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Kapitel 1 – AFC Wimbledon

Aufbruch im Mutterland

Der AFC Wimbledon ist der Star unter den Fanvereinen. Ein Pionier, der es von ganz unten bis fast ganz oben schaffte und weiß, wie man eine Geschichte erzählt. Am Anfang steht ein rücksichtsloser Umzug.

Wenn Ivor Heller im Nachhinein den Moment sucht, an dem die Dinge in Bewegung gerieten, erinnert er sich an einen Abend im November im Jahr 2001. Andere Wimbledon-Fans, sagt er, mögen andere Momente nennen, es gibt viele Anfänge einer Revolution, aber für ihn ist genau das der Abend, an dem die Geschichte beginnt.

Es ist November, ein Herbstabend im Süden Londons, und Ivor Heller, seit Kindertagen Fan des FC Wimbledon, ist mit ein paar anderen Fans in seiner Heimatstadt unterwegs. Fußball hat sie aus den Häusern in den Herbst getrieben, aber es ist kein Spiel ihres kriselnden Vereins, des gerade aus der boomenden Premier League abgestiegenen FC Wimbledon, das die Fans aus dem gemütlichen Heim treibt. Sondern Business. Eine Besprechung, die schlecht gelaufen ist.

Es ist eine kleine Gruppe, die da durch London geht: Ivor Heller, Besitzer einer kleinen Druckerei, Kris Stewart, Finanzberater, und ein paar Bekannte, auch sie aus der Fanszene. Und sie kommen von einem Treffen mit dem damaligen Klub-Präsidenten Charles Koppel. Der Präsident hat die Fans eingeladen.

Dass ein Präsident mit Fans verhandelt, ist neu. Doch nun gehen sie enttäuscht durch die kühle Herbstnacht. Schon länger gärt in Wimbledon ein Streit zwischen dem Vorstand und Teilen der Fanszene, es geht um Tradition und Heimat und Respekt. Und so sehr haben sich die Fronten verhärtet, dass Koppel keine andere Möglichkeit sieht, als die Gegenfraktion zum Gespräch zu laden.

Der FC Wimbledon, in den 1990er Jahren ein Verein mit Talent für Chaos, sucht ein neues Stadion – das ist die Ausgangslage. Weil sich in London keine Dauerlösung findet, zieht die Vereinsführung in Erwägung, den Klub in eine andere Stadt zu versetzen. Einige potenzielle Standorte erledigen sich von selbst, aber der Verein, der einigermaßen ratlos gegen den eigenen Niedergang kämpft, bringt für jedes abgelehnte Szenario ein neues ins Spiel. Sogar Dublin ist im Gespräch. Dublin in Irland. „Dublin in Irland“, sagt Ivor Heller heute immer noch ungläubig, „das muss man sich mal vorstellen.“ Für die größtenteils lokal verwurzelte Anhängerschaft würde ein solcher Umzug ganz offensichtlich die Bindung zum Verein kappen. Sie sind Verlierer der fußballerischen Globalisierung. „Dublin = Tod“ hat Ivor Heller in seiner Druckerei auf Plakate schreiben lassen.

Viel Aufmerksamkeit gibt es für die Proteste in der Presse; Fans, die mit dem Rücken zum Spielfeld stehen, die sich auf die Straße legen und den Mannschaftsbus bei der Abreise blockieren, es sind einprägsame Bilder. Man habe sich den Arsch abgefroren, als sie auf dieser Straße lagen, erinnert sich Heller. Aber was soll’s, es erregt Aufsehen.

Im Herbst 2001 hat sich der Machtkampf gewendet: Der Geschäftsmann Pete Winkelman und sein Milton Keynes Stadium Consortium (MKSC) wollen den FC Wimbledon in die Planstadt Milton Keynes holen, rund eineinhalb Stunden von London entfernt. Das Novum im englischen Fußball nimmt Gestalt an. Auch heute, nachdem die Geschichte tausendmal erzählt, tausendmal verklärt wurde, hat der Einschnitt wenig von seiner Härte verloren: Der Verein aus dem Süden Londons soll rund 55 Meilen nach Norden verpflanzt werden.

Alles nur Gerede?

„Am Anfang der Saison war es einfach nur Gerede“, erinnert sich Ivor Heller. „Die Fans haben es nicht so ernst genommen. Wir waren sehr wütend, aber wir haben nie geglaubt, dass der Umzug wirklich passieren würde.“ Auch die FA ist gegen eine so radikale Umsiedlung. Doch das Präsidium des FC Wimbledon ist in der finanziellen Not zu vielem bereit. Charles Koppel erwägt eine Klage gegen den englischen Verband. Die FA will es sich nicht leisten, in einen langen Gerichtsstreit mit einem ihrer Vereine zu geraten. Und Milton Keynes ist jetzt eine realistische Option.

An diesem Herbsttag im November beim Treffen mit dem Präsidenten, an dem Tag, wo beide Seiten versuchen, zu reden, wird Ivor Heller zum ersten Mal klar, dass er seinen Verein verlieren könnte. „Koppel dachte, sie würden gewinnen“, sagt Heller. „An dem Abend konnte ich es sehen. Ich habe gesehen, dass sie dachten, sie gewinnen.“ Heller sagt, der Präsident wolle ihn damals überreden, den Fans in Wimbledon den Umzug schmackhaft zu machen. Ivor Hellers Druckerei ist wichtig für die Proteste. In den vergangenen Monaten sammelte sich hier eine Bewegung, eine neue Energie entstand. Sie drucken Plakate. Erstellen Flyer. Besprechen alte Aktionen und überlegen sich neue Aktionen, all das läuft über Ivor Heller. Und jetzt hat er das Gefühl, dass man ihn als Sprachrohr will, um die wütenden Anhänger zu beruhigen.


Von einer aussichtslosen Lage zum Triumph: jubelnde Fans des AFC Wimbledon.

„Das hätte ich nie getan“, sagt Heller. Er ist ein kleiner, dicklicher, temperamentvoller Mann, der findet, dass er Unternehmergeist hat. Ivor Heller ist nicht vorsichtig. Jeder Satz ist ein Risiko und ein Ausrufezeichen. Heller ist einer von der Basis. Er hat den Stallgeruch und die einfache, radikale Sprache, die keinen Zweifel lässt. Er unterteilt die Grenzen klar und ohne Zögern, hier ist richtig, da ist falsch. Und er fühlt sich als einer von denen, die für das Richtige kämpfen. Die Boulevardpresse wird später Geschichten darüber schreiben, wie Heller seinen Job und seine Beziehung für seinen Verein opferte. Er wird sagen, dass er nichts von beidem bereute.

