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Einleitung

Wir holen uns unseren Fußballklub zurück

Im Juli 2017 richteten Medien weltweit einen kurzen Moment ihre Aufmerksamkeit auf einen englischen Achtligisten namens Lewes FC. Der von seinen Fans geführte Verein aus dem Süden Englands hatte gerade bekanntgegeben, gleiche Bezahlung und gleiche Trainingsbedingungen für sein Männer- und Frauenteam einzuführen. Lewes FC wurde damit offiziell der erste semi-professionelle Verein der Welt, der diese Gleichberechtigung wagte.

Die Fans eines bis dato unbekannten Achtligisten schafften es, eine internationale Debatte auszulösen. Wenige Monate später gab der norwegische Fußballverband bekannt, dass seine Frauen-Nationalelf ab 2018 gleiche Prämien kassieren wird wie das Männerteam. Das Beispiel Lewes FC dürfte eine Rolle gespielt haben. Etwa zur gleichen Zeit gab es am anderen Ende des Kontinents ein Gerichtsurteil, das nationale Aufmerksamkeit erhielt: In Israel sind Fußballvereine der ersten beiden Ligen seit 2017 gerichtlich dazu verpflichtet, ihr Wirtschaften transparent zu machen und jährlich einen umfassenden Finanzbericht ihrer Einnahmen und Ausgaben zu veröffentlichen. Darauf gedrängt hatte vor Gericht die Organisation Israfans, die unter anderem fangeführte israelische Klubs vertritt. Weil viele israelische Vereine die schon länger bestehende Vorschrift ignoriert oder nur halbherzig befolgt hatten, waren die Fanaktivisten vor Gericht gezogen. Und bekamen Recht.

Die beiden Beispiele sind kleine Nachrichten im Vergleich zum neuesten Neymar-Transfer, aber sie zeigen, wie Fanvereine den Fußball beeinflussen, oft unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit. Und ohne, dass die meisten ihre Geschichte kennen. Obwohl sie in Zukunft wichtig werden könnten.

Gehaltsinflation

Von Fans geführte Fußballvereine, im Deutschen oft Fanvereine genannt, sind ein fußballhistorisch neues Phänomen. Sie lassen sich wahrscheinlich nicht verstehen ohne die Entwicklung von Fußball und Fankultur in den letzten 25 Jahren. Fanvereine sind ein Krisenprodukt, und ihr Aufbruch beginnt in den 2000ern. Die massive Veränderung des Fußballs wird oft in Schlagworten beschrieben. Wir kennen sie alle: Von Glitzerwelt ist die Rede, von kickenden Millionären, Retortenklubs, Verlust von Tradition, Multifunktions-Arenen oder Eventfans.

Das große Stichwort lautet Kommerzialisierung. Es ist ein ständig genutzter, aber im Grunde irreführender Begriff, weil er etwas sehr vereinfacht und rein negativ zeichnet, was eigentlich sehr komplex ist und Sport und Zuschauer auch profitieren lässt. Wenn Kommerzialisierung der Vorgang ist, bei dem ideelle Dinge zunehmend von Wirtschaftsinteressen dominiert werden, hieße das ja, dass der Fußball ursprünglich etwas rein Ideelles war. Das war er aber so gut wie nie.

Kommerziell ist der Fußball spätestens seit Einführung des Profitums Anfang des letzten Jahrhunderts. Ein ökonomischer und politischer Spielball war er schon lange vorher, schon für die ersten englischen Unternehmer, die Werksvereine gründeten, um die Arbeiterklasse gefügig zu machen.

