warf: „Das habe ich doch befürchtet. Sie wissen von nichts, nicht wahr?“
Er beherrschte sich: „Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“
„ Von drei Männern, die sich in Ihrem Garten herumtreiben. Wenn Sie beide weg sind. Ich meine, das erkennt man ja, wenn das Haus dunkel ist.“
‚ Du wirst dich bestimmt nicht nur nach dem Licht richten‘, dachte er gereizt. Laut fragte er: „Welche Männer?“
„ Seit fast zwei Wochen. Ich kenne sie nicht, sie kommen ja auch immer erst, wenn’s dunkel ist, aber Harro passt auf.“ Dabei grinste er dümmlich-stolz. Harro war eine Kombination aus Riesenschnauzer, Dalmatiner und dänischer Dogge; irgendwo musste auch ein Dackel in der Ahnenreihe stecken. Denn wenn er in fremden Gärten herumstromerte, begann er zu graben, und die Löcher hatten es in sich, wahre Fallgruben hinterließ er. „Er hat ein paarmal geknurrt, so, als wenn da was wäre, und ich bin ganz leise raus. Richtig gesehen hab ich die nie, es war ja immer dunkel, doch so dunkel nun wieder auch nicht. Drei Männer, die sich an Ihrem Haus zu schaffen gemacht haben.“ Danach strahlte er Helmbrecht an, als habe er ein dickes Lob verdient.
„ Drei Männer? Sind Sie sicher?“
„ So nah bin ich natürlich nicht herangekommen“, verteidigte sich Schmitke, plötzlich gekränkt. „Ich bin ja nicht in Ihren Garten geschlichen. Aber drei, da bin ich sicher, also, drei Schatten, doch, ja.“ Seine Stimme verlor an Überzeugungskraft.
„ Und wann war das?“
„ Vor gut einer Woche ging’s los.“
„ Ach ja. Und wie oft haben Sie diese – diese Schatten bemerkt?“
Aufgebracht durch seine spöttische Skepsis richtete Schmitke sich auf und trat einen Schritt zurück. „Zweimal. Aber Sie müssen mir ja nicht glauben, Herr Helmbrecht. Als guter Nachbar wollte ich Sie nur gewarnt haben.“
„ Schon recht, Herr Schmitke, und vielen Dank.“
„ Bitte, bitte!“ entgegnete der Alte patzig und schlurfte zurück.
Er gab Gas. Aber unterwegs begann er doch zu grübeln. Der alte Schmitke war ein entsetzlicher Wichtigtuer, dem man nicht unbedingt vertrauen durfte. Der Henker mochte wissen, was er sich da eingebildet hatte. Mit Harro sah das etwas anders aus, der nahm seine Wächterpflichten wirklich ernst. Inzwischen kannte er Melanie und ihn. Zwar ließ er sich nicht von ihnen anfassen, aber er bellte kurz und freundlich zur Begrüßung, wobei sein riesiger wedelnder Schwanz alle Tulpen in Reichweite köpfte. Harro hatte sich die Welt genau eingeteilt. Auf der Straße begrüßte er Melanie und ihn; dagegen blieb er stumm, wenn sie aus dem Haus in den Garten traten und er schon unter der Hecke lag, die beide Grundstücke trennte. Kam er jedoch später ins Freie, kündigte er sich mit einem friedlichen „Wuff“ an. Bei ihm fremden Besuchern stieß er einen kurzen Knurrlaut aus, bewegte sich jedoch nicht. Hingegen ließen ihn Fremde völlig kalt, wenn sie auf der Straße am Schmitkeschen Haus vorbeigingen oder dort ihre Autos parkten. Die Straßenseiten der Häuser einschließlich der Vorgärten gehörten zur freien Welt, zu schützen und zu verteidigen galt es allein die Gärten hinter den Häusern.
Harros Weitsicht war ihm sympathischer als Schmitkes Neugier.
Aber was der Nachbar gesehen haben wollte, passte zu dem, was Dala erzählt hatte. Fremde, die sich für die Bornemanns und ihre Freunde interessierten. So sehr interessierten, dass sie – was nicht sehr schwer war – auch über Hecken in fremde Gärten stiegen? Ins Haus hinein konnten sie nicht, alle Türen und Fenster im Erdgeschoss und die einzige Tür zum Keller, die über eine Außentreppe zu erreichen war, hatte er unter großen Kosten einbruchsicher umbauen lassen und zum Schluss, weil Melanie pausenlos quengelte und drängte, mit einer umfangreichen Alarmanlage gesichert.
Erstaunlich, dass sich Melanie so vor Einbrechern fürchtete. Auf der anderen Seite hielt sie auch vor ihrem Ehemann ihr Zimmer immer verschlossen.
Auf dem Parkplatz Achenbacher Forst schloss er gerade sein Auto ab, als eine Frauenstimme hinter ihm fröhlich jubelte: „Das trifft sich gut, ich laufe nicht gern alleine.“ Rike lachte über das ganze Gesicht und streckte ihm die Hand hin: „Sie sind sozusagen gebucht, Chef.“
„ Einverstanden, Rike.“
„ Große Tour oder kleiner Spaziergang?“
„ Eigentlich wollte ich zum Mühlenhaus und dort essen.“
„ Prächtig, ich mach mit.“
Sie hatte einen energischen Schritt, und in der hellgelben Hose und der hellblauen Bluse sah sie sehr attraktiv aus. Er registrierte eine Menge bewundernder Blicke, die sie gar nicht zu bemerken schien. Anfangs überholten sie viele Spaziergänger, dann bog er in einen Nebenweg ab, der auf die Höhen hinaufführte und anschließend brav dem Auf und Ab der Kammlinie folgte.
„ Sehr vernünftig“, schnaufte sie, „die anderen Leute stören nur.“
„ Wahrscheinlich denken die dasselbe über uns.“
„ Wieso? Wir weichen ihnen doch aus.“
Diese Logik verbot eine Gegenrede, aber Rike konnte ohnehin schweigen, ohne Verlegenheit aufkommen zu lassen. Es machte Spaß, mit ihr zu laufen, und an steilen Stellen griff sie ohne Zieren nach seiner Hand. Hinter der Kress-Schlucht, die in Wahrheit nur ein etwas tieferer Bacheinschnitt war, verbreiterte sich der Weg, sodass sie wieder nebeneinander gehen konnten. Unter den hohen Buchen war es angenehm schattig und kühl, die Sonne schickte einzelne, scharf umrissene Strahlen durch das Laub. Es gab wenig Unterholz, nur an einigen Stellen hatten sich Büsche und Sträucher ihren Platz am Licht erkämpft.
„ Langsam kriege ich Hunger!“ verkündete sie stolz und blitzte ihn an, und während er schmunzelte, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, warum eine Frau wie sie am Sonntag allein spazieren ging
Das Mühlenhaus lag direkt am Achenbach, der durch ein altes Wehr aufgestaut war und heute mit seinem übergeleiteten Wasser Fischteiche speiste. Als sie aus dem Wald traten und die vielen geparkten Autos sahen, schauten sie sich wie auf Kommando mit langen Gesichtern an. „Scheußlich!“ brummte er; „Faulpelze!“ knurrte sie.
Mit mehr Glück als Verstand bekamen sie einen Tisch direkt am Wasser; die Bedienung hetzte mit einem Riesentablett heran und packte Unmengen gebrauchten Geschirrs zusammen; ehrlich beeindruckt beobachteten sie, wie sie das Tablett mit einer Hand hoch über dem Kopf davon balancierte. „Sie weiß heute Abend, was sie geleistet hat“, urteilte sie bewundernd und sah dabei mehr denn je wie eine Zigeunerin aus.
Beim Eis erkundigte sich Rike direkt: „Kommen Sie mit dem schönen Holger nicht mehr klar?“
„ Nein“, gab er zu, „wir waren nie dicke Freunde, aber in letzter Zeit reiben wir uns regelrecht.“
„ Warum eigentlich?“
„ Schwer zu sagen“, zögerte er, unschlüssig, wie offen er sein sollte. „Sehen Sie, ich soll Scheren verkaufen, und bei einer so speziellen Werkzeugmaschine müssen wir uns einfach nach den Wünschen der Kunden richten. Aber die Geschäftsleitung oder Bornemann, was weiß ich – zeigt immer weniger Neigung, auf solche Wünsche einzugehen.“
Plötzlich grinste sie wie ein alter Kumpel: „Bekannt. Manchmal lese ich nämlich, was bei mir durch die Registratur läuft.“
„ Dann wissen Sie ja Bescheid. Meine Leute meckern auch schon. Was meinen Sie, was das draußen bei den Kunden für einen Eindruck macht, wenn man entweder überhaupt keine Zusagen geben kann oder, was auch immer häufiger passiert, Zusagen wieder zurücknehmen muss. Ich verstehe Holgers Absichten von Tag zu Tag weniger.“
Darauf nickte sie nur verständnisvoll. Er grübelte und starrte an ihr vorbei auf das silberglänzende Wasser. Rike saß in der Tat an einer Schaltstelle, wo alle Informationen zusammenliefen, mit ihr könnte er offen reden, weil sie den ganzen Laden überblickte, aber so gut kannten sie sich wiederum nicht, dass er sie ins Vertrauen ziehen wollte.
Zurück schlugen sie einen anderen Weg ein. Rike hatte sich ohne Umstände einladen lassen, das Essen war nach Quantität hervorragend, nach Qualität miserabel gewesen. Gut eine Stunde liefen sie am Fluss entlang, die meisten Ausflügler stopften jetzt noch Kaffee und Kuchen in sich hinein, und deshalb hatten sie den Weg für sich.
„ Ich bin ja nur eine kleine Angestellte“, begann sie unvermittelt. „Von Blechscheren verstehe ich nichts, und meine Meinung zählt auch nichts. Aber dass etwas schiefläuft, das sehe sogar ich – nein, nein, Sie brauchen nicht zu antworten, ich will Sie gar nicht aushorchen, ich wollte Ihnen nur zu verstehen geben, dass selbst wir kleinen Leute langsam unruhig werden.“ Danach knuffte sie ihm vergnügt in die Seite und verstummte. Lange Zeit marschierten sie wortlos nebeneinander her. Ein wenig ärgerte ihn, dass sie ihn doch wieder an die Sorgen im Geschäft erinnert hatte, die er wenigstens über das Wochenende verdrängen wollte. Aber als die Verstimmung verflog, musste er sich eingestehen, dass sie recht hatte. Wenn selbst im Kreis der Abteilungsleiter nicht offen gesprochen wurde – um wie viel mehr mussten sich jene anderen Mitarbeiter Gedanken machen, die vollends im Dunkeln tappten. Gegen Holgers Energie und Dampfwalzentaktik kam niemand an, und selbst er hatte Rike ja nur um die Auskünfte gebeten, um für alle Fälle Argumente und Zahlen parat zu haben – zur eigenen Verteidigung, nicht zum Angriff. Ob sie ihn auffordern wollte, in die Offensive zu gehen? So wie Engelchen? Einer musste es anscheinend wagen, doch er war ein Einzelkämpfer, war es immer gewesen; er taugte nicht zur Frontenbildung.
