Читать книгу Leonardo und der Flugdrachen: Da Vincis Fälle 7 - Alfred Bekker - Страница 8

Wer steckt dahinter?

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Leonardo bemerkte zunächst kaum, dass Cristian, der Armbrustschütze, ihm gefolgt war. Darum zuckte er ziemlich zusammen, als er ihn bemerkte.

„So freundlich, uns ein verräterisches Dokument zu hinterlassen, waren diese Kerle leider nicht“, spottete Cristian. „Ein paar Pferdeäpfel liegen dort, wo sie ihre Gäule angebunden hatten – aber sonst haben sie nichts Wichtiges hinterlassen.“

Leonardo kratzte sich am Kinn. Eine Fackel, die in der Erde steckte und immer noch brannte, interessierte ihn. Er zog den Stiel aus dem Boden. Das Pech war schon fast ganz verbrannt. „Sie haben ziemlich lange hier gewartet“, meinte Leonardo. „Oder sie mussten am Pech für die Fackel sparen.“

„Billig ist Pech ja nun auch wirklich nicht“, entgegnete Cristian. „Ach, Junge, es ist immer dasselbe. Wenn es gewöhnliche Diebe gewesen wären, hätten sie kaum Hakenbüchsen zur Verfügung gehabt. Nein, das waren Attentäter! Mörder, die unseren Herrn umbringen wollten.“

„Wer kommt denn für eine derartige Tat in Frage?“, fragte Leonardo. „Und vor allem: Wem würde es nützen, wenn Piero de‘ Medici eine Kugel in den Kopf bekäme?“

Cristian lachte rau. „Ich denke, das weiß unser Herr Piero selbst am besten, wer dafür in Frage käme!“

„So?“

„Wahrscheinlich die Familien, deren Vertreter ihn im Senat am freundlichsten zulächeln und seinen Vorschlägen stets zustimmen.“ Er zuckte die Schultern und schnallte sich die Armbrust auf den Rücken. „Ist doch meistens so! Wenn jemand regiert, dann ist er umgeben von falschen Freunden, die es in Wahrheit nicht abwarten können, dass derjenige, der ganz oben ist, fällt.“

„Auf jeden Fall waren diese Männer nicht sehr geübt im Umgang mit den Hakenbüchsen“, meinte Leonardo.

Cristian runzelte die Stirn.

„Woher willst du das denn wissen? Bist du ein Hellseher?“

„Nein, aber das ist doch ganz klar! Wenn sie sich wirklich ausgekannt hätten, dann wären sie auf der anderen Seite der Straße in Deckung gegangen und hätten sich dort auf die Lauer gelegt.“

Cristian verstand nicht, wie Leonardo auf diesen Gedanken kommen konnte. „Was ist gegen diesen Platz denn zu sagen? Sie konnten sich hier doch gut verstecken.“

„Aber der Wind hätte den ankommenden Reitern doch den Geruch der brennenden Lunten entgegen getragen. Wenn sie erfahrene Schützen gewesen wären, dann hätten sie daran gedacht.“

Cristian nickte. „Ja, mag sein, dass du recht hast. Ich persönlich traue diesen neuen Feuerwaffen nicht. Die sind mir zu umständlich und ehe man sich versieht, explodieren sie einem in der Hand.“

„Nur wenn man zu viel Pulver nimmt!“, belehrte ihn Leonardo.

„Wie alt bist du?“

„Dreizehn.“

„Ich wüsste keine Armee, die solche Knirpse aufnehmen würde. Woher weißt du das alles?“

„Ach, nicht so wichtig“, meinte Leonardo. Er hatte keine Lust, diesem Söldner von all den Experimenten zu erzählen, die er in den letzten Jahren durchgeführt hatte. Die Natur hatte ihn immer schon interessiert, aber auch die Konstruktion von Maschinen und wie man die Kräfte der Natur als Treibstoff von Maschinen verwenden konnte. Welche Stoffe verbrannten, welche explodierten und welchen konnte das Feuer gar nichts anhaben und warum war das so? Das waren Fragen, die für ihn genauso interessant waren wie der Mageninhalt einer toten Maus oder die Art und Weise, wie Wespen aus abgeschabten Holzkrümeln einen papierähnlichen Stoff machten, aus dem sie ihre Nester bauten. Einmal hatte er bei einem dieser Experiment um ein Haar das Haus seines Großvater angezündet, woraufhin ihm dieser strengstens verboten hatte, noch irgendetwas mit Feuer anzustellen. Natürlich hatte er sich nicht daran gehalten. Er war nur vorsichtiger geworden.

