Читать книгу Nie wieder Opfer - Aline Bachmann - Страница 6

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Sie lachen über mich, weil ich anders bin.

Ich lache über sie, weil sie alle gleich sind.

– Kurt Cobain

Meine gesamte Schulzeit lang war ich die willkommene Außenseiterin, und zwar von Anfang an. Wenn ich mir heute die Videos von meinem ersten Schultag in der Grundschule angucke, die mein Opa Thilo gedreht hat, kommen mir jedes Mal die Tränen. Ich war damals knapp sieben Jahre alt. Meine ganze Verwandtschaft reiste extra aus Dresden nach Freudenstadt an. Sechshundert Kilometer sind sie gefahren, um bei meiner Einschulung im Jahr 2000 dabei zu sein. Alle haben sich so viel Mühe gegeben, damit ich einen rundum perfekten ersten Schultag habe. So eine Einschulung ist ja schließlich eine echt große Sache im Leben. Gerade bei uns im Osten wurde daraus immer eine bombastische Familienfeier gemacht. Meine Eltern mieteten dafür extra ein schönes Holzhaus mit einem großen Wohnwagen im Garten, sodass die ganze Familie miteinander feiern und an einem Ort schlafen konnte – und abends noch lange draußen ums Lagerfeuer herumsitzen und babbeln ging so auch prima. Sogar ich kleiner Knirps durfte fast bis Mitternacht dabei sein. Denn es war ja ein besonderes Ereignis, und da kann man schon mal eine Ausnahme machen.

In Opas Video bin ich ein grinsendes Mädchen mit Zahnlücke unten rechts im Mund, das allein an seiner Schulbank im Klassenzimmer sitzt und glücklich winkt. »Hallo, Opa! Guck mal, das hier ist mein Platz! Ich bin jetzt ein Schulkind!« Lachend saß ich da also vor der Kamera – und konnte mein Inneres schon damals ganz schön gut verbergen. Denn am liebsten hätte ich in diesem Augenblick lautstark geheult. Schließlich wollte niemand neben mir sitzen – dem Mädchen mit dem komischen Ossi-Dialekt und dem alten Schulranzen mit den Tomaten drauf. Ich trug keine Markenklamotten. Levi’s-Jeans, Nike-Pullover und T-Shirts von Adidas waren für die anderen. Nicht für mich, denn ich war alles andere als cool. So blieb der Platz neben mir von meinem ersten Schultag an leer – und das blieb die nächsten drei Jahre auch so. In nahezu jeder Pause stand ich allein auf dem Hof, und im Sportunterricht war ich jedes Mal die Letzte, die ins Völkerballteam gewählt wurde. Ich fühlte mich wie die unbeliebteste und hässlichste Person auf dem ganzen Schulhof. Trotzdem ging ich jeden Tag tapfer in die Schule. Leider sehr, sehr oft mit einem dicken Knoten im Hals und einem schweren Klumpen im Magen. So sollte sich kein Kind der Welt morgens auf dem Weg zur Schule fühlen.

Meine Lehrerin in der ersten Klasse, Frau Mayer, eine kleine, sehr sportliche Person mit Lockenkopf, schrieb mir in mein Zeugnis: »Aline findet nur schwer Anbindung, und es gibt häufig Streitigkeiten.« Das war ja wohl die Untertreibung des Jahrhunderts! Wenn es nach Frau Mayer ging, war ich in diesen Situationen nie das Opfer, sondern immer die Schuldige – so fühlte es sich für mich zumindest an. Nie tröstete sie mich, nahm mich liebevoll in den Arm oder stand mir bei. Im Gegenteil: Immer war ich diejenige, die etwas verbockt hatte. Egal was gerade mal wieder los war.