Auf dem Parkplatz verabschiedete er sich unbefangen. Er saß noch lange in seinem Wagen und konnte sich nicht entschließen, den Motor anzulassen.
Das Büro lief bereits auf Hochtouren, als er die Tür öffnete. Erika schwärmte von einem Fußballspiel, bei dem ihr Freund aus Halle II den entscheidenden Ausgleichstreffer geschossen hatte. Engelchen sortierte die Post und tat überzeugend so, als höre sie zu. Aus Jux warf er Erika eine Kusshand zu; ihr Mundwerk stoppte jäh, ihre Augen wurden riesig, und dann schoss ihr die Röte so ins Gesicht, dass er sich ein wenig schämte, sie aufgezogen zu haben.
Gegen zehn Uhr erschien Rike, einen Aktendeckel in der Hand, und lehnte ab, als er ihr einen Kaffee anbot: „Ich hab noch eine Menge zu tun. An Ihrer Stelle würde ich das Zeugs nicht offen herumliegen lassen.“
„ Vielen Dank, Rike.“
„ Keine Ursache. Bis bald.“
„ Im Achenbacher Forst?“
„ Warum nicht?“
Schon nach einem flüchtigen Blick verstand er ihre Warnung.
Rike hatte die Registraturdateien aller Abteilungen angezapft und sich gründlich umgesehen. In den letzten fünf Jahren, das bewies die Statistik klipp und klar, war die Frist zwischen einem ersten Kontakt und einem Vertragsabschluss immer länger geworden. Ebenso die Zeit für Konstruktionen, die auf Grund von Kundenwünschen erforderlich wurden. Und weil sie eine kluge Frau war, hatte Rike sich außerdem ausdrucken lassen, wie viele Abschlüsse daran gescheitert waren, dass Rittlinger Scheren auf Änderungswünsche der Kunden nicht eingehen wollten: Auch hier belegten die Zahlen eine steigende Tendenz.
Kein Wunder, dass die Konkurrenz immer häufiger zum Zuge kam.
Von Engelchen ließ er sich die Verkaufsstatistik der letzten zehn Jahre aufstellen; zum ersten Mal lobte er heimlich das Computergrafikprogramm, mit dem sich so eindrucksvolle Linien, Balken und Türme darstellen ließen. Bis vor etwa sechs Jahren waren die kleinen und mittleren Scheren für Stahl- und Buntmetallbleche ihre Brot-und-Butter-Maschinen gewesen. Viel verdienten sie daran nicht, aber sie lasteten die Fertigung aus. Danach zeigten die Kurven einen Knick: Von den kleineren Scheren verkauften sie immer weniger, die großen konnten aber das Minus nicht wettmachen. Gleichzeitig stieg der finanzielle Aufwand für die Entwicklung, Konstruktion und Erprobung der großen Scheren und der Anlagen für exotisches Schneidegut. Doch selbst dabei verfolgte die Geschäftsleitung keine konsequente Linie: Die Titanschere war in eben dieser Zeit beerdigt worden – vielleicht, weil ihr Prinzip zu simpel war?
Laut fluchend brüllte er nach Engelchen, die sich nur an die Stirn tippte und mit ein paar Befehlen den Computer dazu brachte, die schönen Graphiken auszudrucken; er kam mit dieser verdammten Elektronik einfach nicht klar.
Aber er hatte eine Idee und rief Rike an: „Sagen Sie mal, Rike, kann einer unserer Elektronikfans erkennen, dass Sie diese Unterlagen angefertigt haben?“
Eine halbe Minute überlegte sie und verneinte dann entschieden: „Völlig ausgeschlossen.“
„ Sehr schön.“
Sie kicherte vertraulich: „Viel Glück, Herr Helmbrecht.“
Engelchens Augenbrauen erreichten den Haaransatz; breit grinsend weihte er sie ein, und sie haute ihm vor Begeisterung so wuchtig auf die Schulter, dass sein Stuhl wankte. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wer eigentlich die Abteilung Verkauf leitete; seine Mitarbeiter hatten in diesem Punkt schon lange ihre Zweifel, was Engelchen sichtlich schmeichelte.
Sie kopierte das Material, das sie anschließend in einen neutralen Umschlag steckte, den sie fest verklebte. Nach zehn Minuten war sie zurück und bebte vor Erheiterung: „Liegt schon beim alten Danckus auf dem Tisch.“
„ Hoffentlich lässt seine Sekretärin …“
„ Na, wer bin ich denn?! Groß, dick und rot steht ‚Persönlich‘ drauf, Chef.“
„ Wenn ich Sie nicht hätte, Engelchen …“
„ Hätten Sie eine andere. Man bloß keine Gemütsarien im Dienst!“
Am Mittwoch kam er am späten Nachmittag ins Werk, nachdem er einen ganzen Tag mit einer Delegation aus Südkorea herumgezogen war, um ihr Scheren im Betrieb vorzuführen; bei Asiaten fühlte er sich immer unsicher, was nun echte Begeisterung oder nur Höflichkeit war. Das Telefon klingelte schon, als er sein Zimmer betrat, und Werner Danckus erkundigte sich grämlich: „Hätten Sie mal eine halbe Stunde Zeit?“
„ Natürlich, ich komme gleich hoch.“
Danckus war altmodisch eingerichtet, was zu seinen Sorgenfalten passte. Auf den ersten Blick wirkte er sauertöpfisch und etwas unterbelichtet, seine langsame, fast schleppende Sprache verstärkte diesen irrigen Eindruck noch. In der Firma war es kein Geheimnis, dass Danckus das Vertrauen der Eigentümer und Geldgeber genoss, viel mehr jedenfalls als der schöne Holger Bornemann, und ebenso sicher nahmen die meisten Mitarbeiter an, dass sich Danckus und Bornemann nicht leiden konnten. In diesem Punkt war er nicht so überzeugt. Wer Danckus länger kannte, bezweifelte bald, dass der Ältere überhaupt so viel Interesse für den Jüngeren aufbrachte, ihn nicht leiden zu mögen. Seine Fähigkeit, Holger Bornemann einfach zu ignorieren, war jedenfalls phänomenal.
Bei Werner Danckus gab es weder Kaffee noch Vorreden: „Das ist mir anonym auf den Schreibtisch geflattert. Lesen Sie es bitte!“
Es kostete ihn einige Mühe, während der Lektüre von Rikes und seinen Nachforschungen keine Miene zu verziehen. Jemand hatte in einer gottverbotenen Krakelschrift Bemerkungen an den Rand geschrieben, und als er die erste entziffert hatte, wappnete er sich gegen Überraschungen.
„ Stimmen diese Aussagen?“ Danckus hasste Ausflüchte und Langatmigkeit.
„ Ja.“
„ Kennen Sie einen Grund für diese ärgerlichen Verzögerungen?“
„ Die Geschäftsleitung entscheidet zu spät und lehnt zu häufig erfüllbare Kundenwünsche ab.“
„ Haben Sie auch dafür eine Erklärung?“
„ Nein, nur eine Vermutung.“
„ Bitte!“ Danckus fingerte an seinem breiten Krawattenknoten.
„ Die Geschäftsleitung konzentriert zu viel Zeit, zu viel Geld und zu viel Kapazität auf Forschung und Entwicklung. Das geht zu Lasten des laufenden Geschäfts.“
Darauf erwiderte Danckus längere Zeit nichts, seufzte endlich und zog ihm überraschend energisch die Computerausdrucke aus der Hand. „Gut. Ein anderes Thema. Sie wollen uns verlassen?“
„ Nein, Herr Danckus.“
„ Ich habe das Gegenteil gehört, Herr Helmbrecht.“
„ Von wem – wenn ich das fragen darf?“
Danckus stutzte, überlegte und verzog den Mund um Millimeter, was gemessen an seinem Temperament einen Heiterkeitsausbruch darstellte: „Eine kluge Frage. Was hat Bornemann gegen Sie?“
„ Das weiß ich nicht. Es ist mir zum ersten Mal richtig aufgefallen bei der Sache mit Schneider & Sohn …“
„ Geschenkt. Nicht Ihre Schuld.“
„ Er hat die Gerüchte, ich wolle fort, auch noch an anderer Stelle verbreitet.“
„ Ich weiß, Otto Reckel von Simebau und ich sind alte Freunde.“
„ Offen hat er mir bisher noch keine Vorwürfe gemacht.“
„ Dazu besteht auch kein Anlass. Im Gegenteil. Gut, Herr Helmbrecht, behandeln wir dies Gespräch vertraulich.“
Natürlich erzählte er es Engelchen Wort für Wort; sie feixte von einem Ohr bis zum anderen: „Sehen Sie, man muss nur Minen legen!“
„ Wenn man welche hat, Engelchen.“
„ Ach, die kriegen wir schon, Chef. Schönheit schützt vor Strafe nicht.“ Ihre Augen blitzten; Holger Bornemann hatte sich eine nicht zu unterschätzende Gegnerin zugelegt.
Das Wetter blieb gut, sonnig und windstill, aber die Temperaturen sanken etwas, und damit verschwand auch die ekelhafte Schwüle. Er hatte so viel zu tun, dass er abends sofort ins Bett fiel; Melanie war aufgekratzt und mit ihrer Party beschäftigt. Als er am Freitagmorgen losfuhr, bremste der erste Lieferwagen vor dem Haus. Bis zum Beginn um neunzehn Uhr würde sie ihn nicht vermissen.
Die Partyvorbereitungen waren abgeschlossen, als er seinen Wagen in die Garage stellte; in der Küche saßen zwei junge Frauen und zwei junge Männer beim Kaffee und stärkten sich für die kommende Arbeit. Melanie hatte über Mittag ausgiebig geschlafen, Nervosität kannte sie nicht, wenn es um ihr Vergnügen ging, und jetzt schminkte sie sich im Bad mit geduldiger Sorgfalt.
„ Alles klar?“ fragte er, eigentlich nur, um etwas zu sagen oder so zu tun, als interessiere ihn die Party, vor der er sich viel lieber gedrückt hätte.
„ Natürlich“, entgegnete sie erstaunt. Eine dumme Frage; wenn sie etwas für sich tat, klappte es immer.
Er duschte und zog sich um. Es war noch so warm, dass kein vernünftiger Mensch mit Krawatte und Jackett auftauchen würde – glücklicherweise, vor steifen Feiern hatte er einen regelrechten Horror.
Kurz vor sieben Uhr erschienen die ersten Gäste. Er klemmte ein – wie er hoffte – echt wirkendes Lächeln in seinen Mundwinkeln fest und stürzte sich in seine Hausherrenpflichten.
Nach einer Stunde entspannte er sich. Die meisten Leute waren Melanies Freunde und Bekannte, die ihn wohl begrüßten, aber dann sofort wieder vergaßen, was ihm nur recht war. Dala Bornemann erschien in einem weißen Kleid, das Melanies Neid erregte, weil es Dalas phantastischen Busen modellierte; Holger grinste, als er die Begrüßung der beiden Frauen beobachtete, und belegte ihn dann mit Beschlag. „Gibt’s hier einen ruhigen Ort, Uwe?“ Im Erdgeschoss wurde bereits getanzt, und im Garten lärmten die unentwegt Gutgelaunten. Schon jetzt stand fest, dass die Party ein Erfolg würde.
