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Kapitel 2

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Konstantinopel 1437/38

Die Sonne war gerade aufgegangen und die Schiffsbesatzung hatte vorerst ihr Ziel erreicht. Es mussten einige Formalitäten erledigt werden, das Schiff registriert, leere Fässer und Kisten von Bord gebracht, das Schiff und die Segel gereinigt sowie geflickt werden, und nicht zuletzt fühlte sich Kapitän Francesco verantwortlich, der Gesandtschaft Kutschen zu besorgen, diese mit dem Gepäck der Reisenden beladen zu lassen und sie zum Hauptsitz des byzantinischen Patriarchen Joseph II. zur Apostelkirche zu schicken. »Habt Ihr noch etwas Zeit? Gebt mir zwei Stunden. Ihr könntet Euch ein wenig umsehen, etwas frühstücken. Ein Bote könnte derweil Eure Ankunft vorausmelden«, schlug er vor.

Kues, Bessarion, Parentucelli und Cesarini waren einverstanden, genauso wie Plethon, der als Ortskundiger die Richtung vorgab. Es war ein milder Morgen. Es grüßten fremdländische Gerüche, buntgewandete Menschen und orientalische Klänge von Straßenmusikern. Vor kleinen Gasthäuschen saßen an ebenso kleinen runden Tischen Männer mit Pfeifen und winzigen Tässchen eines dampfenden Aufgusses.

Sie folgten dem Menschenstrom und erreichten einen Basar, wo das Gedränge nicht stärker hätte sein können. Unter steinernen eingewölbten Hallen fanden sich Konstantinopels Kaufmannswaren in engem Raume aufgetürmt vom Kostbarsten bis zum Wohlfeinsten und Größten – alle nur möglichen Dinge und Artikel. Gewürze in geöffneten Fässern aller Farben und Geschmäcker, kostbare Kräuter, Obst und Gemüse in Güte und Größe, wie man sie in der Heimat nur suchen konnte. Dann ertönte der Klang der Glocken – die Sarazenen hatten Konstantinopel noch nicht eingenommen. Aber auch arabische Gesänge riefen zum Gebet in die Gebetshäuser. In blendendem Weiß hoben sich die größeren Häuser wohlhabender Bewohner von den niedrigen Behausungen der einfachen Menschen ab und bildeten einen farblichen Kontrast zu den schattenreichen, dunkelgrünen Zypressen, die sich abwechselnd mit Pinien neben den Behausungen emporstreckten. Unter ihrem Schatten glitzerten hier und da die vergoldeten, die weißen und die bunt bemalten Grabsteine hervor, die auf den wahllos in der Stadt verteilten Ruhestätten Verstorbener mit Inschriften lagen. Die drei Reisenden gingen wieder in Richtung Kanal. Wasservögel aller Art, oft so zahm, dass sie zu nah an die Boote herankamen und fast unter die Ruderschläge gerieten, und die zu Tausenden auf den Dächern und Pfählen lagerten, erfüllten die Luft mit ihrem Geschrei.

»Gehen wir zum Schiff zurück und sehen wir, ob der Bote uns angekündigt hat. Ich glaube, es ist deutlich, dass die Türken eine Bedrohung für Byzanz sind. Das Osmanische Reich lässt sich schwer aufhalten. Der Kaiser wird nicht anders können, als die Einigung der Ost- und Westkirche zu befürworten«, stellte Kues fest. Auch den anderen schien das sicher.

Als sie sich dem Schiff näherten, kam schon der Kapitän auf sie zu. »Kaiser Johannes VIII. Palaiologos erwartet Euch. Dort drüben steht seine Kutsche, mit der er unseren Boten zurückbrachte und Euch mitnehmen wird. Wir warten auf Eure Anweisungen zur Vorbereitung der Rückreise. Viel Erfolg!«

»Danke, Francesco. Wir melden uns rechtzeitig.« Die Gesandten waren überrascht, dass der Kaiser sie zuerst begrüßen würde. Die Kutsche des Kaisers war mit blauen und goldenen Schnitzereien verziert. Zwei weiße Araber mit langen welligen Mähnen waren davor gespannt. Ein Diener hielt die Tür der Kutsche auf und bat die Gesandten, mit ihren Begleitern einzusteigen. Plethon war unterwegs bei einem großen Herrschaftshaus ausgestiegen, er wohnte bei einer Tante. Er würde erst zu den Treffen mit den Delegationspartnern hinzukommen.

