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Vorwort Callcenter von Günter Wallraff

Callcenter sind wie Hühnerbatterien: auf kleinem Raum sollen ihre Insassen schnellst möglichen und höchst möglichen Profit abwerfen. Sicher, manche Callcenter mögen nötig sein und gehen wirklich dringenden Kundenwünschen nach.

Aber selbst solch funktionierende Leuchttürme halten für ihr Bedienungspersonal äußerst selten zufriedenstellende Arbeitsbedingungen bereit. Umso wichtiger, wenn sich ein Beschäftigter oder eine Beschäftigte dazu nach dem Ende der Callcenter-Zeit und der dazu gehörigen Selbstverleugnung und den Demütigungen laut und öffentlich zu Wort meldet, wie mit diesem Buch. Nach dem Ende? Ja, erst dann, denn während ihres Aufenthalts in den Profitmaschinenställen halten sich die Anstaltsinsassen in der Regel ans erzwungene Schweigegebot, das die Profiteure als Keule schwingen, um öffentliche Kritik zu verhindern.

Beschäftigte können heute tatsächlich kaum anders, als über ihr Arbeitsleben zu schweigen. Die herrschende Rechtsprechung billigt, wenn sie wegen eines offenen und öffentlichen Wortes ihren Job verlieren. Die Liquidierung des Rechts auf freie Meinungsäußerung in der Arbeitswelt ist ein Skandal im Skandal. Und es kann sogar den Whistleblowern passieren, dass sie von ihren ehemaligen Chefs angeklagt und von Gerichten zu Schadensersatz verurteilt werden, wenn man ihrer "habhaft" wird. Umgekehrt ist höchst selten, dass Unternehmen jemals für die Körperverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden, die sie ihren Untergebenenen Tag für Tag zufügen. Ich habe gerade miterlebt, dass der Besitzer einer für Lidl produzierenden Großbäckerei, in der ich mir wie viele andere Kollegen auch die Arme verbrannt habe, von der Anklage wegen Körperverletzung freigesprochen wurde.

In Deutschland fehlt bekanntlich ein Gesetz zum Schutz von Whistleblowern. Anderswo reicht er bereits weit, z.B. in den USA, man hat erkannt, das Fehlentwicklungen in Unternehmen früher entdeckt und möglicherweise sogar abgefangen werden, wenn man das freie Wort nicht unterdrückt oder bestraft. In Deutschland hält man am feudalistischen Grundsatz fest, der den Unternehmer bzw. den Vorstand einer Aktiengesellschaft zum Herrscher selbst über verbriefte Grund- und Menschenrechte macht - wie eben das Recht auf freie Meinungsäußerung. Leider will ein Gesetzesentwurf der SPD zum Schutz von Whistleblowern dieses Recht nur auf Fälle beschränken, in denen von Unternehmen Straftaten begangen werden oder begangen werden sollen. Aber immerhin, muss man leider sagen, immerhin. Denn zur Zeit kann selbst die Informationsweitergabe in solchen Fällen einem Arbeitnehmer angekreidet werden und zu seiner Kündigung führen.

In den letzten Jahren haben sich trotzdem wieder mehr Mutige gefunden, die fragwürde betriebliche Herrschaftsmethoden an die Öffentlichkeit bringen. Widerständige, die uns trotz aller Drohungen und trotz zahlreicher Kündigungen daran erinnern, dass es Mindestrechte von Arbeitnehmern gibt und die das Unrecht im Arbeitsalltag beim Namen nennen.

Alice Krins tut das. Sie erzählt in diesem Buch über ihren Arbeitsalltag in einem Callcenter. Sie hat auf Klarnamen verzichtet, aber in diesem Fall macht das ihren Bericht nicht weniger überzeugend. Denn dieser Bericht lebt von der Detailgenauigkeit, von den präzisen Schilderungen kleiner und kleinster Gemeinheiten und grober Ausbeutungsmethoden, die die Arbeit dort (und nicht nur dort) so unerträglich machen. Ich durfte das ja als Callcenteragent am eigenen Leibe miterleben*

Es sind Methoden, von denen die Akteure wahrscheinlich glauben, sie gehören zum üblichen Handwerkszeug der Personalführung. Deshalb ist der Callcenter-Bericht von Alice Krins übertragbar. Nämlich auf all die Unternehmen, die im Leben nicht darauf kämen, ihre Beschäftigten mit dem ganz normalen Respekt und der Würde zu behandeln, die ihnen zusteht.

Derweil steigen die Dividenden, die weltweite Expansion wird vorangetrieben, im Konkurrenzkampf siegen die Brutalsten. Je weiter jemand vom einzelnen Arbeitnehmer entfernt ist, je ungerührter kann er die Umsetzung dieser betrieblichen Entwürdigungsstrategien befehlen. Er sieht die Folgen für die Beschäftigten nicht, er will sie nicht sehen, er braucht sie nicht zu sehen.

Deshalb müssen sie sichtbar gemacht werden und deshalb braucht es ein solches Buch wie das hier vorliegende.

Dramatisch ist, dass die Propaganda für die jedes Mittel heiligende Umsatz- und Gewinnsteigerung nahezu alle Lebensbereiche durchdringt. 20 Jahre lang, in der Euphorie über den kapitalistischen "Sieg" gegen den pseudosozialistischen Erbfeind und unter Führung des galoppierenden Neoliberalismus wurde auf Widerstand und gewerkschaftliche Solidarität kaum mehr geachtet. Wer das Pech hatte, in diesen Jahren erwachsen zu werden, der hat dem kalten Konkurrenzdenken kaum einen ausgearbeiteten Gedanken und erst recht keine Erfahrung entgegenzusetzen. Er muss wieder ganz von vorn lernen.