Unschuldig war der moderne Fußball nie. Die Ungleichheit, die jetzt viele beklagen, erleiden ganze Kontinente schon lange; Afrika und Südamerika etwa, die seit Jahrzehnten Spielerlieferanten für den reichen europäischen Markt sind. Richtiger wäre: Der Fußball erlebt eine Gehaltsinflation. Oder auch: Der (westeuropäische) Fußball erlebt einen Investitionsboom und vermehrte Ungleichheit innerhalb seines eigenen Systems. Und einen massiven Wandel seiner Kultur hin zum Entertainment. Die Vermarktung, die so alt ist wie die Fußballbildchen in den Zigarettenpackungen der 1920er Jahre, bringt durchaus Vorzüge: Gerade die Popularität des Fußballs hat Vereine lange vor dem Einfluss von einzelnen Investoren geschützt. Der Volkssport Nummer eins konnte hohe Summen durch Eintrittsgelder und Anhängerschaft generieren; gerade der von Wirtschaftsinteressen durchdrungene Fußball war paradoxerweise viel unabhängiger von einzelnen Großsponsoren als die meisten Randsportarten. Die großen Geldflüsse haben es möglich gemacht, dass Spieler aus Arbeiterfamilien die Chance hatten, sich dem Fußball zu widmen, sie haben die meisten technischen und taktischen Entwicklungen ermöglicht, und der große Boom der 1990er rettete den Fußball aus der tiefen Krise der 1980er Jahre.

Viele Anhänger von Randsportarten schauen bis heute mit einem gewissen Befremden auf den Kommerzhass der Fußballfans, ein Erste-Welt-Problem, wenn andere Sportarten um jeden Cent ringen müssen. Im Fußball aber hat der rapide Investitionsboom einen Kulturschock ausgelöst. Es herrscht eine diffuse Krisenstimmung in den Fankurven bei gleichzeitig anhaltend wachsenden Geldströmen und den bekannten positiven und negativen Konsequenzen. Und das schafft die ideologische Erzählung für viele fangeführte Vereine.

Produkt des Investitionsbooms

Ihre Entstehung aber speist sich aus einer anderen Entwicklung. Denn ein Szenario, bei dem Fans aus Frust über den modernen Fußball massenhaft abwandern – eine seit zwanzig Jahren populäre These – ist nie eingetreten. Der Fußball ist noch nicht aus der Balance geraten. Zwar werden die nationalen Ligen Westeuropas seit Jahren von einigen wenigen Klubs dominiert, aber neue Player wie RB Leipzig, Paris Saint-Germain oder Manchester City halten das Kräfteverhältnis in beständigem Wandel; ergänzt wird die Entwicklung durch den Investitionsboom etwa in China.

Beschwerden über die sogenannte Kommerzialisierung gehören an den meisten Orten zum guten Ton, aber auf den Stadiongang hat das kaum sichtbaren Einfluss. Die meisten Fans scheinen sich weiter gut zu amüsieren. Und die Großklubs akkumulieren immer mehr Fanmasse. Die Abwanderung in die kleinen Ligen, wo alles gefühlt echter, näher, ursprünglicher ist, fand als größere Bewegung nie statt. Es wäre auch kaum sinnvoll, denn offenkundig sind kleine Vereine genauso Teil des kapitalistischen Systems; die Abhängigkeit von einem einzelnen Sponsor oder Mäzen ist in den unteren Ligen sogar oft viel größer als im Profibereich. Fanvereine entstehen also nicht, wie gern suggeriert wird, weil das Publikum sich entfremdet fühlt und abwendet. Fanvereine sind ein Produkt des Investitionsbooms. Aber ein indirektes.

Entfremdung reicht nicht, damit Anhänger einen Fußballverein übernehmen oder einen eigenen Verein gründen. Nur in den seltensten Fällen entstehen Fanvereine, wie etwa der FC United of Manchester, als direkter Protest gegen einen Investor. Sie entstehen vor allem bei Insolvenz des Muttervereins. Und an dieser Stelle kommt die Investition ins Spiel. Durch die gestiegenen Geldmengen im Profifußball sind Vereine gezwungen, zunehmendes wirtschaftliches Risiko zu gehen, um erfolgreich zu sein. Ein Erfolgsdruck, der aus der Fankurve häufig noch verschärft wird. Fans sind Opfer und Täter zugleich in diesem System. Nach ein paar Niederlagen in Folge sind es viele Fans, die reflexartig nach neuen Spielern rufen, nach Entlassung des Trainers, nach mehr Geld. Viele Anhänger werten Erfolg über Langfristigkeit. Solides Wirtschaften wird im Fußball selten belohnt, Risiko aber verspricht schnelle Erfolge und hohe Popularität.

