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Es dauerte bis Montag, über eine Woche nach seinem Tod, bis Viktor Ehrenreich zu Grabe getragen werden konnte. Rabbiner Bunem Kletzki strich unentschlossen auf dem Friedhof herum, immer den Eindruck erweckend, er habe hier oder da noch dringend etwas zu erledigen, mit dem Gärtner zu reden, einen Schrank in der Abdankungshalle auf seinen Inhalt zu prüfen und so weiter. Sonja hatte ihn einfach ignoriert. Dennoch konnte sie ihm insgeheim dankbar sein; es waren so wenige Leute anwesend, dass ohne ihn kein Minjan zustande gekommen wäre, um den Kaddisch für den Verstorbenen zu beten.

Sonja kam Klein vor, als stehe sie unter Medikamenteneinfluss. Sie strömte eine Gelassenheit, ja beinahe Heiterkeit aus, die ihn befremdete. Anders als an dem Abend, als er sie trostlos zu Hause vorgefunden und dann wieder zurückgelassen hatte, wirkte sie nun geradezu elegant. Sie trug ein beinahe exquisites Kleid, das durch den obligaten Einriss in Kragenhöhe, den die Tradition von Trauernden forderte, noch eigenartiger wirkte, und wieder den berückenden schwarzen Scheitel, mit dem er sie in Arosa kennengelernt hatte. Natürlich war sie, dem Brauch folgend, ungeschminkt, aber sie schien zugleich den Eindruck erwecken zu wollen, dass das Leben für sie weiterginge.

Unter den nichtjüdischen Trauergästen, wohl hauptsächlich ein paar Lehrerkolleginnen und treue Zahnarztpatienten, versuchte Klein jemanden auszumachen, der wie ein Kommissar oder eine Kommissarin aussah. Von Karin Bänziger in Zürich wusste er, dass sie öfter die Beerdigung von Mordopfern besuchte, weil sie sich Aufschluss über die Tat erhoffte, aber wer konnte wissen, ob das die hiesige Polizei ebenso hielt?

Das einzige ihm bekannte Gesicht außer Sonja und Kletzki war Anschel Fink. Als Fink in die Abdankungshalle trat, gaben sie einander gemessen Handzeichen. Fink hatte angeboten, ihn von Zürich mit dem Wagen mitzunehmen, aber Klein hatte es vorgezogen, mit der Bahn zu kommen und sich unterwegs nochmals auf die Trauerrede zu konzentrieren. Viktors Tod, sein gewaltsamer, schrecklicher und früher Tod ließ ihn nicht los. Das Anhören der Gesprächsaufnahmen in den letzten Tagen, oder zumindest einiger von ihnen, hatte ihn noch zusätzlich mitgenommen. Es war irgendwie beklemmender, die Stimme eines Verstorbenen zu hören, als sein Bild zu sehen. So viele Details ließen sich aus der Stimme heraushören, Zärtlichkeit, Angst, Trauer, Freude, dass es Klein vorgekommen war, als säße Viktor tatsächlich wieder vor ihm. Er hatte selten so lange gebraucht, um eine Totenrede vorzubereiten. Darauf, Sonja nach weiteren Details von Viktors Leben zu fragen, hatte er verzichtet. Die Aufnahmen lieferten ihm so viel Information, dass Klein eher überlegen musste, was er verschweigen, als was er erzählen sollte.

Als er neben dem aufgebahrten Sarg stand, die kleine Trauergemeinde zu Füßen des kleinen Stehpults sitzend, steckte er seine Notizen ein und sprach frei.