Einmal hatten Soldaten in der Nähe von Vinci kampiert. Natürlich hatte sich Leonardo die Gelegenheit nicht entgehen lassen zu beobachten, wie sie mit ihren Hakenbüchsen umgingen und was dabei zu beachten war.

Aber er hatte schon die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die ihn nicht so gut kannten, oft sehr befremdet reagierten, er ihnen von seinen Studien erzählte. Manche waren einfach nur angeekelt, wenn er über die Gedärme und Knochen toter Tiere sprach, die er zerlegt hatte. Wenn es um Feuer ging, hielten das alle für zu gefährlich und fingen an, ihn zu warnen. Sobald er jedoch von seinen selbst erfundenen Maschinen sprach, hielten die meisten ihn schlicht für verrückt. Dutzende von Maschinen hatte er sich in seiner Fantasie ausgedacht und dazu Bleistiftzeichnungen angefertigt. Flugmaschinen, Kriegsmaschinen, Maschinen, die im Wasser schwimmen und tauchen konnten, und so weiter. Sogar eine ganze Stadt hatte er konstruiert, nachdem er zusammen mit seinem Vater zur stinkenden Sommerzeit einen Besuch in Florenz gemacht und sich darüber geärgert hatte, dass man in den Straßen überall aufpassen musste, nicht in irgendwelchen Dreck zu treten. Eine Stadt mit Abwasserkanälen und einem System aus Rohren, mit denen Post in jedes Haus verschickt werden konnte, hatte er sich daraufhin ausgedacht und davon Zeichnungen auf nicht weniger als zwanzig Papierbögen angefertigt, die man nebeneinander legen musste, um ein vollständiges Bild des neuen Florenz zu bekommen.

Sein Großvater hatte ihn immerhin meistens gewähren lassen. Zumindest dann, wenn mit dem, was er tat, nicht irgendeine Gefahr verbunden war. Aber Leonardo hatte auch feststellen müssen, dass er bei vielen anderen als verrückter Sonderling galt und es manchmal besser war, gar nicht so viel über all die Ideen und Gedanken zu reden, die ihm so im Kopf herumspukten.

Inzwischen kam Piero de‘ Medici mit seinem Restgefolge die Straße entlanggeritten. Clarissa war auch dabei. Sie ritt auf einem freien Pferd – vermutlich war es das des Armbrustschützen Cristian.

Piero de‘ Medici wies einige seiner Leute an, die Banditen zu verfolgen. „Vielleicht findet ihr ja noch irgendwelche Spuren von ihnen“, meinte der Stadtherr, der wohl auch nicht daran glaubte, dass es seinen Söldnern noch gelingen konnte, die Unbekannten einzuholen.

Die Männer preschten los. Es war ungefähr die Hälfte von Pieros Gefolge.

„Herr, ich glaube, es wäre ebenso vielversprechend, einfach alle Hakenbüchsen-Schützen in Florenz und Umgebung festzunehmen und zu verhören“, meinte Cristian.

„Sucht nach jemandem, der sich erst vor kurzem solche Feuerwaffen besorgt hat“, mischte sich nun Leonardo ein. „Ich glaube nicht, dass es sich lohnt, unter den Waffenknechten und Söldnern der Stadtwache oder der ehrenwerten Familien zu suchen.“

Piero runzelte die Stirn und stieg von seinem Pferd.

„Wieso nicht? Diese Männer hatten Hakenbüchsen ...“

„ ...über die sie nicht Bescheid wussten“, vollendete Leonardo den Satz. „Sonst hätten sie sich so postiert, dass man die Lunten nicht riecht, das habe ich Cristian schon erklärt. Aber ich glaube, sie waren überhaupt nicht an das Kriegshandwerk gewöhnt oder darin geübt!“

„Und wie kommst du auf diesen Gedanken?“

„Weil sie dann Armbrust oder Langbogen benutzt hätten! Damit kann man viel genauer treffen als mit den Feuerwaffen. Aber man braucht sehr lange, um gut genug mit diesen Waffen umgehen zu können.“

„Und eine Feuerwaffe kann jeder bedienen, das stimmt“, gab Piero zu.