Zum Beispiel, dass ein Unternehmen zwar zum Nachgeben gezwungen werden kann, aber sich dennoch Konterschläge ausdenkt: durch Umstrukturierungen werden Filialen dicht gemacht und andere aus dem Konzern in Tochterunternehmen gedrängt, nur damit Aktive abgedrängt und z.B. gewählte Betriebsräte aufgelöst werden können. Die Angst der Oberen vor der Gegenwehr nimmt mitunter lächerliche, ja paranoide Züge an. Es ist erfreulich, dass uns die Autorin in ihrem Buch davon eine Ahnung gibt: die Lächerlichkeit der angeblich so allmächtigen Vorgesetzten enthüllt sich mit jedem selbstbewussten Widerwort und erst recht mit jeder gemeinschaftlichen Gegenwehr. Bemerkenswert, dass jedes aufrechte Standhalten von vorgesetzten Stellen wahlweise mit Zornesbeben oder ängstlichem Zittern zur Kenntnis genommen wird. Beides offenbart die tatsächliche Schwäche der Macht.

Aber zahllos sind die Verletzungen, groß ist die Angst, weit verbreitet ist das Wegducken. Es hat mit der selbstherrlichen Macht der Unternehmen zu tun, die an zahlreichen Arbeitsplätzen die Arbeitsbedingungen bereits wieder auf ein frühkapitalistisches oder Dritteweltniveau abgesenkt haben – als habe es die Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung und ihre Erfolge nie gegeben. Der seit Jahren massenhafte Fall von Millionen Beschäftigten ins nahezu Bodenlose sind die menschlichen Kosten des Wachstumswahns und der Globalisierung.

Mittlerweile arbeitet fast jeder vierte Beschäftigte für einen Niedriglohn, die Zahl der Leiharbeiter, die in den Unternehmen Unterklasse sind, schnellt nach oben, ebenso wie die Zahl der befristeten Stellen. Die Zerstörung gesicherter und dauerhafter Arbeitsverhältnisse bei gleichzeitiger Zunahme prekärer Beschäftigungsformen, die Zerschlagung des öffentlichen Rentensystems – die Politik hat all diese Vorschläge der Wirtschaft Eins zu Eins umgesetzt. Und obwohl die Folgen brutal zutage treten - wachsende Kinderarmut, höhere Bildungshürden, mehr Menschen ohne Kranken- und Rentenversicherung, dauerhafte Abkopplung der unteren Schichten von kultureller und sozialer Teilhabe, Altersarmut - lassen die sogenannten Volksparteien nicht ab von ihrer neoliberalen Politik des sozialen Kahlschlags. Wenn Sie in Deutschlands Städten freundliche ältere Herren, aber auch Damen abends verschämt in einem Mülleimer an der Straße wühlen sehen, ist das keine Filmszene. Das heißt Altersarmt. Und wenn Sie morgen ein Zwanzigjähriger mit großer Zahllücke anlächelt, dann sehen Sie der Gesundheitsreform ins Gesicht. Die Betroffenen zahlen mit ihrer Würde und ihrer Lebenszeit.

Geheilt werden solche Wunden nicht mit mehr Wachstum, sondern mit mehr Verteilungsgerechtigkeit. Darüber informiert allerdings kein Callcenter. Im noch immer unverschämt reichen Europa kann es nicht darum gehen, das Heil in immer mehr Effektivität, Leistung, Produktivitätssteigerung und Profit zu suchen. Das Wachstum frisst unsere natürlichen Überlebensmöglichkeiten und uns selber auf, die Gier verschlingt die Menschenwürde – in den Ländern des globalen Südens haben wir sie bereits aufgefressen, gemeinsam mit den dortigen Potentaten. Wir brauchen statt solcher einseitigen und zerstörerischen Wachstumspolitik Verteilungsgerechtigkeit und Entschleunigung, eine Rückbesinnung auf das Soziale, das gemeinsame Nachdenken darüber - das solche Bücher wie das von Alice Krins voraussetzt - und auch die Aufwertung von unterbezahlten und unterbewerteten Tätigkeiten, die doch immerhin den Zusammenhalt und die Grundlage einer Gesellschaft sichern. Der Wachstumswahn wird uns sonst das Ende einer sozialen Kultur bescheren.

Doch die rabiaten Vertreter dieser Politik kehren längst noch nicht um, sie verlieren vielmehr jede Beißhemmung. Moral ist etwas für den Feierabend. Und Feierabend hat man in den Chefetagen nicht. Ein Beispiel dafür sind die ausufernden Callcenter auf Billigniveau, hier wie in der sogenannten Welt und die Mobbing- und Schikanemethoden von Personalabteilungen, die Duckmäuser erziehen und die unbequeme und kritische Arbeitnehmer entfernen.

Alice Krins hat erlebt und schildert auf spannende und witzige, teils ironische Weise, wie solches Mobbing von oben typischerweise abläuft. So übel schmecken die Kosten des Wachstumswahns, der Profite nur noch durch die Misshandlung derjenigen steigern kann, die sie in den Unternehmen herstellen. In den Billiglohnländern läuft das mit nackter Gewalt, bei uns oft mit sektenähnlichem Kalkül und Methoden der psychologischen Kriegsführung. Gegenwehr tut not und funktioniert gemeinsam auch. In diesem Sinne freue ich mich über das vorliegende Werk.

vatts.on läuft vorweg

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