Die Folgen für Profiklubs sind enorm: Nach Recherchen von Jim Keoghan im Buch „Punk Football“ waren Insolvenzen in England bis in die 1980er Jahre in den ersten vier Ligen fast unbekannt; ab 1982 bis 2010 aber gab es 67 Insolvenzverfahren in weniger als zwanzig Jahren. Gleichzeitig schossen Gehälter und Investitionen in die Höhe. Die Vereine, die 1997 noch 47 Prozent ihrer Umsätze für Spielergehälter ausgaben, investierten im Jahr 2012 schon 70 Prozent in die explodierenden Spielergehälter. Die deutsche Bundesliga hat abgeschwächt eine ähnliche Entwicklung erlebt. In der Saison 1994/95 wurden umgerechnet 55 Millionen Euro in Spielertransfers investiert, von allen Vereinen insgesamt, in alle Transfers. Heute entspricht das zwei mittleren Einkäufen des FC Bayern oder einem Viertel von Neymar.

In Deutschland sind Fanvereine aufgrund verschiedener Faktoren trotzdem die Ausnahme geblieben. Und damit auch Fanvereine. In England und Spanien, wo das Insolvenzproblem besonders massiv ist, sind sie es nicht. Denn wenn der wirtschaftlich hoch pokernde Verein in eine existenzielle Krise gerät oder vor dem Aus steht, kommen die Fans in eine Situation, die es bis vor zwei Jahrzehnten kaum gab. Sollen sie den Verein untergehen lassen – oder sich aufmachen, ihn mit eigenen Händen zu retten.

Wir holen uns unseren Verein zurück

Warum tun sie das? Aus Liebe, gewiss. Aber geholfen hat etwas anderes: ein neues Verständnis davon, was ein Fan ist. Vor den 1990er Jahren wäre ein Fanverein nicht denkbar gewesen. Fanaktivismus, das war oft eher ein Plakat. Eine Prügelei. Eine Spendenaktion, um dem Verein in schlechten Zeiten auszuhelfen. Und in Ländern wie Deutschland und Österreich die Mitgliederversammlung. In den 1990ern aber, mit der Verbreitung der Ultrakultur, änderte sich das Selbstverständnis vieler Anhänger vom Konsumenten zur Interessenfraktion. Fanzines, soziokulturelle Fußballmagazine und eine ganze Sparte, die sich dem neuen Begriff Fankultur widmet, prägen die Vorstellung davon, was ein Fan ist. Sie fassen das Wort Fan weiter, intellektueller, sozial aktiver, etwa im Engagement gegen Homophobie und Rassismus. Sie werden zum Gesprächspartner für Klubs.

Und es entsteht Reibung. Teilweise, weil Fans sich überschätzen. Weil sie sich zum Richter machen wollen über Spieler, Trainer, Funktionäre. Und weil auf der anderen Seite oft Vereine stehen, die den kritischen Fan fürchten, die um jeden Preis Einmischung verhindern wollen. In diesem schwierigen Spielraum zwischen zu viel Macht der Basis und zu wenig bewegen sich auch viele Fanvereine. Der lokale Fan hat durch die Globalisierung des Spiels an Bedeutung verloren. Er ist sich dessen sehr bewusst. Gleichzeitig war der Fan in der Öffentlichkeit und in Gremien nie so präsent wie heute. Dass Fans derzeit an vielen Orten mit am Tisch sitzen, dass es Fanbeauftragte und Fanprojekte und Fanvertreter gibt, ist eine Entwicklung der letzten 25 Jahre.