Es gab zwei Jungs in meiner Klasse, die es regelmäßig auf mich abgesehen hatten: Tobias, ein echter Fußballjunge, und Jakob, der Sohn des Pfarrers, bei dem ich Religionsunterricht hatte. »Guck mal, da kommt die dicke Aline wieder!«, brüllten sie zum Beispiel über den ganzen Pausenhof, stupsten sich gegenseitig in die Seiten und lachten. Ich schluckte dann meist den Kloß in meinem Hals herunter und lief einfach weiter in irgendeine Ecke des Pausenhofs, in der mich keiner sehen konnte. Am liebsten wäre ich in diesen Momenten unsichtbar gewesen. Aber ich hatte leider keine Tarnkappe zum Aufsetzen dabei. Stattdessen schob ich mir schnell ein, zwei kinder Riegel in den Mund, um mich abzulenken. Oft klebten Tobias und Jakob mir auch Kaugummis, die fiesen rosafarbenen Hubba Bubbas, ins lange blonde Haar, sodass meine Mama mir mehr als einmal bei uns zu Hause im Badezimmer am Abend ganze Strähnchen abschneiden musste. Jedes Mal habe ich dabei bittere Tränen geweint. Meine schönen Haare! Diese doofen Jungs!

Einmal haben sie mich sogar heimlich bis auf die Mäd­chentoilette verfolgt. Und gerade als ich auf der Kloschüssel saß – Rock, Strumpf- und Unterhose baumelten um meine Beine –, kamen über mir zwei dämlich lachende Gesichter zum Vorschein. Vor Scham lief ich knallrot an und wünschte mir einfach nur, dass sich ein Loch im Erdboden auftun würde, in dem ich verschwinden konnte. Von da an schaute ich vor jedem Toilettengang erst mal ängstlich nach oben und lauschte, ob nicht vielleicht jemand in der Toilette nebenan kicherte. Und ich beeilte mich jedes Mal ganz doll.

Selbst wenn Tobias und Jakob mir im Sportunterricht den Ball extra gegen den Kopf warfen, sodass mein Schädel dröhnte und einmal sogar ein roter Abdruck zurückblieb, erzählten sie Frau Mayer hinterher jedes Mal im Brustton der Überzeugung: »Aline hat angefangen.« Da konnte ich noch so laut rufen: »Ich war’s nicht! Tobias und Jakob sind immer so fies zu mir!« – am Ende stand es immer zwei gegen eine. Aline war mal wieder die Dumme.

Als mir meine Eltern einmal ein neues Fahrrad geschenkt haben, platzte ich vor Stolz fast. Es war pink und wunderschön, und es machte mir unglaublich viel Spaß, damit durch die Gegend zu fahren. Mit einem Lächeln im Gesicht cruiste ich durchs ganze Dorf und den angrenzenden Wald. Dafür brauchte ich schließlich keine Freundin, das ging allein auch ganz prima. Bis an einem schönen Sommertag der Spaß plötzlich vorbei war: An einer Kreuzung kurz vor der Abzweigung in den Wald standen plötzlich Tobias und Jakob vor mir. Sie blockierten mir mit ihren beiden Rädern den Weg und riefen: »Hier geht’s nicht weiter!« Dann lachten sie fies und schubsten mich ziemlich grob von meinem Fahrrad herunter. Mit Stöcken droschen sie auf mein geliebtes, nagelneues Rad ein – und einige Male auch auf mich. »Das Fahrrad ist viel zu schön für so eine fette Kuh wie dich!«, riefen sie dazu und lachten gehässig. Mit tränennassem Gesicht saß ich vor ihnen auf dem harten Boden.

Äußerlich kam ich bei diesem Ereignis zwar mit ein paar kleinen Kratzern davon, doch die Schrammen in mir drin waren umso tiefer. Völlig aufgelöst lief ich nach Hause, mein Fahrrad neben mir herschiebend. Die Situation hatte mir riesige Angst eingejagt und mich unfassbar traurig gemacht. Warum machten Tobias und Jakob das nur bei mir? Warum waren sie so gemein? Was stimmte nicht mit mir? Zu Hause angekommen – es war gerade keiner da –, machte ich mir erst mal vier Schinken-Käse-Sandwiches im Toaster– und aß sie noch im Stehen in der Küche. Mein Schluchzen verstummte endlich. Doch was ich in diesem Moment eigentlich gebraucht hätte, war jemand, der mich feste in den Arm nimmt und mir sagt: »Alles ist gut! Es liegt nicht an dir!«