„ Wir können in mein Arbeitszimmer gehen.“
Holger trank hastig und hatte viel von seiner sonstigen Selbstsicherheit verloren: „Ich bin heute ziemlich mit Danckus zusammengerasselt.“
„ So?“
„ Er hat mir vorgeworfen, ich würde zu viel Geld und Kapazität in die Entwicklung stecken und darüber das laufende Geschäft vernachlässigen.“
Weil Frechheit siegt, stimmte er kurz zu: „Das hat er mir auch erzählt.“
„ Ach nee! Wann denn?“
„ Am Mittwoch. Irgendein schlauer Anonymus hat wohl mal untersucht, wie die Relationen von Entwicklung und Verkauf sind, und das Ergebnis dem alten Danckus auf den Tisch praktiziert.“
Den schnellen Blick konnte Holger nicht verbergen, er wusste es also auch schon und hatte ihn nur testen wollen. „Findest du den Vorwurf gerechtfertigt?“
„ In Teilen ja.“ Er hielt inne, aber Holger musterte ihn nur ausdruckslos. „Hör mal, du weißt selbst, dass die Zeit der Blechscheren ausläuft. In dem Punkt sind wir vollkommen einig. Aber du willst mit aller Macht in neue Märkte und vergisst dabei, dass wir für diese Umstellung unseren Ruf nicht lädieren dürfen. Wir brauchen viel Geld und ein Vorschusskapital an Vertrauen. Das kommt mir bei deiner Taktik zu kurz.“
„ Das hast du mir bis jetzt nie vorgehalten.“
„ Du hast mich bis jetzt auch noch nie danach gefragt.“
„ Denken die anderen auch so wie du?“
„ Das weiß ich nicht. Zumindest hat mich keiner der Abteilungsleiter darauf angesprochen.“ Er zögerte, verstimmt darüber, dass Holgers Gesicht schon wieder glatt wurde. „Aber ich weiß, dass unter den Angestellten und Arbeitern Unruhe herrscht.“
Holgers Augen zuckten, er griente hinterhältig: „Und einer hat sich so geärgert, dass er Danckus etwas zugespielt hat.“
„ Sieht so aus!“ Heimlich amüsiert wartete er, ob Holger die Dreistigkeit aufbringen würde, ihn direkt zu fragen, ob er den alten Danckus mit dem Material munitioniert habe. Aber soweit wollte er es wohl nicht kommen lassen; er trank aus und bemerkte mürrisch: „Na ja, das soll mir die Laune nicht verderben.“
Das war so offenkundig gelogen, dass er sich anstrengen musste, seine Schadenfreude nicht zu zeigen. Holger stand wortlos auf.
Eine Zeitlang erfüllte er seine Gastgeberpflichten, tanzte sogar mit ihm unbekannten Frauen, denen er den heiteren und witzigen Uwe Helmbrecht vorführte, und verzog sich dann aufatmend mit Dala Bornemann in den Garten. Sie lächelte ihn spöttisch an: „Meine Güte, dein Charme ist wieder mal überwältigend.“
„ Ich bin ja auch so guter Laune. Und feiere so gerne.“
Melanie hielt Hof am Schwimmbecken, und fast anerkennend stellte er fest, dass sich ein gutes Dutzend Männer um sie drängte; Frauen, die zu der Gruppe stießen, blieben nicht lange, sondern schlenderten bald weiter. Auf der anderen Seite des Schwimmbeckens waren zwei Stände mit Geschicklichkeitsspielen aufgebaut, die an sich ganz lustig waren; eine Sekunde lang bewunderte er Melanie ehrlich, so etwas aufzutreiben. An einem Stand spielten zwei Personen gegeneinander; der andere besaß eine riesige Uhr, die nach sechzig Sekunden den Versuch beendete. Für die Gewinner waren kleine Päckchen in Geschenkpapier auf einem Tisch aufgehäuft. Offenbar hatte Melanie damit das Richtige getroffen. Zu Anfang waren die Spielstände nur von jüngeren Leuten umringt, aber er beobachtete amüsiert, dass sie allmählich von den älteren Herrschaften verdrängt wurden, die ihre steife Würde bald verloren. Die Stimmung stieg sicht- und hörbar.
Das Büfett wurde eröffnet und gestürmt. Weit über hundert Leute strichen jetzt durch Haus und Garten, und es war nicht nur der reichlich fließende Alkohol, der sie auflockerte.
Dala hatte mit ihm friedliche fünf Minuten geschwiegen und war dann von einem anderen Mann mit Beschlag belegt worden; er kam auch ohne sie zurecht. Bei so vielen Menschen musste man sich nirgendwo ernsthaft unterhalten. Ihm graute nur ein wenig vor dem, was noch bevorstand. Er hatte den Gestellwagen mit den großen Badetüchern sehr wohl bemerkt und das Geräusch der Umwälzpumpe registriert; die Poolheizung lief, was nur bedeuten konnte, dass Melanie auf einen feuchten, vielleicht wilden Abschluss der offiziellen Party hoffte. Oder ihn unauffällig, aber zielstrebig herbeiführen würde. Karin Szesseny war mit einem fürchterlichen Gigolo im Schlepptau erschienen, und das allein versprach nichts Gutes. Holger posierte neben Melanie, als sei er Gatte und Gastgeber und Galan zugleich.
Die angenehme Überraschung erlebte er gegen zehn Uhr, als eine Frauenstimme neben ihm erklagte: „Du schneidest mich.“
Er fuhr erschrocken herum, und Christine Marbach lachte ihn fröhlich aus: „Wer sich so verjagt, hat ein schlechtes Gewissen, Uwe.“
Statt einer Antwort legte er einen Arm um ihre Taille und zog sie an sich. Sie trug ein dunkelblaues Kleid mit kleinen weißen Punkten, das von zwei dünnen Spagettiträgern gehalten wurde, und hochhackige weiße Sandalen; ihr Haar leuchtete in exakt demselben Rotton wie ihre Sommersprossen.
„ Schön, dass du gekommen bist“, flüsterte er ihr ins Ohr, und sie presste sich einen Moment eng an ihn. Er vergaß die anderen Gäste, die ohnehin mit sich selbst beschäftigt waren, und zog sich mit ihr in eine stille Ecke zurück. Einmal kam Dala vorbei, offenkundig auf der Suche nach ihm, und begrüßte Christine mit einem süßsauren Lächeln, das ihr nicht entging: „Du bist ein Herzensbrecher, weißt du das?“
„ Du irrst dich. Ich bin der einsame Wolf, den alle meiden.“
„ Aha, abgesehen von so ein paar Lämmern meines Kalibers.“
Auf die Schnelle fiel ihm keine passende Antwort ein, und zwinkernd stand sie auf: „So, nun gedulde dich mal, ich muss mich deiner Melanie wenigstens mal zeigen.“
„ Hat sie dich eingeladen?“
„ Ja. Wusstest du das nicht?“
„ Nein, das ist nicht meine Party, das hat alles Melanie organisiert. Von mir erwartet sie nur, dass ich nicht unangenehm auffalle.“
Wie auf Befehl schauten sie beide zum Schwimmbecken. Holger und Melanie standen so eng nebeneinander, dass kein Blatt Papier zwischen sie gepasst hätte, und ihre harmlosen Gesichter konnten keinen Beobachter täuschen. Christine schnaufte und sagte unvermittelt ernst: „Ich wundere mich, dass Dala Bornemann sich das gefallen lässt.“
„ Was soll sie tun? Skandal machen?“
Einen Moment musterte sie ihn aufmerksam, zuckte dann aber die Achseln: „Bis gleich. Und bleib mir treu!“
Holger rückte zur Seite, als er Christine bemerkte, und bemühte sich um ein freundliches Grinsen; Melanie gab Küsschen und schien ihre beste, allereinzige Freundin endlich wiedergefunden zu haben; die Begeisterung dauerte ziemlich genau zwanzig Sekunden, danach winkte Christine den beiden großmütig zu und verschwand im Haus.
Er hatte die ganze Szene mit diebischem Vergnügen verfolgt. Sobald Christine den beiden den Rücken zukehrte, rückte Melanie wieder dicht an Holger heran, aber der schaute Christine mit einem seltsamen Gesicht nach: Wut, Betroffenheit, vielleicht sogar Angst, und viel Ratlosigkeit. In den drei, vier Sekunden sah der schöne Holger ausgesprochen unschön aus, so verändert, dass Helmbrecht seinen Augen nicht trauen wollte. Aber dann verströmte Holger von einer Sekunde auf die andere wieder seinen gewohnten Charme, und Helmbrecht vergaß die Szene.
Einer der hilfreichen Geister hatte das geplünderte Büfett in kleinerer Form wieder hergerichtet, es gab frische Teller und saubere Gläser, und als er herantrat, aß Christine hungrig. Sie begegnete seinem spöttischen Blick und frotzelte hastig: „Ich wusste gar nicht, dass du bei uns so viel verdienst.“
„ Für diese Party löhne ich keinen Pfennig.“
„ Wie bitte?“
„ Das zahlt Melanie.“ Sie starrte ihn so ungläubig an, die Gabel schwebte auf halbem Weg zum Mund, dass er laut auflachen musste: „Ja, mein teures Weib hat eigenes Geld. Geerbt, ziemlich viel sogar.“
„ Sie hat …“ Den Satz brachte sie nicht zu Ende, ihr Gesicht wurde plötzlich zornig. Verwundert betrachtete er sie, weil er ihre Reaktion nicht verstand, und als sie merkte, dass er sie beobachtete, drehte sie sich halb zur Seite und schaufelte das Essen in sich hinein. Was hatte sie nur? Die Tatsache, dass Melanie eine reiche Frau war, konnte doch Christine nicht erschüttern? Doch bevor er Fragen stellen konnte, räumte sie schon ihren Teller weg: „Entschuldige, Uwe, ich muss ganz dringend telefonieren.“
„ Bitte sehr“, wies er etwas gekränkt auf den Apparat in der Diele, doch sie schüttelte sofort den Kopf: „Gibt’s nicht ein Telefon an einem Ort, wo nicht jeder zuhört?“
„ In Melanies Zimmer“, schlug er vor und konnte seine Verstimmung nicht verbergen.
„ Nein, danke“, entgegnete sie scharf.
„ Dann in meinem Arbeitszimmer oben.“
„ Das wäre gut – mein Gott, war ich ein Esel.“ Mit langen Schritten raste sie die Treppe hoch, er kam kaum nach, und als er die Tür aufklinkte, sagte sie nur hastig „Danke“, und schloss sie so schnell, dass er verdutzt stehenblieb und seine Zimmertür angaffte, als habe er sie noch nie gesehen. In seinem Haus ausgesperrt! Das durfte doch nicht wahr sein. Aber dann überkam ihn die Lächerlichkeit der Situation, und leise lachend machte er kehrt. Frauen! Und genaugenommen war’s ja nur zur Hälfte sein Haus. Ein halber Hauseigentümer, ein halber Mann, ein halbes Leben. Wahrscheinlich brauchte er jetzt doch einen starken Whisky; diese halben Gin-Tonics, die aus Tonicwasser bestanden, über das er den Schatten einer Ginflasche hatte gleiten lassen, waren zwar sehr hilfreich, weil er nicht gern in Gesellschaft trank, aber für seine jäh umgeschlagene Stimmung nun doch zu schwach.