An dem Novemberabend an einer Straße im Südwesten von London geht Ivor Heller neben Kris Stewart, der während der Proteste zum Freund wurde. „Weißt du was?“, sagt Heller zu Stewart. „Wenn sie gewinnen, fangen wir einfach von vorne an.“ Er sagt es impulsiv so dahin, wie er vieles impulsiv tut. Mit einem neuen Klub, denkt er in dem Moment, wären sie vielleicht besser dran. „Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl: Selbst wenn wir die Schlacht verlieren, gewinnen wir den Krieg.“ In der mythischen Geschichte des AFC Wimbledon ist das Pathos dieses Satzes genau die richtige Dosis. Heller denkt sehr selbstverständlich in Schlachten und Kriegen, er meint es so. Und dann gehen sie nach Hause. Es fühlt sich nicht historisch an. Und Ivor Heller vergisst, was er gesagt hat. Zwei Wochen später klingelt das Telefon. Am anderen Ende der Leitung ist Kris Stewart. Er fragt: „Du meintest das ernst mit dem Neuanfang, oder?“ Heller sagt einfach: „Ja.“ Ab dem Moment meint er es wirklich ernst. Ein halbes Jahr später werden die Fans in England zu Pionieren: Sie gründen ihren eigenen Verein, den AFC Wimbledon.

„Lass uns das doch einfach noch mal machen.“

Wimbledon ist für den, der uneingeweiht und oberflächlich durchspaziert, kein Ort, wo eine Revolution ihr natürliches Zuhause findet. Fünfzehn Jahre nach der Gründung des Fanvereins AFC Wimbledon liegt der Vorort wohlhabend und friedlich schweigend und beschaulich da, wenn auch nicht so reich, wie das Klischee gern erzählt. Es gibt eine schäbige Pizzabude, kleine Vorgärten, Schilder mit „Vote Labour“ kurz vor der Wahl, und wirklich auf allen dieser Schilder steht „Labour“. Die Häuser reihen sich fast identisch aneinander. Trotzdem hat der alte FC Wimbledon eine ungewöhnlich wohlhabende Anhängerschaft. Nach Recherchen von Andrew Ward und John Williams für das Buch „Football Nation“ verdienen um die Jahrtausendwende 23 Prozent der Dauerkarteninhaber des Vereins mehr als 50.000 Pfund im Jahr. Es ist der zweithöchste Wert im englischen Profifußball – nach dem FC Chelsea.

Der FC Wimbledon ist eine sozial interessante Mischung. Gutbürgerliche bis reiche Anhängerschaft unterstützt einen Verein, dessen Etat unterdurchschnittlich, dessen Spieler überwiegend Working Class und dessen Position die des Underdogs ist: In den 1970er und 1980er Jahren steigt der ehemalige Non-League-Klub mit winzigem Budget bis in die erste Liga auf und gewinnt 1988 gegen den hoch favorisierten FC Liverpool den FA Cup. Dieser FC Wimbledon ist ein wilder Gegensatz zum Ruf seines Bezirks: schnoddrig, ranzig, mit hässlichem Kick-and-Rush-Fußball und einer Mannschaft, die sich einen Ruf fürs Saufen und Raufen und Treten erarbeitet. Herzstück dieser „Crazy Gang“ (Spitzname des FC Wimbledon in den 1980ern und 1990ern) ist das heruntergekommene Stadion Plough Lane mit seinen nackten Kabinen, Sanitäranlagen ohne Klopapier, Legenden von mit Salz befüllten Zuckerstreuern. Vielleicht ein plausibler Ort einer Revolution; Aufruhr gegen die gepflegte Schönheit drumherum.

Ivor Heller kommt zum ersten Mal an die Plough Lane, als er sieben oder acht Jahre alt ist. Sein Fußballtrainer hat ihn mitgenommen. Es ist ein Dienstag in den Schulferien Anfang der 1970er. Damals gehen nicht viele zum FC Wimbledon, in Hellers Erinnerung sind es vielleicht 1.200 Leute. Aber das fasziniert ihn: „Ich habe das geliebt. Den Geruch des Ortes, die besondere Atmosphäre, weil jeder jeden kannte. Man konnte die Erde riechen und die Trikots, und die Menschen haben sich miteinander unterhalten, nicht wie anderswo, wo man einander nicht kennt.“ Nebenbei kann Heller, damals wie heute klein gewachsen, auf der halb leeren Tribüne leicht das Spielfeld sehen. Auch das ist für ihn ein gutes Argument. Aber er verliebt sich erst, als er kurz darauf mit der Gleichgültigkeit des kleinen Jungen, der den Fußball gerade erst entdeckt, zu einem anderen Verein geht: zum FC Chelsea. Danach weiß Ivor Heller, was er nicht will. Er findet die Atmosphäre anonym, unterkühlt und brutal. Fansein beginnt bei Ivor Heller mit dem Stolz, dem FC Chelsea widerstanden zu haben. Fortan verpasst er kein Spiel des FC Wimbledon mehr. Und als sich der Fanverein AFC Wimbledon gründet und von ganz unten neu startet, ist es möglicherweise ein Vorteil, dass sie es gewöhnt sind, Underdogs zu sein. „Als wir in meiner Kindheit in den Amateurligen waren, haben wir so viel Spaß gehabt“, sagt Ivor Heller. „Also haben wir gesagt: Lass uns das doch einfach noch mal machen.“

„Ach, das ist ja wirklich möglich.“

Wie aber kommen sie dazu? Was bringt Fans dazu, ihren Verein zu verlassen? Lust auf Amateurfußball ist es jedenfalls nicht. Auch kein Protest gegen den Kommerz des englischen Profifußballs, wie es später oft erzählt wird. Eher eine Notsituation, in der es kaum eine Alternative gibt. Der Außenseiter FC Wimbledon (übrigens sehr schnöde von einem Milliardär geführt und in dieser Hinsicht sicher kein Underdog) verliert in den 1990er Jahren rapide den Anschluss an die boomende Premier League. Schon 1991 muss der Verein aus dem alten Stadion Plough Lane ausziehen, weil es den Sicherheitsanforderungen nicht mehr genügt. Es ist der Beginn eines rapiden Niedergangs. Der damalige Klubbesitzer Sam Hammam verkauft das Stadion für acht Millionen Pfund – und er lässt, wie sich später herausstellt, seine eigene Firma die Hälfte davon einstreichen.

Der heruntergewirtschaftete FC Wimbledon also braucht ein neues Stadion, damit beginnt die Standortsuche. Mal soll der Klub nach Wales ziehen, dann eben nach Dublin. Dass der Verein aus Süd-London in einen anderen Staat ziehen soll, ist nicht absurd genug. Und die Beziehungen zwischen Führung und einem Großteil der Fans, die sich an die Plough Lane zurückwünschen, werden schlechter. 1995 passiert in Wimbledon etwas Neues: Es gründet sich die WISA (Wimbledon Independent Supporters Association), um die Positionen der Fans gegenüber der Klubführung zu vertreten. Sie werden das zwar nicht besonders erfolgreich tun, aber es ist ein Signal von Aufruhr.