Alles, was meine Eltern an diesem Abend jedoch taten, war, Tobias’ und Jakobs Eltern anzurufen – in erster Linie, weil diese mein schönes Fahrrad beschädigt hatten. Dabei waren diese oberflächlichen Kratzer doch wirklich nicht das Wichtigste. Immerhin hatte der Anruf eine gewisse Wirkung. Am nächsten Morgen haben die beiden Jungs tatsächlich schon morgens vor dem Schultor auf mich gewartet und reumütig geguckt wie zwei blöde Dackelbabys. »Es tut uns leid, Aline, das wollten wir nicht. Kommt nie wieder vor!«, entschuldigten sie sich.

Aber natürlich kam es wieder vor. Fiese Gängeleien waren mein Alltag. Irgendwelche Jakobs und Tobiase gab es immer. »Dieser komische Dialekt! Und wie die nur aussehen!« Mit »die« waren wir Ossis gemeint. Wir, die wir uns im beschaulichen Schwabenländle nun mal einbürgern mussten. Wenn ich mal wieder eine solche Gemeinheit auf dem Schulflur hörte, flüchtete ich meist auf die Toilette, wo ich weinend zusammenbrach und mich erst wieder hinauswagte, wenn ich mich und meine Emotionen wieder im Griff hatte.

Einmal hörte ich auch mit, wie meine Mutter sich bei einer Bekannten am Telefon darüber beklagte, dass andere Eltern ihren Kindern sogar verboten hatten, mit mir zu spielen. »Die können nichts und nehmen uns hier noch unsere Arbeit weg!« – das war die Meinung über unsere Familie. Ich war kein angemessener Umgang für die ach so tollen Schwabenkinder. Dabei war meinen Eltern der Umzug von Dresden in den Schwarzwald auch alles andere als leichtgefallen. Mein Vater war nun mal arbeitslos gewesen und hatte ausgerechnet im beschaulichen Freudenstadt einen Job als Maurer bekommen. Und meine Mutter erhoffte sich für uns Kinder dort unten im Süden das Beste für unsere Zukunft. Sie wollte, dass wir einen Neustart wagten und in Ruhe und Frieden aufwachsen konnten. Doch wir kamen nun mal aus der ehemaligen DDR, und das führte bei unseren schwäbischen Mitbürgern zu allerlei Vorurteilen, die sie direkt ihren Kindern ins Ohr flüsterten – weswegen diese uns dann so schlecht behandelten. Natürlich merkte meine Mama, wie sehr das meinem Bruder und mir zusetzte. Sie selbst hat es schließlich auch verletzt. Aber sie wusste auch nicht, was sie dagegen hätte machen können. Sogar die Lehrerin tolerierte, dass die anderen einen großen Bogen um uns machten.

Meine Mutter hat uns Kinder zweifellos immer geliebt, dennoch kann ich ihr Verhalten rückblickend oft nicht nachvollziehen. Weshalb hat sie nicht mit der Kindergärtnerin oder später der Lehrerin häufiger das Gespräch gesucht, um mir zu helfen? Vor allem eine Situation in meinem Leben tut heute noch weh, wenn ich daran denke. Damals war ich vielleicht acht Jahre alt und weigerte mich strikt, meinem Vater dabei zu helfen, das Auto auszuräumen. »Nö, keine Lust, ich spiel gerade mit meinen Barbies«, war meine Aussage – typisch Kind eben. Weil meinen Vater das aber so wütend gemacht hat, nahm er den Schuhanzieher aus unserem Schrank – so ein schweres Ding aus Metall – und haute mir damit dreimal auf den Po – so feste, dass ich bitterlich geweint habe. Meine Mama stand daneben, sagte nichts, tat nichts. Am nächsten Tag in der Schule konnte ich nicht mal normal sitzen, weil mir der Po so wehtat und inzwischen grün und blau geworden war. Als mein Lehrer fragte, was passiert sei, dass ich mich nicht hinsetzen könne, sagte ich einfach gar nichts, denn so schnell hatte ich auch keine passende Ausrede parat. Meine Eltern wurden daraufhin gleich am nächsten Tag zum Direktor bestellt. Keine Ahnung, was dort besprochen wurde, jedenfalls ist so etwas Krasses danach nie mehr passiert. Dennoch möchte ich meine Mutter heute noch fragen: »Mama, warum hast du zugelassen, dass mich der Papa so geschlagen hat? Da steht man als Mama doch nicht nebendran und guckt zu, wenn man seine Tochter liebt.« Ich weiß nicht, warum sie nichts unternommen hat. Vielleicht hat sie das einfach zu sehr an ihre eigene Kindheit erinnert, denn da stand Gewalt auch an der Tagesordnung.