Natürlich drängte sich gerade jetzt eine laut schnatternde Gruppe um den Tisch mit den Getränken; als er endlich nach der Ginflasche greifen konnte, flüsterte Christine ihm leise zu: „Trink bitte nicht, ich mag keine angetrunkenen Männer.“
„ So?“ brummte er unfreundlich, zögerte aber.
„ Vor allem nicht, wenn ich sie mag.“
Nach einer Pause setzte er die Flasche ab und knurrte: „Aus dir werde ich auch nicht schlau.“
„ Das kommt noch. Hast du meine Adresse? Kaulbachstraße, das mittlere der drei Hochhäuser.“ Sie sah ihn offen an. „Gib mir eine halbe Stunde Vorsprung.“
„ Ich weiß nicht …“
„ Ich werde auf dich warten“, murmelte sie und lief schnell davon. Unschlüssig blickte er ihr nach und haderte mit sich selbst, weil er sich nicht entscheiden konnte.
„ Sag mal, hast du eigentlich was gegen mich?“
Trotz des Schrecks hatte er die Stimme erkannt und drehte sich deshalb betont langsam um. Karin Szesseny stand vor ihm, halb schmollend, halb herausfordernd, den Körper soweit gereckt und verdreht, dass sich ihr sehenswerter Busen unter dem dünnen, schreiend bunten Kleidchen abzeichnete. Dass sie darunter wenig oder gar nichts trug, war ihm klar.
„ Hallo, Karin“, grüßte er knapp.
„ Hallo Karin, hallo Karin“, äffte sie ihn nach. „Ist das alles, was du für mich übrig hast?“ Sie gurrte und spielte die Gekränkte.
Weil er zwischen Grobheit und Gastgeberpflichten schwankte, musterte er sie unbewegt. Andere Männer fanden sie wahrscheinlich aufregend oder gar attraktiv, aber ihn erinnerte das glatte Gesicht zu sehr an Melanie: schön nach den Kriterien eines Fotomodells, aber sonst völlig nichtssagend. Endlich knurrte er: „Was sollte ich denn für dich übrig haben?“
„ Etwas Zeit. Etwas Aufmerksamkeit. Etwas Interesse“, lockte sie.
Als Melanie sie zum ersten Mal ins Haus geschleppt hatte, erkundigte er sich mehr aus Höflichkeit denn Interesse, was sie so treibe, und Karin Szesseny war ihm eine klare Antwort schuldig geblieben. Später hatte Melanie ihm erklärt, die Boshaftigkeit zuckersüß verpackt, dass Karin eigentlich gar nichts tue, sie lebe, sie habe Freunde, und auf sein Resümee „Also eine berufsmäßige Freundin“ zuckte sie nur nachlässig die Schultern.
„ Und dein Begleiter?“ höhnte er schwach.
„ Ach du meine Güte!“ entsetzte sie sich theatralisch. „Der soll dich doch nicht stören.“ Dabei blinzelte sie so herausfordernd in Richtung Melanie und Holger, dass nicht zu verkennen war, was sie andeuten wollte. Aber damit konnte sie ihn weder ärgern noch bekehren, er musste bei dem Gedanken grinsen, dass sich Melanie bei solchen Freundinnen um Feindinnen nicht zu sorgen brauchte.
„ Besuch mich doch mal!“ forderte sie ihn auf. „Es würde sich – nun – lohnen.“
„ Für wen?“
„ Das wird sich herausstellen“, flötete sie und glitt hüfteschwenkend davon. Aufgebracht erwog er, sie und ihren Gigolo – Melanie hin, Skandal her – rauszuschmeißen, aber es lohnte wahrhaftig nicht die Mühe. Voll müder Verachtung sah er zu, wie Karin gleich von mehreren Männern mit Beschlag belegt wurde; den Gigolo schien es zu erfreuen.
Gegen elf Uhr verabschiedeten sich die ersten Gäste, und zwanzig Minuten später fiel Karin Szesseny mit einem spitzen Schrei in das Schwimmbecken. „Meine Güte, ist das angenehm“, rief sie begeistert, „will mich denn niemand retten?“
Nach dem fünften Platscher drehte er sich um, prallte auf Dala, die hinter ihm stand. „Na, Uwe, brauchst du nicht auch eine Abkühlung?“ spottete sie, aber ihre Augen verrieten Wut.
„ Nein. Nicht mit diesen …“ Den Rest verschluckte er. „Und du?“
„ Ich danke ebenfalls. Ich gehe lieber.“
Er drehte sich noch einmal um. Trotz seines Ärgers musste er anerkennen, dass Karins Auftakt hervorragend getimt war; niemand brach mehr auf, wer jetzt noch blieb, würde noch lange bleiben. Aber ohne ihn! Für diesen Teil war er nicht mehr zu haben. Ein Dicker zog Karin aus dem Wasser, das nasse Kleidchen klebte wie eine zweite Haut an ihrem Körper und enthüllte genauso viel; der Gigolo hatte von irgendwo eine Kamera und Blitzlicht herbeigezaubert und schoss pausenlos Bilder von der gigantischen Rettungsaktion, alle lärmten, kreischten und quiekten vor Begeisterung, Karin stolperte nach rückwärts und zog ihren Retter unter wüstem Gegröle mit sich ins Becken. Die ersten Kleidungsstücke flogen auf die Kacheln.
„ Ich bring dich nach Hause“, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.
Sie warf ihm einen undefinierbaren Blick zu: „Seit wann so ritterlich, mein lieber Uwe?“
„ Ich wollte ohnehin noch wegfahren.“
„ Aha“, machte sie und schnaufte enttäuscht. „Nein, vielen Dank, das ist nicht nötig, ich hab meinen Wagen hier.“
„ Also dann tschüss, Dala.“
Er fuhr langsam und überlegte, ob er nicht doch einen Fehler beging. Zum Schluss beschäftigte ihn nur die Frage, warum es so unvermittelt passiere, und auch die strich er aus seinen Gedanken, als er sich vorstellte, was nun in seinem Haus geschah.
Vor dem Hochhaus pfiff er vergnügt. Christines Wohnung lag im zehnten, obersten Stockwerk, ein Penthouse mit einer großen, über und über begrünten Terrasse. Seine letzten Bedenken verflogen bei ihrem breiten Grinsen: „Schön, dass du gekommen bist.“
„ Nein, schön, dass du endlich Zeit für mich hast.“
„ Nicht nur Zeit, Uwe.“
Alle Fenster und Türen standen weit offen, die beiden Kerzen flackerten im Durchzug und warfen zuckende Schatten über die Bücherregale. Von der Weinflasche perlten die Tropfen herunter; sie folgte seinem Blick und schmunzelte: „Ich hab auch Whisky, aber wenn ich an unser letztes Whiskybesäufnis denke …“
„ Von Besäufnis kann keine Rede sein, zum Schluss störte ein Telefon, wenn ich dich daran erinnern darf.“
„ Heute hab ich’s leise gestellt.“
„ Ich habe dich schon immer für eine kluge Frau gehalten“, brummte er und zog sie an sich; sie verlor das Gleichgewicht und landete auf seinen Knien. Ihr Körper war fest und biegsam, und als sie endlich nach dem langen Kuss die Hände gegen seine Schultern stemmte, atmeten sie beide heftig. Ihre Sommersprossen glühten. „Was hältst du von einem Glas Wein?“
„ Du willst nur ablenken.“
„ Kein Widerspruch, bitte.“
„ Es ist unerträglich heiß“, klagte er nach dem ersten Schluck.
„ Du hast wie immer recht. Wir sind auch viel zu warm angezogen.“
Breit lächelnd prüfte er das blaue, dünne, weite Kleid, die Spagettiträger waren ihr von den Schultern gerutscht. Sie stellte sich vor ihn und drehte ihm den Rücken zu: „Ich verheddere mich immer mit dem Reißverschluss.“
Friedlich und erschöpft lagen sie auf dem Bett und starrten zur dunklen Decke hinauf, er streichelte ihren Körper und war viel zu faul, etwas zu sagen. Dass sie sich verstehen würden, hatte er immer angenommen, aber dass sie auch zärtlich miteinander sein konnten, überraschte ihn, berührte ihn ganz merkwürdig, als habe er etwas wiedergefunden, was ihm vor langer Zeit abhandengekommen war. „Es ist wunderschön“, flüsterte er plötzlich.
Nach drei Stunden schickte sie ihn fort: „Es ist besser so, Uwe.“
„ Sehe ich dich denn morgen, nein, heute?“
„ Ich weiß nicht. Eigentlich bin ich mit Freunden verabredet.“
„ Bitte“, sagte er mit rauer Stimme.
„ Ich werde mir Mühe geben“, versprach sie. „Bestimmt!“
Er verließ sie nur widerstrebend, weil er nicht nach Hause fahren wollte, weil er sich davor fürchtete, Betrunkenen zu begegnen und das abstoßende, wilde Ende einer Feier zu erleben. Nicht jetzt, nach diesen Stunden. Doch so sehr er sich auch den Kopf zerbrach – er wusste nicht, wohin sonst. Unzufrieden drehte er den Schlüssel.
Die Party war schon zu Ende, das Haus lag im Dunkeln. Er hielt die Fernsteuerung aus dem Auto und drückte den „Auf“-Knopf, das Tor fuhr anstandslos hoch, und das Scheinwerferlicht erhellte eine bis zum letzten Winkel mit Kisten, Tischen und Stühlen vollgestellte Garage; der Partyservice hatte schon alles zum Abholen zusammengepackt. Auf Befehl senkte sich das Tor lautlos, und er parkte seinen Wagen vor dem Haus, Melanies Auto fehlte, sie würde „nachfeiern“, irgendwo, mit dem schönen Holger vermutlich.
In dieser Nacht schloss sie ihre Tür leise.
Er schlief bis Mittag und wurde erst vom Krach des Garagentors geweckt; die Firma rangierte mit einem Lieferwagen, der dringend einen neuen Auspufftopf brauchte.
Melanie lächelte geringschätzig, als er in die Küche kam, sich nach dem Schwimmen noch die Haare trockenreibend. „Ich habe dich gestern Abend vermisst.“
„ Als es feucht wurde, bin ich lieber gegangen“, beschied er sie kurz, und ihre Miene zeigte einen Moment offene Verachtung.
„ Möchtest du Kaffee?“
„ Ich hätte nichts dagegen.“
Er frühstückte mit Genuss, während sie wieder lustlos in einem Müsli herumstocherte. Die Zeit hatte nicht für das sonst so perfekte Make‑up gereicht, und ohne Kriegsbemalung sah sie so anders aus, dass er sie unwillkürlich immer wieder anschaute, halb amüsiert, halb ehrlich neugierig wie auf eine fremde Frau.
„ Ist was?“ wollte sie wissen, als sie seine Blicke bemerkte.
„ Nein“, brummte er.