Anhänger sind länderübergreifend organisiert; der Mythos, Fans würden „immer mehr marginalisiert“, greift viel zu einseitig. Es sind eher zwei entgegensetzte Entwicklungen: Ein Bedeutungsverlust des Fans als ökonomischer Faktor. Weil Profiklubs seit dem Boom der 1990er deutlich weniger abhängig von Einnahmen aus Eintrittsgeldern sind, weil Investoren im Verein massiver ihre Interessen durchsetzen, weil der Zuschauer in China das Trikot sowieso kauft, unabhängig von politischen Diskussionen im Verein. Lokale Anhänger von Großklubs sind in diesem Sinne Globalisierungsverlierer. Eine kleine Stimme bei einer globalen Marke.

Parallel gibt es eine Gegenentwicklung: den massiven Bedeutungsgewinn von Anhängern als Interessenfraktion, als organisierte Stimme im Geschäft, wie sie früher kaum denkbar war. Die fordert, freiwillig hilft und debattiert, deren Bedeutung sich in den Medien widerspiegelt, aber auch in der eigenen Wahrnehmung und manchmal in Selbstüberschätzung. Aus dem gleichzeitigen Bedeutungsverlust und Bedeutungsgewinn entsteht der Konflikt, der sich heute an vielen Orten abspielt, ein Ringen um eine vermeintlich alte Machtposition, die eigentlich eine neue Machtposition ist. Und als letzte Konsequenz eine radikale Steigerung: von Fans gegründete oder übernommene Klubs. Wir holen uns unseren Verein zurück.

Community Owned Clubs

Es gibt im Jahr 2017 in Großbritannien nach Angaben der Organisation Supporters Direct über 50 Community Owned Clubs. In Europa arbeitet der Ableger Supporters Direct Europe mit schätzungsweise 90 Vereinen und Initiativen zusammen. Es gibt noch einige mehr, die nicht mit der Organisation kooperieren. Der Community Owned Club hat sich innerhalb von zwei Jahrzehnten rasant über den ganzen Kontinent verbreitet. Unbemerkt von vielen Medien, die nur auf die großen Ligen schauen und nicht darauf, was sich darunter tut. Eine Gegenbewegung, die den Fußball zurück in die Gemeinschaft geben will.

Der Name Community Owned Club wird im Deutschen meist übersetzt mit Fanverein oder fangeführtem Verein. Aber das führt in die Irre, denn natürlich gibt es auch konventionelle Vereine, die von Fans geführt werden. Bei Union Berlin etwa sitzt mit Dirk Zingler jemand aus der Kurve auf dem Präsidentenstuhl, umgekehrt gibt es auch Klubbesitzer, die sich als Fans verstehen oder sogar selbst in der Kurve stehen. Supporters Direct also definiert den Community Owned Club so: „Ein Verein, bei dem mindestens 50+1 Prozent der Stimmrechte von einer demokratischen Einheit kontrolliert werden, die offene und inklusive Mitgliedschaft bietet.“ In Großbritannien, wo der Fußball viel früher und heftiger von Wirtschaftsinteressen dominiert wurde, ist schon diese Form der Mitsprache ungewohnt, obwohl es im Grunde nichts anderes bedeutet als mitgliedergeführter Verein. Nach englischen Maßstäben wäre also auch Schalke 04 ein Fanverein und aufgrund der 50+1-Regel in abgeschwächter Form nahezu jeder deutsche Verein.

In Deutschland dagegen versteht man als Fanverein üblicherweise einen Verein, der tatsächlich aus der Fanszene entstanden ist: Entweder wird er von Fans übernommen oder von Fans neu gegründet. Das Wort „Phönixklub“ beschreibt einen Klub, der aus der Asche eines alten, untergegangenen Vereins neu entsteht; ein häufiges Muster bei Fanvereinen. Es gibt auch ganz neu gegründete Konkurrenz- oder Protestprojekte, aber sie sind seltener. Gemeinsam ist ihnen allen die Mitsprache der Basis. Jeder, der einen Anteil oder eine Mitgliedschaft bei einem Fanverein erwirbt, hat Stimmrecht, und zwar eine Stimme pro Person. Es muss demokratisch zugehen, damit ein Klub als Fanverein gilt. Kein Investor darf die Mehrheit der Stimmrechte haben.