Meine Eltern hatten meine gesamte Kindheit hindurch immer viel zu tun und waren sehr mit ihrer Arbeit und sich selbst beschäftigt. Während mein Vater gefühlt Tag und Nacht auf der Baustelle verbrachte, ging meine Mutter putzen. Da blieb nicht viel Zeit für mich und meine Probleme – und dass ich davon reichlich hatte, zeichnete sich während meiner Schulzeit schon ab. Dass ich in der Schule fast täglich in irgendeiner Form gemobbt oder einfach nicht gesehen wurde, führte dazu, dass ich mich immer schlechter auf den Unterricht konzentrieren konnte. Klassenarbeit in Mathe: mal wieder eine Fünf! Gut, Mathe war nie meine Stärke gewesen – aber auch in den anderen Fächern gingen meine Noten in den Keller. Wenn ich dann mit der nächsten Fünf im Schulranzen nach Hause kam, war normalerweise keiner da, den das hätte interessieren können. So hatte ich wenigstens die Chance, meine Traurigkeit mit Essen zu betäuben, ohne dass es jemand mitkriegte.

Ein normaler Nachmittag sah für mich so aus: erster Gang – zum Kühlschrank. Da stand dann meist etwas von Mama Vorgekochtes in einer Tupperdose drin, deftige Haus­mannskost wie Gulasch oder Schnitzel mit Pommes. Ab in die Mikrowelle damit. Wenn mal nichts Brauchbares im Kühlschrank aufzufinden war, sprang ich schnell rauf aufs Fahrrad und düste ab zum Dorf-Supermarkt. Pro Woche habe ich meistens so zehn Euro Taschengeld von meiner Mutter bekommen und mir davon all den ungesunden Kram gekauft, auf den ich gerade so Lust hatte. Zu Hause warf ich mir dann noch ein großes Schlabber-T-Shirt von meinem Papa über und zog eine Jogginghose an – is’ bequemer –, um mich so allein in meinem Kinderzimmer aufs Bett zu setzen. Mein Reich war mit Michael-Jackson- und Pferdepostern an der Wand und jeder Menge rosa Mädchenkram geschmückt. Wenn ich da so einsam und allein saß, gab es genau zwei Dinge, die mich getröstet haben: die Musik von Michael Jackson, die in voller Lautstärke aus meiner geliebten Musikanlage dröhnte, und – das ist nu’ wirklich kein Geheimnis mehr – das Essen. Munter stopfte ich die Bratkartoffeln von Mama, die schön herzhaft und fettig waren, in mich hinein. Oder eben die Tiefkühlpizzen und Schinken-Käse-Sandwiches, die ich mir von meinem Taschengeld gekauft hatte. Ich liebte es einfach, mich mit Essbarem zu trösten. So komisch sich das auch anhören mag, aber das Essen heilte meine Wunden. Es fühlte sich in dem Moment einfach nur gut an, etwas zu schmecken. Das waren die kurzen Momente der Glückseligkeit, in denen meine Welt ausnahmsweise in Ordnung war, in denen ich an nichts anderes dachte als an den Genuss. Nicht an die blöden Jungs in der Schule, nicht an die fiesen Kommentare auf dem Pausenhof und auch nicht an die fette rote Fünf in meinem Schulranzen.