Dann erreichten die anderen den Kaiserpalast. Die Dienerschaft führte sie in das Gästehaus und zeigte ihnen ihre Gemächer, in die ihre Kisten bereits gebracht worden waren. Von Kues, Bessarion, Parentucelli und Cesarini schauten den Diener erwartungsvoll an. »Natürlich … Ihr werdet zum Mittagsmahl in einer Stunde im Speisesaal des Palastes erwartet. Bis dahin stehen Euch einige türkische Dienerinnen für ein Bad zur Verfügung. Zum Badehaus geht es hier entlang. Wenn Ihr mir bitte folgen wollt!« Er verbeugte sich und deutete mit seinem Arm die Richtung. Nikolaus und Giuliano schauten sich fragend an, Basilius und Tommaso folgten dem Diener als Erste.

Des Kaisers Schloss ähnelte einem Sultanspalast. Das musste an den einheimischen Bauleuten sowie am wärmeren Klima und den sich daraus ergebenden praktischen Erwägungen liegen. Das Badehaus betraten sie durch einen offenen Torbogen. Dahinter fanden sie sich in einem Raum wieder, der mit blauen und goldenen Fliesen gestaltet war. Um ein großes Schwimmbecken mit türkis leuchtendem Wasser befanden sich Säulen mit Bänken oder Steinliegen dazwischen. Der eher dunkle Raum, der nur blau-grün verglaste kleine Lichtluken besaß, war mit Laternen ausgestattet, die ein warmes oranges Licht verbreiteten. Nun erschienen vier augenscheinlich junge Orientalinnen, die nichts trugen als einen Schleier um Haar und Mund, ein bauchfreies Oberteil, das die Brüste zur oberen Hälfte freigab, und fast durchsichtige Pluderhosen aus bunter hauchdünner Seide. Eine jede in einer anderen Farbe. Wenn sie liefen, klingelten die talerartigen Verzierungen an ihren schmalen, gebräunten Taillen, was ihnen das Aussehen von Bauchtänzerinnen verlieh. Jede von ihnen trug ein großes Tuch über dem Arm und nahm sich nun einem der Männer an.

Nikolaus merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Er war überrascht von so viel Freizügigkeit und wunderte sich über die Art des Angebots an sie als geistliche Herren. War nicht das Hauptthema ihrer Reise, Versuchung und Laster aus der Geistlichkeit zu vertreiben? Und nun ertappte er sich, wie sich Begehren in ihm regte. Er nahm sich zusammen und schaute zu seinen Freunden, die ähnlich konzentriert wie er der Dinge harrten, die da kommen sollten. Keiner ließ sich etwas anmerken. Protestieren wollte ebenfalls niemand. Vermutlich wäre es eine Beleidigung gewesen, die freundliche Geste eines erfrischenden Bades abzuschlagen.