Auch an anderen Orten in England entstehen zu dieser Zeit die ersten Fanverbände und Interessensvertretungen. „In den 1990er Jahren hat sich das Spiel geändert“, sagt der Autor Jim Keoghan, der das Buch „Punk Football“ über englische Fanvereine verfasst hat. Er selbst ist kein Freund des neuen Reichtums im englischen Fußball: „Die Premier League ist Fußball von der schlimmsten Sorte. Fans wurden immer mehr gemolken und marginalisiert, und daraus entstand eine Reaktion.“ Wer als Klub in der Premier League bestehen will, muss jetzt deutlich größere wirtschaftliche Risiken eingehen als früher; eine Lawine von Vereinen gerät durch den extremen Konkurrenzkampf in finanzielle Schwierigkeiten. 1997 übernehmen beim AFC Bournemouth in finanzieller Not zum ersten Mal Anhänger eine Mehrheit der Anteile.

„Am Anfang war Fanführung der letzte Ausweg“, sagt Niamh O’Mahony, die sich bei Supporters Direct Europe für Fanvereine engagiert und selbst beim fangeführten irischen Verein Cork City aktiv ist. „Aber dann wurde es allmählich zu einer ernstzunehmenden Alternative. Ich werde immer als Erstes gefragt: Wie soll Fanführung funktionieren? Es ist kein Geheimnis dabei. Man heuert Leute an, die Erfahrung haben und den Klub führen können, so wie es ein Privatbesitzer täte. Und dann führt man den Verein nachhaltig.“ Meist geht das über einen Supporters’ Trust, eine Faninitiative, die Anteile am Klub hält oder ihn komplett besitzt. Anhänger können dann ihren Anteil kaufen und damit eine Stimme erwerben. „Die Leute warten darauf, dass jemand vorangeht“, sagt O’Mahony. „Wenn ein Klub in einem Land etwas anstößt, kommen die anderen nach. Sie sagen: Ach, das ist ja wirklich möglich.“


Noch ist jedes Stadion Übergangslösung. Erst 2019 soll es zurück in die neue, alte Heimat Plough Lane gehen.

In Northampton und Bournemouth brodelt es zum ersten Mal. Aber die erste Neugründung, der erste wirkliche Fanverein, das ist der AFC Wimbledon 2002. Entstanden aus dem Trauma, dass der eigene Verein in eine völlig fremde Stadt verlagert wird; entstanden aus Wut und Trotz und jahrelangem Streit. Der ursprüngliche Verein geht 2002 nach Milton Keynes und trägt bald den Namen Milton Keynes Dons. Und etwa 4.600 Fans, rund ein Drittel der Anhängerschaft, besuchen in ihrer Heimatstadt das erste Spiel des neuen AFC Wimbledon, der keinem Investor, sondern seinen Anhängern gehört.

„Fanführung ist nicht für jeden“

Die Geschäftsstelle des AFC Wimbledon sieht immer noch amateurhaft aus. Sie liegt versteckt im kleinen Stadion Kingsmeadow, wo der Verein 2017 seine Heimspiele austrägt, bis es 2019 in die neu gebaute, alte Heimat Plough Lane gehen soll.

Es ist ein heißer Nachmittag im Mai. Ein paar Kinder kommen gerade in Sportklamotten vom Training, und in der engen Geschäftsstelle, die in die Stadionkatakomben gequetscht ist, arbeiten noch Freiwillige. Kleine Büros, die unerwartet im Gang auftauchen, wenig Licht, familiäre Atmosphäre vor schmucklosen weißen Mauern. Von Hand beschriebene Whiteboards. Das Gebäude ist Fußballprovinz. Aber der AFC Wimbledon selbst, der 2002 in der Combined Counties League von fast ganz unten startete, ist wenig provinziell. Der Fanverein ist mittlerweile ein Drittligist, ein Profiklub. Sie planen den Weg in die zweite Liga, sobald das neue Stadion genug Publikum zieht, und das ist nicht unrealistisch: Für 11.000 Zuschauer ist es gedacht, und alles andere als regelmäßiger Ausverkauf wäre eine Überraschung.

Der AFC Wimbledon, das ist die Fangeschichte aus dem Drehbuch. Bisher ist kein englischer Fanverein sportlich so erfolgreich gewesen wie Wimbledon. Sie haben den Durchmarsch von den Niederungen des Amateurfußballs in die dritte Liga geschafft. Einen neuen Landesrekord von 78 Spielen am Stück ohne Niederlage. Aufstieg um Aufstieg um Aufstieg, Zuschauerrekord um Zuschauerrekord. Und vor allem hat keiner es geschafft, sich so gut zu vermarkten. Zig Bücher sind über die erst fünfzehnjährige Vereinsgeschichte erschienen, Dokumentationen, Bildbände, ungezählte Zeitungsartikel im In- und Ausland. Der AFC Wimbledon ist jedem Fanverein ein Begriff und vielen ein Idol.

Im Kingsmeadow Stadion sind sie Anfragen von Journalisten gewohnt; ein Buch über Fanvereine mit einem Wimbledon-Kapitel? Ah ja, na klar. Aber sie nehmen sich die Zeit, als wäre es die erste Geschichte, nicht die hundertzwanzigste. Werden sie des Hypes nie müde? Sie sind sich ihrer Vorbildfunktion bewusst. „Wenn Leute wissen wollen, wie Fanvereine funktionieren, kommen sie zu uns“, sagt Erik Samuelson schlicht. Er ist Geschäftsführer des AFC Wimbledon. Sein Wirkungskreis ist ein kleines, stickiges Büro, sparsam eingerichtet mit Schreibtisch und ein paar Stühlen. Auf einem hockt eine einigermaßen gelangweilt aussehende Schülerpraktikantin. Der Präsident versucht, sie mit ein paar Späßchen zu unterhalten – und hat Erfolg. Charme und Humor kann Samuelson. Er stellt schnell eine Illusion von Nähe her, und er erzählt persönlich. Ein Rahmen mit Fotos hängt an der Wand: Aufstiege, Torjubel, Siegesfeiern des AFC Wimbledon. Auf einem der Fotos ist sein Sohn bei der Aufstiegsfeier zu sehen, auch der natürlich Wimbledon-Fan. Während der Feier schrieb er seinem Vater eine SMS: „Gut gemacht, Papa“. Es ist Samuelsons schönste Erinnerung. Er sagt, er sei gerne hier im Büro. Jeder finde die Kammer furchtbar, stellt er vergnügt fest, vor allem die Luft, aber er nicht so sehr. 60 bis 70 Stunden pro Woche arbeitet Samuelson hier unentgeltlich für seinen Verein. Er hat Geld genug, sich das leisten zu können. Zu ihm kommen die Leute aus halb Europa, um über Fanführung zu reden – ein Trikot eines israelischen Fanvereins liegt neben ihm auf dem Stuhl, Hapoel Katamon, irgendwann mal ein Geschenk, aber Samuelson erinnert sich nicht wirklich. Er sei bei Fanvereinen nicht so bewandert, sagt er. Er unterscheidet auch nicht zwischen fangeführt und nicht fangeführt. „Ich versuche nicht, irgendjemanden zu bekehren. Jeder Verein muss selbst seinen Weg finden. Und Fanführung ist nicht für jeden.“

Für wen ist sie dann? Erik Samuelson ist ein ungewöhnlicher Mosaikstein in der Erfolgsgeschichte des AFC Wimbledon. Wer an Fans im Präsidentenstuhl denkt, stellt sich nicht Samuelson vor; einen älteren, intellektuellen Herrn mit Charme und rhetorischem Geschick, der auch als Geschäftsführer von Manchester United funktionieren würde. Samuelson ist Haupttribüne, nicht Stehplatz. Viel zu bildungsbürgerlich, um als einer von der Basis durchzugehen, aber mit einer gewissen Bescheidenheit, die ihm Zugang verschafft zur Kurvenklientel. Das Geld, das es ihm offenbar möglich macht, seine Zeit nach Lust und Laune beim AFC Wimbledon zu verbringen, hat er in seinem früheren Leben gemacht; er war mal Wirtschaftsprüfer bei einem großen Unternehmen.