Wenn meine Eltern abends gestresst von der Arbeit nach Hause kamen, habe ich mir nichts anmerken lassen.

»Na, wie war dein Tag, Aline?«, fragte Mama.

»Nix Besonderes passiert, alles gut«, lautete meine Antwort. Weil ich nach meinen Fressorgien immer alles fein säuberlich wieder aufräumte, blieb das Fehlen bestimmter Sachen im Kühlschrank meist unbemerkt. Zum Abendbrot konnte ich dann noch mal ganz normal mit der Familie essen. Auf diese Weise konnte sich mein krankhaftes Essverhalten tief in mir verwurzeln. Mein tägliches Kalorienpensum wuchs parallel zu meinem Frust an.

Wenn mein Vater allerdings doch mal mitkriegte, dass etwas aus dem Kühlschrank fehlte – holla, die Waldfee, dann gab’s Ärger! Es gab Phasen, wo er abends wirklich ganz genau guckte, was im Kühlschrank war. Sogar die Salamischeiben zählte er, um dann am nächsten Tag an der Kühlschranktür zu stehen und Dinge zu rufen wie: »Wer war an der Leberwurst? Aline, komm mal her!« Darauf schlurfte ich mit gesenktem Kopf in die Küche und ließ sein wütendes Schreien über mich ergehen: »Schau dich mal an! Du wirst immer dicker! Beherrsch dich doch mal!« In solchen Momenten nuschelte ich immer nur kleinlaut, dass so was nicht wieder vorkommen würde, und schlich wie ein bedröppelter Hund zurück in mein Zimmer, wo ich die Musik laut aufdrehte und mich wegträumte aus diesem Leben.

Das habe ich übrigens oft gemacht, mich weggeträumt. Im Grunde war das mein Schutzschild, das ich mir von klein auf aufbaute, um alle Beleidigungen und bösen Worte an mir abprallen zu lassen. Schon in der Grundschule haben die Lehrer in mein Zeugnis geschrieben, dass ich ständig »am Träumen« sei. Damit hatten sie ausnahmsweise mal recht. Ich war ganz oft in einer anderen Realität, meiner eigenen kleinen Traumwelt. Dort war ich dann zu Besuch auf Michael Jacksons Neverland-Ranch und tanzte und sang mit dem King of Pop höchstpersönlich – von Bad über Thriller bis Beat It.

Was meine Eltern durchaus bemerkt haben, war, dass ich nie Freunde mit nach Hause brachte, auch später auf der weiterführenden Schule nicht. Irgendwo war es meiner Mama also durchaus bewusst, dass ich dort eine wirklich harte Zeit hatte. Sie erzählt heute noch von einem ganz speziellen Elternabend, an dem man ihr endlich mitteilte, wie mein Leistungsstand tatsächlich aussah und wo meine vielen Schwachpunkte lagen. Als sie an diesem Abend heimkam, gestand ich ihr kleinlaut: »Ja, Mama, meine Noten sind aber auch so schlecht, weil ich da im Klassenzimmer so komisch hinter dem Schrank sitzen muss.«

Erst fragte sie: »Aline, lügst du mich gerade an? Das darf doch nicht wahr sein!« Aber es stimmte! Mein Klassenlehrer hatte mich tatsächlich direkt hinter dem Schrank platziert, wo ich nichts sah und auch sonst nur wenig mitbekam. Als meine Mama verstand, dass ich mir das nicht ausdachte, regte sie sich furchtbar auf und konnte überhaupt nicht fassen, wie ungerecht ich in der Schule behandelt wurde. Gleich am nächsten Tag fuhr sie noch mal dorthin, um sich selbst ein Bild von meinem Sitzplatz im Klassenzimmer zu machen und den Lehrer direkt zur Rede zu stellen. Dieser erklärte ihr dann aber nur, sie hätte vor Schulbeginn nichts im Klassenzimmer zu suchen und er könne die Sitzordnung so einteilen, wie er wolle. Würde ihr das nicht passen, könne sie ja zum Direktor gehen. Dafür fehlte ihr dann aber doch der Mut. Sie fragte sich zwar, was man gegen solche Lehrer unternehmen könnte, hatte darauf aber schlichtweg keine Antwort parat. Mein Platz im Klassenzimmer blieb weiterhin der hinter dem Schrank.