Seine Badedame verneigte sich vor ihm und zeigte ihm einen Umkleideschirm. Mit Gesten erklärte sie ihm, dass er das Tuch umlegen solle. Alle verschwanden sie hinter den Schirmen und kamen fast gleichzeitig wieder hervor, jeder mit einer anderen Wickeltechnik. Sie mussten lachen und die Situation entspannte sich. Nikolaus erahnte ein verschmitztes Grinsen hinter dem Schleier seiner Orientalin. Ihre Augen waren groß, dunkel und schauten ihn aufmerksam an. Dann wurden die Männer zu Zubern geführt, wo sie, geschickt und ohne ihre Männlichkeit zu offenbaren, ins Wasser glitten und dabei die Tücher abgenommen bekamen. Nun übergossen die Damen sie mit Kannen warmen Wassers und rieben sie mit wohlriechenden Seifen an Haupt und Körper ein. Nach dem Abspülen boten ihnen die Orientalinnen an, im Becken zu schwimmen. Alle nahmen an, und jeder war überrascht, dass sie allesamt das Schwimmen recht gut beherrschten. Beim Aussteigen aus dem Wasser wurden ihnen die Tücher aufgehalten und abschließend durften sie eine Massage mit duftenden Ölen genießen, wozu sie sich bäuchlings auf die gepolsterten Steinbänke legten. Dann konnten sie sich wieder ankleiden.

Als sie hinter den Schirmen hervorkamen, waren die Frauen verschwunden. Nikolaus sah sich suchend um und bedauerte, nur seine Freunde zu sehen.

Inzwischen war der Diener von vorhin erneut erschienen. »Ihr werdet nun im Speisesaal erwartet.«

Er ging wieder vorneweg. Die Männer folgten ihm durch lange Flure mit übergroßen Herrscherporträts, Gemälden von Frauen und Bildern vergangener Schlachten und Kreuzzüge. Dann öffnete sich eine große Holztür und sie traten in einen steinernen Saal, der mit prunkvollen Perserteppichen ausgelegt war. An einer langen Tafel saß am anderen Ende auf einem breiten Stuhl mit rot-samtenen Armlehnen Kaiser Johannes VIII. Palaiologos, hinter ihm stand sein Sekretär. Mit einer Handbewegung bedeutete er den Gesandten, sich direkt neben ihn an die vorbereiteten Plätze zu setzen. Er erhob sich zum Gruße auf Augenhöhe, wobei er freundlich nickte und die Geistlichen eine leichte Verbeugung andeuteten. »Seid herzlich willkommen. Ich halte nicht viel von Schaugeplänkel. Wir wollen dasselbe: Das Zentrum, der Ursprung der christlichen Kirche, die christlichen Stätten von Byzanz, müssen gegen die Osmanen verteidigt werden. Ich unterstütze Eure Mission, der Patriarch von Konstantinopel ist mit mir einer Meinung. Wir werden mit Euch gen Westen zu Verhandlungen aufbrechen. Wir benötigen Eure Armee gegen die Türken. Die Glaubenslehren besprecht mit ihm und den Bischöfen der Ostkirche. Wir werden uns gemeinsam mit Euch auf die Schiffsreise begeben. Bis dahin seid Ihr meine Gäste. Morgen werdet Ihr in der Apostelkirche erwartet.«

Die Delegierten waren sprachlos. Diese Direktheit hatten sie nicht erwartet. Auch nicht, dass die Ostkirche bereits Reisepläne hatte und sie ihre künftigen Mitreisenden in jedem Fall als Erfolg auf dem Weg zu einer geeinten Kirche verbuchen konnten.

Kues fasste sich als Erster. Der Kaiser hatte fast schon alles gesagt. Dem war kaum etwas hinzuzufügen. Doch Nikolaus wollte mit Berechtigung diese weite Reise auf sich genommen haben. »Eure Hoheit können Gedanken lesen und besitzen ein besonders feines Gespür für Diplomatie und Taktik. Es freut uns, dass wir keine Eulen nach Athen tragen müssen und die tatsächlichen Notwendigkeiten und ein gesunder Menschenverstand allein Euch zu überzeugen vermochten. Nun stehen wir hoch in Eurer Schuld, weil wir Eure Gastfreundschaft in Anspruch genommen haben, wofür ich mich stellvertretend für meine Mitreisenden bedanken möchte. Der Besuch Eures Badehauses hat unsere von der Reise strapazierten Glieder entspannt und mit neuer Kraft versorgt. Wir ziehen gerne noch heute in eine Unterkunft der Kirche. Bescheidenheit ist eine unserer Hauptforderungen an den Papst höchstselbst.« Der Kaiser lachte tief und sein Bauch wackelte. »Eure Zimmer sind bescheiden. Ich will Euch gerne die meinen zeigen. Nein, der Patriarch und ich haben miteinander gesprochen. So ist es unser Wille. Mein Diener wird Euch nach dem Essen in die Kapelle führen. Dort könnt Ihr beten. Die Palastbibliothek ist gleich daneben. Das Bad steht Euch den ganzen Tag zur Verfügung. Ihr werdet es in der Hitze hier gerne nutzen. Die Damen sind ebenfalls jederzeit verfügbar. Ihr müsst nur nach ihnen klingeln. Wozu heiliger sein als der Papst!« Nun lachte er erneut ein schallendes Lachen, von dem er sich kaum erholen konnte. »Verzeiht. Ich habe mich lange nicht so amüsiert.«