»Wir sind hier zusammengekommen, um uns von einem außergewöhnlichen Menschen zu verabschieden, der leider auf verachtenswerte Weise ums Leben gebracht worden ist. Viktor Ehrenreich, in St. Petersburg geboren, in Berlin aufgewachsen und hier an der Grenze des Schwarzwalds ansässig geworden, war ein Mann, der immer genau wusste, was er wollte – und der das auch tat. Er wollte, wie seine Eltern es sich von ihm erhofften, ein erfolgreicher Akademiker werden und besaß am Ende seines Lebens eine gut gehende Zahnarztpraxis. Er wollte um jeden Preis seine geliebte Sonja heiraten und mit ihr leben, und er hat, von der geografischen Verschiebung von Berlin in ihre Heimatregion Süddeutschland bis hin zum gemeinsam gegangenen Weg zum Glauben alles getan, damit diese Liebe sich erfüllen konnte. Er wollte aber auch mehr tun, als nur dieses doch sehr behagliche Leben zu genießen, und so fuhr er seit einigen Jahren, durch Vermittlung seines Freundes Anschel Fink, jährlich für einige Wochen in den Kongo, um dort Menschen zahnärztlich zu behandeln, die sonst nie in den Genuss einer so teuren fachmännischen Pflege gekommen wären.

Viktor hatte sich schon vor einiger Zeit für die Mussar-Bewegung zu interessieren begonnen, die sich der ethischen inneren Aufrichtung der Menschen widmet. Alles Oberflächliche war ihm zuwider, und der Kampf um das Beste in ihm selbst entsprach ganz und gar seinem Wesen. Jedes Jahr um diese Jahreszeit, zu Beginn des Monats Elul, suchte er mich in Zürich auf, und wir führten ein sogenanntes Seelengespräch, in dem er sich mir öffnete und Einblick in seine vielseitige, sensible Seele gewährte. Das diesjährige Gespräch fand nicht mehr statt. Umsonst wartete ich heute vor einer Woche auf ihn, er antwortete nicht auf meine Anrufe – sie kamen zu spät.«

Unvermittelt stiegen Klein Tränen in die Augen. Er stammelte noch ein paar Sätze darüber, woran sich die trauernde Gattin aufrichten sollte, dass das jüdische Volk einen großartigen Fürsprecher in der jenseitigen Welt gefunden habe, und beendete die Rede ziemlich abrupt.

Er blickte in die Runde der Anwesenden. Kletzki konnte sich einer verächtlichen Grimasse nicht enthalten, während Sonja, die eine Sonnenbrille trug, ihn kurz anlächelte und dann das Gesicht senkte. Anschel Fink saß mit der Hand am Kinn versonnen nickend da. Klein sprach die Totengebete, danach folgte die Gruppe dem Sarg zum ausgehobenen Grab. Wie fast jedes Mal verursachte das Rumpeln des Sargs, der ins Grab gelassen wurde, bei Klein einen kurzen Schauer. Er half das Grab zuzuschaufeln, geradezu hektisch stieß er die Schaufel Mal für Mal in den aufgeschütteten Erdhügel und kippte sie über dem ausgehobenen Rechteck aus. Als die locker aufgeschüttete Erde bis zur Ebene des Bodens reichte, legte er das Werkzeug keuchend weg, wischte sich die Stirn ab und begann den Kaddisch zu rezitieren, den sonst für Viktor keiner gesagt hätte. Er hatte mitbekommen, dass Kletzki taktlos genug war, Sonja vor dem Herunterlassen des Sargs noch zuzuraunen, dass auf diesem Friedhof Frauen das Kaddischsagen verboten sei. Als hätte Sonja überhaupt solche Aspirationen gehabt.

Als Klein sich umdrehte, sah er, dass von Sonja jede Ruhe abgefallen war. Eine Frau stand nun bei ihr, etwa in ihrem Alter, ebenfalls mit dunkler Brille, die sie stützte und ihr mit der Hand sanft über das künstliche Haar fuhr. Die Trauergäste standen unentschlossen herum, die meisten schienen kondolieren zu wollen, obwohl das nach jüdischem Brauch nicht vorgesehen war, aber sie trauten sich nicht an die geradezu krampfhaft geschüttelte Sonja heran, die immer tiefer in den Armen der anderen Frau versank. Ein Mann, offenbar der Partner dieser Frau, stand in geringer Entfernung der beiden und blickte um sich.

