Читать книгу Die geheimnisvolle Marie: Die Seherin von Paris 1 - Alfred Bekker - Страница 7
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Überwiegend war Paris dem Elend anheimgefallen. Nichts wies darauf hin, dass sich diese Stadt je zu einer echten, schillernden Metropole entwickeln würde. Doch das unsägliche Elend war nur die eine, die traurig-dominante Seite dieser Stadt, die im Dreck versank und teilweise in den eigenen Exkrementen. Es gab auch wenige schönere Seiten. Häuser außerhalb des größten Elends. Nicht nur diejenigen der etwas betuchteren Bürgerlichen mit ihren eigenen kleinen Hausarmeen, mit denen sie sich nicht nur selbst vor Übergriffen durch die allzu Armen schützten, sondern auch ihre Geschäfte, die nicht unbedingt der menschenfreundlichen Art waren.
Und dann gab es auch noch jene Gaukler und sogenannten Künstler, die nicht zum erlauchten Kreis derer gehören durften, die am Hofe für die Unterhaltung der Adelsgemeinde sorgten und von daher gesehen im wahrsten Sinne des Wortes kleinere Brötchen backen mussten. Neben weiteren Leuten, die einerseits zwar nicht zu den Betuchteren gehörten, andererseits jedoch auch nicht ganz dem Elend verfallen waren. Eine Art Grauzone dieser Minderheit, mochte man sagen. Man kannte sich untereinander, hielt aus verständlichen Gründen zusammen und genoss von daher gesehen einen gewissen gemeinschaftlichen Schutz, den man zum Überleben in dieser Stadt durchaus benötigte.
Eine davon nannte sich Madame de Marsini. Eine dunkelhaarige Schönheit von unbestimmbarem Alter, mit geheimnisvollen Augen und einem Lebenswandel, der durchaus ebenfalls mit der Umschreibung geheimnisvoll bezeichnet werden durfte.
Diejenigen, die zu jener mehr oder weniger verschworenen Minderheit gehörten und sie von daher gesehen hier in Paris zu kennen glaubten, nannten sie „die Seherin von Paris“, sie sich selbst jedoch vergleichsweise schlichter eine Wahrsagerin. In einer Zeit, in der Aberglauben das Volk bestimmte, neben dem Gottesglauben als einzige Hoffnung auf eine bessere Existenz, durchaus eine Tätigkeit, die einem beim Überleben helfen konnte. Wenn man sich dann auch noch mit Gleichgesinnten zusammengetan hatte, umso mehr.
Aber wussten die Gleichgesinnten auch, dass Madame de Marsini nicht nur eine Wahrsagerin in Paris war, sondern sich selbst an anderer Stelle beispielsweise Marie de Gruyére nannte?
Nicht nur das: Sie hatte sogar ihren zusätzlichen Wohnsitz ausgerechnet auf Schloss Versailles, wo man sie nur unter diesem Namen kannte.
Welcher war denn nun richtig und welcher war falsch? War sie die Adelige Marie de Gruyére, die unter anderem Namen hier in Paris ein verbotenes Doppelleben wie eine Bürgerliche führte, oder war sie umgekehrt eine, die in Paris als vorgeblich Bürgerliche lebte und außerdem auch noch am Hofe allen überzeugend weis zu machen verstand, eine von ihnen zu sein? Natürlich wiederum unter einem völlig anderen Namen?
Sicherlich gab es nur eine Person, die darüber hätte erschöpfend Auskunft geben können, und diese Person war eindeutig sie selbst. Niemand sonst. Weder hier in Paris, wo bei der von ihr angemieteten Wohnung einige Leute ein und aus gingen, in erster Linie anscheinend, um sich und ihren Liebsten die Zukunft wahrsagen zu lassen, noch einer der Adeligen am Hofe.
Madame de Marsini würde schweigen, selbst wenn man es wagen sollte, sie direkt darauf anzusprechen. Obwohl man dafür ja erst einmal über dieses Doppelleben hätte stolpern müssen. Wie denn, wenn man entweder aus Paris nicht heraus kam oder andererseits eben nicht aus Schloss Versailles?
So gab es in Paris eben nicht nur einen einzelnen Menschen, der zwischen beiden Welten hin und her wechseln konnte, sondern mindestens zwei. Die eine Person war dabei Robert de Malboné und die andere eindeutig Madame de Marsini, alias Marie de Gruyére. Obwohl sich beide Personen noch niemals in ihrem Leben je begegnet waren.
Bislang jedenfalls noch nicht!
Doch das sollte sich ändern, denn ihre Schicksalslonien waren anscheinend untrennbar miteinander verknüpft.
Nun, der Name Madame de Marsini passte durchaus zu einer Tätigkeit wie die einer Wahrsagerin. Das fand eigentlich jeder von denen, die sie hier kannten und schätzten. Um nicht zu sagen, liebten.
Immerhin eine Dame wie sie. An ihr war wirklich nichts Gewöhnliches. Sie konnte in jegliche Rolle schlüpfen. Niemand würde je Verdacht schöpfen. Ein Blick in ihre unergründlichen Augen, die mehr Geheimnisse versprachen als jeder andere je hätte haben können, würde sozusagen genügen. Eine Frau, die jeden für sich einnahm, der ihr begegnete. Für viele sogar so etwas wie eine überirdische Schönheit. Was auch immer man darunter verstehen mochte: Auf sie traf es auf jeden Fall zu.