„Das könnte sogar ich, nachdem ich vor einiger Zeit in einem Heerlager in der Nähe unseres Dorfes die Schützen dabei beobachtet habe, wie sie mit den Waffen umgingen. Also wenn sie richtige Söldner gewesen wären, hätten sie andere Waffen benutzt. Und selbst diese leicht zu bedienenden Waffen haben sie sicherlich erst vor kurzem zum ersten Mal in den Händen gehabt.“

„Dann müsste man wohl nach jemandem suchen, der in letzter Zeit ein paar Hakenbüchsen gekauft hat“, schloss Piero.

Leonardo nickte. „Es müsste doch für jemanden wie Euch möglich sein zu erfahren, wer dafür in Frage kommt.“

„Wir werden sehen ...“

„Man sollte außerdem danach fragen, ob irgendwem aufgefallen ist, dass eine Gruppe von Männern mit diesen Hakenbüchsen das Schießen geübt hat. Denn ein bisschen müssen sie den Umgang mit den Waffen geübt haben, und auch wenn es vielleicht nur einen halben Tag braucht, bis man es schafft eine Feuerwaffe zu bedienen – so wird das nicht geräuschlos abgelaufen sein!“

„Ein guter Bogenschütze braucht Jahre, bis er wirklich mit seiner Waffe umzugehen weiß“, meinte Piero. „Bei einem Büchsenschützen geht das wesentlich schneller, da hast du recht.“

„Das dürfte wohl auch der Hauptgrund dafür sein, weswegen die Feuerwaffen sich wie die Pest überall verbreiten“, glaubte Leonardo.

Cristian konnte ihm da nur zustimmen. „Die Künste der Ritter und Waffenknechte sind bald überhaupt nichts mehr wert, wenn erst jeder dumme Bauer mit einer solchen Büchse umherläuft und um sich schießt“, meinte er. Aber seine Worte waren nicht an Leonardo oder gar seinen Herren Piero de‘ Medici selbst gerichtet. Er sprach vielmehr mit Niccolo, der wohl der Hauptmann unter den Söldnern des Stadtherrn war.

Piero de‘ Medici musterte Leonardo eine Weile nachdenklich. Dann lächelte er verhalten. „Du scheinst den Scharfsinn deines Vaters geerbt zu haben“, meinte er. „Ich schätze seine Arbeit sehr, wie du vielleicht weißt – und das sage ich nicht, weil dein Vater und ich zufällig denselben Namen – Piero – tragen!“

Leonardo verneigte sich etwas. „Mein Vater weiß die Ehre sehr wohl zu schätzen, die es bedeutet, als Notar des Hauses Medici arbeiten zu dürfen“, erklärte er.

Piero de‘ Medici wandte sich seinem Pferd zu und tätschelte ihm den Hals, bevor er wieder aufstieg. „Sollen meine Männer euch zurück nach Florenz bringen?“, fragte er.

„Nein, das ist nicht nötig. Clarissa und ich sind ja eigentlich hier, um Vögel und Eidechsen zu beobachten“, erwiderte Leonardo.

„Ah, ein Naturfreund bist du also“, stellte der Stadtherr fest. „Da du mir wohl das Leben gerettet hast, bin ich dir etwas schuldig – und deshalb kannst du ruhig frei heraus sagen, wenn ich dir irgendwie einen Gefallen erweisen kann.“

„Das könnt Ihr durchaus“, meinte Leonardo.

„Nur heraus damit! Wenn es nicht gar zu unverschämt ist, will ich dir deinen Wunsch gerne erfüllen.“

„Es wäre wunderbar, wenn Ihr mir gestattet würdet, in den Bibliotheksgewölben herumzustöbern, die der alte Cosimo angelegt hat“, sagte Leonardo. „Es ist schon einige Zeit her, dass Euer Vorgänger Cosimo mir gestattete, in die Schriften zu sehen, die er sein Leben lang gesammelt hat.“