Jetzt steht er auf der anderen Seite, ein Pragmatiker, der sich nicht Revolutionär nennen will und nicht viel von Ideologie hält, aber einiges von Moral. „Unser Verein war ein Weg, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen“, sagt Erik Samuelson. „Damit die Anzugträger – und ich war einer von ihnen – nicht noch mal kommen und uns den Verein wegnehmen. Das ist einfach falsch. Ich habe das sehr starke Gefühl, dass wir recht haben und sie etwas Falsches tun.“ Er trägt nicht mehr gern Anzug. Höchstens zu Auswärtsspielen zieht er einen an, wenn es sein muss. „Dann fühlt es sich wie Arbeit an“, sagt er. „Den Rest zähle ich nicht als Arbeit.“

Erik Samuelson ist ein Teil der Bodenständigkeit des neuen Fanvereins, wenn auch auf andere Weise als Ivor Heller. Wo Heller temperamentvoll und ideologisch und laut ist, ist Samuelson leise und nachdenklich. Immer mit einer Spur von selbstironischem, distanziertem Amüsement. Er ist ein Intellektueller aus Sunderland, Ivor Heller ein Mann mitten aus der Londoner Fanszene. „Wir sind völlig verschiedene Menschen“, sagt Heller. Und doch führen sie seit fünfzehn Jahren gemeinsam den Klub; Samuelson aktuell als Geschäftsführer, Heller als Finanzdirektor. Fragt man Heller, hat der AFC Wimbledon „eine sehr sozialistische Atmosphäre“. Er mag den Geschmack von Revolution und Aufruhr, die Widerborstigkeit. Auch Samuelson mag die Widerborstigkeit; aber auf seine eigene, bürgerliche Art. „Meine Art von Revolte ist es, das zu tun, was ich hier tue. Ich bin niemand, der auf Demos läuft oder Flugblätter verteilt.“ Er klingt, als fände er das völlig abwegig. Zu Hellers Worten wie Punk-Fußball oder Sozialismus schüttelt er lächelnd den Kopf. „Wir sind doch kein Punk. Ich führe den Verein sehr kommerziell. Wir sind kein soziales Experiment. Auch wenn einige Fans vielleicht glauben, wir wären das.“ Dann überlegt er kurz. „Vielleicht sind wir es doch. Aber jedenfalls war das nicht die ursprüngliche Absicht.“

Der AFC Wimbledon entsteht aus der Not einer verlorenen Liebe, nicht aus Anti-Establishment. Aber natürlich ist die Außenwirkung auch ein Stück weit kalkuliert. „Den Leuten gefällt unsere Geschichte vom Kampf des kleinen Mannes gegen die Maschine“, gibt Samuelson freimütig zu. Im kleinen Stadion in Süd-London, das den Namen eines Sponsors trägt, haben sich Pragmatismus und Idealismus verflochten. Manchmal so sehr, dass nicht klar ist, ob sie die Verflechtung spüren. „Wenn man uns mit manchen anderen Fanvereinen vergleicht, dann, ja, sind wir weniger ideologisch“, sagt Erik Samuelson.

Der AFC Wimbledon findet seine Balance mit leichtfüßiger Intuition. Und es ist der innere Strang dieses Vereins, dass hier so unterschiedliche Leute wie Erik Samuelson und Ivor Heller zusammenkommen, ihre Fähigkeiten zusammentragen und beide ihren Sinn finden in einer unterschiedlichen Projektion. Obwohl sie beide etwas völlig Unterschiedliches sehen. Aber beide werden von dem Glauben getragen, dass dieses Projekt die Erfüllung all ihrer Träume ist.

„Ich will einfach nur Fußball gucken.“

2002 ist der Verein ein Blankopapier. Eine endlose Chance, ein Freibrief auf Neustart. Der alte Verein zieht nach Milton Keynes um, und aus dem Verlust wächst das unfreiwillige Privileg, ganz von vorn beginnen zu können. Ohne verkorkste Finanzen, ohne Altlasten, ohne schlechte Verträge – und ohne einen konkurrierenden Mutterverein. Von den rund 12.000 Wimbledon-Anhängern wandert etwa ein Drittel mit zum neuen Klub. All das sind Dinge, die den neuen Verein groß machen werden, bevor sie es selbst ahnen. Der AFC Wimbledon im Jahr 2002 ist ein Projekt auferstanden aus Ruinen; aus den Ruinen von Plough Lane.

Einer von Samuelsons Klienten reißt damals die Tribünen des alten Stadions ab. Er fragt ihn, ob er nicht die Fans holen wolle, damit die sich von ihrem Stadion verabschieden können. Samuelson will. Die Anhänger kommen in Scharen. Sie nehmen sich Stücke von den Tribünen mit. Samuelsons Sohn, damals zwölf Jahre alt, steht im kniehohen Gras. „Ich wollte immer im Mittelkreis der Plough Lane stehen“, sagt er. „Aber ich hätte nie gedacht, dass es unter solchen Umständen passiert.“ Und Erik Samuelson, bis dahin eher stiller Beobachter, fühlt, dass er etwas tun will. Noch bevor von einem neuen Verein die Rede ist, analysiert er, der Wirtschaftsprüfer, auf einer Website die Bilanzen des FC Wimbledon. Er macht es gut, bekommt Aufmerksamkeit. Und rutscht in den Zirkel der politisierten Fans. Seine Geschichte, Rekrutierung via Internet, Aktivist innerhalb von ein paar Wochen – sie ist nicht selten. In den frühen 2000ern paaren sich die finanzielle Not vieler englischer Vereine und die selbstbewusstere Fankultur mit einem dritten Faktor: technischem Fortschritt.