„ Ich weiß, dass ich fürchterlich aussehe“, schnappte sie.
Darauf erwiderte er vorsichtshalber nichts. Was immer er jetzt sagte, es musste Krach auslösen, und deswegen drehte er sich zur Seite und schaltete das Radio an.
„ Mein Gott, ist das wieder heiß“, murmelte sie nach langer Pause, aber es galt nicht ihm. Natürlich hatte er schon oft an Scheidung gedacht. Eine Ehe führten sie schon lange nicht mehr, und Zuneigung hätte er heucheln müssen. Sie war ihm nur so grenzenlos gleichgültig geworden, dass er selbst den Aufwand einer Scheidung scheute, um sie loszuwerden, und bis zu diesem Wochenende hatte es auch keine andere Frau gegeben, mit der er sich ein Zusammenleben vorstellen konnte. Oder gar gewünscht hätte. Und Christine –er hatte schon einmal den Irrtum begangen, Sympathie oder Gewöhnung mit Liebe zu verwechseln, er musste sich erst sicher werden.
„ Willst du schon gehen?“ fragte sie, als er die Zigarette ausdrückte und aufstand. „Karin würde dich sicher gern begrüßen.“
„ Welche Karin? Karin Szesseny?“
„ Ja, sie schläft im Gästezimmer.“
„ Nee, vielen Dank, warum soll ich mir freiwillig einen schönen Tag verderben“, gab er grob zurück und flüchtete.
Auf dem Golfplatz traf er Werner Danckus. Der alte Herr schaute ziemlich unglücklich drein, zwinkerte ein paarmal heftig und platzte dann heraus: „Das ist mir nun gar nicht recht, Herr Helmbrecht.“
„ Ich verstehe nicht, was Sie …“
„ Dass Sie mich hier treffen – nein, nein, entschuldigen Sie bitte, das war nicht so gemeint, jetzt werd ich auch noch –“ verzweifelt drehte er die Mütze mit dem riesigen Sonnenschirm hin und her – „Herr Helmbrecht, theoretisch weiß ich ja, dass ich mit dem Schläger den Ball treffen soll, aber praktisch – und die viele frische Luft –, alles nur wegen der Bewegung …“
Er konnte nicht anders, er musste losprusten; der Caddy, ein pfiffiger, höchstens zwölf Jahre alter Bursche, drehte sich schnell um, dabei wackelte sein Kopf gefährlich, und die warnenden Handzeichen waren unmissverständlich.
Nach einigem Zögern stimmte Danckus in das Lachen ein, aber der jammernde Unterton war nicht zu überhören: „Warum ein alter Dackel wie ich eigentlich Golf spielen soll …“
„ Die Bewegung tut Ihnen bestimmt gut“, japste Helmbrecht und vermied, den Jungen anzusehen, der verächtlich auf Danckus starrte. „Kommen Sie, wir können jederzeit abbrechen.“
„ Wirklich? – Und Sie behalten meine Schande für sich? – Meine Schwester hat mich gezwungen –“, aufgebracht schwang er das Holz, der Caddy wich eben noch aus, und Helmbrecht konnte sich gut vorstellen, welches Ziel Danckus gerade im Geiste anvisiert hatte.
Eine Schande war es in der Tat. Danckus spielte schlimmer als jeder Anfänger, anscheinend froh, überhaupt einmal den Ball zu treffen, die Zahl der Schläge kümmerte ihn nicht. Der Caddy schien zu beten und presste bei jedem Abschlag verzweifelt die Lippen zusammen, offenbar kannte er Danckus’ Technik schon. Quadratmetergroße Rasenstücke wurden ruiniert, Sand wirbelte hoch wie nach Granateneinschlägen, und einmal gab es Holzschaden, als der Weißhaarige wuchtig traf und die Kugel auf einer unglaublichen Kurvenbahn durch das Geäst eines weit halblinks stehenden Baumes zischte. Zwei Vögel flatterten kreischend auf, selbst dem Jungen verschlug es die Sprache.
„ Das soll mir erst einmal einer nachmachen“, brüstete sich der Täter.
Nach dem neunten Loch kehrten sie um, und Danckus blinzelte vergnügt: „Diese Leistung berechtigt zu einen Sherry.“ Das Trinkgeld für den Caddy war wohl eher ein Schweigelohn.
Es blieb nicht bei einem Glas; der alte Herr hatte etwas auf dem Herzen: „Unser Gespräch beschäftigt mich immer noch – wissen Sie, Herr Helmbrecht, wenn man älter wird, tröstet man sich gern mit dem Gedanken, die anderen würden’s schon recht machen – ich hätt mich mehr ums Technische kümmern müssen, aber die Zahlen liegen mir halt mehr, und Bornemann kann sehr überzeugend schwätzen …“
Vorsichtshalber hielt er den Mund, aber Danckus erwartete keine Antwort. „Dabei hat Bornemann ja sehr deutlich gesagt, welchen Kurs er steuern wollte, als wir ihn zum Geschäftsführer machten. Das klang ja auch alles sehr vernünftig, aber nun sicht’s aus, als habe er übertrieben.“
Selbst im Schatten war es warm, und Danckus wischte sich mit einem blütenweißen Taschentuch die Stirn trocken. Als Golfer hatte er eine klägliche Figur abgegeben, doch jetzt, mit seiner üblichen Miene aus Gram, Besorgnis und Nachdenklichkeit stellte er etwas dar, was Helmbrecht unwillkürlich Respekt abforderte: ein Mann, der sich seiner Verantwortung bewusst war und sie ohne Lust, sondern nur aus Pflichtgefühl trug.
„ Und wenn ich jetzt an den Ärger denke, weil ich Bornemann bremsen muss – oder meinen Sie, so weit sei’s noch nicht?“
„ Doch, Herr Danckus. Sogar noch weiter.“
„ Ah ja, wirklich? Schlimm, schlimm. Mich wundert nur, dass niemand früher protestiert hat. Oder mich einmal gewarnt hat.“
„ Unter den Angestellten ist es Tagesgespräch“, schwindelte er, im Moment verstimmt über die Andeutung des alten Herrn, die anderen seien zu dumm oder zu feige.
„ So? Und warum hat sich niemand gemeldet?“
„ Bornemann erweckt nicht den Eindruck, als schätze er Widerspruch.“
„ So? Ja, das ist wohl richtig.“ Danckus seufzte tief und versank ins Grübeln.
Helmbrecht wartete geduldig. Der Blick von der Terrasse des Klubhauses beeindruckte ihn immer wieder. Es lag auf einer kleinen Anhöhe, die Baumgruppen und Büsche ließen eine Schneise frei, an deren Ende der Fluss schimmerte. Dichter, kurzgeschorener Rasen bis zum ersten Loch, dahinter begann die gärtnerisch gebändigte Wildnis aus Gras, Ginster und Niederholz. Ein welliges Gelände mit vielen feuchten Stellen in der Nähe des Ufers; an einigen Stellen hatten sich Tümpel gebildet, die schon beachtliche Treibschläge verlangten, und am 19. Loch, der Bar, wurde zu fortgeschrittener Stunde häufig gewettet, in welchem Jahr der erste Tümpel durch zu kurz geflogene Bälle verlanden würde.
„ Tja, dann werd ich mal gehen, Herr Helmbrecht. Grüßen Sie bitte Ihre Frau von mir.“
„ Danke. Auf Wiedersehen, Herr Danckus.“ Das leise Schmunzeln verbarg er lieber. Er hatte gar nicht gewusst, dass Danckus und Melanie sich kannten, und er konnte sich gut vorstellen, wie Melanie über den Weißhaarigen denken und urteilen würde.
Er rief noch ein paarmal vergeblich bei Christine an, spielte eine Runde und ging früh schlafen. Der Krach von Melanies Schlafzimmertür riss ihn so jäh hoch, dass sein Herz raste.
Nach dem Lärm, den sie veranstaltet hatte, war er lange wach liegen geblieben, und bei der zweiten Tasse Kaffee überlegte er, ob sich ihr Verhältnis nicht allmählich änderte: Bis jetzt war sie ihm gleichgültig gewesen, nun fing sie an, ihm lästig zu werden. Er wollte ihr nicht begegnen.
Das Auto lenkte sich wie von selbst, und er grinste, als er die Handbremse anzog. Kaulbachstraße, schräg gegenüber dem mittleren Hochhaus. In bester Stimmung klingelte er bei „Marbach“. Keine fünf Sekunden später wurde die Haustür aufgerissen, ein Mädchen stürmte mit gesenktem Kopf heraus und krachte voll in ihn hinein, obwohl er noch zur Seite gesprungen war. „Oweia“, keuchte sie erschrocken und stolperte, wild mit den Armen rudernd; er griff zu und erwischte einen Arm, bevor sie die drei Stufen hinunterstürzte. „Entschuldigung – danke – ich meine – es tut mir leid …“
„ Haben Sie sich wehgetan?“
„ Nein, nein, ich bin nur …“ Sie stotterte atemlos, und er musste über ihr halb verlegenes, halb schmerzverzogenes Gesicht lachen: „Sind Sie immer so stürmisch?“
„ Nein, nur wenn ich’s eilig …“
Die Haustür fuhr mit einem satten Bumms ins Schloss; sie zuckte zusammen: „Wollten Sie rein?“
„ Nein, nein“, beruhigte er sie, „es hat niemand geöffnet.“
„ Ja, dann – danke – Verzeihung – auf Wiedersehen.“ Mit einem Kurzstreckenstart sprintete sie davon, und unwillkürlich schaute er ihr vergnügt nach. Zwölf Sekunden auf hundert Meter sollten drin sein! Stämmige Beine, enge Hosen und eine Frisur, die jeder Beschreibung spottete. Und ‚eilig‘ schien glatt untertrieben.
Noch zweimal klingelte er vergeblich bei Christine und trottete enttäuscht zu seinem Auto zurück. Bis zur Mittagszeit lief er am Fluss entlang, aß in einem überlaufenen Ausflugsrestaurant ein papierdünnes Wiener Schnitzel und fuhr mit einem überladenen Boot zurück; ein kleines Mädchen platzierte ihm die Eistüte auf die Hose, die Mutter schimpfte und schnatterte, er musste grob werden, bis sie ihn endlich in Ruhe ließ, und kochte, als das Boot anlegte. Von fast jeder Telefonzelle rief er bei Christine an, und Stück für Stück sank seine Laune in den Keller. Schließlich verschlug es ihn in ein winziges Kino; der Film war so albern, dass er ein paarmal vor Wut grölte, danach fühlte er sich besser. Als das Licht anging, erhaschte er den aufmerksamen Blick eines jungen Mannes, der ihm irgendwie bekannt vorkam, und erst als der den Kopf rasch abwandte, fiel ihm ein, wo er ihn zuletzt gesehen hatte – auf dem Boot, direkt neben der Mutter mit dem ungezogenen Eis-Kind. Der Mann verschwand im Eilzugtempo.
Und dann parkte er wieder an der Einmündung der Kaulbachstraße und marschierte mit einer Mischung aus Selbstmitleid, Ungeduld und Hoffnung auf das Hochhaus zu.