Abgesehen davon gibt es viele lokale Unterschiede: Es gibt Fanvereine, die alle zentralen Entscheidungen im Plenum abstimmen lassen. Und solche, die nur eine jährliche Mitgliederversammlung mit Entscheidungsmöglichkeiten haben, ähnlich wie bei einem konventionellen mitgliedergeführten Verein. Viele, aber nicht alle, sehen sich explizit auch als sozialen Versuch oder Community-Projekt. Sie sind häufig stärker sozial engagiert als konventionelle Vereine und sehr idealistisch. Die Grenzen zwischen mitgliedergeführtem Verein und Fanverein sind fließend; es ist auch eine Frage der (Selbst-)Wahrnehmung.

Wie viele Fanvereine es gibt, lässt sich nicht genau sagen – nicht alle sind vernetzt, es herrscht viel Fluktuation durch Neugründungen oder Scheitern, und unter den Vernetzten besitzen nicht alle Initiativen tatsächlich einen Verein. Einige halten nur Anteile oder ringen um Einfluss. Die Zahlen deuten darauf hin, dass es in Europa etwa 150 Vereine und Initiativen gibt. Das ist bemerkenswert. Erst um die Jahrtausendwende haben sich in England die ersten Fanvereine gegründet. Innerhalb von zwanzig Jahren ist das Bedürfnis danach in vielen Ländern rasant gewachsen. Neu aber ist es nicht.

Denn der Grundgedanke, dass ein Verein von seinen Anhängern geführt wird, ist fast so alt wie der organisierte Fußball selbst. Würden wir einen längeren Spaziergang zu den kleinen Plätzen im England des 19. Jahrhunderts unternehmen, wo Männer, oder zumindest größtenteils Männer, eine luftgefüllte Schweinsblase in eher ovaler Form herumkickten und das Fußball nannten, würden wir Zuschauer treffen, die sehr selbstverständlich ihren Verein auch führten. Die Fußballvereine in den Anfangszeiten kannten diverse Formen: Unter ihnen waren die von der Kirche oder einer Schule getragenen, eher gutbürgerlichen und elitären Konstrukte, die Arbeitervereine, die oft von ihrem jeweiligen Werk finanziert wurden, Mischungen und ganz unabhängige, wilde Konstrukte.

Die Wurzeln von Schalke 04 etwa liegen, wie Dietrich Schulze-Marmeling in „Der gezähmte Fußball“ zeigt, in einer Straßenmannschaft von Jugendlichen, die sich selbst organisierte. Der erste Vorsitzende war ein 14-jähriger Teenager, mindestens zur Irritation des Establishments. Die Trennung zwischen Fans und Fußballfunktionären war noch nicht vollzogen. Vereine wurden häufig von eben denen geführt, die sie unterstützten: Ex-Spielern, Freunden und Nachbarn der Sportler oder von lokalen Geschäftsleuten. Und während Mitsprache im Mutterland durch die Professionalisierung schnell an Bedeutung verlor, blieb sie in einigen Ländern bis heute verankert. In Deutschland, wo die Tradition der Vereinsmitgliedschaft wesentlich stärker ist, blieb die Idee bis in die Sky-Ära präsent – auch wenn heutige Mitglieder etwa des FC Bayern auf die Ausrichtung des Klubs fast keinerlei Einfluss haben. Was zu der Frage führt, ob es überhaupt gut ist, wenn Mitglieder mitreden.

Was also kann Fanführung?

„Denken Sie etwa, Porsche, Mercedes oder DHL würden ihre Anteilseigner vor jeder Entscheidung nach ihrer Meinung fragen?“, fragte Ralf Rangnick einmal provokant, als man ihn auf das umstrittene Mitsprachemodell seines RB Leipzig ansprach. Und in Bezug auf andere Bundesligaklubs hat Rangnick recht. RB Leipzig und Borussia Dortmund etwa unterscheiden sich in Sachen Mitsprache weniger voneinander, als Klub- und Fanpropaganda es suggerieren. Es ist kaum möglich, bei einem global operierenden Unternehmen das Publikum in strategische Entscheidungen einzubinden. Selbst bei einem eingetragenen Verein wie Schalke 04 ist echte Mitsprache häufig nur schwer möglich. Und oft ist das, was manche Aktivisten fordern, an der Basis gar nicht gewollt: An vielen Standorten nehmen Fans ihr Wahlrecht kaum wahr. Nur eine kleine Minderheit erscheint zu Mitgliederversammlungen. Wenn sie es tun, dann finden Erfolgsversprechen in fast allen Szenen mehr Unterstützung als Mitsprache.