Ivor Heller glaubt, erst das Internet habe die ganze Bewegung möglich gemacht. „Ohne das Internet hätte es keine Fanvereine gegeben“, sagt er. „Plötzlich konnte man miteinander kommunizieren. Man konnte Ratschläge von anderen annehmen und diskutieren. Und man hat gemerkt, dass man in seiner Verzweiflung nicht allein ist.“ In den alten Zeiten, erinnert sich Ivor Heller, ist er nie bei einem anderen Fan zu Hause gewesen. Er sieht die Jungs bei den Spielen, und das ist es. Sie treffen sich im Stadion, sie gehen nachher zusammen saufen, und dann geht man eben irgendwann nach Hause. An diesem Abend oder am nächsten Morgen. Und danach? Führt jeder sein eigenes Leben, eine Parallelwelt in vier Wänden. Die Woche und das Wochenende, das sind unterschiedliche Welten für Ivor Heller. „Fans waren nicht vernetzt. Man hätte niemanden zu Hause angerufen und gefragt: Gehst du morgen zum Spiel?“ Er lacht. „Natürlich geht jeder zum Spiel.“

Mit Foren und Fanblogs und Kommentarfunktionen aber ändert sich der Rahmen. „Das Internet wurde wie ein Kleber“, sagt Heller, „der die Leute zusammengebracht hat.“ Menschen wie Samuelson und Heller, die aus völlig unterschiedlichen Welten stammen, finden im Fall Wimbledon zueinander wie in einer goldenen Prophezeiung von Schwarmintelligenz. Heller geht bei den Protesten in vorderster Reihe; Samuelson, der kokettiert, er sei für so was „viel zu sehr Mittelschicht“, bleibt zu Hause und arbeitet Pläne aus.

Als im Mai 2002 der Umzug des FC Wimbledon nach Milton Keynes beschlossene Sache ist, fügen sich technische Entwicklung, neue Fanorganisation und Krisensituation zu einer Dynamik, die die Beteiligten selbst überrollt. Die aufgeputschten Anhänger diskutieren auf einer Sitzung. Hellers Freund Kris Stewart dreht damals die Stimmung mit einem Satz, der heute zur Vereinsfolklore gehört: „Ich will einfach nur Fußball gucken.“ „War das nicht eine großartige Idee?“, fragt Erik Samuelson. „Der Satz wurde für uns wie ein Mantra. Wir waren alle überzeugt davon.“ Ein Protestverein ohne Ideologie, ohne politische Diskussionen. Einfach Fußball. „Und wir haben keine Sekunde geglaubt, dass wir scheitern könnten. Nie.“

Den Mut und den Glauben bewahren sie, zumindest in der eigenen Erinnerung, gegen Widerstände. „Viele haben anfangs geglaubt, dass wir uns selbst zerfleischen würden“, sagt Erik Samuelson. „Sie dachten, dass Fans nur dazu da seien, die Stadiontribünen zu putzen. Wir haben ihnen metaphorisch beide Mittelfinger gezeigt.“ Er hat sichtlich Spaß daran, unerwartet einen derben Ausdruck einzustreuen. Der AFC Wimbledon gegen das Establishment, da ist es jetzt doch. Natürlich sind das nur zwei Drittel der Wahrheit: Manche mögen zweifeln, aber jeder liebt die Erzählung von den rebellischen Fans und der Neugründung gegen das böse Milton Keynes.

Der AFC Wimbledon weiß, wie man eine Geschichte erzählt. Seine Protagonisten sind talentierte Erzähler; das erste Team wird medienwirksam gecastet. „Wir hatten bessere PR als viele andere Fanvereine“, sagt Ivor Heller geradeheraus. Und: „Wir haben uns nie Grenzen gesetzt.“ Das Sendungsbewusstsein trifft auf einen Zeitgeist, der auf ein Wimbledon gewartet hat. Die Ernüchterung von der Premier League, zehn Jahre nachdem die großen Geldschleusen aufgingen, ist spürbar geworden. Die billigste Jahreskarte beim FC Liverpool kostete 1990 sechzig Pfund für eine komplette Saison. 2017 kostet sie 685 Pfund. „Selbst Vereine wie Liverpool sind von der lokalen Community abgeschnitten“, sagt Autor Jim Keoghan. „Sie haben Fans auf der ganzen Welt, aber die Leute vor Ort können sich keine Tickets mehr leisten. Man könnte diesen Verein nehmen und irgendwo anders hin verpflanzen, und es würde das Geschäft nicht schädigen. Und daran ist etwas falsch. Vereine sollten in der Gemeinschaft verwurzelt sein, sie sollten einen Bezug zu den Menschen vor Ort haben.“

Der AFC Wimbledon bringt diese neue, alte Art von Bezug. Jeder, der will, kann bei dem Fanverein einen Anteil kaufen und bekommt genau eine Stimme. Jeder Anteilshaber kann die Vereinsführung wählen oder bei wichtigen Themen auf den Generalversammlungen abstimmen, sofern er erwachsen und damit stimmberechtigt ist. Im Frühjahr 2017 wollen etwa 3.000 Menschen dem AFC Wimbledon so nahe sein, dass sie einen Anteil und damit eine Stimme erwerben. Rund 2.500 von ihnen sind stimmberechtigte Erwachsene.

Keine Experimente

„Egal, wie man es bemisst, der AFC Wimbledon hat Erfolg auf jeder Skala“, sagt Stuart Dykes vom Fanverein FC United of Manchester. Wimbledon ist der Che Guevara der Fanrevolte: eine Ikone, die überall hinpasst, auf das T-Shirt des Studenten, als abgeschabter Sticker in die Eckkneipe oder als sexy Poster in die Küche der Hausfrau. Und wenn das widersprüchlich wirkt, stört es niemanden. Der Fanverein schlüpft in jede Rüstung. Wimbledon punktet bei denen, die sich Fanrechte und faire Eintrittspreise wünschen, bei Anti-Kommerz-Nostalgikern und bei Erfolgsfans, die auf Siege mit einem kleinen Klub stehen. Der Verein lebt von dem Hype, und 2017 wirkt er weitgehend stabil. Er hält nichts von Experimenten.

Seit der Gründung sind beim AFC im Wesentlichen dieselben Personen in Führungspositionen. Zwar helfen viele Freiwillige im Alltag, doch die großen Entscheidungen liegen in den Händen von wenigen. Auch im guten Sozialismus muss es jemanden geben, der Entscheidungen trifft, glaubt Ivor Heller. Man darf hinterfragen, wie basisdemokratisch der AFC Wimbledon ist. Heller, der Idealist, beantwortet das pragmatisch: „Manche Fans glauben, dass Fanführung heißt, man müsste über jede Eintrittskarte am Spieltag abstimmen. Aber so kann man einen Verein nicht managen.“ Denn eines lernt die Bewegung bald: Die Fanbasis, die einen Verein tragen, ihn beflügeln und führen kann, kann ihn auch ins Schlingern bringen. Ort der größten Probleme ist ausgerechnet das wundersame Netzwerk, das alle zusammenbrachte: das Internet. „Wir empfehlen mittlerweile allen Fanvereinen, kein offizielles Fanforum zu führen“, sagt Antonia Hagemann von Supporters Direct Europe.