Diesmal hatte er noch nicht den Klingelknopf gedrückt, als die Haustür aufflog. Etwas Weibliches kam herausgeschossen und prallte mit solcher Wucht auf ihn, dass er rückwärts die Stufen hinunterstolperte und sich im letzten Moment fing, weil er das Geländer zu fassen bekam.
„ Oh, oh, oh“, machte es über ihm, und mordlustig fixierte er die junge Frau, die ihn schon morgens beinahe umgestoßen hätte. Vor Schreck hatte sie die Augen weit aufgerissen, und jetzt zitterten auch ihre Lippen. „Oh, oh, oh“, wiederholte sie sinnlos.
„ Wollen Sie mich umbringen?“ fauchte er sie an.
„ Nein … nein … ich …“
„ Können Sie nicht besser aufpassen?“
„ Nein, leider nicht“, quetschte sie jämmerlich heraus, und damit entwaffnete sie ihn. Wider Willen musste er auflachen, ihre entsetzte Miene löste sich zu einem erleichterten Grienen: „Beim dritten Mal lade ich Sie ein, bestimmt – einverstanden? – fein, Entschuldigung, ich hab’s wirklich eilig. Wiedersehn.“ Erneut sauste sie davon, als trainiere sie für einen Wettbewerb, und kopfschüttelnd giftete er hinter ihr her, bevor er bei „Marbach“ klingelte. Nach wenigen Sekunden summte der Öffner, und er schüttelte seine schlechte Laune ab. Der verkorkste Tag war vergessen.
„ Ich glaube, wir kennen uns schon“, begrüßte er sie albern, und sie antwortete nicht viel erwachsener: „Recht gut, wenn ich mich nicht irre.“
„ Darf ich eintreten?“
„ Ich bitte darum.“
Die kleine Küche blitzte vor Sauberkeit, und in der winzigen Essecke saß er sogar ganz bequem, sobald er seine Beine verstaut hatte. „Ich war heute morgen schon einmal hier“, bemerkte er, und sie drehte den Kopf: „Da war ich im Werk.“
„ Am Sonntag?“
Eine Sekunde zögerte sie, bevor sie leichthin meinte: „Manche Sachen lassen sich besser erledigen, wenn man ungestört bleibt.“
„ Das stimmt“, gab er ihr recht und konnte dabei seine Heiterkeit so schlecht verbergen, dass ihr die Doppeldeutigkeit ihres Satzes erst jetzt aufging. „He, du!“ Sie stemmte beide Fäuste in die Seite, aber ihre Empörung hielt nicht vor, verhinderte vor allem nicht, dass er sie blitzschnell packte und zu sich auf die Knie zog, und jeden weiteren Protest schnitt er auf eine Art ab, die ihr offenkundig nicht widerstrebte. Der rostbraune Hausanzug, in der Farbe zu ihren Haaren und noch mehr zu ihren Sommersprossen passend, hatte einen langen, durchgehenden Reißverschluss, und als er ihn später vorsichtig aufzog, nickte er: „Daher der Name Reizverschluss.“
„ Du bist ein unmöglicher Mensch, weißt du das?“
Das Schlafzimmerfenster lag nach Westen, und die um das Haus herumwandernde Sonne ließ den gelben Vorhang unwirklich aufleuchten. Träge, mundfaul und zufrieden hielt er sie im Arm, streichelte ihren Rücken und spürte ihren Busen auf seiner Brust. Die Geräusche von der Straße waren weit, sehr weit weg.
„ Jetzt eine Zigarette“, murmelte sie plötzlich, und als sie es ausgesprochen hatte, wusste er, was fehlte. „Dann lauf mal schön“, brummte er vergnügt und hielt sie fest; sie strampelte heftig, boxte ihm gekonnt auf die Kinnspitze und rutschte, als er sie dann losließ, mit Schwung vom Bett, rappelte sich vom Boden auf und drohte ihm dabei mit der Faust: „Das wirst du mir büßen.“
„ Ich zittere bereits.“
Er hörte sie in der Küche rumoren, Geschirr klapperte, sie pfiff vor sich hin, und als sie mit dem voll beladenen Tablett in der Tür erschien, begegnete sie seinem forschenden Blick und blieb stehen. Das Bild prägte sich ihm für immer ein: eine eigenwillige, stolze Frau, die mit ihm glücklich und deswegen auch schön war. Unvermittelt spürte er einen Kloß im Hals; Zärtlichkeit hatte er fast schon so verlernt wie Vertrauen.
Wie selbstverständlich erzählte er später von Melanie, ihrer Rastlosigkeit, der Gleichgültigkeit, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte. Ungeschickt nach Worten suchend versuchte er seine Zweifel darzustellen, was er eigentlich tat, warum er arbeitete, weshalb er manchmal innehielt und auf die Leere lauschte, bevor er weitermachte, weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte. Unglücklich – nein, das war nicht das Wort, das er verwendet hätte, eher erschien ihm alles auf eine angenehme Art ohne Sinn. Rat- und entschlusslos rollte er in einem luxuriösen Gefährt eine Sackgasse entlang, in der es sich nicht wenden ließ. Zum Bremsen und Zurücksetzen konnte er sich nicht aufraffen, als warte er darauf, dass ein anderer das für ihn tun werde.
Sie verstand ihn; ihr Freund war vor drei Jahren gegangen, wegen eines blutjungen Mädchens, das ihn anhimmelte, solange es ihn noch nicht fest an der Leine hatte, und erst hinterher begriff sie, dass sie ihn längst hätte fortschicken sollen.
„ Warum hast du nie geheiratet?“ fragte er neugierig.
„ Oh, ich war verheiratet“, berichtigte sie bitter. „Jung, unerfahren und unsterblich verliebt. Bis er andere Paare mitbrachte und meinte, Abwechslung verschönere das Leben. Fast zehn Jahre habe ich es ausgehalten, und seitdem …“ Sie zuckte die Achseln. „Zum Glück hatte ich einen guten Anwalt, und er war trotz allem noch so anständig, meine Ausbildung zu bezahlen.“
„ Wir haben uns alle ein wenig gewundert, dass der alte Danckus dich als Personalchefin eingestellt hat“, warf er ein.
Darauf antwortete sie nicht sofort und zündete sich eine Zigarette an, bevor sie sich endlich räusperte: „Gewundert?“
„ Ja, Holger hätte gern seinen Spezi Petersen auf den Stuhl gehievt.“
„ Eben“, konterte sie. „Holger will etwas zu eifrig durchmarschieren, und das gefällt den Eigentümern nur mäßig.“ Ihr Tonfall ließ ihn aufhorchen, aber sie schüttelte den Kopf, als sie seinen fragenden Blick auffing, und wechselte das Thema.
Um zehn Uhr trieb sie ihn schweren Herzens unter die Dusche. „Es ist besser, Uwe, für dich und für mich.“
„ Nur, wenn du mitgehst.“
Sie grinste von einem Ohr bis zum anderen: „Du bist nicht nur unmöglich, sondern auch unersättlich.“
„ Sehen wir uns morgen?“
„ Ich weiß nicht, ich bin mit Freunden verabredet.“
„ Den ganzen Abend?“ bettelte er, und sie biss sich auf die Lippen: „Ruf mich an, ich will sehen, was ich tun kann.“ Leise setzte sie hinzu: „Ich werd mir Mühe geben – bestimmt.“
Als er die Straße überquerte, bemerkte er die junge Stürmische, die sehr langsam, sehr erschöpft Richtung Hochhaus schlich. Einen Moment schwankte er belustigt, ob er sie fragen sollte, was mit ihrer Eile geschehen sei, doch dann winkte er ihr nur zu. Sie drehte den Kopf, spähte unschlüssig, bis er in den Lichtkegel einer Laterne trat, erkannte ihn wieder und winkte unendlich müde zurück.
„ Verschieben wir Ihre Einladung?“ rief er hinüber.
„ Bitte, ja. Aber verschoben ist nicht aufgehoben.“
„ Okay, wir haben es ja nicht eilig.“ Über diese Spitze griente sie nur kläglich.
Melanies Schlafzimmertür knallte laut, aber er drehte sich nur um und schlief sofort wieder ein.
In Berlin nieselte es, und in der großen düsteren Halle der Nordhansa Trafo lastete eine schwüle Hitze, die Gesicht und Hände klebrig-feucht werden ließ. Das dumpfe Dröhnen der Stanzmaschinen schmerzte in den Ohren, und wenn sich die verschiedenen Rhythmen zu einem dumpfen Fortissimo vereinigten, schien die ganze Halle zu schwanken. Roland Meyer hinkte und berlinerte mit einer hohen Fistelstimme, was lustig klang, aber lausig schwer zu verstehen war. Sein Problem war nicht neu: Dünne, große Bleche neigten während des Schneidens zu Verwerfungen, erst recht, wenn gleich ganze Pakete von der Schere bearbeitet wurden. Beim Stanzen hatten sie diese Sorgen nicht, weil da auf ganzer Länge des Werkstücks die volle Last nur für Sekundenbruchteile auftrat, aber Stanzen ergab viel Abfall und produzierte Lärm, Schwingungen, Infraschall. Zwei von den Anliegern angestrengte Prozesse hatten sie schon verloren, „und Verlagern is’ nicht drin, wohin soll’n wa ooch.“
Weil Kunden immer recht haben, blieb er höflich, obwohl er sich genasführt fühlte. Hier handelte es sich um eine technische Frage, für die er nicht zuständig war … doch dann horchte er auf. Zweimal hatten sie sich mit Rittlinger Scheren in Verbindung gesetzt. Beim ersten Mal war ein Herr Kühnel nach Berlin gekommen und hatte sich gründlich, sehr gründlich informiert. Und beim zweiten Mal ein Herr Bornemann, der – also, das dürfe er nun nicht übelnehmen – ziemlichen Stuss darüber verbreitet habe, wie man Verwerfungen messe, mit Laser oder induktiven oder kapazitativen Feldveränderungen oder Thermolinien, „wat, ick gloob. der hat uns mit ’nem Labor verwechselt.“
Mit großer Anstrengung verbarg er, dass er kochte. Warum und wieso hatte er nichts in seinen Unterlagen, dass Bornemann mit Nordhansa Trafo bereits verhandelt hatte? Kühnel leitete die Abteilung Forschung und Entwicklung und war ein genialischer Chaot oder ein chaotisches Genie, je nachdem. Aber er war nicht so weltfremd, eine kostspielige Versuchsreihe ohne eine Anweisung zu beginnen, die nur von der Geschäftsleitung kommen konnte. Und nur die Geschäftsleitung, also der schöne Holger, konnte verhindert haben, dass die allen Abteilungen vorgeschriebene Notiz über Kontakte oder Verhandlungen an alle Abteilungen geschickt wurde, um eben solch eine Panne zu vermeiden, in die er jetzt hineingetappt war.
Zum Glück schwadronierte Meyer unablässig weiter. Das Leben sei schwierig, das Blecheschneiden noch schwieriger und das Geschäftemachen am schwierigsten. Und deswegen schätzte er sich Petersilie, dass Rittlinger Scheren nun doch ein Angebot unterbreiteten.