Nicht selten habe ich daheim einen auf den Deckel bekommen, wenn ich meinem Bruder David nachmittags die Gummibärchen oder die kinder Riegel wegaß. Das machte ich jedes Mal schnell und heimlich, wenn er mal länger Schule hatte und ich vor ihm zu Hause war. Ich schlich dann in sein Kinderzimmer, ging schnurstracks zu seiner Nasch-Schublade und bediente mich. Dazu muss man wissen: David hat im Supermarkt von meiner Mama oft alle Süßigkeiten bekommen, die er wollte, denn er war im Gegensatz zu mir schon immer eher zu dünn. Wenn ich beim Einkaufen dabei war und ebenfalls kräftig zulangen wollte, sagte meine Mama: »Nein, Aline, schau dich mal an! Pack die kinder Pinguí wieder zurück ins Kühlregal, bitte!« David hortete seine süßen Schätze in seinem Kinderzimmer und zählte auch immer alles genau ab – du siehst, alles Erbsenzähler in meiner Familie. Oft hat mein Bruder natürlich bemerkt, dass etwas fehlte. Dann kam er zu mir ins Zimmer gestürmt und fragte: »Warum hast du die Packung kinder Riegel genommen? Warum fragst du mich nicht, wenn du etwas von mir willst?« Dazu muss man wissen: Mein Bruder war nie wirklich böse auf mich, er wollte mir im Grunde auch nur helfen. Ich habe dann meist schuldbewusst geantwortet: »Na, weil du sie mir ja sowieso nicht gegeben hättest!« Verlegen guckte ich auf den Boden. »Weil du sie ja auch nicht essen sollst«, sagte David dann. »Du musst doch abnehmen, sagen Mama und Papa!«

Wenn bei meinem Bruder nichts zu holen war, klapperte ich sämtliche andere Verstecke in der Wohnung ab. Oben auf dem Küchenschrank, im Wohnzimmer in der untersten Schublade oder sogar unterm Ofen – meine Mutter fing irgendwann an, Essen an den abenteuerlichsten Orten zu verstecken. »Wir mussten dabei zusehen, wie unser Kind immer mehr wurde«, sagt sie dazu heute. »Auch wenn ich alles Essbare versteckt habe – vor allem die Süßigkeiten –, du hast immer so lange gesucht, bis du sie gefunden hast.« Dass ich immer alles wegfutterte, regte meine Mama natürlich total auf, insbesondere wenn mal Gäste da waren, denen man dann einfach nichts anbieten konnte.

Nur zu solchen besonderen Anlässen wie Weihnachten oder Ostern bekam auch ich meine eigenen Süßigkeiten, egal wie pummelig ich gerade war. Den Spaß wollten meine Eltern mir dann doch nicht verderben. Für mich waren das die Highlights des ganzen Jahres – wie du dir sicher denken kannst. An Ostern zum Beispiel ging es bei uns immer traditionell zum Eiersuchen in den Garten. Was hab ich mich da schon morgens beim Aufwachen gefreut! Heute gibt’s Schokoladeneier! Wir wohnten im ersten Stock, und vor unserem Haus war ein riesengroßes Feld mit ein paar Bäumen und Sträuchern drauf. Dort haben meine Eltern immer Davids und meine Osternester versteckt. »Der Osterhase war da! Kinder, kommt runter!«, riefen sie. Ich flog bei diesen Worten die Treppen quasi runter und war dann äußerst eifrig und schnell im Eiersuchen. Häufiger musste meine Mama da einschreiten: »Aline, nein, das ist für David! Nicht für dich!« Wenn ich dann »meine Beute« beisammen hatte, konnte ich nicht anders: Ich stopfte alles sofort in mich hinein, einen großen Teil der Schokoeier gleich noch unten im Garten. Schon am Ostermontag waren meine Nester leer. »Du musst dir das eben einteilen, Aline!«, erklärte mir meine Mutter jedes Mal, wenn ich frustriert auf Davids noch volles Osterkörbchen schielte.