Anschel Fink trat zu Klein.

»Ein schöner Hesped, wenn man das sagen darf. Ich fühle mich sehr geehrt, dass Sie mich erwähnt haben.«

»Sie haben Viktor geholfen, in seinem Judentum Sinn zu finden.«

»Die Leute im Gesundheitszentrum von Lubumbashi werden ihn vermissen. Die haben ihn geliebt.«

Er machte eine kurze, pietätvolle Pause.

»Übrigens: Wenn ich Sie schon nicht herfahren durfte, kann ich Sie wenigstens nach Zürich mit zurücknehmen?«

Klein zögerte einen Augenblick. Eigentlich war er gerne alleine unterwegs, er hatte interessante Lektüre dabei, der er sich nun, da der Druck der bevorstehenden Beerdigung nicht mehr auf ihm lastete, gerne gewidmet hätte. Aber er wollte nicht unfreundlich sein, und davon abgesehen war die Zeitersparnis tatsächlich beträchtlich. Also willigte er ein.

Hinter Fink hatte sich diskret ein korpulenter Herr in kariertem Hemd und olivgrüner Sommerwindjacke aufgestellt, offensichtlich mit dem Wunsch, Klein anzusprechen. Fink bemerkte es und trat mit einem Lächeln zur Seite.

»Ich warte beim Ausgang«, sagte er.

»Ja, dann komme ich wohl ungelegen, Herr Rabbiner«, sagte der Herr. »Wenn ich mich vorstellen darf: Kommissar Dietmar Unmüßig, Polizeidienstleiter in Lörrach. Ich ermittle in diesem traurigen Fall. Vielen Dank für Ihre gefühlvolle Rede. Sie haben Herrn Ehrenreich wohl ganz gut gekannt.«

»Wir haben uns eigentlich nur dieses eine Mal im Jahr getroffen. Aber dann zu sehr offenen und persönlichen Gesprächen.«

»Eben. Sie wussten vielleicht Dinge, die andere nicht wussten.«

»Das kann ich nicht beurteilen«, wich Klein aus.

»Es ist einfach so: Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Aber natürlich nicht hier, sondern bei uns auf der Dienststelle. Am besten wäre es natürlich gewesen, wenn Sie jetzt gerade noch ein Stündchen Zeit gehabt hätten. Aber wie ich verstanden habe, werden Sie erwartet.«

Klein schaute auf die Uhr, aber es spielte eigentlich keine Rolle. Wie immer hatte er darauf geachtet, nach der Beerdigung keine Termine mehr zu haben.

»Ich habe schon noch etwas Zeit. Ich muss nur dem anderen Herrn sagen, dass ich nicht mit ihm fahre.«

»Wenn das möglich wäre …«, meinte Unmüßig.

Klein trat noch rasch zu Sonja hin, die sich wieder etwas beruhigt und nun die Sonnenbrille abgenommen hatte.

»Danke, Herr Rabbiner, tausend Dank für Ihre Worte!«

Sie wies auf die Frau neben sich.

»Meine Freundin Anouk«, sagte sie. »Sie ist der beste Mensch der Welt. Und ihr lieber Mann, Werner. Sicher hat Ihnen Viktor auch von ihnen erzählt.«

Klein lächelte kurz zu Sonjas Freundin hinüber, nickte schwach. Die Namen Anouk und Werner sagten ihm nichts.

Anschel Fink erwartete ihn bereits in seinem Jaguar vor dem Friedhofstor.

»Schade, hätte mich gefreut, Sie mitzunehmen. Hoffentlich bald bei einer erfreulicheren Gelegenheit.«

In dem eleganten Auto, das da wegglitt, hätte Klein nicht ungern gesessen. Aber die Vorstellung, in den nächsten Tagen für eine Befragung extra noch einmal herzufahren, war auch nicht reizvoll.