Tommaso und Nikolaus sahen sich ernst an. War das als Affront zu werten? Sollten sie sich diese Andeutungen verbitten, wenngleich sie nicht treffender hätten sein können? Sollten sie vielleicht sogar dankend auf die Mahlzeit und die Gastfreundschaft verzichten? Basilius legte seine Hand auf Nikolaus’ Unterarm. Giuliano deutete ein fast unsichtbares Nein an, indem er den Mund leicht spitzte, den Kopf kaum merklich schüttelte und beide eindringlich ansah. Nikolaus atmete durch und setzte sich. Die anderen folgten.

Der Kaiser räusperte sich. »Spaß muss sein. Im Süden ist man nicht so ernst wie in Deutschland, oder, Erzbischof Bessarion? Wie ist es in Griechenland?«

Der lachte und animierte die anderen, die Situation ebenfalls mit Humor zu tragen. Die Stimmung entspannte sich schnell auch bei den Gesandten. Man sprach nun über die Welt, Italien, Rom, den Vatikan; Deutschland, Köln, Erfurt, Hildesheim, Prag, Athen, Kaiser Sigismund, Papst Eugen, über die Sonne, das Meer, die Gesundheit, Früchte und nicht zuletzt Frauen.

»Wie kommt es, dass Türkinnen zu Eurer Dienerschaft gehören, Hoheit?«, wollte Tommaso wissen.

»Der Islam erlaubt dem Mann einen ganzen Harem! Sind sie gottesfürchtig, verschleiert und gehorsam, erhöhen sie den Wert des Mannes. Aber Ihr habt recht, was machen sie im Dienste eines Christen? Nun, ich zahle gut. Ihre Väter fühlten sich geehrt. Ich respektiere ihren Glauben. Lest doch in dem Koran, den ich auszugsweise ins Lateinische übersetzen ließ. Ihr findet die Handschrift in der Bibliothek!«

Nikolaus liebte Bücher und merkte sich dieses Angebot vor. Nach dem üppigen Mahl dankten sich alle gegenseitig für das anregende, gute Gespräch sowie die hervorragende Gesellschaft und freuten sich auf eine Wiederholung. Der Kaiser zog sich zurück. Die vier Gesandten, deren Helfer fast unsichtbar nie weit entfernt waren, gingen in den Park des Palastes, setzten sich in den Schatten einer Zypresse auf den Rand eines Wasserspiels und überlegten ihr weiteres Vorgehen.

»Es wird heiß. Ich gehe später noch einmal Schwimmen. Ich werde mir auch die Bibliothek anschauen. Vielleicht ist es eine gute Idee, wenn wir uns zum Abendgebet in der Kapelle treffen. Sehen wir uns das Messzeug an. Vielleicht gibt es auch einen Priester«, ordnete Nikolaus seine Gedanken.

»Das klingt gut. Lasst uns noch ein bisschen im Garten spazieren, dann will ich mich ausruhen. Morgen sehe ich zuversichtlich und mit Freude dem Treffen mit der byzantinischen Geistlichkeit entgegen«, ergänzte Basilius.

