Читать книгу Killer ohne Gnade: Ein Jesse Trevellian Thriller - Alfred Bekker, Frank Rehfeld, Karl Plepelits - Страница 6
Teil 4
ОглавлениеBig Tony Antonelli war ein gebeugter, grauhaariger Mann mit tiefliegenden dunklen Augen. Er wirkte beinahe unscheinbar in seiner blauen Strickjacke, die viel zu groß für diesen dürren alten Mann wirkte. Der dünne Oberlippenbart gab ihm etwas Aristokratisches. Zwischen den langen, dürren Fingern steckte der dicke Stummel einer Havanna.
Der Wind, der von See her blies, hatte sie längst gelöscht.
Von der Veranda seines Hauses in der Nähe von Montauk, Long Island, konnte Big Tony hinaus auf den Strand und das Meer sehen. Den unendlichen Atlantik, dessen Brandung ein unablässiges Rauschen verursachte. Das beruhigte die Nerven, fand Big Tony. Er hatte auch ein Haus in Little Italy in der Grand Street und ein weiteres in Miami, Florida. Und dann war da auch noch eines in Palermo in Sizilien. Aber dessen Besitz hatte rein sentimentale Gründe. Die alte Heimat, an die er sich noch vage erinnern konnte.
Big Tony war mit vier Jahren nach New York gekommen.
Und er sprach noch nicht einmal richtig Italienisch. Aber er hatte ein großes, weiches Herz, wenn es um diese Dinge ging. Diejenigen, die den Fehler gemacht hatten, sich mit ihm anzulegen, hatten ihn allerdings von einer ganz anderen Seite kennengelernt...
Big Tony trank seinen Espresso aus.
Auf seinen Knien lag die neueste Ausgabe der New York Times. Dann stand er auf. Die Zeitung klemmte er unter seinen Arm, während er den Blick über sein Anwesen schweifen ließ.
Ein Swimming Pool leuchtete blau in der Sonne.
Männer in dunklen Anzügen und schwarzen Brillen patrouillierten auf der Anlage herum. Walkie- Talkies beulten die Außentaschen ihrer Anzüge aus. Manchmal klappte der Wind eine Jacke zur Seite, so dass der Blick auf ein Gürtelholster inklusive Automatik-Pistole sichtbar wurde. Manche dieser Posten waren auch mit Maschinenpistolen oder Sturmgewehren ausgerüstet. Und die deutschen Schäferhunde, die sie an kurzen Leinen mit sich führten, sahen zwar im Moment ganz friedlich aus, konnten aber auf Zuruf zu reißenden Bestien werden.
Big Tony fühlte sich einigermaßen sicher.
Aber er wusste, dass man in seiner Position nicht wachsam genug sein konnte.
Schon so mancher, der sich zu sicher gefühlt hatte, war dann schneller unter die Erde gekommen, als er es in seinen schlimmsten Alpträumen für möglich gehalten hätte.
Wenn einer etwas davon wusste, dann war es Big Tony.
Er hatte so viele große Bosse kommen und gehen sehen. Kaum einer war geblieben und von diesen wiederum nur wenige für länger. Big Tony war eine Ausnahme. Er hatte überlebt, war von ganz unten sehr weit hinaufgekommen.
Er lächelte, als er die Sonne auf dem Meer glitzern sah.
Dann versuchte er, sich den Zigarrenstummel wieder anzuzünden. Er brachte es einfach nicht übers Herz, ihn wegzuwerfen. Was solche Dinge betraf, war er ein unverbesserlicher Geizhals.
Hinter sich vernahm Big Tony Schritte.
Der alte Mann drehte sich herum, innerlich noch halb in seinen Erinnerungen und Träumereien gefangen.
Ein Lächeln umspielte kurz seine dünnen, aufgesprungenen Lippen.
"Harry", stieß er hervor, als er den jungen, dunkelhaarigen Mann mit den kantigen Gesichtszügen auf sich zukommen sah.
Harrys Züge waren voller Entschlossenheit. Er war groß und breitschultrig. Unterhalb seines rechten Auges zuckte unruhig ein Muskel.
"Onkel Tony, du wolltest mich sprechen."