Das Polizeigebäude von Lörrach war ein alter, düsterer Bau an der Hauptachse der Stadt, gleich neben dem Bahnhof. In einem geräumigen, aber ziemlich muffigen Büro im zweiten Stock erwartete sie, fast verschwindend in einem riesenhaften elektrischen Rollstuhl, Unmüßigs Assistentin.

»Anke Frowein«, empfing sie Klein. »Verstehen Sie meine Worte als Händedruck. Den krieg ich nämlich grad nicht hin.«

»Alles klar«, sagte Klein etwas verkrampft und stellte sich ebenfalls vor.

»Wir machen gleich noch die Vernehmung von Herrn Klein«, sagte Unmüßig in Richtung seiner Assistentin. »Rabbiner Klein hat die Totenrede auf Herrn Ehrenreich gehalten. Ich denke, er kannte ihn ganz gut.«

»Schön«, sagte Frau Frowein. Auf der einen Armlehne hatte sie ein Tablet liegen, auf dem ihr Zeigefinger behände hin und her strich. »Ich mache alles für das Interview bereit.«

»Was zu trinken?«, fragte Unmüßig leutselig.

»Gern ein Glas Wasser.«

Der Kommissar schenkte ihm ein und schaltete einen Wasserkocher an.

»Es darf gern auch ein Kaffee oder Tee sein. Oder etwas vegane Bouillon. Kann ich sehr empfehlen.«

Klein sah, wie Anke Frowein die Augen verdrehte.

»Alles gut«, sagte Klein.

Unmüßig wartete, bis das Wasser heiß war, goss sich Pulver aus einer kleinen Dose in einer Kaffeetasse auf, und ein aufdringlicher Geruch nach Glutamat begann den Raum zu erfüllen. Frau Frowein griff ihrerseits in eine Vorrichtung an einer ihrer Armlehnen und holte eine Trinkflasche mit Strohhalm heraus, aus der sie einen Schluck nahm.

»Alles bereit, Chef«, sagte sie. Sie sprach Datum und Uhrzeit in ihr Tablet und danach: »Befragung Rabbiner Gabriel Klein, Bekannter des Opfers Viktor Ehrenreich.«

Unmüßig setzte sich hinter seinen abgewetzten Schreibtisch und schlürfte lautstark seine dampfende Suppe.

»Was wissen Sie über Sonja Ehrenreich?«

»Über Sonja? Wenig. Ich dachte, wir reden über Viktor.«

»Herr Rabbiner Klein, was wissen Sie von Viktor über Sonja Ehrenreich?«

Klein zögerte.

»Wenig, wie gesagt.«

Unmüßig schlürfte wieder.

»Dann erzählen sie das Wenige.«

»Sie kannten sich von einem jüdischen Anlass. Damals verliebte er sich Hals über Kopf in sie, zog wegen ihr von Berlin nach Süddeutschland und studierte dort fertig. Sie ist Lehrerin. Mathe und Musik, soweit ich weiß, hier am Gymnasium. Das wäre es, glaube ich.«

»In der Tat wenig«, sagte Unmüßig.

»Sage ich ja«, meinte Klein mit Ungeduld in der Stimme.

»Wissen Sie etwas über Frau Ehrenreichs Gesundheitszustand?«

»Sie meinen … ihre Depressionen.«

»Na also. Ganz so wenig wissen Sie doch nicht über sie. Wobei ich persönlich den Begriff der Borderline-Persönlichkeit bevorzugen würde.«

Klein war befremdet von der Sicherheit, mit der der Kommissar eine Diagnose abgab. Er zog es aber vor, sich dazu nicht zu äußern.