Er holte tief Luft, weil er endlich begriff, in welche Falle er gelaufen war. Oder vom schönen Holger geschickt worden war; das würde sich noch herausstellen. „Mein Angebot wird Ihnen wenig Freude machen“, begann er vorsichtig. „Wir müssten uns verständigen, mit welcher Summe Sie sich unter Umständen an den Entwicklungskosten beteiligen.“
„ Wa? Dat darf doch nicht wahr sein!“
„ Herr Meyer, Ihre Bleche machen uns mehr Kummer, als Sie sich wohl vorstellen. Wir haben eine Menge in Versuche und Experimente investiert, wir sind auch überzeugt, alles in den Griff zu kriegen“ – ‚Lieber Kühnel, lass mich nicht im Stich!‘ betete er stumm – „aber wir müssen auch kalkulieren, und Sie wissen selbst, dass für solche Scheren kaum Bedarf besteht. Es wäre, sagen wir es offen, eine Sonderkonstruktion.“
Meyer klappte mehrmals den Mund auf und zu, und als er dann die Sprache wiederfand, redete er Hochdeutsch. Das Klima war eisig geworden. Über diese neue Situation müsse er sich erst mit den Eigentümern ‚ins Benehmen setzen‘, und wenn er ehrlich sein solle: Etwas verstünden sie ja von Dünnblechen auch, und dass ihre Bearbeitung solche Schwierigkeiten machen sollte, wolle ihm nicht in den Kopf.
Trocken merkte er an: „Das haben wir auch nicht vermutet.“
Na ja, trotzdem, eine sehr, sehr unerfreuliche Entwicklung sei das. Wirklich sehr unangenehm. Aber dann, als Helmbrecht schon nach seinen Unterlagen griff, erkundigte sich Meyer mit verräterischer Beiläufigkeit: „Was haben Sie denn bis jetzt in die Sache reingesteckt?“
Irgendeine Summe musste er nennen: „Knapp dreißigtausend.“
„ Donnerwetter! Und für welche Lösung haben Sie sich entschieden?“
„ Ich verstehe nicht, was …“
„ Na, die mechanische Ihres Herrn Kühnel oder die elektronische Ihres Herrn Bornemann?“
Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, sich nicht überrumpeln zu lassen: „Wir konzentrieren uns auf die mechanische Lösung.“
„ Vernünftig! Und wo liegt der Hase im Pfeffer?“
„ Bei der Schnittgeschwindigkeit, wenn das Messerrad die Bleche berührt. Das ganze Paket wölbt sich in dem Moment auf, wo das Scherenrad die geringste positive oder negative Beschleunigung erfährt.“ Pure Improvisation war das; mit den ersten Aluminium Dünnblechscheren hatten sie das erlebt, aber dann grunzte Meyer verständnisvoll: „Ja, ja, das stimmt.“
Als er sich verabschiedete, war das Klima etwas wärmer geworden, und Meyer berlinerte wieder, wenn auch nicht so breit wie vorher. Vom Flughafen rief er Kühnel an und erwischte ihn sogar direkt in seinem Glaskabuff: „Sie müssen auf mich warten, Herr Kühnel, wir müssen uns unbedingt noch heute Abend sprechen.“
„ Hm, eigentlich passt das …“
„ Ich war gerade bei Nordhansa Trafo .“
Am anderen Ende blieb es lange still, bevor Kühnel aufseufzte: „Das is’ ja ’nen Ding. Ich warte auf Sie.“
„ Vielen Dank, Herr Kühnel. Und noch eins: Ich glaube, es wäre gut, wenn die Verabredung unter uns bliebe.“
„ Da stimme ich Ihnen völlig zu.“
Auch Engelchen saß an ihrem Platz, und nachdem sie sich eingestellt hatte, legte er sofort los: „Nennen Sie meinen Namen nicht! Ziehen Sie sofort los und sammeln Sie alles ein, was Sie über Nordhansa Trafo finden können. Wenn Sie sich dabei erwischen lassen, kündige ich Ihnen die Freundschaft. Es geht um unsere Köpfe.“
„ Da muss ich erst bei unserer Geschäftsleitung nachfragen, Frau Temme. Ich melde mich wieder, tschüss.“ Nicht einmal geschnauft hatte sie; auf Engelchen war eben Verlass.
Bei Christine war besetzt, und nach einem Blick auf die Uhr verzichtete er auf einen zweiten Versuch und hastete ins Flugzeug. Bis zur Landung grübelte er, welches Spielchen da wohl ablief, aber er fand keine vernünftigen Erklärungen für die Ungereimtheiten. Doch die Tatsache, dass der schöne Holger – wie auch immer – seine Finger in der Sache hatte, reichte völlig aus, ihn zu alarmieren; er hatte Schneider & Sohn noch nicht vergessen. Der Nachmittag war ungewöhnlich klar, und als die Maschine über das Flusstal Richtung Flughafen sank, konnte er hinter der Autobahnbrücke das Hochhaus erkennen, in dem Christine wohnte. Ob er sie in seine Sorgen einweihte?
Wegen des Berufsverkehrs brauchte er vierzig Minuten bis zur Firma. Auf dem Parkplatz standen nur noch wenige Wagen, und im Gebäude begegnete er keinem Menschen. Engelchen und Kühnel saßen zusammen und tranken Tee; beide schienen erleichtert, als er eintrat und schmunzelte: „Ich denke, wir können ruhig unter sechs Augen reden. Oder ist hier jemand ein Borneman-Fan?“
„ Ich schon!“ knurrte Kühnel. „Ich bin Sportschütze.“
Das verschlug selbst Martha Engel die Sprache, und kopfschüttelnd goss sie einen dritten Henkelbecher voll.
Kühnel hatte den Knatsch mit Nordhansa Trafo von Anfang an miterlebt. Es ging tatsächlich um das Problem, wie sich ein Paket dünner Bleche schneiden ließ, überdies unterschiedlich dicke Pakete und Bleche verschiedener Stärke, je nachdem, welche Teile einer bestimmten Form benötigt wurden. „Die Spannungen treten rechtwinklig zur Schnittkante auf, und das Blech will sich, wie nach der magnetischen Dreifingerregel aufbäumen. So, ich habe nun eine ganz einfache mechanische Lösung ausgeknobelt – wir fahren mit zwei Schneiderädern oben und unten gleichzeitig. Die Messerräder sind gegeneinander versetzt – stellen Sie sich ein bewegliches Parallelogramm vor, die Messer in der einen Diagonale, zwei konische Andruckrollen in der anderen. Ist das Paket dick, bildet das Parallelogramm fast ein Quadrat, das auf einer Spitze steht, bei einem dünnen Paket wird es flacher, die Messer laufen dann in größerer Entfernung, die Andruckrollen rücken näher zusammen, und mit etwas Mathematik kann man leicht beweisen, dass sich die Scherkräfte in jedem Fall gegeneinander aufheben.“
„ Ist so ein System schon mal gebaut worden?“
„ Eben nicht. Der schöne Holger hat’s verhindert. Er will’s partout und unbedingt elektronisch machen, die Aufwerfung messen und danach das Oberlaufmesser und einen Unterlaufdruckschuh steuern. Aber messen Sie mal Verwerfungen von einigen tausendstel Millimetern, wohlgemerkt: im Dauerbetrieb der Schere. Und noch eins: Durch das Schneiden entsteht lokal eine beträchtliche Aufwärmung, die das Metall ausdehnt. Man muss also diese Temperatur ebenfalls messen, danach die Ausdehnungen berechnen und diesen Anteil gegen die mechanische Verformung aufrechnen.“
„ Geht das überhaupt?“
„ Sicher, rechnen kann man das. Es ist nur eine Frage der Geschwindigkeit, verstehen Sie?“ Wütend grunzte er. „Es muss einer der schnellsten und modernsten Computer sein. Was immer sich der schöne Holger ausdenkt – es ist erstens elektronisch und erfordert zweitens das modernste vom Modernen. Was meinen Sie, was wir für Probleme haben, an das Zeugs heranzukommen. Entweder haben’s die Japaner entwickelt, dann wollen die das Geschäft selber machen. Oder die Amis haben’s erfunden, dann heißt’s gleich: strategisch wichtig, darf nicht an die unzuverlässigen Deutschen geliefert werden.“
„ Ihre mechanische Lösung ist schon lange fertig?“
„ Seit Monaten. Sie könnte längst gebaut und erprobt sein.“
„ Und Holgers Elektronik Variante?“
„ Scheitert daran, dass wir ein bestimmtes Teil, ein hypersensibles Thermostrahlungselement für die Temperaturmessung, nicht bekommen.“
„ Ist das der einzige Fall, in dem Holger Sie – wie soll ich sagen? – behindert hat?“
„ Nein, nein.“ Kühnel wackelte wütend mit dem Kopf. „Ich könnt Ihnen Geschichten erzählen, die glauben Sie gar nicht.“
Vor seiner nächsten Frage wechselte er einen schnellen Blick mit Engelchen: „Herr Kühnel, ich glaube Ihnen unbesehen. Aber glauben und beweisen sind zwei verschiedene Hüte.“
„ Leider!“ stimmte Kühnel zu.
„ Gibt es Unterlagen? Beweise? Schriftverkehr?“
„ Schon. Aber was kann man damit anfangen?“
„ Mosaiken entstehen auch aus vielen kleinen Steinchen.“
Langsam hob der Techniker die Augen: „Verstehe ich Sie richtig?“
„ Mir wäre es lieber, wenn ich darauf nicht antworten müsste.“ Er gab sich Mühe, völlig ausdruckslos zu sprechen. Zwei Minuten starrte Kühnel an ihm vorbei, als müsse er die Streifen auf der Tapete zählen, dann stemmte er sich schwerfällig hoch und knurrte: „Frau Engel kann mir beim Kopieren helfen.“
„ Jederzeit!“ Sie klopfte ihm fröhlich auf den Rücken.
Sie blieb eine gute halbe Stunde weg und knallte ihm einen beachtlichen Stapel auf den Schreibtisch: „Da, Chef, Munition. Schön trockenhalten, das Pulver.“
„ Danke, Engelchen. Und morgen kommen Sie etwas später, okay?“
Christine nahm das Telefon nicht ab, und deswegen packte er zusammen. Vielleicht sollte er erst lesen, was Kühnel gesammelt hatte, bevor er einen immer noch unklaren Verdacht aussprach, den Roland Meyer ihm durch eine zufällige Bemerkung eingeflößt hatte.
An diesem Abend funktionierte die Schließanlage perfekt; er schüttelte den Kopf und vergaß es gleich wieder. Melanie kam ihm in der Diele entgegen: „Ich fahr zu Dala. Schlaf gut!“
„ Viel Spaß“, erwiderte er anzüglich und amüsierte sich über ihren scharfen Blick. „Hast du daran gedacht, etwas zum Essen zu besorgen? Ich hab Hunger.“
„ Dann geh doch essen!“ riet sie kurz.
„ Werde ich ja wohl auch müssen, nicht wahr?“
Sein Ton verblüffte sie, ihre Lippen wurden schmal: „Passt dir was nicht?“
„ Oh, wie werde ich! In diesem perfekten Haushalt?“
Ein paar Sekunden funkelte sie ihn giftig an, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und schmetterte die Haustür hinter sich ins Schloss. Gut, dass sie weg war, ohne sie atmete er leichter.