Eine Stunde später ging jeder von ihnen zunächst auf sein Zimmer. Nikolaus nur, um in den Spiegel zu schauen, seine halblangen Haare zu ordnen und sich den Mund auszuspülen. Fasern des Fasanenfleischs klemmten noch zwischen seinen Zähnen. Dann flanierte er alleine im Park des Palastes unter gleißender Sonne und steuerte das Badehaus an. Außer ihm hatte offensichtlich keiner der anderen die Idee. Er sah das kleine Glöckchen auf einer halben Säule gleich neben der Tür, nachdem er eingetreten war. Er läutete vorsichtig. Eine der Damen erschien. Es war zu seiner Enttäuschung nicht die, die sich zuvor um ihn gekümmert hatte. Die, deren kleine zarte Hände so kraftvoll seine Muskeln massiert und gelockert hatten. Ob er nach ihr fragen sollte? Gestikulierend erkundigte er sich nach seiner Badefrau. Die Dame verstand, verschwand in einen Raum am anderen Ende der Badehalle, und tatsächlich: Seine Orientalin, die, die die orangefarbene Tracht trug, kam auf ihn zu. Ihr Lächeln konnte er erkennen. Wieder trug sie ein großes Tuch über dem Arm und deutete an, dass er sich seiner Kleidung entledigen sollte. Das tat er. Diesmal schüttelte er den Kopf, als sie ihn zu einem Badezuber leiten wollte. Er ging zum Schwimmbeckenrand, setzte sich, ließ das Tuch fallen und rutschte schnell in das angenehm kühle Wasser. Er schwamm ein paar Runden und dachte, sie schaue ihm zu. Als er jedoch am Beckenrand kurz verschnaufte und sich umsah, war die Türkin nirgends zu sehen. Er schwamm weiter. Er wollte sich etwas verausgaben, um die unzüchtigen Gedanken loszuwerden, die sich ihm erneut aufdrängten. Dann verließ er über die Treppe das Wasser und ging zurück zu seinem Badetuch. So, wie Gott ihn schuf – er fühlte sich unbeobachtet –, kreiste er seine Arme, um seine Schultern zu lockern, dann seinen Kopf, um den Nacken zu entspannen, und machte ein paar Liegestütze, bevor er sich das Handtuch umlegte und zum Umkleideschirm ging. Er erschrak, als er die junge Frau auf einer Steinbank sitzen sah, von der aus sie ihn die ganze Zeit beobachtet zu haben schien. Ihm stieg die Schamesröte ins Gesicht und er beeilte sich, hinter den Schirm zu gelangen. Als er angezogen wieder hervorkam, stand sie vor ihm, ergriff seine geöffnete Hand und malte mit einem dünnen Stöckchen, an dem schwarzes Pulver zum Schminken der Augen haftete, eine Mondsichel und eine Bank mit einer Zypresse und einem Brunnen daneben auf die Innenfläche. Nikolaus überlegte und zeigte auf sich und anschließend auf sie. Er wiederholte diese Handbewegung und machte ein fragendes Gesicht.

Sie nickte.

»Wie heißt du? Ich heiße Nikolaus. NIKOLAUS.« Er zeigte auf sich, dann auf sie. »Und wie heißt du?«

»Melechsala. Mein Name ist Melechsala.«

Dann klingelte das Glöckchen am Eingang. Tommaso stand in der Tür.

»Ah, Tommaso! Gerade bin ich fertig. Du hast das Becken für dich!« Noch bevor der ihn in ein Gespräch verwickeln konnte, kam die gelb gekleidete Badefrau, die ihn heute früh massiert hatte, und überreichte ihm ein Badetuch. Nikolaus lächelte ihn an, zwinkerte unbemerkt Melechsala zu und verließ die Badehalle. Er fühlte sich glücklich und leicht. Was ist da gerade passiert?, fragte er sich. Mal sehen, ob ich im Koran schlauer werde, wie das Verhalten dieser jungen Schönheit zu werten ist, überlegte er und schlug den Weg zur Bibliothek ein.