An Weihnachten das gleiche Spiel: Jedes Jahr an Heiligabend stellte meine Mama für meinen Bruder und mich zwei braune Flechtkörbe unter den Weihnachtsbaum – gefüllt mit einem Schokoladen-Weihnachtsmann, kleinen Waffeln und Gummibärchen. Ob David wohl merkt, wenn bei ihm zwei Waffeln fehlen?, fragte ich mich. Ach, bestimmt nicht! Oft ging das gut, vor allem wenn ich es clever anstellte und nur Miniportiönchen stibitzte. Und das war noch nicht alles! Daneben gab es in der Weihnachtszeit immer auch noch Oma Ursulas selbst gebackene Walnusskekse – diese Tage genoss ich über alles.

Mein stetig wachsendes Verlangen, immerzu Süßigkeiten in mich hineinzustopfen, ging irgendwann sogar so weit, dass ich mich nicht mal bei den Nachbarskindern beherr­schen konnte, wenn ich dann doch mal zum Spielen bei ihnen vorbeischauen durfte. Das war wie eine Droge – ich konnte überhaupt nicht anders. Dabei sagte mir mein Verstand durchaus, dass mein Verhalten nicht okay war! In einem Jahr gab es in der Vorweihnachtszeit einmal eine besondere Situation: Ich war bei Annika von nebenan zum Barbie-Spielen, was sowieso schon selten genug vorkam. Und genau diese Annika hatte einen kinder-Adventskalender – ja, richtig geraten, mein absoluter Traum eines Adventskalenders, aber für mich gab’s natürlich immer nur die 99-Cent-Variante, die am 1. Dezember – du ahnst es schon – bereits leer gefuttert war. Ich saß da also bei Annika zu Hause in ihrem bildschönen Mädchenzimmer, und in dem Moment, als sie kurz auf der Toilette war, lachte mich dieses orange-weiße Teil so dermaßen an, dass ich, ohne nachzudenken, in Windeseile einfach drei, vier Türchen aufmachte und die Schoki in meiner Tasche verschwinden ließ. Zwei Tage später dann kam der Anruf von Annikas Mutter: Das sei ja wohl eine Unverschämtheit! Ihnen sei aufgefallen, dass jemand an Annikas Adventskalender gewesen sei, und das könne ja nur ich gewesen sein. Ab sofort hatte ich da drüben Hausverbot. Auch meine Mama war richtig sauer: »Das macht man doch nicht! Du hast doch deinen eigenen, den musst du dir eben einteilen!« Von meinem Taschengeld musste ich dann einen neuen kinder-Adventskalender kaufen und ihn Annika reumütig und mit Tränen in den Augen vorbeibringen. Zurück zu Hause, setzte ich mich in meinem Zimmer auf mein Bett und machte mir Gedanken über mich und mein Leben: Mit mir stimmt etwas nicht! Warum nur haben alle etwas an mir auszusetzen?

Anstatt mich mal zu fragen, was mich zu meinem krassen Verhalten trieb, überschütteten meine Eltern mich nur mit Anschiss und Vorwürfen. Meine Familie war oft alles andere als der Fels in der Brandung, der sie hätte sein sollen. Meine Mama hatte schreckliche Angst, dass mein Leben aus dem Ruder laufen würde, und wusste schlicht nicht, wie sie das Problem unter Kontrolle kriegen sollte. Mein Bruder war oft enttäuscht von mir und mein Vater sogar manchmal richtig fies – fast so fies wie die Jungs in der Schule. Wenn er heute Dinge zu mir sagt wie: »Ich wollte dir doch immer nur helfen!«, muss ich einfach sagen: »Papa, du warst einer der Gründe, weswegen ich mich als Kind fett gefressen habe!« Und so was kann man nur schwer vergessen oder verzeihen.

Nie wieder Opfer

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