Das lernen sie bald etwa beim zweiten Popstar der Bewegung, dem 2005 gegründeten FC United of Manchester, der sich explizit gegen Kommerz richtet und politisch sein will. Denn im Netz tun viele Anhänger das, was Menschen gern im Internet tun: schimpfen, hassen, mobben. „In Manchester wurde im Fanforum extrem gegen Individuen gehetzt“, sagt Hagemann. „Es ging so weit, dass der Vorstand keine Entscheidungen mehr treffen konnte, weil in alles reingegrätscht wurde. Teilweise waren das Äußerungen, die auch juristisch relevant wurden.“ Und: „Wir können nur jedem raten, das Forum zuzumachen“, sagt Hagemann. Wenn Mitsprache heißt, dass jeder bei allem mitreden muss, gibt es ein Problem. Die Leute des AFC Wimbledon helfen 2005, den FC United of Manchester zu gründen. Aber inhaltlich liegen die beiden Vereine weit auseinander. Beim FCUM missionieren sie bewusst im Rest Europas, sie sehen sich als Wortführer einer Bewegung. Und verweigern sich dem, was sie als Kommerz empfinden. Beim AFC Wimbledon reden sie über Fanführung nur, wenn man sie fragt. Und es gibt wenig, was sie aus ideologischen Gründen nicht tun würden.

Die Grenzen der Basisdemokratie und Machtstreitereien

Der AFC Wimbledon lernt die Macht und die Grenzen von Basisdemokratie in den ersten, aufgeregten Wochen. Es ist der Sommer 2002, nur kurz vor der nächsten Saison. Und der Klub braucht dringend ein Spielfeld, eine Struktur, Sponsoren. Zur beginnenden Spielzeit soll der neue Verein den Ligabetrieb aufnehmen. Ivor Heller hat Angst um sein junges Baby. „Wenn wir es verpasst hätten, direkt zur nächsten Saison zu starten, wäre das Projekt gestorben“, sagt er. „Es wäre alles auseinandergedriftet.“ Er und Kris Stewart sind es vor allem, die in jenem Sommer die Dinge in die Hand nehmen. „Wir mussten hart zupacken“, so formuliert es Heller. Hart zupacken heißt auch: Dinge so zu machen, wie sie die beiden für richtig halten. „Wenn wir alles mit dem Trust Board abgestimmt hätten, hätten wir es nie geschafft“, sagt Heller heute. „Man kann nicht jeden Tag ein Meeting abhalten.“

Damit machen sich die beiden nicht überall Freunde. Im neuen Klub gibt es Machtstreitigkeiten in den ersten Wochen. Dass zwei Kumpels vieles allein entscheiden, enttäuscht manche in ihren Vorstellungen von einem fangeführten Verein. „Einige Leute haben geglaubt, sie sollten mehr Einfluss haben. Aber ihr Einfluss hätte alles nur verlangsamt.“ Sie diskutieren. Und dann? Machen sie eben irgendwann. Und als die Sache läuft und der AFC Wimbledon mit Spielfeld, Sponsor und allem Brimborium pünktlich in die erste Saison startet, flaut der Ärger ab. Die Rolle der Fanbasis ändert sich. Zu den Generalversammlungen, die mittlerweile dreimal im Jahr stattfinden, kommen 60 bis 70 Leute. Bei den besser besuchten Versammlungen sind es um die 100. In einem Klub, wo theoretisch 2.500 Menschen abstimmen könnten, ist das eine kleine Zahl. „Wir geben uns Mühe, interessante Themen auszusuchen, damit mehr Leute kommen“, sagt Erik Samuelson. „Vielleicht denken sie, dass schon alles super läuft, oder vielleicht interessiert es sie nicht. Jedenfalls lassen sie uns auf der Führungsebene meistens einfach machen.“

Kritik kommt schon ab und an. „Es gibt manche Anhänger, die sagen: Wir haben den Verein nicht gegründet, damit dies oder das passiert. Aber dabei haben sie den Verein überhaupt nicht gegründet. Der Verein wurde von vier Leuten gegründet, die einen Fußballklub haben wollten, und wir wollten einfach Fußball gucken.“ Das Wort Amateur empfindet Erik Samuelson als Beleidigung; professionell soll es sein, ambitioniert. Und erfolgreich. Der AFC Wimbledon ist ein Fanverein mit so wandelbarem Antlitz, dass er jedes Ideal verkörpern kann und keines.

Der FC Chelsea der unteren Ligen

In der Geschäftsstelle des AFC Wimbledon steht ein weißes Board im Sekretariat. Darauf stehen mit wasserlöslichem Edding die Namen der Freiwilligen, die unentgeltlich für den Verein arbeiten, inklusive Anwesenheitszeiten. Es ist eine Liste von der Oberkante bis zur Unterkante der Tafel. Das sind nur die Leute in der Geschäftsstelle. Wimbledon wird bis heute von Hunderten freiwilliger Helfer getragen. Sie packen Dauerkarten in Briefumschläge, und dann kommt der Trainer vorbei und redet zehn Minuten mit ihnen. Das kriegen sie nicht bei anderen Vereinen. Das ist ihr Lohn. Sie kommen dem Klub nahe und fühlen sich als Teil davon. Es ist ein mächtiger Bonus für Fanvereine und einer, den Kritiker unterschätzt haben: Nähe. Wertschätzung. Bis heute geht Erik Samuelson vor jedem Heimspiel zu Fuß ums Stadion über den Parkplatz. Wer Kritik oder Wünsche hat, kann ihn ansprechen; wer Ärger loswerden will, auch. „Ich denke, das nimmt vielen Problemen den Wind aus den Segeln“, sagt Samuelson. „Unsere Fans sind unglaublich geduldig. Sie wissen, dass wir ihnen zuhören. Und sie wissen auch: Wenn sie mehr Erfolg wollen, dann müssen sie eben mehr zahlen, weil wir keinen reichen Besitzer haben.“

Wer sich respektiert und geachtet fühlt, gibt Achtung zurück. Und opfert sich auf. Die Liebe der Anhänger ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Wimbledon: Sie zahlen oft mehr, als sie müssten. Und erfahren dafür ein Gemeinschaftsgefühl und eine Dankbarkeit, die es in vielen Klubs der Premier League nicht gibt. „Fans im Fanverein haben das Gefühl, dass man sie ernst nimmt“, sagt Jim Keoghan. „Natürlich führen nicht alle Fans den Verein, aber wenn sie nicht zufrieden sind, können sie was unternehmen.“ Eine kleine englische Studie, die Keoghan in seinem Buch zitiert, verglich die Zufriedenheit von Anhängern bei Fanvereinen mit der bei konventionell geführten Klubs. Die Fans fühlten sich involvierter, glücklicher, ernst genommener und verbundener mit dem Verein. Gerade in den unteren Ligen, wo das Geld vor allem aus dem Ticketverkauf kommt, ist das ein enormer Vorteil. In der Combined Counties League, in der der Verein 2002 neu startet, liegt der Zuschauerschnitt damals bei 30 bis 50 Fans. Wimbledon bringt 4.600 Anhänger zum ersten Spiel mit.