Leise pfeifend sortierte er die Kopien in seinen Ordner ein, den er im Stahlfach verschloss. Lesen würde er später, jetzt hatte er Hunger, ordinären Hunger. Das Frühstück war knapp ausgefallen, und zur Mittagszeit hatte Meyer gerade Hochdeutsch gesprochen und das Wort „Essen“ peinlich vermieden. Melanie lebte von Müsli und Joghurt, von beidem gab’s reichliche Vorräte, aber schon der Gedanke daran schüttelte ihn, zauberte vielmehr das Bild eines ordentlichen Steaks mit einer großen heißen Kartoffel in Alufolie und viel, viel Kräuterbutter vor seine Augen. Kräuter – jawohl, und vorher eine Riesenschüssel mit mehreren Sorten Salat, Kräutern, etwas Schinken und Käse, darüber eine Creme mit gerade so viel Knoblauch, dass er hinterher Christine besser nicht mehr besuchte. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen.
Er setzte aus der Garage, bediente die Fernsteuerung und siehe da, das Tor kippte anstandslos herunter. Es geschahen eben doch immer wieder Zeichen und Wunder, aber der Techniker in ihm registrierte automatisch, dass es kühler geworden war. So ein Blödsinn auch, Empfänger und Schaltautomatik direkt unter dem Dach zu befestigen.
Entspannt fuhr er ins Flusstal Richtung Menden, bog hinter der Brücke nach rechts ab und staunte, wie viele Wagen vor dem etwas zurückliegenden Restaurant noch parkten. Die Buchten waren alle besetzt, er musste sogar wenden und dann in eine Nebenstraße steuern, bevor er das Auto abstellen konnte. Die zweihundert Meter Fußmarsch konnten ihm nur guttun.
Für das Auto einen Platz zu finden, war schon schwierig gewesen, aber nicht zu vergleichen mit der Mühe, einen leeren Stuhl zu ergattern. Offenbar feierte eine geschlossene Gesellschaft; der große Saal war versperrt, und mit viel Glück – das Paar zahlte gerade, konnte er sich an einem Katzentisch niederlassen. Hinter dem wuchtigen Eichenbalken war er regelrecht versteckt, und so dauerte es eine gute Weile, bis er eine Bedienung auf sich aufmerksam machen konnte. Das junge Mädchen war sichtlich nervös, schaute ihn gar nicht richtig an und murmelte etwas von einer „geschlossenen Gesellschaft“, bevor es davonhastete. Alle Kellner sausten, nur das Essen und die Getränke ließen auf sich warten. Er schlürfte seinen Rotwein und entspannte sich. Was die junge Aushilfe dann auf seinem Tisch ablud, entsprach seinen Vorstellungen so sehr, dass er sich gemütlich den Bauch vollschlug, sogar einen zweiten Wein bestellte, hinterher ein Dessert wählte, zum Kaffee einen Cognac trank und mit dem nicht unangenehmen Gefühl, genudelt zu sein, nach zwei Stunden das Restaurant verließ. Die Aushilfe hatte ihm nur im Vorbeilaufen die Rechnung auf den Tisch flattern lassen, zum Kassieren erschien niemand mehr, und deswegen hatte er den Betrag großzügig auf einen Hunderter aufgerundet, den er unter seine Tasse schob. Das Restaurant schien eher noch voller geworden zu sein.
Draußen war es erfrischend kühl, was seinem Kopf auch guttat, und fast wäre er an seinem Auto vorbeigeschlendert. Einen Moment stutzte er, aber dann fiel ihm schuldbewusst der Dreiviertelliter Rotwein ein. Aus der Lücke musste er jetzt regelrecht heraus rangieren.
Früher waren Melanie und er öfter ausgegangen, aber nach einem solchen Schlemmertrip hörte er sie morgens schreien, und als er ehrlich beunruhigt ins Bad stürzte, deutete sie mit zitternden Lippen auf die Waage: „Ein Kilo mehr, Uwe. Ich werde fett.“ Davon konnte nun keine Rede sein; dummerweise lachte er über ihr entsetztes Gesicht, und das war ein Fehler. Melanie ging auf den Müsli Trip, was er monatelang kommentarlos beobachtete, weil er zu den glücklichen Menschen gehörte, die sich schon regelrecht mästen mussten, um zuzunehmen. Dagegen jammerte sie immer, schon der begehrliche Blick auf eine Sahnetorte machte sie ein halbes Kilo dicker.
Dann kam es zu einem peinlichen Zwischenfall, auf einer Party bei Freunden. Melanie hatte, um sich gegen die Verführungen des Büfetts zu wappnen, vorher ein winziges Schälchen gesunder Körner gegessen, aber kräftig getrunken; sie wurde laut und zänkisch, und er musste sie nach Hause bringen. Am nächsten Morgen fauchte er sie an, sie solle mehr essen und weniger trinken, wenn sie schon Angst um ihr Gewicht habe, und diesen Rat nahm sie ihm ausgesprochen übel, so übel, dass sie seit der Zeit nie wieder für ihn kochte. Allerdings hatte er sie seitdem auch nicht mehr angetrunken erlebt.
Nun ja. Er bremste vor dem geschlossenen Garagentor und hielt die Fernsteuerung aus dem Auto.
Von wegen: hilfreiche Kühle! Entsetzlich langsam kippte das Tor bis zur halben Höhe, schaukelte dort hin und her und kam zur Ruhe. Fluchend schnallte er sich ab, stieg aus und ging hinüber, bückte sich unter die Kante und stemmte, stemmte, dass seine Muskeln protestierten und sein Nacken feucht wurde. „Verfluchte Inzucht!“ presste er durch die zusammengebissenen Zähne. Das war eine neue Variante. Endlich knirschte es über ihm verdächtig, und dann schoss das Tor hoch und knallte mit einem irrsinnigen Krach gegen die hintere Befestigung. Wütend drehte er sich um – und stockte. Der rechte Scheinwerfer brannte seltsam trübe, und als er näher heranging und sich bückte, fiel ihm zum ersten Mal der Sprung in dem Glas auf. Das orangefarbene Glas vor dem Blinker fehlte ganz, das Birnchen war zertrümmert, und als er über das Blech strich, spürte er unter den Fingerspitzen Dellen und Beulen, raue Stellen auf der ganzen Höhe des Kotflügels. Beunruhigt richtete er sich auf. Wann war das passiert? In der Tiefgarage am Flughafen? Oder auf dem Firmenparkplatz – nein, dort kannte man seinen Wagen. Merkwürdig. Wahrscheinlich war das eben, vor dem Mendener Fährhaus , geschehen, so ein flotter Fahrer, zu elegant eingeparkt, rumms, rumms den anderen mal eben heftig angetippt, und dann nichts wie weg.
Schlecht gelaunt stieg er ein und ließ den Motor drehen. Was danach passierte, lief so schnell ab, dass er hinterher Mühe hatte, die Einzelheiten zu rekonstruieren. Die Vorderräder hoppelten schon über die Schwelle, als sich ein bedrohlich schwarzer Schatten blitzschnell herabsenkte. Instinktiv warf er sich nach rechts auf den Nebensitz, und bei dieser Bewegung musste er unwillkürlich das Gaspedal heruntergedrückt haben. Denn das Kreischen von reißendem Metall und das Aufheulen des Motors erklangen im selben Augenblick, ein fürchterlicher Ruck erschütterte das Auto, es schoss vorwärts, über ihm knallte es wie bei einer Explosion, und keine Zehntelsekunde später krachte der Wagen mit solcher Wucht gegen die Hinterwand der Garage, sodass es ihn nach vorn schleuderte. Der Schalthebel für das Automatikgetriebe schien ihm die linke Niere zu zerquetschen, mit dem Kopf donnerte er gegen die Unterkante des Handschuhfachs, und in seinen Schmerzensschrei mischte sich das widerliche Stöhnen von gewaltsam verbogenem Stahl. Dann herrschte dunkle Stille.
Wie lange er regelrecht gelähmt und vor Schmerzen verkrümmt halb auf den Sitzen gelegen hatte, wusste er nicht; als er endlich versuchte sich aufzurichten, stieß er mit dem Hinterkopf gegen eine scharfe Kante. Die Windschutzscheibe war undurchsichtig. Automatisch tastete er nach dem Zündschlüssel und zog ihn ab. Erst danach wurde ihm klar, was geschehen war. Das verfluchte Garagentor musste in dem Moment mit größter Geschwindigkeit heruntergefahren sein, als er mit den Vorderrädern die Schwelle passierte; die Unterkante des Tores hatte den oberen Rahmen der Windschutzscheibe getroffen, und weil er unfreiwillig Gas gab, siegte der Wagen über das Hindernis, riss das Tor gewaltsam zurück, der Widerstand erlahmte, und das Auto sprang vorwärts. Bis zur Wand! Na, die Kerle konnten morgen was erleben, diese … dann erstarrte er, weil das regelmäßige Tropfgeräusch in sein Bewusstsein drang, und die hochschießende Panik vor brennendem Benzin brachte ihn dazu, sich wie ein Aal aus dem Schrotthaufen zu winden.
Die Wand hatte standgehalten. Er schnupperte, erkannte hinter der Wärme den vertrauten Geruch von Öl und spähte vorsichtig in das Gewirr von Metall und Mörtelbrocken. Das Licht wagte er nicht anzuknipsen, aber von der Straßenlaterne kam ein schwacher Schimmer herein. Der Kühler war hin, offenbar hatte es auch eine Leitung zur Ölwanne abgerissen, die ganze Schweinerei überschwemmte schon den Betonfußboden. Von seinem Auto war oberhalb der Gürtellinie nicht viel übriggeblieben; vom Mechanismus des Garagentors fehlte zwar nichts, aber dafür gab es keinen rechten Winkel mehr. Zum Teil hatte es die Schienen aus der Wand und der Decke gerissen. Zaghaft rüttelte er an dem jetzt schräg verkeilten Tor, doch es saß bombenfest. Hilflos zuckte er die Schultern und bereute es sofort, die linke Seite protestierte mit einer Schmerzwelle gegen jede ungeschickte Bewegung.
Fast dreiundzwanzig Uhr, heute konnte er nichts mehr tun. Das austropfende Öl würde sich hoffentlich im Abscheider sammeln.
Leise fluchend und zwischendurch laut stöhnend humpelte er zur Haustür, musste sogar nach der ersten Schlüsselumdrehung die Zähne zusammenbeißen und den Schmerz abebben lassen, die Warnanlage piepste durchdringend, er war auch ein Vollidiot, die linke Hand zu benutzen.
Mit heißem Wasser für die linke Seite und kaltem Wasser für seinen Kopf schwächte er die Schmerzen ab. Ein prachtvoller Abschluss eines beschissenen Tages! Die Wut schnürte ihm die Kehle zu. Bis Mitternacht kippte er drei starke Whiskys, das doppelte, seiner üblichen Abendration, und der Alkohol half ihm, trotz der immer noch brennenden Seite einzuschlafen.