Die Bibliothek war nicht sehr groß. Kein Vergleich zu der im Vatikan. Seine private Büchersammlung war nicht viel kleiner. Aber dort auf dem hölzernen Stehpult vor dem Fenster lag zugeklappt, an einer Kette befestigt, die besagte lateinische Übersetzung des Korans.

Er wusste nicht, wie lange er schon über das Buch gebeugt stand. Die Kernpunkte kannte er: der Glaube an einen Gott. Der Glaube an die Engel. Der Glaube an die Propheten – einschließlich Jesus. Der Glaube an die offenbarten Bücher Gottes. Der Glaube an den Tag des Gerichts. Der Glaube an das Schicksal und den göttlichen Erlass. Aber hier! Koran 9:17: »Und die gläubigen Männer und die gläubigen Frauen sind einer des anderen Beschützer: Sie gebieten das Gute und verbieten das Böse und verrichten das Gebet und entrichten die Zakat, eine Spende für die Armen, und gehorchen Allah und seinem Gesandten. Sie sind es, derer Allah sich erbarmen wird. Allah ist erhaben, allweise.«

Seinem Gesandten … Das klingt gut, dachte Nikolaus und musste schmunzeln. Wieso kommt mir der Name Melechsala so bekannt vor? Er grübelte. Plötzlich fiel es ihm ein und er staunte: Die Geschichte, die man sich vom Grafen von Gleichen noch immer erzählte, handelte vom Grafengeschlecht aus Thüringen, das sich das Kloster Reinhardsbrunn als Hauskloster erwählt hatte. Kues erinnerte sich, dass einer der Grafenbrüder vor etwas über hundert Jahren in den großen Kreuzzug gegen die Sarazenen gezogen war, wobei er in Gefangenschaft geriet. Er entkam dem Henkersschwert, weil die Tochter des Sultans sich in ihn verliebte. Ihr Name war Melechsala. Sie floh mit ihm in seine Heimat und wurde seine zweite Frau. Ja, den Grabstein hatte er höchstpersönlich vor einigen Jahren in der Peterskirche des Erfurter Benediktinerklosters in Augenschein genommen und mit Verwunderung der Geschichte, die er zunächst für ein Märchen gehalten hatte, gelauscht. Welch ein Zufall! Vielleicht eine Fügung, ein Hinweis. Nun, er war fern der Heimat. Heute Abend würde er zum Treffpunkt gehen.

Jetzt hörte er ein Glockenläuten. Das musste der Ruf zum Abendgebet in der Kapelle sein. Auf dem Weg dorthin kamen aus verschiedenen Richtungen Basilius, Giuliano, Tommaso und die drei vatikanischen Bediensteten dazu. Nach dem Gebet wurden sie vom Diener des Kaisers zu einer kleinen Abendmahlzeit in den Innenhof eines Nebengelasses gebeten. Sie waren dort unter sich, aßen sich satt, tranken vom besten Wein und beobachteten den Sonnenuntergang. Nikolaus war der Erste, der sich verabschiedete. Basilius erhob sich ebenfalls und letztlich gingen sie alle ein jeder in sein Zimmer.