Die Floskel, der Fußball ließe sich verbessern, wenn Vereine nur mal auf ihre Fans hören würden, zeichnet ein falsches Bild. Auch und gerade Fans fordern Erfolg und verzichten dafür häufig gern auf Demokratie. Was also kann Fanführung? Wenn man es wörtlich nimmt, kann ein mitgliedergeführter Verein auch heute noch die Champions League gewinnen: Real Madrid und Barcelona etwa sind beide mitgliedergeführt. Alle Fans, die den jährlichen Mitgliedsbeitrag zahlen, haben Stimmrecht bei der Wahl des Präsidenten. Wirtschaftlich nachhaltiger oder ethischer aber macht es das Verhalten der Vereine sicherlich nicht: Real und Barça allein hatten 2015 einen gemeinsamen Schuldenberg von 767 Millionen Euro angehäuft. Zwischen 2009 und 2014 gab Real 600 Millionen Euro für Neuzugänge aus. Bei den Wahlprogrammen der Präsidentenwahl geht es vor allem um populistische Versprechen von möglichst großen Transfers.

Sind also fangeführte Klubs überhaupt in irgendeiner Weise besser oder vorzeigbarer als konventionelle Vereine? Die mitgliedergeführten großen Player wohl kaum. Die neuen, kleinen erheben dagegen tatsächlich Anspruch darauf, ethischer zu handeln. Können sie es? Um die Jahrtausendwende tritt der Fanverein aufs Parkett.

„Als ich angefangen habe, wurden Fans als randalierende, Bier trinkende Idioten gesehen“, sagt Antonia Hagemann von Supporters Direct Europe. „Am Anfang mussten wir richtig dicke Bretter bohren. Man sitzt im Raum mit älteren Männern irgendeines Verbandes, und man sagt: Ihr seid doch auch Fans. Speziell für mich als Frau war es nicht leicht. Mittlerweile sitzen wir in EU-Expertenkommissionen, wir werden gehört. Die Akzeptanz von organisierten Fans hat sich verbessert. Aber wir sind immer noch das schwächste Glied in der Kette.“

Die Welt ändert sich im Jahr 2000, als sich in England Supporters Direct gründet. Eine Organisation, die Fans dabei unterstützt, Trusts zu gründen und einen eigenen Fußballverein zu führen. Die Gründung eines neuen Vereins propagieren sie weniger. Fans sollen, so will es die Organisation, zuerst versuchen, mehr Einfluss im alten Verein zu gewinnen, mit Dialog von innen heraus Veränderungen anstoßen. Ein neu geschaffener Fanverein ist die letzte, weil schwierigste Option. Aber es ist oft die einzige Möglichkeit, die bleibt; die Situation in vielen kriselnden Großklubs ist so verfahren, der Schuldenstand so hoch oder die Vereinsführung so korrupt und unkooperativ, dass das letzte Mittel, die Neugründung, zum ersten Mittel wird.

1997 wird in England die Idee der Fanübernahme geboren, eine Idee, die vor allem aus der Not entsteht. Anhänger in Bournemouth haben 400.000 Pfund gesammelt, um ihren Verein vor der Insolvenz zu retten, und weil die Gläubiger keinen anderen Vorschlag akzeptieren, erhält im Juni 1997 der Trust den Auftrag, den AFC Bournemouth zu führen. Plötzlich also sitzt in England, dem Fußballland der Scheichs und Oligarchen, ein Fan auf dem Präsidentenstuhl. Und Bournemouth, ein kleines Licht am großen Tisch der Fußballwelt, wird zum ersten Klub auf der Insel, dessen Anteile mehrheitlich den Anhängern gehörten. Ein Fanverein, ein Gewächs der Krise. Die Idee breitet sich über Großbritannien nach ganz Europa aus. Seit etwa 2007 vernetzen sich die Vereine auch untereinander: ein enormer Vorteil, um gegenseitige Erfahrungen austauschen und Richtlinien für erfolgreiche Projekte zu erarbeiten. Denn längst nicht jedes Projekt läuft gut. Die Weisheit der Masse kann trügerisch sein.