Pieros Augenbrauen zogen sich zusammen. Bin ich vielleicht doch etwas zu unverschämt gewesen?, ging es Leonardo durch den Kopf. Aber warum sollte Piero es ihm nicht gestatten, wo es doch selbst Cosimo der Alte getan hatte. Leonardo erinnerte sich noch gut daran, wie er den alten Cosimo zusammen mit seinem Vater besucht und zum ersten Mal diese einzigartige Bibliothek betreten hatte. Noch nie zuvor hatte Leonardo so viele Bücher und Schriften an einem Ort gesehen. Und was für Schriften das waren! Sie kamen aus aller Herren Länder. Cosimo der Alte hatte als junger Mann damit begonnen, sie auf seinen Handelsreisen als Wollhändler zu sammeln. Und später, nachdem er der reichste und mächtigste Mann von Florenz und ganz bestimmt auch einer der reichsten Männer ganz Italiens geworden war, hatte er seine Boten in alle Himmelsrichtungen geschickt, um nach alten Dokumenten und Büchern zu suchen. Bücher vor allem, die aus einer Zeit stammten, als das Christentum noch nicht die vorherrschende Religion in Europa gewesen war – und solche, die aus so fernen Ländern bis nach Florenz gelangt waren, dass sich niemand wirklich vorzustellen vermochte, wie man dort lebte oder wie weit der Weg bis dorthin war.

„Ist das wirklich dein Wunsch?“, wunderte sich Piero.

„Oh, ja“, nickte Leonardo. „Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als ein paar Tage in den Gewölben des Medici-Palastes eingesperrt zu sein und Zeit genug dafür zu haben, wenigstens einen Teil dieser geheimnisvollen Schriften anzusehen, die noch so viele ungelöste Geheimnisse enthalten!“

„Dann komm vorbei, wann immer du möchtest, Leonardo. Du wirst immer willkommen sein und dir ansehen können, was du möchtest.“

„Ich danke Euch, Herr Piero!“

„Ich danke dir, Leonardo!“

Der Stadtherr und sein Gefolge ritten davon, nachdem Clarissa von Cristians Pferd heruntergestiegen war.

Bevor sie aufbrachen, fragte Piero noch einmal nach, ob sie nicht doch mit in die Stadt genommen werden wollten, aber Leonardo verneinte auch diesmal. „Die Banditen sind ja nicht mehr in der Nähe und außerdem sind ihnen ja Eure Männer auf den Fersen.“

„Nur nicht allzu dicht, wie ich befürchte“, meinte Piero.

Clarissa und Leonardo sahen den Reitern nach und beobachteten, wie sie hinter der nächsten Biegung der Straße verschwanden. Sie ritten zur Brücke zurück, an der Leonardo ihnen entgegengeeilt war und sie abgepasst hatte.

„Sag mal, du hättest allerdings etwas an mich denken können, als du das freundliche Angebot, uns zur Stadt zurückzubringen, abgelehnt hast“, maulte Clarissa und fügte dann noch hinzu: „Wohlgemerkt: Für uns beide abgelehnt – nicht nur für dich!“

Leonardo war sich keiner Schuld bewusst. „Wir wollten doch noch eine Weile hier bleiben und nach Vögeln und Eidechsen Ausschau halten“, erwiderte er etwas irritiert.

„Du wolltest das!“

„Und du bist mitgekommen!“

„Ja, aber trotzdem! Wir waren doch schließlich schon eine ganze Weile hier draußen. Und wenn man dann schon die Gelegenheit hat, dass man auf einem Pferd reiten kann, anstatt sich die Schuhe durchzulaufen, um nach Hause zu kommen, sollte man das doch annehmen. Aber nein, da kommst du daher und schickst die Reiter einfach fort!“

Doch Leonardo hörte ihr schon gar nicht mehr zu. Clarissa bemerkte den starren Ausdruck im Gesicht des Jungen. Er sah auf einen Punkt hoch über ihnen, mitten im Himmel.

Ein Falke glitt dort dahin, beinahe ohne sich zu bewegen. „Eigenartig“, murmelte Leonardo vor sich hin. „Er strengt sich gar nicht an und fliegt doch, obwohl er kaum die Flügel rührt!“

„So ist das nun mal“, meinte Clarissa und seufzte. „Gott hat den Vögeln bestimmt zu fliegen, und darum schweben sie in der Luft, während wir Menschen auf der Erde bleiben müssen.“

„Aber es ist doch dieselbe Luft, die uns alle umgibt“, meinte Leonardo. „Und es sind dieselben Winde, die die Vögel in dem Himmel tragen und uns mit beiden Füßen auf der Erde halten.“