Im Vergleich zur Konkurrenz sind die Rebellen ein reicher Großklub. Ironie der Geschichte. Sie überrollen alles, was auf ihrem Weg liegt. Sie haben das größte Budget, die besten Spieler, den größten Zulauf. Bis 2017 steigt der AFC Wimbledon von der neunten Liga bis in die dritte Liga auf. „Sie haben da unten nicht hingehört“, sagt Jim Keoghan. „Sie sind regelrecht die Pyramide hoch gedonnert. Und niemand konnte dagegen an. Auf ihrem Level waren sie der FC Chelsea.“

Erik Samuelson sitzt in seinem stickigen Büro und denkt über Erfolg nach. In diesem Mai 2017, fünfzehn Jahre nach der Gründung, sind neue Fanvereine den Weg des AFC Wimbledon gegangen. Supporters Direct vertritt mittlerweile über 200 Trusts, die teilweise einen ganzen Verein besitzen, teilweise Anteile halten und manchmal nur um Einfluss kämpfen. Über die letzten fünfzehn Jahre sind Muster sichtbar geworden: Der große Durchmarsch am Anfang ist eine Konstante der meisten Projekte. Der Fanverein marschiert und marschiert. Bis es irgendwann nicht mehr reicht. Geldreserven der Fans und lokalen Sponsoren haben ein Limit erreicht. Die meisten englischen Fanvereine, die durchhalten, pendeln sich irgendwo im oberen Amateurfußball ein. Fast alle. Außer Wimbledon. Im Oktober 2016 überholt der Klub in der dritten Liga erstmals den großen, alten Erzfeind Milton Keynes. Wieder gibt es internationale Schlagzeilen.

„Ja, es ist seltsam“, sagt Erik Samuelson, „Kein englischer Fanverein ist je so weit gekommen wie wir.“ Er klingt ein wenig überrascht. „Was unser Geheimnis ist? Ich weiß es nicht.“ Eines, natürlich, ist der komplette Neustart. Die Fans, die auf einmal Präsidenten oder Vorstände sind, können in der Combined Counties League langsam lernen. Sie können bei Null anfangen, ohne Schulden. „Die Fälle von Fanführung, wo es beinahe mit Sicherheit nicht funktioniert, sind die, wo Trusts einen bestehenden Verein übernehmen“, sagt Erik Samuelson. „Denn mit fast hundertprozentiger Gewissheit erbt man massive Schulden. Und dann gibt es kaum eine Chance. Erfolgreich sind eher die kleinen Fanvereine, die von ganz unten auf Graswurzelniveau anfangen.“

Aber natürlich hat es viele Fanvereine gegeben, die ganz unten anfingen. Niemand war annähernd so erfolgreich wie Wimbledon. Doch, Samuelson hat schon auch darüber nachgedacht. „Es ist wie bei jedem kleinen Unternehmen“, sagt er. „Geld ist das Wichtigste. Ich könnte jeden Tag auswendig unseren Kontostand sagen.“ Der AFC Wimbledon hat einen scheinbar banalen Vorteil: eine umsichtige, kompetente Führung. Eine Führung, die sorgfältig abwägt und Stabilität schätzt. Die spektakulär erfolgreiche Personalentscheidungen trifft. Dabei geht der Fanverein durchaus finanzielle Risiken. Das Stadion Kingsmeadow war eines. Und das neue Stadion, das an der alten Heimstätte Plough Lane gebaut wird, wird ein deutlich größeres werden; es soll hundert Millionen Pfund kosten. Aber das Projekt nicht wagen? Wäre Stillstand, wäre Absturz in diesem System, wo auch die Marke Wimbledon von Aufstiegen lebt.

Nach Angaben von Samuelson liegt der AFC Wimbledon in der dritten Liga 2017 auf Platz 19 von 24 in puncto Budget. Auch deshalb brauchen sie das neue Stadion, das eines Tages 20.000 Zuschauer fassen soll. Und sie hoffen auch dann auf eine Basis, auf die sie sich bislang immer verlassen konnten, weil sie vielleicht ein bisschen anders ist als an anderen Orten. Hingebungsvoller, spendabler, geduldiger. Und auch: wohlhabender. Es ist etwas, was sie in Wimbledon nicht ganz so gern hören, aber von anderen Fanvereinen kriegen sie das öfters zu hören, mit einer Mischung aus Lob und einer Spur Neid. Ein Fanverein hängt an der Wirtschaftskraft seiner Basis, und der AFC Wimbledon hat eine gute Basis. Und einen guten Standort. „Es ist Süd-London“, sagt Jim Keoghan. „Es ist immer Geld da.“ Auch wenn Ivor Heller darauf verweist, dass es auch viele Arbeiter beim AFC Wimbledon gebe und dass es in London selbst viel Konkurrenz durch andere Klubs gebe – es ist auch viel Fanpotenzial da.

Wimbledon gibt den Menschen eine Alternative zu Arsenal oder Chelsea. Hier werden sie immer Underdogs sein. Und vielleicht funktioniert die Erzählung von der kleinen Rebellion auch deshalb so gut, weil sie nun mal die Ersten sind. Wie viele Che Guevaras kann es geben? Das Märchen vom AFC Wimbledon ist das Original, alles andere kann nur noch Sequel sein. Die Intuition für den richtigen Auftritt, das richtige Risiko trägt die Rebellen. „Vielleicht“, sagt Erik Samuelson, „machen wir irgendwas richtig, was wir selbst nicht merken.“

„Wie weit können wir gehen und wie groß können wir träumen?“

Über die Jahre hat der Erfolg ein paar Opfer gekostet. Der prominente Mitgründer Kris Stewart, Hellers Kumpel mit dem Satz „Ich will einfach nur Fußball gucken“, ist im Frühjahr 2017 nicht mehr dabei. Er will nicht mehr über seinen Exverein sprechen, auch nicht für dieses Buch. „Kris hat seine Liebe verloren für den AFC Wimbledon und die Art und Weise, wie Dinge hier für ihn liefen“, sagt Ivor Heller. Er will das nicht genauer erklären. Kumpel Stewart nennt sich jetzt „Refusnik“ von Wimbledon, Verweigerer. Andere, vor allem die neuen Fans, wollen vielleicht ein bisschen viel Erfolg. „Ich glaube, viele unserer Fans verstehen die wirtschaftliche Realität nicht“, sagt Erik Samuelson. „Es wird sehr schwer, über die zweite Liga hinaus zu kommen. Es gibt Vereine, die hundert Millionen Pfund ausgeben, um in die Premier League zu kommen. Wir hätten in der zweiten Liga ein Budget von acht bis zehn Millionen. Und dann stehen ein paar große Entscheidungen an.“