Big Tony nickte. Er hatte seine Frau und seine beiden Kinder bei einem Bombenattentat verloren. Und seitdem setzte er all seine Hoffnungen auf Harry, seinen Neffen. Er sollte die Familie irgendwann einmal führen. Wenn er das Zeug dazu hatte. Aber wann es soweit war, das wollte Big Tony selbst bestimmen...
Tony hob die Zeitung und deutete damit auf die zierliche Sitzecke. "Setz dich", sagte er.
"Danke, aber..."
"Carlo wird dir einen Espresso bringen."
Harry zuckte die Achseln und setzte sich. Der alte Mann trat auf ihn zu und warf die Zeitung vor seinen Neffen auf den Tisch.
Das grimmige Gesicht von John Mariano blickte einen von einem Foto aus an. In der Rechten hielt er seinen Flammenwerfer. Zwei Munitionsgürtel kreuzten sich über seiner gewaltigen Bodybuilderbrust. Er war der Bestienkiller...
"Es ist zu schade, dass dieser begabte Mensch so früh aus dem Leben gerissen wurde", sagte Big Tony im Tonfall echten Bedauerns. "Er war talentiert. Ich wusste es von Anfang an..."
Harry grinste.
"Du hast seiner Karriere ja auch ziemlich auf die Sprünge geholfen!"
Big Tony sah seinen Neffen mit einem undefinierbaren Blick an. "Dir nicht auch, Harry?", erwiderte er dann auf eine Art und Weise, die dem Jüngeren nicht gefiel.
Harry lockerte seine Krawatte.
Big Tonys letzte Bemerkung hatte einen Unterton, der Harry nicht gefiel.
"Harry, du warst in den letzten Jahren wie ein Sohn für mich", sagte er dann mit leiser, verhaltener Stimme. Und sein Blick wurde sehr ernst dabei.
"Und ich werde nie vergessen, was du für mich getan hast, Onkel Tony!"
"Das Gedächtnis ist eine flüchtige Angelegenheit, Harry. Glaub mir. Ich bin älter als du... Jeder hat seinen Preis, für den er selbst den Namen seiner Mutter vergessen würde."
Big Tonys Blick war jetzt eisig. Und obwohl er eigentlich ein kleiner, unscheinbarer Mann mit krummen Rücken war, wirkte er jetzt beinahe furchteinflößend. Ein Feuer brannte in seinen Augen. Das Feuer jenes unbändigen Willens, der ihn ganz nach oben getrieben hatte. Immer weiter und höher. Bis an einen Punkt, an dem es nur noch den Blick zurück zu geben schien. Und die Sorge darum, dass nicht alles, was er errichtet hatte, wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrach, sobald er selbst mal nicht mehr existierte.
"Weißt du, nach dem Tod meiner Frau und meiner Kinder hatte ich schon gedacht, dass meine Kraft mich verlassen hätte", sinnierte er. "Wofür das alles? Wofür die Toten und das Blut, auf dem das alles errichtet wurde, wenn es niemanden gibt, der es weiterführt..." Big Tonys Zeigefinger schnellte vor wie die Klinge eines Klappmessers. Sein Blick war hellwach.
"Das hat sich durch dich geändert, Harry. Und es täte mir sehr weh, wenn du mich hintergehen würdest!"
"Das würde ich nie tun, Onkel Tony!"
"Hör zu, ich will dir deine Sünden nicht einzeln unter die Nase reiben. Du bist jung und du hast deshalb ein Recht darauf, Fehler zu machen. Also Schwamm über die Vergangenheit. Ich weiß, dass du hinter meinem Rücken einiges getan hat, was mir nicht gefällt..."
"Hör zu, ich kann..."
Big Tony hob die Hand. Es war eine energische Geste, die keinen Widerspruch zuließ.
"Ich will keine Erklärungen, Harry."
"Ich habe nur das Interesse der Familie im Sinn!"
"Ja, ich weiß. Das verbindet uns. Und wenn es anders wäre, hätte ich dich nie in die Position gebracht, in der du heute bist."
Harry Antonelli lehnte sich etwas zurück. Seine Augen wurden schmal. Er atmete tief durch und biss sich auf die Lippe. Er verkniff sich eine Bemerkung.
"Ich will keine Alleingänge mehr, Harry! Damit das ein für allemal klar ist!"
"Aber..."
"Es ist genug Blut geflossen, Harry... Ich will nicht, dass alles in Gefahr gerät, was ich aus kleinsten Anfängen heraus aufgebaut habe!"