Nikolaus wartete, bis der Mond, und tatsächlich war es ein abnehmender Mond in Form einer Sichel, hoch am Himmel stand. Dann ging er zu der Steinbank am Brunnen mit der Zypresse. Melechsala trat hinter der Zypresse hervor, bedeutete ihm mit dem Zeigefinger, ihr zu folgen, und führte Nikolaus in eine kleine Nische, die von Hecken umgeben war. In der Mitte hatte sie eine Decke ausgebreitet und eine kleine Karaffe Wein auf ein Tablett gestellt. Sie bot ihm einen Kelch. Er trank und gab ihr den Kelch zurück. Melechsala nahm ebenfalls einen Schluck. Dann legte sie ihren Schleier ab und öffnete ihr Haar. Sie hatte wunderschöne volle Lippen, weiße Zähne, ein bezauberndes Lächeln, eine kleine Nase und diese wunderbar dunklen Augen. Ihr gewelltes volles Haar umspielte ihre hohen Wangenknochen. Nun öffnete sie ihr Oberteil. Ihre Brüste sprangen weich und voll aus ihrer Halterung. Dann öffnete sie auch ihre Pumphose, setzte sich, lüftete seinen Umhang, zog seine Hose herunter, lehnte sich zurück und spreizte leicht ihre Schenkel. Er vergaß seine Pflichten und dachte an den Satz: »… und gehorcht Gottes Gesandten.« Er drang in sie ein, sog ihren Duft auf, sie liebten sich bis zum Sonnenaufgang, jeder in seiner Sprache. Dann beeilten sie sich, halfen sich gegenseitig, sich ordentlich herzurichten, gaben sich einen Kuss und verließen den Ort der Liebe in entgegengesetzte Richtungen.

Am nächsten Tag verzichtete Nikolaus auf ein gemeinsames Frühstück und die Gesellschaft seiner Reisegefährten. Stattdessen stand er mit dem Sonnenaufgang auf und meditierte eine gefühlte Ewigkeit. Sein Gewissen plagte ihn und er wollte seine Gefühle sortieren. Danach sah sich Nikolaus alleine die Stadt an und durchwanderte stundenlang die endlosen Gassen, die sich mehr und mehr mit Leben füllten. Er und die anderen waren erst zur Mittagszeit in der Apostelkirche angekündigt und vorher konnte er noch niemandem unter die Augen treten. Er hatte nachzudenken. Die Sophiakirche genügte ihm vorerst von außen, später würden sie sie sicher gemeinsam besuchen. Wie wenig dieser vermauerte Raum doch dem Vergleich der Peterskirche in Rom standhielt! Die Apostelkirche, in der sie sich mit ihren byzantinischen Brüdern später trafen, verdiente jedoch seinen Respekt. Er ging schon einmal hinein. Den Grundriss bildete ein ungleichmäßiges griechisches Kreuz, wobei der westliche Arm breiter und länger war. Nicht nur die Vierung war überwölbt, auch über den Kreuzarmen thronten Kuppeln. Die Kuppel im Westen war größer, genauso wie die Vierungskuppel. Hier, in der Mitte, kamen Erde und Himmel zusammen. Nikolaus blieb in der Mitte des Quadrats stehen und sah nach oben. Zwischen den Fenstern der lichtdurchfluteten Kuppel waren die zwölf Apostel als Engel dargestellt. Kues schloss die Augen und versuchte an nichts zu denken. Er spürte, wie ihn eine unsichtbare Energie durchflutete, die ihn wissen ließ, dass er nicht alleine war. Wieder draußen, waren die Gassen voll, niemand nahm von ihm Notiz. Aber genau so war es ihm recht. Er war verliebt und wusste nicht, wie er jemals der Alte sein sollte, nachdem er so intensive Gefühle erlebt hatte. Doch mit jedem gelaufenen Kilometer wurden seine Gedanken nüchterner. Der Wein, das Klima. Kein Wunder. Ja, er würde sich diesen Genuss hier erlauben, um dann gestärkt und ohne das Gefühl, etwas verpasst zu haben, für die Reformen zu arbeiten. Schließlich musste man erlebt haben, wovon man sprach! Und überhaupt – bei näherem Nachdenken schien auch Tommaso Gefallen am Bad gefunden zu haben. Und nicht nur am Bad … Doch was, wenn die sarazenischen Frauen jedem zu Diensten waren? Er konnte nur hoffen, dass dies nicht gar im Auftrag des Kaisers geschah, um sie zu seiner Belustigung zu verspotten. Sei’s drum! Ich gewinne jedes Wortduell, dachte er.