„Es ist nun mal so, Leonardo. Damit sollte man sich abfinden!“

„Aber das kann ich nicht“, sagte Leonardo. „Das kann ich einfach nicht! Ich muss wissen, warum das so ist.“

Clarissa strich sich das Haar aus dem Gesicht. In der Zeit, in der sie nun schon im Haus von Leonardos Vater wohnte, hatte sie Leonardo und seine zum Teil recht eigenartigen Angewohnheiten ja schon etwas kennengelernt. Wenn ihn eine Frage beschäftigte, dann konnte er sich auf eine Weise in die Sache hineinsteigern, die Clarissa manchmal einfach nicht nachvollziehen konnte.

Warum sollte es denn so wichtig sein zu wissen, weshalb Vögel fliegen konnten und Menschen nicht? War das wirklich so wichtig? Am besten man akzeptierte die Welt, wie sie war und wie Gott sie geschaffen hatte. Zu verstehen, warum etwas geschah, konnte zwar ganz interessant sein und Leonardo hatte sie ein ums andere Mal mit den Ideen, die er dazu hatte, in seinen Bann geschlagen. Aber Clarissa fand, dass er es manchmal doch ganz gehörig damit übertrieb.

„Ich will eine Flugmaschine bauen“, verkündete Leonardo. „Eine Maschine, mit der man genauso gut fliegen kann, wie es ein Vogel vermag. Der Mensch hat schließlich auch Schiffe gebaut, mit denen man über das Meer schwimmen kann, obwohl das eigentlich auch nicht möglich wäre! Warum sollten die Menschen nicht auch eines Tages die Lüfte erobern?“

„Ja, und vielleicht auch noch den Mond!“, spottete Clarissa.

„Wieso denn nicht?“, erwiderte Leonardo. „Wenn eine Flugmaschine gut genug ist, dann kann man damit auch bis zum Mond fliegen. Es gibt keinen Grund, weshalb das nicht möglich sein sollte!“

Der Vogel flog einen Bogen, dann stürzte er plötzlich vom Himmel. Er schien ein Beutetier entdeckt zu haben und schnellte nun mit unheimlicher Geschwindigkeit in die Tiefe. Hinter den Kronen einiger Bäume verschwand er. Was er gefangen hatte, konnten Leonardo und Clarissa nicht sehen.

„Hast du es gesehen, Clarissa?“, fragte Leonardo.

„Keine Ahnung, was du meinst“, sagte sie.

„Er ist vom Himmel gefallen – und zwar in dem Moment, als er es wollte.“

„Ein Falke würde verhungern, wenn er das nicht könnte“, gab Clarissa zu bedenken.

„Ich habe das schon so oft beobachtet und trotzdem habe ich immer noch nicht richtig herausgefunden, wie er es hinkriegt, dass er eine ganz Weile in der Luft schwebt, ohne sich zu bewegen, und dann plötzlich wie ein Stein in die Tiefe stürzt. Es muss irgendetwas damit zu tun haben, wie er die Flügel hält.“

„Wie kommst du darauf?“

„Ja, begreifst du das denn nicht?“

„Nein.“

„Das ist wie mit dem Bratenwender bei uns zu Hause.“

Jetzt schien Clarissa überhaupt nichts mehr zu verstehen. „Was hat denn ein Bratenwender mit einem Falken zu tun?“

„Das kann ich dir jetzt nicht erklären“, behauptete Leonardo.

„Wieso nicht? Warst du es nicht, der mir immer gesagt hat, dass es für alles eine Erklärung geben müsse?“

„Ja, kann sein.“

„Und jetzt gilt das plötzlich nicht mehr? Oder hast du selbst erkannt, dass du vermutlich Unsinn geredet hast?“

Leonardo machte mit der linken Hand eine wegwerfende Bewegung. In der rechten hielt er noch immer die ausgebrannte Fackel, die er sich noch einmal eingehend angeschaut hatte. Aber er hatte nichts Ungewöhnliches mehr daran entdecken können. Also legte er sie nun auf den Boden.

„Natürlich gibt es für alles eine Erklärung“, meinte er. „Aber nicht jetzt!“

„Und wann dann?“

„Wenn wir zurück sind und ich es dir an dem Bratenwender zeigen kann.“

Leonardo und der Flugdrachen: Da Vincis Fälle 7

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