Kann Mitbestimmung den Fußball besser machen?

Eine populäre Anekdote erzählt davon, wie Besucher einer westenglischen Nutztiermesse 1906 im Rahmen eines Gewinnspiels das Schlachtgewicht eines Rindes schätzen sollten. Sie schätzten so genau, dass der Mittelwert aller 787 Schätzungen besser war als die Schätzung jedes einzelnen Teilnehmers, inklusive Experten. Es entstand die Idee von der Kompetenz der Masse: Wenn viele Menschen mitreden, seien die Ergebnisse besser und genauer als bei Entscheidungen von Einzelnen. Fanvereine leben ein Stück weit von Schwarmintelligenz.

Das Fußballgeschäft aber ist wesentlich komplexer als das Gewicht eines Rindes; es geht nicht um schlichtes Wissen, sondern um die Abwägung verschiedenster Faktoren. Und die Beziehung von Menschen zu ihrem Verein ist emotionaler, es bilden sich leicht populistische Strömungen und trotzige Fraktionen. Fanvereine im Fußball wachsen mit dem Internet, und sie sind zu einem gewissen Grad auch Kinder des Internets: Sie glauben an die Crowd. Erst durch die Vernetzung wird es möglich, dass Fans sich organisieren. Gerade bei großen, heterogenen Fanszenen kann viel Macht der Masse ein mächtiges Problem werden. Wo viele Köpfe mitreden, kommt es zu Streit, zu Mobbing und erschöpfenden Grabenkämpfen. Viele Klubs machen außerdem die Erfahrung, dass Mitsprache den Menschen vor allem in einer Krise wichtig ist: Läuft es schlecht, kämpfen sie mit unendlich viel Herzblut für den Verein. Läuft alles gut, gibt es wenig Interesse. Das Ehrenamt ist ein hartes Amt, besonders, wenn der Erfolg sich nicht einstellt. Und wenn dann ein Investor kommt und Titel verspricht, passiert es mitunter, dass die Fans ihre Demokratie gar nicht mehr wollen. Und sich selbst wieder abwählen.

Ist also das Konzept Mitgliederführung im Fußball überholt? Ein ideologischer Dinosaurier, abgelöst von einem Konstrukt wie Red Bull, dessen Vereine so gut wie ohne Mitsprache auskommen? Oder hat die neue Bewegung die Kraft, den Fußball besser zu machen? Und wenn ja, wie viel sollten Fans mitbestimmen dürfen? Vielleicht können die Geschichten in diesem Buch helfen, einige der Fragen zu beantworten.

Am Ende ist die Reise von Fanvereinen noch lange nicht. Einige Verbände fangen gerade erst an, sich wirklich für sie zu interessieren. In Israel sollen fangeführte Klubs künftig staatliche Förderung bekommen, in Georgien und Armenien gibt es ähnliche Überlegungen. In Spanien verhandelte die Fanorganisation FASFE 2017 über die Einführung einer Art 50+1-Regel. SD Europe leitete 2017 ein großes Projekt mit acht Vereinen aus verschiedenen Ländern und acht nationalen Fanorganisationen, das von der EU finanziert wurde. Fanvereinen wird zugetraut, etwas zu bewegen. Sie sind neu, sie sind aufregend, sie bieten eine Alternative. Wenn man sie richtig angeht. Und haben doch große Schwierigkeiten, sich im aktuellen System zu behaupten. Bis wohin die Macht der Masse gehen sollte, unter welchen Umständen Fanvereine funktionieren oder scheitern und ob Anhänger überhaupt langfristiges Interesse an Demokratie haben, mag hoffentlich die ein oder andere Erfahrung eines Fanvereins zeigen.