Hier, in der Stadt, als Wahrsagerin, war sie natürlich bei Weitem nicht so festlich gekleidet wie während ihrer Aufenthalte als Marie de Gruyére im Schloss, mitten unter den Höflingen. Mit solcher Kleidung wäre sie dort nur unnötig aufgefallen, um nicht zu sagen: unangenehm sogar.
Für jene, die hingegen eine Wahrsagerin erwarteten, wenn sie zu ihr in diese Stadtwohnung kamen, wäre es umgekehrt befremdlich erschienen, hätte sie sich nicht eben wie eine solche gekleidet. Was für Madame de Marsini ja kein Problem bedeutete. Und wer würde eine Wahrsagerin schon fragen wollen, wieso sie zeitweise nicht erreichbar war in ihrer Wohnung und auch nirgendwo sonst in Paris? Genauso wenig wie man sie umgekehrt am Hofe fragte, wie sie die Zeit verbrachte, wenn sie nicht gerade mal wieder an den Dauerfestlichkeiten teilnahm.
Zumal sie niemanden so wirklich an sich heran ließ.
Man hatte sich zudem auch am Hofe daran gewöhnt, dass sie eine solch geheimnisvolle Frau war. Sowieso. Die einen, weil sie es für eine besondere Masche von ihr hielten, die anderen, weil sie gewissermaßen allein schon von ihrem Anblick dermaßen fasziniert waren, dass eine solche Frage ihnen überhaupt nicht in den Sinn kommen wollte.
Dabei war Marie de Gruyére nicht gerade das, was man als eine Person in dauernder Feierlaune bezeichnen konnte. Sie nahm zwar hin und wieder teil, aber ansonsten erschien sie eher unstet, war irgendwie fast überall im Schloss zuhause, tauchte mal hier und mal da auf. Nicht etwa, dass sie beschäftigt tat. Das wäre allerdings unangenehm aufgefallen, weil niemand am Hofe geschäftig tat, sofern er nicht zu den vielen fleißigen Helfern gehörte, die sich um das Wohl aller Erlauchten am Hofe kümmerten.
Madame de Marsini befand sich an jenem Tag, während ein gewisser Robert de Malboné noch unterwegs war mit der königlichen Kutsche in Richtung Versailles, in ihrer Wohnung inmitten einer kleinen Versammlung. Alles Getreue, denen sie ganz besonders vertrauen konnte, wie es schien. Obzwar sie keine Ahnung von ihrem Doppelleben hatten. Sie hätten es noch nicht einmal gewagt, sie nach so etwas zu fragen.
Sie löste schließlich die Versammlung auf und wartete erst noch ab, bis alle verschwunden waren und keiner von ihnen wieder zurückkehrte, etwa weil er noch etwas vergessen hatte. Dann hatte sie es plötzlich jedoch eilig. Denn sie beabsichtigte, wieder zurückzukehren ins Schloss. Auf dem üblichen Weg. Einem Weg, der immerhin so sicher war, dass sie bislang nicht ein einziges Mal aufgefallen war. Dafür war sie viel zu vorsichtig.
Und nicht nur das: Sie schloss trotz der gebotenen Eile jetzt erst noch fest die Augen und konzentrierte sich. So hoch konzentriert lauschte sie in sich hinein.
Sie konnte es nicht wirklich kontrollieren, aber wenn ihr tatsächlich die Gefahr der Entdeckung drohen würde, müsste sie es eigentlich vorher schon spüren können.
Falls ihre Gabe sie nicht schon wieder mal im Stich ließ, wohlgemerkt.
Denn Madame de Marsini nannte sich deshalb eine Wahrsagerin, weil sie fest davon überzeugt war, tatsächlich eine solche Begabung zu haben, eine besondere seherische Fähigkeit. Weshalb viele sie ja auch anstelle von Wahrsagerin sogar „Seherin von Paris“ nannten.
In Wahrheit war das allerdings bei ihr nicht besonders stark ausgeprägt. Weshalb sie ihre Hellsichtigkeit, Vorahnungen, Visionen oder wie auch immer man es nennen wollte, eben nicht so zuverlässig sich gab, wie sie es gern gehabt hätte.
In ihrem tiefsten Innern blieb alles ruhig. Sie wertete dies als gutes Zeichen, kleidete sich jetzt wirklich in aller Eile um, warf noch zur zusätzlichen Tarnung einen grauen, unscheinbaren und somit unauffälligen Umhang über, vergaß nicht, die Kapuze über ihr dunkel gelocktes Haar zu ziehen, damit sie halb ihr Gesicht verdeckte, und verließ die Wohnung durch den geheimen Hintereingang. xxx
“Madame de Marsini!”, rief ihr ein bettelnder Zwerg hinterher, nachdem sie das Gebäude verlassen hatte.
“Was willst du?”
“Du könntest mir die Zukunft vorhersagen!”
“Kannst du das bezahlen?”
Der Zwerg lachte. “Nein!”
“Na, also!”
“Ich könnte darauf achten, dass bei dir niemand einbricht”, schlug der Zerg vor.
Sie sah ihn an. Ihr Lächeln wirkte freundlich. Freundlich, aber geheimnisvoll und sehr hintergründig. xxx