Und so vergingen die folgenden Wochen wie im Flug: Gebet, Baden, Lektüre, Verhandlungen, Reisevorbereitungen und fast jede zweite Nacht ein Stelldichein mit Melechsala. Er war schon fast süchtig nach ihren Treffen und den fleischlichen Genüssen. Hin und wieder träumte er, er würde sein Gewand ablegen, sich ein Häuschen am Wasser bauen und Melechsala freikaufen und zur Frau nehmen. Doch der Respekt, der ihm von ihren Verhandlungspartnern und auch von seinen Delegationsfreunden entgegengebracht wurde, ließ ihn jedes Mal wieder Vernunft annehmen. Sie waren in höchster Angelegenheit hier. Es ging um Himmel und Hölle, um Weltmacht, um etwas Großes! Worüber sollte er sich mit dieser Frau unterhalten? Sein Geist brauchte Nahrung und Gott hatte ihm eine verantwortungsvolle Aufgabe angetragen. Man kann kein Geistlicher sein und eine Frau lieben. Das verträgt sich nicht. Eine Erkenntnis, die ich nie wieder in Zweifel ziehen werde!, resümierte er.

Die Nachricht vom Tod des römischen Kaisers Sigismund und die Verlegung des Konzils nach Ferrara, wie erwartet, ließen ihn aufgrund der Entfernung verhältnismäßig kühl. Am 27. November desselben Jahres brachen der byzantinische Kaiser Johannes VIII., der Patriarch Joseph II. von Konstantinopel und zahlreiche Bischöfe der Ostkirche mit den päpstlichen Gesandten nach Westen zum Unionskonzil auf. Hier wird meine Geschichte sich von der Geschichte des Grafen von Gleichen unterscheiden. Ich werde Melechsala nicht mitnehmen, bedauerte Nikolaus im Stillen. Am Vorabend der Abreise übergab er ihr einen goldenen Ring mit einer Mondsichel zur Erinnerung. Ein Goldschmied im Bazar hatte ihn ihm verkauft. Nikolaus versprach wiederzukommen. Beide hatten sie Tränen in den Augen. Tränen logen nicht.

»Finde einen anderen Mann!«, versuchte Nikolaus, Melechsala zu verstehen zu geben. »Ich liebe dich! In Deiner Nähe könnte ich kein Geistlicher mehr sein.« Er war sicher, dass Gott diese Worte hörte.

Am 8. Februar 1438 erreichten sie gemeinsam mit den Vertretern der Ostkirche nach stürmischer Seereise den Heimathafen. Zeitweise meterhohe Wellen und ein stark schwankendes Schiff, dazu die nervös machenden, dicht aufeinanderfolgenden Order zum Hissen oder Reffen der Segel und der Bedienung des Steuerrades an die Matrosen schweißten die Reisenden als Gefahrengemeinschaft zusammen. Nikolaus und Tommaso verstanden sich noch besser als bereits schon zu Anfang ihrer Reise. Offensichtlich teilten sie ein unausgesprochenes gemeinsames Geheimnis. Sie hatten unendliche Gespräche geführt und währenddessen fasziniert dem Spiel der Wellen zugesehen. Dabei hatte Nikolaus festgestellt, dass die Wogen aus der Einheit des großen Ozeans emporstiegen, um für kurze Zeit als selbstständige Gebilde aus dem Meer herauszuragen. Dann fielen sie wieder zusammen. Eine jede Welle in ihrer unterschiedlichsten Ausdrucksform wurde wieder eins mit dem großen weiten Meer. Das war das Grundprinzip allen Seins!

Tommaso hatte ihn sofort verstanden. Sie waren sich einig: Das war das Sinnbild ihrer Mission. Die Ost- und die Westkirche mussten zusammenfallen.

Begeistert wurden sie am Zielhafen empfangen. Ihr diplomatischer Erfolg galt als Sensation, und Papst Eugen versprach Nikolaus, ihn bei nächster Gelegenheit zum Kardinal zu machen.

Der Abt vom Petersberg

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