Ich habe versucht, ein möglichst vielfältiges Bild zu zeichnen. Die Porträts in dem Buch erzählen von Vereinen in ganz Europa, bei denen Fans sich als Eigentümer oder Funktionäre versuchen. Von Kreisligisten bis zu Profiklubs, von Erfolgsprojekten und Gescheiterten und denen dazwischen. Aus Deutschland und Österreich, aus Spanien, Italien und England, aus Kroatien und Israel. Manche, wie der englische AFC Wimbledon, sind gefeierte Superstars und spielen mittlerweile im Profifußball mit. Andere, wie Austria Salzburg, sind zerrissen und kämpfen gegen das Aus. Und der AFC Telford United oder Fortuna Köln sind heute überhaupt nicht mehr fangeführt.

Die Beweggründe für ihre Entstehung sind verschieden, und dasselbe gilt für ihre Fanszenen: Manche wurden aus Protest gegen einen Eigentümer gegründet, manche als Rettungsversuch in einer Krise, und einige, wie das israelische Beitar Nordia, aus ganz anderen, politischen Gründen. Dort handelt die Geschichte nicht mehr so sehr vom Kampf gegen Kommerz, sondern von Rassismus und von einer Szene, die versucht, ihren Weg in einem heiklen politischen Umfeld zu finden.

Klubs in Osteuropa kämpfen mit anderen Hindernissen als die in Großbritannien; und während sich in Deutschland und Österreich im Moment nicht viel tut, wächst die Zahl der Fanvereine ausgerechnet in zwei Ländern, wo wenige sie erwartet hätten: in Spanien und Italien. Und muss man überhaupt seinen Verein neu gründen, um etwas zu verändern? Nicht unbedingt. Die Geschichte aus Gelsenkirchen handelt davon, wie Fans versuchen, Dinge von innen zu verändern. Mal erfolgreich, mal weniger. Ihre Geschichten erzählen die, die es erlebten: die Fans an der Basis und die neuen Präsidenten und Vorstandsmitglieder, und die Trainer und Spieler. Die also, die jede Woche zum Platz gehen, auch bei Nieselregen, nach acht Stunden Arbeit und meist ohne jede Bezahlung, weil sie ihren Verein lieben. Die darauf hoffen, wirklich etwas zu bewegen. Und es oft genug tun.

Danken möchte ich all den Fanvereinen, die sich die Zeit nahmen, mir ihre Geschichte zu erzählen. Die es möglich machten, bei einem Besuch hinter die Kulissen zu schauen, und die sich meist nicht scheuten, auch über ihre Schwierigkeiten zu sprechen. Ein großer Dank auch an die Fans und Trainer, die ihre persönlichen Geschichten erzählt haben, obwohl sie teilweise gar nicht mehr im Verein aktiv sind. Danke an die Fanvereine für das Bildmaterial. Und an SD Europe für die vielen Gespräche, Informationen, Kontakte und das Material. Außerdem vielen Dank an den Verband Deutscher Sportjournalisten (VDS), der mir mit einem Stipendium einen Teil der Recherchereisen möglich gemacht hat.

Zuletzt noch ein Hinweis: Vereine, die ihren Fans gehören und in denen Mitglieder mitbestimmen, gibt es nicht nur in Europa. Es gibt sie von Argentinien über Nigeria bis Japan, und nicht nur im Fußball. Berühmtestes internationales Beispiel ist vielleicht der US-amerikanische NFL-Klub Green Bay Packers, der seit 1923 mitgliedergeführt ist und im Jahr 2016 über 300.000 Anteilseignern gehörte. Es würde den Rahmen sprengen, all die Klubs in einem Buch zu behandeln. Die Geschichten bleiben also im europäischen Fußball, in loser Reihenfolge. Und sie beginnen, wo auch die ersten Fanvereine entstanden: in England um die Jahrtausendwende.

Wir sind der Verein

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