"Vor zehn Jahren hättest du nicht so geredet", erwiderte Harry zwischen den Zähnen hindurch. Sein Blick war finster.
Und er wunderte sich selbst über die Entschlossenheit, die aus seinen Worten herausklang.
Big Tony sah seine Neffen nachdenklich an. Ich muss auf ihn aufpassen, ging es ihm durch den Kopf. Harry hat eine Menge Temperament. So wie ich früher... Aber er darf nicht übermütig werden!
"Ich werde versuchen, ein Treffen mit den anderen Familien anzusetzen", erklärte Big Tony dann. "Und ich möchte, dass du dabei bist."
"Sitzen die Tarrascos auch am Tisch?"
"Natürlich!"
"Onkel, die haben systematisch versucht, deine Leute umzudrehen, einzuschüchtern und für sich zu gewinnen! Die haben jemanden bei den Behörden, der dafür gesorgt hat, dass unsere Nachtclubs dauernd im Hinblick auf ihre hygienischen Verhältnisse überprüft werden... Und der Brandanschlag auf das Exquisite? Hast du das schon vergessen?"
"Dafür haben sie bezahlt!"
"Dafür habe ich gesorgt!"
"Ja, und damit beinahe einen Krieg vom Zaun gebrochen. Solche Dinge regelt man anders, mein Junge!"
"So? Das glaube ich nicht. Onkel, die müssen den Respekt vor dem Namen Antonelli behalten, sonst bricht alles nach und nach in sich zusammen. Alles, was du mit soviel Mühe aufgebaut hast!" Harry war aufgesprungen. Es hielt ihn nicht mehr auf dem Stuhl. Voller Leidenschaft ballte er die Fäuste.
"Ich habe nur getan, was du hättest tun müssen. Aber du hattest nicht die Kraft dazu..."
"Das ist nicht wahr!", rief Big Tony. Seine Stimme überschlug sich. Auf einmal hatte er ein beengendes Gefühl in der Halsgegend. Wie eine Schlinge, die sich langsam zuzog.
Mein Gott, er hat recht!, ging es ihm durch den Kopf. Aber das wollte er nicht wahrhaben. Alles in dem alten Mann sträubte sich dagegen. Wo ist dein alter Elan geblieben?
Wütend funkelte er seinen Neffen an.
"Hör zu, Harry, wir brauchen die Tarrascos und die anderen Familien, wenn wir gegen die Russen und die Puertoricaner bestehen wollen!"
Harry lachte höhnisch.
"Ein fauler Frieden ist das!"
"Mag sein. Aber im Moment haben wir keine andere Wahl und ich hoffe, dass der Schaden, den die von dir eingeleiteten Aktionen angerichtet haben, sich wieder beheben lässt..."
Harry schüttelte den Kopf.
"Du solltest die Tarrascos zertreten, Onkel! Jetzt! Bevor sie dasselbe mit dir tun! Noch wären wir groß genug, um sie mit einem Schlag zu vernichten."
"Ich habe deine Meinung zur Kenntnis genommen, Harry", sagte Big Tony dann in einem Tonfall, der einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte. Seine Stimme war kaum mehr als ein zerbrechliches Wispern und doch klang darin eine furchtbare Entschlossenheit mit. "Ich entscheide hier immer noch. Und du solltest dir genau überlegen, ob du das akzeptieren kannst oder nicht!"
Harry atmete tief durch.
Der Ärger war ihm anzusehen.
Sein Kopf war dunkelrot angelaufen. Am liebsten hätte er seine Wut herausplatzen lassen. Aber Harry war bei allem Temperament klug genug, um zu wissen, wann er nachgeben musste. Und jetzt war so ein Zeitpunkt.
"Ich habe deine Autorität nie angezweifelt, Onkel", sagte er kleinlaut.
Big Tony nickte leicht. Harry wusste, dass der große Tony Antonelli im Ernstfall nicht einmal davor zurückschreckte, Mitglieder der eigenen Familie umzubringen, wenn es sein musste.
Die beiden Männer sahen sich an.
Ein stummes Duell. Ein gegenseitiges Abschätzen.
Im Moment ging es noch eindeutig zu Gunsten des alten, grau gewordenen Leitwolfs aus.
Noch.
*