»Sie war immer wieder krankgeschrieben, das weiß ich. Aber natürlich kenne ich keine genauen Befunde.«

»War es, Ihrem Eindruck nach, eine glückliche Ehe?«

»Wie soll ich das beurteilen?«

»So, wie Sie wahrscheinlich alles in Ihrem Leben beurteilen. Man hört dies und jenes, beobachtet dies und das, und dann hat man einen Eindruck.«

»Sehen Sie, Herr Unmüßig, es gab sicher Krisen in dieser Ehe. Ich glaube, eines der größten Probleme war, dass das Paar keine Kinder bekam. Darunter hat Sonja wohl sehr gelitten, und sie fand, dass ihr Mann nicht genug unternommen hat, um diesen Zustand zu ändern. Insofern gab es Probleme. Aber das ist ja nicht das Gesamtbild.«

»Aber Sie wissen ja doch eine ganze Menge, Herr Klein. Da kommen wir vielleicht doch ein bisschen weiter.«

»Ich verstehe immer noch nicht, was Frau Ehrenreichs Zustand mit dem Mord …«

Unmüßig hob die Hand.

»Ich bitte Sie, Herr Klein. Das Verstehenmüssen ist in diesem Fall ganz unsere Sache. Von Ihnen hätten wir einfach gerne Auskünfte, die uns das Verstehen erleichtern.«

Kleins Oberkörper spannte sich. Unmüßig hätte sich in puncto Umgangsformen etwas von Frau Bänziger abschneiden können. Aber dieses deutsche Kaff war eben nicht Zürich, dachte Klein bissig.

»Wenn wir hier schon von Sonja Ehrenreich sprechen«, meinte er, »dann fällt mir ein, dass sie selbst einen Verdacht hat, wer der Täter sein könnte. Ein Herr Moser nämlich. Der ihren Mann schon früher bedroht hat. Sie hat Ihnen das doch sicher auch gesagt.«

Wieder nahm Unmüßig schlürfend einen Schluck aus der Tasse.

»Frau Frowein, übernehmen Sie doch für einen Moment. Sonst meint man, Sie seien hier reine Dekoration.«

Anke Frowein blickte schon die ganze Zeit halb unbeteiligt, halb skeptisch vom einen zum anderen. Auf Unmüßigs Aufforderung hin übernahm sie nahtlos.

»Was Niklas Moser früher genau getan hat, ob er gedroht hat, ob er die Autofenster von Viktor Ehrenreich zerdeppert hat, wie Frau Ehrenreich behauptet, das wissen wir nicht so genau. Aber für den Mord kommt er nicht infrage.«

»Soso«, sagte Klein leise, aber mit einem provokativen Unterton, den er sich gegenüber Frau Bänziger nie herausgenommen hätte. Alles an diesem Büro hier war ihm zuwider, es roch schlecht, war geschmacklos eingerichtet, und die Polizisten führten sich auf, als sei er eingeladen, um ihnen etwas vorzutanzen.

»Wir sind natürlich Frau Ehrenreichs Verdacht nachgegangen. Herr Moser feierte an diesem Tag irgendein Familienfest am Titisee. War ja Sonntag. Und gegen 22 Uhr machte er sich auf den Heimweg. Das würde zeitlich noch hinkommen, dann wäre er kurz nach 23 Uhr in Inzlingen gewesen, und Viktor wurde irgendwann zwischen 22 Uhr und Mitternacht umgebracht. Aber Herr Moser hatte 1,9 Promille intus und fuhr schon gleich nach Hinterzarten in einen Pfosten. Auto futsch, Ausweis futsch, mindestens eine hohe Ordnungsbuße, die auf ihn wartet. Ich möchte in seiner Haut nicht stecken. Aber die Nacht hat er nachweislich in einer Ausnüchterungszelle verbracht. Dieses Alibi ist nicht zu toppen. Das weiß übrigens Frau Ehrenreich inzwischen auch.«

Dagegen gab es nichts einzuwenden, musste Klein zugeben. Dennoch hatte er Zweifel an der Professionalität, mit der hier vorgegangen wurde.