Samuelson hat Angst vor diesem Tag. Er will nicht zu viel darüber nachdenken, das macht ihn nervös. Er fürchtet, dass dann etwas passiert, was das Recht der Fans als Besitzer ist: Sie wollen abstimmen über die Zukunft. Und sie könnten anders abstimmen, als er es will, den wilden Traum von Unabhängigkeit zerstören. Sie könnten einen Investor an die Macht wählen. „Es kann sein, dass der Tag irgendwann kommt“, sagt der Geschäftsführer. „Ich hoffe nur, es passiert nicht mehr zu meinen Lebzeiten. Das wäre furchtbar.“ Warum würden die Besitzer des AFC Wimbledon ihren Klub aus der Hand geben, nach allem, was passiert ist? „Im Moment sind unsere Anhänger unglaublich geduldig. Aber wenn wir in das neue Stadion gehen, wachsen die Zuschauerzahlen um wahrscheinlich 50 Prozent, und nicht all diese Leute kennen unsere Geschichte. Wenn du jünger als 35 Jahre bist, erinnerst du dich nicht, wie wir im alten Stadion gespielt haben. Wenn du jünger als 25 Jahre bist, erinnerst du dich nicht an die Entscheidung, dass Milton Keynes gegründet wurde. Es gibt ein allmähliches Risiko, dass die Vergangenheit vergessen wird und unsere Fans ungeduldig und unvernünftig werden wie bei anderen Vereinen.“

Auch Ivor Heller fürchtet sich ein bisschen vor diesen neuen Fans. Aber war nicht Wimbledon immer groß darin, seine Geschichte zu erzählen? So wie sie den neuen Spielern erzählen, was dieser Verein ist und wofür er steht, bis sie es in sich tragen und kapieren? „Wir waren so nahe dran, alles zu verlieren“, sagt Ivor Heller. „Deshalb gibt es einen gewissen Realismus. Es ist viel wichtiger, einen Verein zu haben, als in der Premier League zu spielen.“ Und warum, findet er, soll nicht eines Tages beides gehen? Heller glaubt daran. Er hat genug erlebt mit diesem Klub, dem schnoddrigen Rebellen, der heute sehr bürgerlich ist und trotzdem widerborstig.

Bis zu Hellers vierzehntem Lebensjahr ist der FC Wimbledon ein Non-League-Klub. Zehn Jahre später spielt er Premier League und holt den FA Cup. Ivor Heller schaut über seinen Schreibtisch im Kings-meadow. „Wer kann mir erzählen, wie weit wir gehen können und wie groß wir träumen können? Die Leute behaupten immer, es gebe eine Grenze. Wir haben schon drei bis vier dieser Grenzen überschritten. Man kann sich nur selbst beschränken.“ Natürlich sind heute die wirtschaftlichen Verhältnisse in der Premier League anders, das weiß auch Heller. Roman Abramowitsch hat in seinem ersten Jahrzehnt als Chelsea-Besitzer 700 Millionen Pfund in Spieler investiert. Natürlich, am Ende ist Erfolg käuflich, das weiß Heller, und heute mehr denn je. Aber was wäre Fußball ohne Träume? Was wäre Widerstand ohne Hoffnung? „Absolut alles ist möglich.“

Es ist der amerikanische Traum in Süd-London. Ein Balanceakt, bislang spektakulär erfolgreich, nach allem, womit sich Erfolg messen lässt. Eine der Geschichten, in die sich Hollywood verlieben musste. 2016 hat der AFC Wimbledon einen Film-Deal mit 20th Century Fox unterzeichnet; Co-Produzent ist der US-amerikanische Bestsellerautor John Green, prominenter Fan des AFC Wimbledon, Sponsor und Namensgeber einer Stadiontribüne. Er nennt es „eine der besten Underdog-Geschichten im Sport“.

Beim AFC Wimbledon betrachten sie das alles mit einer Mischung aus Stolz, Amüsement und Skepsis. Erik Samuelson sagt, er vertraue John Green völlig, der sei ein toller Kerl. Aber Hollywood? Die sagten kürzlich, die Story brauche noch einen besonderen Kick, einen Crowdpleaser. „Ich habe gedacht: Bitte nicht. Bitte keine Geschichte über irgendeinen kleinen Außenseiter-Jungen, der hinterher in der ersten Mannschaft landet oder so was. Unsere Geschichte ist doch gut genug.“ Aber das ist eben Hollywood. „Die machen, was sie wollen.“ Ein bisschen hat Erik Samuelson trotzdem Gefallen an der Sache gefunden. Er diskutiert mit der Schülerpraktikantin, welcher Schauspieler ihn verkörpern solle. Bill Nighy vielleicht? Eine gewisse Ähnlichkeit ist nicht zu leugnen, ein paar Fans wollten Nighy ziemlich gern als Samuelson sehen. Aber das Filmteam beschied, Nighy sei zu alt, immerhin fängt die Geschichte ja vor fünfzehn Jahren an. Also vielleicht der andere, der Hübsche, wie heißt er, Tom Middleton? „Tom Hiddleston“, sagt die Praktikantin und grinst. Na gut, wer auch immer. Erik Samuelson hat eigentlich nichts dagegen, dass die Geschichte erzählt wird, solange es anständig läuft. „Dann erfahren noch mehr Leute von uns.“ Kalkül der Vermarktung. Der AFC Wimbledon lebt von seiner Geschichte, in vielerlei Hinsicht.

„Du musst die Balance halten zwischen deinem verzweifelten Wunsch, moralisch und ethisch zu sein und gleichzeitig so viel Geld rauszuschlagen wie möglich“, sagt Erik Samuelson. Der Fanverein AFC Wimbledon will für etwas stehen, will mit Stolz und Trotz Ideale vorleben. Dass Geld nicht alles ist, wer könnte das besser erzählen? Wenn Samuelson auf die letzten fünfzehn Jahre zurückblickt, hat er vieles im Fußballgeschäft gesehen, was ihm nicht gefiel. Transferangebote für Vierzehnjährige aus hundert Meilen Entfernung, von einem dieser Großklubs, die Jugendliche „aufsaugen und dann ausspucken“. Einen Spieler, den Wimbledon verpflichten wollte und der anbot, in der Partie gegen den Verein absichtlich Fehler zu machen. Der AFC Wimbledon lehnte ab. „Man kann ziemlich moralisch sein“, sagt Erik Samuelson. Nicht, dass es im Fußball schlimmer zuginge als bei anderen Unternehmen. Aber der Fanverein, der sich auch als Unternehmen sieht, will ein anständiges Unternehmen sein.

So viel Moral und Mitsprache wie möglich, so viel Pragmatismus wie nötig. Er hat viel damit bewegt bislang. „Es muss eine Demokratie sein, eine echte Demokratie“, sagt Ivor Heller. „Aber mit Vernunft. Man kann nicht die Irren die Anstalt übernehmen lassen.“ Wo soll das Märchen enden? Erik Samuelson hofft auf die zweite Liga und ab und an einen guten Lauf im FA Cup. „Es kann nicht jeder Premier League spielen“, sagt er. „Irgendjemand muss mit der zweiten Liga zufrieden sein. Die Frage ist nur: Werden unsere Fans es sein?“ Eine Frage wie für ein Sequel. Wer ist mit dem Unspektakulären zufrieden? Ivor Heller, natürlich, der sich verliebte in die Bodenständigkeit und den Schmutz und die Gemeinschaft des FC Wimbledon, wäre es. „Die Premier League könnte mir nicht gleichgültiger sein. Wichtig ist, dass ich meinen Verein habe. Und der heißt AFC Wimbledon und spielt in Blau und Gelb.“

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