»Ich habe gehört, Sie schließen ein antisemitisches Hassverbrechen praktisch aus. Weil es nie Drohungen in der Art und keine Form von Bekennerschaft gab. Aber kann man das einfach ausschließen, wenn der einzige jüdische Bewohner eines Dorfes umgebracht wird?«

»Herr Rabbiner«, übernahm Unmüßig wieder, und der Respekt in seiner Stimme klang irgendwie schmierig. »Wir ermitteln in alle Richtungen. Aber bevor wir es dazu kommen lassen, dass die Weltpresse den Blumenacker in Inzlingen belagert, arbeiten wir mit Wahrscheinlichkeiten. In der Pressemitteilung über den Mord haben wir erklärt, dass ungeachtet der Zugehörigkeit des Toten zum Judentum ein antisemitisches Motiv kaum in Betracht kommt, sondern im privaten Umfeld ermittelt wird. Das hat mir vom Landeskriminalamt einen kräftigen Rüffel eingebracht, weil es angeblich Tatsachen vorwegnimmt, die überhaupt nicht gesichert seien. Aber genau deshalb will ich, dass wir hier in Lörrach diesen Fall bearbeiten. Denen in Freiburg oder gar in Stuttgart ist es egal, wenn unsere Stadt plötzlich in Israel und den USA als Nazi- oder Islamistennest präsentiert wird, ohne dass es dafür auch nur irgendeinen Hinweis gibt. Solcher Druck verkompliziert nur die Ermittlungen, und die sind schon schwierig genug. Aber«, sagte er unvermittelt, »zurück zu Frau Ehrenreich. Wie Sie wissen, war sie verreist, als der Mord geschah.«

»Ja«, sagte Klein. »Genau deshalb verstehe ich nicht, warum Sie dauernd nur von ihr sprechen.«

»Sie wissen womöglich auch, wo sie war.«

»Vietnam, sagte sie mir.«

»Sie sind wirklich ausgezeichnet informiert, Herr Rabbiner.«

Wieder ein geräuschvoller Schluck aus der dampfenden Tasse.

»Womöglich wissen Sie auch, warum sie nach Vietnam gefahren ist.«

»Nein. Keine Ahnung. Ehrlich.«

Warum hatte er »ehrlich« gesagt?, fragte er sich im selben Moment. Fühlte er sich schon so in die Ecke gedrängt, dass er Angst hatte davor, man würde ihm nicht glauben, wenn er etwas verneinte?

»Sie haben sie nicht gefragt?«

»Ich bin schließlich nicht die Polizei. Ich fuhr zwei Tage nach ihrer Rückkehr zu ihr, um ihr etwas seelsorgerlichen Halt zu geben, nicht um sie auszufragen.«

»Nachvollziehbar«, sagte Anke Frowein, und ihr Chef nickte bedeutungsschwer.

Es herrschte ein Moment Schweigen.

»Ja, und warum ist sie hingefahren?«, fragte nun Klein ungeduldig.

»Fragen Sie sie«, sagte Unmüßig.

Klein war stinksauer, aber er spürte eine starke Hemmung, sich weiter mit Unmüßig anzulegen.

»Das Einzige, was ich weiß, ist, dass sie früher als geplant zurückkam.«

Unmüßig rutschte ruckartig auf seinem Stuhl nach vorne und stützte die Ellbogen auf den Tisch.

»Das ist interessant. Das wissen Sie also. Wissen Sie auch, wie viel früher?«

»Nein. Sie sagte, sie sei etwas früher als geplant zurückgekommen. Aber nicht, wann sie die Rückkehr ursprünglich geplant hatte.«

»Auch gut.«

»Was heißt, auch gut? Das alles klingt für mich danach, dass Sie da einen monströsen Verdacht gegen Sonja Ehrenreich aufbauen, ohne auch nur im Geringsten Anhaltspunkte dafür zu benennen.«

»Ein Verdacht ist nie monströs. Monströs ist allenfalls die Tat«, erklärte Unmüßig in belehrendem Ton und lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück. »Wir bauen auch gar nichts auf. Aber es gibt Ungereimtheiten, Unklarheiten. Wir werden dafür bezahlt, ihnen nachzugehen. Und dass wir nicht alle unsere Erkenntnisse mit Ihnen teilen, das muss ich Sie freundlich bitten zu akzeptieren.«

»Aber Sie können sich doch nicht im Ernst vorstellen, dass jemand wie Frau Ehrenreich mit einer Pistole nach Hause kommt und ihren Mann niederstreckt. Bleiben da nicht überhaupt Partikel auf der Haut, wenn jemand geschossen hat? Das müsste man doch als Erstes untersuchen.«

»Sie meinen Schmauchspuren. Glauben Sie, das LKA hätte daran nicht gedacht? Aber wie Sie vielleicht wissen, trägt Frau Ehrenreich seit Jahren durchgehend Handschuhe, zu Hause, bei der Arbeit, überall. Und lange Ärmel. Angeblich eine Kontaktallergie oder so was. Jedenfalls, Handschuhe lassen sich, im Gegensatz zur Haut, leicht entsorgen. Und glauben Sie mir: Jeder, absolut jeder ist in bestimmten Situationen zu so etwas fähig. Aber wenn Sie jetzt meinen, dass vielleicht eine Verhaftung von Frau Ehrenreich kurz bevorstünde, dann irren Sie sich. Es gibt eben … Ungereimtheiten. Und wir haben gedacht, vielleicht können Sie uns da ein bisschen weiterhelfen.«

»Was offenbar nicht der Fall war«, sagte Klein gereizt.

»Noch nicht«, sagte Unmüßig. »Aber wir würden Sie gerne bitten, künftig ein bisschen genauer hinzuhören, wenn Sie mit Frau Ehrenreich zu tun haben. Da Sie nun wissen, dass es Ungereimtheiten gibt, und Frau Ehrenreich vermutlich indirekt darauf ansprechen werden, fallen Ihnen vielleicht Dinge auf, die uns noch nicht aufgefallen sind.«

»Ich soll Frau Ehrenreich aushorchen?«

»Wieso aushorchen? Sie sollen darauf achten, falls sich das aus den Gesprächen mit ihr ergibt, ob die Ungereimtheiten sich verdichten. Und uns das melden. Wir haben den gesetzlichen Auftrag, Viktor Ehrenreichs Ermordung aufzuklären. Das ist doch unser aller Ziel und Aufgabe, nicht wahr?«

Unmüßig griff in eine Schublade und schob eine Visitenkarte über den Tisch. Klein steckte sie zögernd ein.

Sofort änderte Unmüßig wieder den Ton, wurde leutselig wie vor Beginn des Gesprächs und begann einen ziemlich langen Sermon darüber, welcher Kampf es gewesen sei, denen da in Freiburg Paroli zu bieten und in dieser Mordsache nicht von den Technofuzzis in der Zentrale, sondern hier vor Ort, natürlich mit der notwendigen Unterstützung aus dem Hauptquartier, ermitteln zu lassen. Das sei wohl vor seiner Pensionierung noch die letzte große Kiste, und er werde alles tun, um es denen zu zeigen, den Großkopfeten, die sie hier in Lörrach zu Bußzettelverteilern degradieren wollten. Man würde dem Landeskriminalamt schon noch zeigen, dass Kenntnis von Ort und Leuten mindestens so wichtig seien wie irgendwelche hypermodernen Laboratorien. Natürlich, die nähmen sie auch in Anspruch, aber alles in Maßen. Er habe in Freiburg hingegen schon Verhören beigewohnt, dass sich Gott erbarme …

»Herr Unmüßig, ich muss«, sagte Klein und tippte leicht auf seine Uhr.

»Oh natürlich, ich halte Sie schon viel zu lange auf. Tut mir übrigens wirklich leid, dass ich Ihnen die Rückfahrt im Jaguar Ihres Bekannten vermasselt habe. Frau Frowein bringt Sie zum Lift. Und auch wenn es selbstverständlich ist: Über den Inhalt dieses Gesprächs bewahren Sie bitte unbedingt Stillschweigen.«

Klein wollte sagen, er finde allein hinaus, rückte aber davon ab, da er das Gefühl hatte, Frau Frowein damit zu beleidigen.

»So, diesmal schaff ich’s«, sagte sie denn auch, bevor er in den Lift trat, und streckte ihm mit einiger Anstrengung ihre Hand entgegen.

Weil unser Land so voller Reichtümer ist, sind wir so arm.

Wer hat das gesagt?

Jemand, den ich im Kongo kennengelernt habe. Einer, der zu kämpfen versucht. Vor allem für die Kinder.

Man hört viel Schlimmes von dort.

Ja, aber da ist viel Schwarz-Weiß-Malerei. Ausbeuter und Ausgebeutete. So einfach ist es nicht. Die Kernaussage stimmt trotzdem: Die Leute sind arm, weil das Land reich ist.

Und dieses Gesundheitszentrum, wie funktioniert das?

Das hat Anschel Fink gegründet. Oder sagen wir zumindest initiiert. Sie wissen wahrscheinlich, dass seine Kanzlei eng mit der Gaia Group in Zug verbunden ist.

Also agiert er mitten im Reich der Rohstoffe.

Ja, das Unternehmen ist dort schon sehr präsent. Natürlich noch viele andere, Chinesen vor allem. Aber dennoch, Gaia ist ein Faktor in dieser Gegend von Katanga.

Katanga sagt mir nichts.

Ist ja auch egal. Da liegen die größten Rohstoffvorkommen. Anschel war einige Male dort, er sah, wie dort gearbeitet und gelebt wird, und er hat mir gesagt, dass er sich kaum mehr heimgetraut hat, so nahe ging ihm das. Er hat sich überlegt, wie man am effektivsten die Bedingungen verbessern kann, ohne die Leute zu entmündigen oder ihnen die Basis ihrer Existenz zu entziehen, die nun mal Rohstoffe sind. Also kam er zum Schluss, der Gaia den Bau eines Gesundheitszentrums vorzuschlagen. Wer für die Gaia oder einen ihrer Subunternehmer arbeitet, bekommt eine Magnetkarte, mit der er das Zentrum aufsuchen kann. Und dort kann er für einen symbolischen Betrag alle Standardleistungen beziehen. Nicht grade Operationen am offenen Herzen oder Hirnchirurgie, aber einfachere Eingriffe schon. Und eben auch Zahnmedizin.

Und das sind alles Leute wie Sie, die da ein paar Wochen im Jahr dafür hergeben?

Viele gehen da länger hin. Jüngere Ärzte vor allem. Für ein paar Jahre. Viele Europäer.

Klingt wie Médecins sans frontières mit besserem Lohn.

Die Infrastruktur ist ausgezeichnet, die Löhne halt ans Landesniveau angepasst. Die werden vom Staat bezahlt. Sie brauchen die Ergänzung durch Ehrenamtliche wie mich. Eigentlich wollten sie einheimische junge Ärzte, und Gaia hat einigen die Ausbildung in Belgien bezahlt, aber die sind wenn immer möglich in Europa geblieben, nachdem sie ausgebildet waren. Jetzt zahlt die Firma keine Ausbildungen mehr. Dafür haben sie auch kaum mehr Chancen auf inländische Kräfte.

Entwicklungshilfe ist immer kompliziert.

Ich sehe es nicht als Entwicklungshilfe. Es ist Gesundheitsversorgung für Mitarbeiter. Die sonst keine hätten.

Hat es Ihr Leben verändert, dort mitzumachen?

Ja. Es hat mein Leben verändert.

Der böse Trieb

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